Fünfzehn

Ob wir es wollen oder nicht, aber Zwang und Drohungen sind ein Teil des täglichen Lebens von uns Menschen. Damit sind nicht einmal strenge Ultimaten gemeint, die ein Land einem anderen stellt, nicht der mit einem gezückten Messer fuchtelnde Bandit oder ein unerbittlicher Milizionär. Gemeint sind völlig schlichte und alltägliche Situationen.

»Wenn du deinen Grießbrei nicht aufisst, gibt’s keinen Zeichentrickfilm!«

»Wenn du auf dem Halbjahrszeugnis eine Drei hast, kaufen wir dir keine Rollschuhe!«

»Wenn du das Semester nicht schaffst, fliegst du von der Uni und landest in der Armee!«

»Wenn ich dich noch einmal mit Maschka sehe, ist zwischen uns alles aus!«

»Wenn du von euerm Treffen betrunken nach Hause kommst, schläfst du auf dem Sofa!«

»Wer keine Überstunden macht, darf seine Kündigung verfassen!«

»Wenn Sie die Bescheinigung nicht vorweisen, zahlen wir Ihnen keine Rente aus!«

Und ich befürchte fast, diese Sprüche stehen uns auch nach unserem Ende noch bevor: »Ohne Harfe und Heiligenschein lassen wir dich nicht ins Paradies!«

Bedrängen, überreden, zwingen - das ist eine eigene Kunst. Wir lernen sie nolens volens, indem wir den ekelhaften Brei hinunterschlucken und den Lehrer anflehen, uns eine Zwei zu geben. Von einer Drohung sollte man allerdings absehen, wenn man kein echter Profi ist.

Das begriff auch ich an jenem Morgen, als ich mich anzog, an Deck ging und mich davon überzeugte, dass ich allein auf dem Schiff zurückgeblieben war.

Ich war übers Ziel hinausgeschossen. Dieser bitteren Wahrheit musste ich ins Gesicht sehen: Ich war mit meinen Drohungen übers Ziel hinausgeschossen. Der wackere Kapitän Van Tao (und ich bezeichne ihn ohne jede Ironie als wacker) hatte das Schiff wohlbehalten in den Hafen gebracht, an der Anlegestelle vertäut - und war zusammen mit seiner Mannschaft entfleucht, unter Zurücklassung seiner gesamten Habe. Anscheinend erwartete er von einem Funktional, noch dazu einem, gegen das er sich vergangen hatte, nichts Gutes.

»In Wahrheit bin ich eigentlich ein guter Mensch«, murmelte ich an Deck der Jacht. Aber niemand hörte mich.

Auch hier gab es Berge, diesmal völlig normale Küstenberge, nicht besonders hoch, wie auf der Krim. An den Hängen zog sich eine Stadt hinunter zum Meer, eine normale Küstenstadt, ein paar hundert Jahre alt, die bei uns von Touristen absolut überlaufen wäre. Die Küste säumten zahllose Stege, weiter hinten machte ich einen Strand aus, ebenfalls ein normaler Strand an einer Küstenstadt, vom frühen Morgen an bevölkert von Menschen. Alles sah absolut banal aus, fast als wäre ich auf der Erde.

Wenn da nicht ...

Zum einen gab es nirgendwo Antennen, Leitungen oder elektrische Laternen. Es gab keinen Strom.

Zum anderen waren die meisten Häuser typisch für den Mittelmeerraum und vom Stil her europäisch. Weiter die Berge hinauf machte ich jedoch Pagodendächer aus und eine Architektur, die eher asiatisch wirkte. War das ein hiesiges China-Town?

Schließlich entdeckte ich hoch oben in den Bergen, von der Stadt durch einen Waldstreifen getrennt, einen Bau von höchst bizarrer Form, eine Ansammlung futuristischer Wolkenkratzer aus Glas, Metall und Beton, die sich sanft fließend um ein unsichtbares Zentrum wanden. Es sah aus wie ... wie ein halb aufgeklappter, in sich gedrehter Fächer. Er nahm sich in dieser Umgebung derart deplatziert aus, dass er nicht einmal sofort ins Auge sprang. So fehl, wie er am Platze war, filterte das Bewusstsein ihn völlig aus.

Sofort fühlte ich mich besser.

Das stammte von den Funktionalen. Das war ihr Bau, genauso lebendig wie mein Turm.

Ich hatte das Herz der Finsternis gefunden! Ein funkelndes, gläsernes Herz.

»Na, ihr könnt euch auf was gefasst machen!«, sagte ich, eher um mir Mut zu machen, als um meinen Feinden zu drohen.

In meinem Kopf setzten sich langsam, aber sicher die Teile des Puzzles zusammen.

Wer hatte eigentlich behauptet, die Heimat der Funktionale sei das Paradies auf Erden, ein Hightech-Reich, unberührte Natur, Schönheit und vollendete Harmonie? Vielleicht war es einmal so gewesen. Früher.

Aber heute war ihre Heimat Erde-16. Eine verbrannte Wüste, verpestete Luft, brennendes Land, radioaktive Strahlung, Ruinen großer Städte. Fast überall. Nur in einigen abgelegenen Eckchen des Planeten, auf großen Inseln oder am geduldigen, heilenden Meer gab es noch Siedlungen von Menschen. Hier lebten Menschen, normale Menschen, die die Vergangenheit ihrer Welt längst vergessen hatten. Und die Funktionale, die die planetare Katastrophe überlebt hatten.

Was war mit ihnen passiert? Ein Atomkrieg? Oder etwas noch Schlimmeres? Ein wissenschaftliches Experiment, das außer Kontrolle geraten war? Versiegte Ressourcen? Ein niedergegangener Asteroid? Oder alles zusammen?

Eine sterbende Welt. Eine Welt im Todeskampf. Menschen, die in den Ruinen nach den Artefakten einer untergegangenen Zivilisation wühlten. Aufseherfunktionale, die es jetzt vorzogen, ihre Experimente in anderen Welten durchzuführen. Oder einen Weg zur Rettung ihrer eigenen Welt suchten.

Und eben kein kalter, unbarmherziger Verstand, der mit den Käfigmäusen herumexperimentierte, wie ich zunächst aus einem Mangel an Informationen vermutet hatte. Sondern verzweifelte Menschen-über-den-Menschen, die in wilder Panik aus ihrer Welt in andere Welten geflohen waren.

Doch so oder so: Hier war ihr Herz. Hier war ihre Heimat.

Und ich hatte das Recht, mit ihnen alles zu machen, was ich wollte, für all das, was sie auf der Erde, Veros, Feste und Arkan angerichtet hatten, ja, selbst auf Arkan, denn es war letzten Endes auch nur ein Instrument, ihre Hauptanlegestelle und Basis. Aber ihre Heimat befand sich hier.

Und es gab nichts Schlimmeres als einen Schlag in den Rücken. Einen Schlag, den sie nicht erwarteten. Hierher dürften keine normalen Portale führen. Sie hatten es geschafft, die noch bewohnten Teile ihrer Welt abzuschotten, indem sie den Zöllnern die radioaktiv verseuchte Wüste zur Kontemplation vorgeworfen hatten.

Ich jedoch war durchgekommen. Ich hatte es geschafft. Irgendwo musste etwas schiefgelaufen sein, weshalb mir mehr Kräfte zugeteilt worden waren, als ein einfaches Funktional normalerweise bekam.

Ich schüttelte mich. Besser verzog ich mich von Deck, bevor ich die Neugier der Ureinwohner weckte.

Auf dem Weg zurück in die Kajüte bemerkte ich einen akkurat bereitgelegten Stapel Kleidung, meine Sachen, sauber und auf wundersame Weise sogar gebügelt. Den Stapel krönte ein Paar leichter Schuhe, vergleichbar unseren Tennisschuhen, die mir sogar passten. Bevor sich die Mannschaft von Deck gestohlen hatte, hatte sie noch sämtliche Befehle ihres gefährlichen Passagiers ausgeführt und versucht, ihm ja alles recht zu machen. Zunächst zögerte ich, ob ich meine alten Sachen überhaupt wieder anziehen sollte. Am Ende hielt ich es jedoch für klüger, in der Stadt nicht im Matrosenanzug aufzutauchen.

Stehlen konnte ich noch schlechter als drohen. Sah man mal von dem Fall ab, wo ich aus dem Lager eine unregistrierte Festplatte hatte mitgehen lassen, als sich bei meinem Rechner gerade eine Schraube gelöst hatte ... Schön, das zählte nicht. Es gibt keinen Verkaufsleiter in einem Computergeschäft, der ein herrenloses Gut nicht für den eigenen Gebrauch nach Hause trägt.

Doch jetzt plante ich überlegt und völlig nüchtern, meine Retter zu beklauen.

Die Kajüten der Matrosen durchsuchte ich gar nicht erst. Das waren bestimmt keine Idioten, die würden ihr Schiff nicht verlassen, ohne Geld und Schmuck mitzunehmen. Dafür nahm ich mir die Kapitänskajüte gründlich vor. Allerdings erfolglos. Entweder führte der übervorsichtige Van Tao auf Reisen nie Geld mit oder ich hatte sein Geheimversteck nicht gefunden. Vermutlich Letzteres. Insofern bestand meine Beute lediglich in einer Handvoll Kleingeld, seltsamerweise alles Münzen aus Aluminium, und drei Scheinen à fünf Mark. Ob die Epoche des Dollars und Euros hier der unverwüstlichen Mark hatte weichen müssen? Wohl kaum, denn mit der europäischen Mark hatten die Scheine überhaupt keine Ähnlichkeiten. Die Beschriftung war in zwei Sprachen gehalten, einmal in Hieroglyphen, einmal auf der Grundlage von Lateinschrift. Waren das dieses »Chinesisch« und »die Hochsprache«? Durchaus denkbar. Die Bevölkerung würde bestimmt imstande sein, Zahlen selbst in der Hochsprache zu erkennen. Bedauerlicherweise konnte ich diese Sprache jedoch nicht genauer analysieren und versuchen, sie mit den Sprachen der Erde zu vergleichen, da die Fähigkeit, frei zu sprechen und zu lesen, alle anderen Fremdsprachen aus meinem Gedächtnis verdrängt hatte.

Mein zweiter Fund dürfte schon nützlicher sein: eine Karte. Leider - aber was hatte ich erwartet? - keine Karte der Erde, sondern eine hiesige Seekarte. Eine Insel war in ihr eingezeichnet, die sich von links nach rechts zog, im Norden von Buchten zerklüftet war und im Süden ein gleichmäßigeres Profil zeigte. Sandbänke waren eingetragen, ein paar kleine umliegende Inseln, Straßen am Ufer und in Richtung der kleinen Inseln. Anscheinend war die Hauptinsel recht groß. Ich selbst hatte ja anfangs nicht mal geahnt, dass ich nicht auf dem Festland war. Der Karte zufolge nahm das Kernland der Insel Wüste ein. Mitten in ihr war ich aufgetaucht. Am Ufer lagen Städte. Die größte von ihnen, Ajrak, lag in der Mitte der Nordküste. Hier befand ich mich jetzt vermutlich.

Wenn ich in Geographie besser beschlagen gewesen wäre, hätte ich vielleicht eine Hypothese entwickeln können, an welchem Punkt der Erdkugel ich mich befand ...

Nachdem ich mir die Karte mehr oder weniger eingeprägt hatte, legte ich sie zurück. Das Arbeitsgerät des Kapitäns zu klauen ging nun wirklich zu weit, außerdem versprach ich mir von der Karte keinen sonderlichen Vorteil.

Das wertvollste Stück auf dem Schiff war vermutlich der Zylinder, der das Elektronetz versorgte. Er stammte fraglos noch aus der grauen Vergangenheit dieser Welt und dürfte eine hübsche Stange Geld gekostet haben. Einen Moment lang zögerte ich. Neben moralischen Erwägungen galt es, auch die Reaktion des Kapitäns einzukalkulieren. Der Verlust eines derart wertvollen Dings könnte ihn seine Angst vergessen lassen. Brauchte ich Probleme mit der hiesigen Polizei?

Nein, auf die konnte ich getrost verzichten. Deshalb begnügte ich mich mit dem Geld.

Ich schulterte den Rucksack, kehrte an Deck zurück und ging an die Pier. Die Jacht war fest am mit Schilf gepolsterten Kai vertäut. Aber wo sollten sie hier auch alte Reifen hernehmen, die in unseren Jachtclubs die Rolle von Stoßdämpfern spielen? Ich sprang ans Ufer und fühlte, wie die Insel unter mir bebte. Na, großartig! Stimmte es also doch: Wenn du auf einem schaukelnden Schiff gewesen bist, kommt es dir anschließend so vor, als bebe auch der feste Boden unter dir!

Von der Pier ging ich in Richtung Stadt. Vorbei an Fischkuttern, von denen der Fang abgeladen wurde. Vorbei an angeberisch flanierenden Cliquen von Jugendlichen. Vorbei an einem dicken Mann, der streng auf zwei Hünen einredete, die mit gesenkten Köpfen dastanden.

In der Menge machte ich einige Asiaten aus. Aber auch Europäer. Zu den Teenagern gehörte ein Schwarzer und, wenn mich nicht alles täuschte, ein Junge mit dem typischen Gesicht eines australischen Ureinwohners. Ein Mischmasch von Völkern und Rassen, ein neues Babylon, erbaut auf den Überresten einer untergegangenen Welt. Die Nachfahren derjenigen, die sich hatten retten können ... oder die gerettet und hierhergebracht worden waren, an den Fuß dieses Wolkenkratzers in Fächerform.

Ich versuchte, die Leute um mich herum nicht allzu offen anzustarren. Schließlich dürften meine Kleidung und mein Äußeres mich ohnehin als Fremden verraten.

Freilich, die Kleidung war genauso bunt und vielfältig wie die Gesichter, weshalb meine Ängste eigentlich unbegründet waren.

Da stand ich also, friedlich in der Morgensonne blinzelnd, ein hiesiger Saufbruder in zerfetzten Hosen und schmutziger, offenbar ererbter Jacke. So jemanden kannst du in einer Moskauer Straße abstellen oder in die New Yorker U-Bahn - er würde nirgendwo auffallen. Und den Unterschied wahrscheinlich selbst nicht mal merken ...

Genau wie du einen hellhaarigen und weißhäutigen Lastenträger mit einem aristokratischen Gesicht nur zu waschen und neu einzukleiden brauchst, damit er getrost zu einem Empfang der englischen Königin geschickt werden kann und sich dennoch in der Menge von Lords, Sirs und Peers verliert.

Insofern bestand kein Grund zur Panik. Auch ich würde mit der Menge verschmelzen. Ich war in einer Stadt mit zwanzig- oder dreißigtausend Einwohnern gelandet. Wenn es hier Händler und Seeleute gab, musste es auch Touristen geben. So weit, so gut. Jetzt würde ich mir eine Unterkunft suchen, abtauchen, ausschlafen, in aller Ruhe Informationen sammeln - und mich auf eine Tour in die Berge vorbereiten. Zu diesem Wolkenkratzer führten bestimmt keine ausgetretenen Pfade. Andererseits brauchte ich wohl auch nicht mit irgendwelchen Absperrungen zu rechnen. Die Funktionale dürften sich da oben ziemlich sicher fühlen.

Nach zwanzig Minuten fand ich mich im Hafenviertel einigermaßen zurecht. Hier gab es Lagerhallen (eine Gegend wie geschaffen für ein Portal, nur eben nicht auf Erde-16, wo einen die Durchgänge nicht in bewohnte Städte brachten), ein paar kleinere Märkte, auf denen gerade lautstark der morgendliche Fischfang feilgeboten wurde, und Wohnviertel, eindeutig nicht die besten infolge der Nachbarschaft besagter Hallen und Märkte. Mit meinen bescheidenen finanziellen Mitteln musste ich es mir aber sowieso verkneifen, nach etwas Luxuriöserem zu suchen. Wie ich den Aushängen der Restaurants und Hotels entnahm, auf die ich unterwegs immer wieder stieß, kostete eine Nacht in einem Hotel in der Regel eine Mark (für eine Woche verlangte man fünf Mark, im Voraus), essen konnte man für zwanzig bis dreißig Kopeken. Nein, natürlich nicht wirklich für Kopeken, sondern für das lokale Äquivalent. Warum mein funktionalsbedingter Auto-Übersetzer die hiesige Währung in Mark umrechnete, die er dann in hundert Kopeken unterteilte, blieb mir ein Rätsel. Vermutlich rein zufällig. Die Anschläge konnte ich übrigens auch lesen: Eine Nacht - ein Yuan, ein Mittagessen - fünfundzwanzig Centimes.

Irgendwann entschied ich mich für ein kleines zweistöckiges Hotel, ein schmales Haus, das zwischen zwei höheren und breiteren Gebäuden eingezwängt war. Vielleicht gefiel mir gerade, dass mich das ein wenig an die Bauten der Funktionale erinnerte. Oder mich überzeugte der Sinn für Humor, den die Besitzer an den Tag legten, indem sie ihr Hotel Rotes Pferd ohne Eier nannten.

Obwohl für die Leute hier der - unübersetzte - Name weniger obszön klang: Roter Wallach.

Als ich eintrat, klimperten Glocken über der Tür. Ich sah mich um. Vermutlich handelte es sich hier um ein Restaurant mit Zimmervermietung, nicht mal ein eigenes Foyer entdeckte ich. Vier kleine Tische standen in dem Raum, Stühle, dahinter führte eine Treppe nach oben. Eine kräftige rotblonde Frau, die die Tische abwischte, wandte sich mir zu und steckte den Lappen in die Tasche ihrer Schürze.

»Ein Frühstück?«, fragte sie.

»Ich würde gern bei Ihnen ein Zimmer mieten.«

»Warum auch nicht?«, erwiderte die Frau. »Und warum ausgerechnet bei uns?«

»Der Name gefällt mir.«

»Roter Wallach? Kennen Sie denn meinen Vater?«

»Äh ... also ...«, stotterte ich. »Ich glaube nicht. Ist denn der ... also ... ist das wegen ...«

»Ja? Natürlich, ihm zu Ehren, was haben Sie denn gedacht?« Die Frau trat an einen kleinen Schrank an der Wand heran und kramte einen fettigen Block und einen Bleistiftstummel heraus. »Wissen Sie, wie viele Kinder meine Mutter hat?«

»Sieben?«, schlug ich vor, warum auch immer. Die Art, wie diese Frau das Gespräch führte, musste mich angesteckt haben.

»Sieben? Elf! Was sagen Sie dazu?«

»Wenn alle so sind wie Sie, warum auch nicht.« Ich lächelte frech.

Nachdem sich die Frau die Antwort hatte durch den Kopf gehen lassen, lächelte sie ebenfalls. »In Gegenwart meiner Mutter verzichten Sie aber lieber auf solche Späße, ja?«

Inzwischen hatte ich auch verstanden, dass ich auf ihre Fragen nicht unbedingt zu antworten brauchte.

»Gibt es im ersten Stock keine Zimmer?«, fragte die Frau entweder sich selbst oder ihren Block. »Nein? Und im zweiten? Würden Sie auch die Mansarde nehmen?«

»Ja.«

»Für eine Nacht?«

»Für eine Woche?«

»Einen Fünfer.«

Ich hielt ihr schweigend den Schein hin, den sie kommentarlos entgegennahm und der daraufhin ebenfalls in der Tasche ihrer Schürze verschwand.

»Sie wissen, dass es jetzt kein Frühstück mehr gibt?«

»Nein, das weiß ich nicht.«

»Also gut, wollen Sie etwas essen?«

Ich nickte.

»Mama?« Die Frau hatte die Stimme erhoben. »Mama, ist noch was übrig?«

Eine unscheinbare Tür öffnete sich, es roch nach Essen.

»Für wen.«

Im Unterschied zur Tochter verzichtete die Mutter auf die fragende Intonation. Ich verstand sie durchaus. Eine von der Sorte in der Familie reichte vollauf.

»Für einen Gast, der mit der Mansarde einverstanden ist und für eine Woche im Voraus bezahlt hat, haben wir für den noch was zu essen?«

»Ja.«

Ich setzte mich an einen Tisch, der bereits abgeräumt worden war. Die Heldenmutter tauchte nach wie vor nicht auf, das Essen brachte mir ihre Tochter. Kleine Stücke Bratfisch, Brot, eine dicke schwarze Soße, eine Teekanne und eine Tasse und Stäbchen. Letztere keine Einwegstäbchen, aber sauber abgewaschen. Hier und da musste die chinesische Kultur doch triumphale Siege errungen haben.

»Schmeckt’s?«, fragte die Frau, die beobachtete, wie ich den Fisch in die Soße tunkte. Nur gut, dass es in Moskau jede Menge japanischer und chinesischer Restaurants gab, denn wenn ich nicht mit Stäbchen hätte umgehen können, wäre sie vielleicht misstrauisch geworden.

»Hmm«, brummte ich. Lecker oder nicht - ich hatte einfach noch nie Fisch zum Frühstück gegessen. Aber immerhin war er frisch, das machte vieles wett.

»Kommen Sie von auswärts?«

»Warum sollte ich sonst in einem Hotel wohnen?«

»Na, vielleicht hat Ihre Frau Sie ja aus dem Haus gejagt?«, brachte sie hervor, wobei sie offenbar ihren eigenen Gedanken nachhing.

Ich hatte noch nicht auf diese interessante Vermutung geantwortet, als die Eingangstür einen Spalt geöffnet wurde. Eine schmale Hand schob sich herein und fasste mit geübtem Griff nach dem Glockenspiel. Der Hand folgte geschmeidig ein hagerer, nicht sehr großer rotblonder Mann mit hoher Glatze in fortgeschrittenem Alter. Der Ausdruck »halbe Portion« schien wie für ihn geschaffen.

»Papachen?«, schnappte die Frau. »Du? Mama hat versprochen, dich umzubringen, weißt du?«

»Ich weiß ja, ich weiß ...«, flüsterte der Mann, während er sich weiter vorwagte. »Ich habe gearbeitet.«

»Gearbeitet?«, fragte die Frau ungläubig.

»Ja, gearbeitet!«, antwortete das rote Pferd mit dem anatomischem Defekt scharf. »Hier!«

Er kramte aus seiner Tasche ein paar Münzen, die er vorsichtig auf dem Handteller schüttelte. Da die Dinger aus Alu waren, entstand nur ein ganz zartes Geräusch.

Aber selbst das reichte.

Die Küchentür ging auf. »Komm her, du geiler Bock«, ließ sich eine barsche Stimme vernehmen.

Der Mann warf mir einen traurigen Blick zu und zuckte mit den Achseln. »Frauen ...«, flüsterte er in überraschend zärtlichem Ton. »Was will man da machen?«

Er schmatzte seiner Tochter einen Kuss auf die Wange - dafür musste er sich auf die Zehenspitzen stellen - und stapfte tapfer in Richtung Küche.

Die Frau und ich lauschten angespannt.

Leise Stimmen klangen herüber.

Dann das Geräusch eines Kusses.

Dann schepperte etwas, als sei jemandem eine Pfanne aus den kraftlos herabhängenden Händen gefallen.

Die Frau fing an, den bereits sauberen Tisch abzuwischen. »Sie verspricht das immer, aber ob sie ihn je kaltmacht?«, murmelte sie.

Aus der Küche erschallte ein leidenschaftliches Stöhnen. Geschirr klapperte. Die Tür fiel krachend ins Schloss.

Die Frau wurde knallrot, was zusammen mit ihrem rotblonden Haar ein Bild für Götter ergab.

»Nein, sie bringt ihn nicht um«, versicherte ich. »Was sagten Sie, wie viele Kinder Ihre Mutter hat? Elf?«

Sie brachte es fertig, sogar fragend zu nicken.

»Oh, oh«, gab ich leutselig von mir. »Vielen Dank für das Essen, es war sehr lecker. Bringen Sie mich jetzt nach oben?«

Keine Ahnung, was sie dachte, aber sie antwortete scharf: »Gehen Sie ruhig allein, Sie werden sich schon nicht verlaufen.« Und als fiele ihr auf, dass in ihrer Aussage irgendwas nicht stimmte, fügte sie hinzu: »Ganz nach oben, da ist nur eine Tür, haben Sie das verstanden?«

Die Mansarde war wirklich nicht das beste aller Zimmer. Das Dach war so spitz, dass ich nur in der Mitte des Raums aufrecht stehen konnte. Möbel wurden lediglich von einem - zum Glück recht großen - Bett und einem runden Tisch daneben, der die Rolle des Nachttischchens übernommen hatte, repräsentiert. Bei dem Tisch handelte es sich übrigens um ein außerordentlich schönes Stück, dessen Platte mit Perlmuttintarsien verziert war, die, wenn auch extrem zerkratzt, das Auge freuten. Eine Luke im Boden versperrte den Zugang zur Treppe.

Mit Sicherheit kostete dieses Zimmer nicht so viel wie die anderen.

Immerhin war das Bettzeug sauber, die Matratze nicht durchgelegen und das Kopfkissen weich. Direkt überm Bett gab es ein Fenster, eingelassen in den Giebel des Hauses. Mir bot sich eine herrliche Aussicht, die Straße hinunter bis zu den Bergen, auf die vorbeiziehenden Wolken und den Wolkenkratzer in Form eines in sich verdrehten Fächers.

Nach kurzer Überlegung entschied ich, von einer Beschwerde abzusehen. Ehrlich gesagt bringe ich so was nicht über mich.

Damit hatte ich also fürs Erste einen Ankerplatz. Die Gesellschaft vor Ort machte bei aller Eigenwilligkeit keinen schockierenden Eindruck auf mich und mutete nicht totalitär an. Jetzt musste ich mir bloß noch über etwas absolut Simples klar werden: Was sollte ich als Nächstes tun? An Deck der Jacht hatte ich große Töne gespuckt, als ich den abwesenden Funktionalen versprochen hatte, sie sollten sich auf was gefasst machen ... nämlich mindestens auf ein Meer von Blut und einen Sack voll Knochen als Zugabe. Schön und gut, aber jetzt mal im Ernst. Die MPi war mir beim Sturz ins Meer abhandengekommen. Das Magazin mit den Patronen befand sich zwar noch in meinem Rucksack, nützte mir aber logischerweise nicht viel. Sicher, eine Waffe würde ich schon auftreiben, nur dürfte das wohl kaum eine Schusswaffe sein. Außerdem hatte ich im Grunde kein Geld.

Was war mit meinen Funktionalsfähigkeiten?

Auf die zu bauen wäre absolut naiv. Leider. Selbst wenn ich recht hatte und die Fähigkeiten im Moment der Wahl durchbrachen. Selbst wenn ich meinen Feinden - vollwertigen Funktionalen, darunter Polizisten und Soldaten - an Kraft überlegen wäre. Selbst wenn sie außerstande wären, meinen Kräften etwas entgegenzusetzen.

Denn wer garantierte mir, dass der Moment der Wahl ausgerechnet mit dem Kampf gegen meine Feinde zusammenfiel? Genauso gut könnte ich ja auf dem Weg zu ihnen vorübergehend allmächtig sein - was mir ungefähr so viel nützen würde wie ein Regenschirm unter Wasser.

Nein, ich musste mir etwas anderes einfallen lassen.

Zum Beispiel Verbündete suchen. In nahezu allen Welten existierte eine Art Widerstandsbewegung gegen die Funktionale. Selbst auf der Erde war das der Fall, wenn auch nur in schwacher Form. Hier jedoch, wo auf dem Gipfel des Berges dieser unsägliche Wolkenkratzer aufragte, wo arkanische Soldaten auftauchten, wo unglaubliche technische Artefakte zu finden waren, musste es einfach Widerstand geben. Also brauchte ich die Leute aus dem Untergrund bloß aufzuspüren und ihnen ein Bündnis anzutragen ...

Jemand klopfte an die Luke.

»Herein!«, rief ich, obwohl es logischer gewesen wäre zu sagen: »Herauf!«

Die Luke wurde krachend aufgeklappt, ein rotblonder Schopf tauchte auf. Ein Junge von etwa fünfzehn Jahren. Ein weiterer Sprössling des liebestüchtigen Mannes?

»Ich bringe Ihnen eine Kerze«, teilte der Junge mir mit. »Hier.«

Er hielt mir einen Kerzenhalter aus Ton, in dem ein mickriger Kerzenstummel steckte, sowie eine halbleere Schachtel Streichhölzer hin. Weiß Gott, was für eine Zivilisation!

»Sag mal, Junge«, meinte ich in beiläufigem Ton, »was ist das für ein Gebäude?«

»Wo?« Der Junge kam nur zu gern hoch in die Mansarde geklettert, um zum Fenster rauszuschauen.

»Das da, auf dem Berg ...«

»Auf dem Berg? Ach! Das ist die Villa von so einem reichen Kerl. Ich wusste mal, wie er hieß, aber ich hab’s vergessen. Er hat viel Geld für die Stadtbibliothek gespendet.«

»Eine Villa?«, fragte ich begriffsstutzig zurück. Genau in dem Moment ging mir jedoch auf, was der Junge meinte. Am Hang eines Berges, dort, wo der Wald, der den Wolkenkratzer umgab, noch nicht angefangen hatte, erhob sich ein recht großes Steinhaus. Ringsum lagen Felder. Vielleicht Orangenhaine, vielleicht Oliven oder Äpfel, das ließ sich auf die Entfernung nicht entscheiden. »Und darüber?«

»Darüber?«, wunderte sich der Junge. »Darüber sind nur Berge.«

Alles klar. Wie jeder andere Bau der Funktionale war auch dieser Wolkenkratzer für normale Menschen unsichtbar. Genauer, er entzog sich ihrem Blick. Wenn ich dem Jungen präzise beschrieben hätte, wohin er gucken musste, ihm exakt geschildert hätte, was er sehen würde, hätte er den Wolkenkratzer vermutlich bemerkt. Genau wie ja auch entsprechend instruierte Menschen meinen Turm gefunden hatten und durch ihn von einer Welt in eine andere spaziert waren ...

Doch warum sollte ich im Kopf dieses unschuldigen Teenagers ein solches Chaos, eine solche Verwirrung stiften? Da stand kein Haus, hatte noch nie eins gestanden...

»Ja, du hast recht. Ich habe geglaubt, da eine Hütte zu sehen«, bemerkte ich in traurigem Ton.

»Vielleicht steht da ja auch eine«, versuchte der Junge mich zu trösten. »Vielleicht haben Sie ja sehr scharfe Augen. Ich habe einen Freund, der hat vielleicht einen Adlerblick. Auf dreißig Schritt Entfernung schießt er eine Taube mit dem Katapult ab!«

»Die arme Taube.«

»Also ... er ist ...« Der Junge geriet in Verlegenheit. »Das haben wir gemacht, als wir noch klein waren ... Brauchen Sie noch was? Unterm Bett steht ein Topf, aber den müssen Sie bei uns selbst leeren. Im Hof ist ein Plumpsklo. Waschen können Sie sich unten, wenn Sie hier eine Kanne mit hochbringen, zerdeppern Sie die nachts bestimmt ... Es ist eben alles ziemlich eng.«

»Ein bisschen eng ist es schon«, pflichtete ich ihm bei. »Sag mal, wo ist denn eure Bibliothek? Die, für die der reiche Kerl Geld gespendet hat?«

»Das ist ganz einfach! Sie gehen die Straße runter, bis zum Platz mit dem Springbrunnen. Der ist kaputt, aber Sie erkennen trotzdem, dass es ein Springbrunnen ist. Dann nach rechts bis zum nächsten Platz. Der Springbrunnen da funktioniert, wenn es nicht zu heiß ist. Da steht ein hohes Haus mit Säulen...«

Durch eine unbekannte Stadt zu spazieren ist - wenn man wunde Füße vermeidet, nicht zu schnell ermüdet, wenigstens ein bisschen Geld in der Tasche und ein paar Tage Urlaub hat - eine der schönsten Beschäftigungen überhaupt. Man darf auf mein Wort vertrauen: Wenn sich diese Stadt in einer anderen Welt, im Grunde auf einem anderen Planeten befindet, verleiht das einem solchen Spaziergang nur zusätzlichen Reiz.

Auf meinem Weg zur Bibliothek gewann ich einen ersten Eindruck vom wissenschaftlichen und technischen Potenzial dieser Welt.

Erstens: Hier gab es zwar Elektrizität, doch sie war ein Privileg der Reichen. Ich stieß auf ein Geschäft (es bloß »Laden« zu nennen wäre trotz der geringen Größe nicht angemessen), in dem die unterschiedlichsten Lampen und Glühbirnen verkauft wurden. Die Birnen waren absolut simpel, mit einem stinknormalen Gewinde. Ich nehme an, ich hätte sie einfach in eine Fassung in meiner Moskauer Wohnung schrauben können - und sie würden problemlos brennen. Der Strom wurde aber nicht unbedingt im Hause erzeugt, ein Anschlag an den Türen versprach: »Verlegung solider Leitungen und Überprüfung, ob Abzapfen des Stroms durch Dritte erfolgt«.

Zweitens: Ich entdeckte einige Bekleidungsgeschäfte, die mir klarmachten, dass Fabriken in unserem Sinne nicht existierten. Die Kleidung wurde individuell angefertigt und im Laden genäht, nur Strümpfe und Unterwäsche konnte man bereits fertig kaufen. In meiner Welt waren die Standardgrößen aufgekommen, um den Bedürfnissen der Armee Rechnung zu tragen, die in großer Zahl bereits fertige Uniformen brauchte. Damals mussten Abertausende von Menschen in kurzer Zeit eingekleidet werden, worauf ein paar kluge Köpfe die Idee hatten, eine Datenbank zu den Größen der Rekruten anzulegen und die Kleidung nicht mehr für einen konkreten Mann, sondern für ganze Gruppen von Menschen anzufertigen.

Anscheinend gab es hier niemanden, gegen den man hätte Krieg führen können. Die Zahl der Bevölkerung auf der gesamten Insel dürfte die Millionengrenze kaum überschreiten. Möglicherweise war diese Stadt sogar die einzige bewohnte Oase auf dem ganzen Planeten.

Drittens: Ich entdeckte einen Waffenladen. Seine Fenster waren vergittert, im Schaufenster lagen die aus Sicht der Verkäufer interessantesten Stücke aus. Pfeil und Bogen, Armbrüste und ein doppelläufiges Gewehr mit Hinterstück. Doch nach der Erfindung oder Einführung der Waffen mit glattem Lauf und von Patronen musste das lokale Waffengenie dann die Hände in den Schoß gelegt haben. Jedenfalls stieß ich nicht auf den geringsten Hinweis auf Büchsen oder Maschinenpistolen.

Aber wofür hätten sie die auch gebraucht? Was hätten sie hier auch jagen sollen? Überhaupt waren Büchsen ein Kind des Krieges, der Jagd der Menschen aufeinander ...

Darüber hinaus erfuhr ich, dass mich selbst diese primitive Feuerwaffe mehr als tausend Mark kosten würde - für mich unerschwinglich.

Viertens: Um die Religion war es hier irgendwie nicht sonderlich gut bestellt. Ich sah nicht eine einzige Kirche, nur in Richtung des chinesischen Viertels erspähte ich ein Dach, das mit seinen leuchtenden Farben an einen buddhistischen Tempel erinnerte.

Und fünftens: Die Zeitungen. Einmal begegnete mir ein Zeitungsjunge, der seine Ware anpries. Ich wollte mich schon von zehn Kopeken trennen, als ich bemerkte, dass es auf dem Platz mit dem kaputten Springbrunnen einen Schaukasten mit genau dieser Zeitung gab, durch Glas gegen Schlechtwetter geschützt. Die meisten Leute reagierten nicht auf die Ausrufe des Zeitungsjungen, sondern zogen es vor, sich vor dem Kasten zu versammeln und dort das Presseerzeugnis zum Nulltarif zu lesen.

Ich schloss mich ihnen an, was mir weniger brauchbare Informationen als vielmehr ein echtes Vergnügen einbrachte. Das Lokalblatt mit seinen zwei Seiten und der vollmundigen Bezeichnung Allgemeine Zeit (ist schon mal jemandem aufgefallen, dass der Titel einer Zeitung umso klangvoller ist, je schmaler das Blatt selbst daherkommt?) berichtete hauptsächlich über Neuigkeiten in der Stadt, ging jedoch mit wenigen Notizen auch auf die Nachbardörfer ein.

Ich erfuhr, dass gestern am späten Abend die beliebte junge Sängerin Ho in übelster Weise von einem Rowdy beschimpft worden war, als sie von einem Konzert auf dem Weg nach Hause war. Der Rowdy brachte seine Enttäuschung über ihren Gesang zum Ausdruck, der Liebhaber (ja, derart unumwunden wurde das benannt, Liebhaber, der Bigotterie huldigte man hier nicht) der Sängerin erteilte dem Kerl eine verdiente Abfuhr und beförderte ihn »in ebendie Pfütze, für deren Trockenlegung unsere Zeitung schon seit zwei Wochen plädiert«.

Irgendwelche Ganoven waren nachts in das Juweliergeschäft des Herrn Andreas eingebrochen, mussten jedoch eine Enttäuschung hinnehmen: Geld und Schmuck lagen in einem soliden Safe, den sie nicht öffnen konnten. Ihre Frustration ließen die Diebe an den Vitrinen aus, die sie zertrümmerten (aus unerfindlichen Gründen mit den Absätzen). In dem Moment sei jedoch der Bezirkspolizist aufgetaucht, der die Verbrecher zwar nicht verhaften, ihnen aber immerhin »ordentlich eins mit dem Knüppel über die Rübe« ziehen konnte. Nach den flüchtigen Missetätern wurde gefahndet.

Der Skandal, den der Einsturz einer kürzlich erbauten Brücke hervorgerufen hatte, war beigelegt worden, da der Auftragnehmer seine Schuld eingeräumt und versprochen hatte, die Brücke neu zu bauen.

Im Feuilleton schimpfte ein Journalist, der sich hinter dem mich zum Lachen bringenden Pseudonym Hai Feder verbarg, bitterlich auf die Fischer, die es wagten, ihren an einem Morgen nicht verkauften Fang auf Eis zu legen und ihn der Kundschaft am nächsten Morgen anzudrehen. Er lieferte gleich noch ein paar hilfreiche Ratschläge, wie die Frische der Fische überprüft werden könne.

In einem endlosen, fast die ganze Seite einnehmenden und - wie in solchen Fällen üblich - stinklangweiligen Artikel beklagte ein Beamter der Stadt den Verfall der Sitten, die schlechte Steuermoral und die Despektierlichkeit der Bürger gegenüber den städtischen Regierungsstellen, welche doch heroisch und geduldig durch die Bank all ihre Funktionen erfüllten.

Das Wort »Funktionen« brachte mich abermals zum Lachen. Ich fürchte, die Umstehenden hielten mich allmählich für einen Idioten.

Zum Abschluss folgten ein Kreuzworträtsel und Horoskope!

Was wäre eine Zeitung auch ohne diese beiden Rubriken!

Die Sterne standen heute günstig für Fische und Widder sowie für diejenigen, die unter dem Zeichen des Feuerdrachen und unter dem Signum der Blauen Pappel geboren waren, und für all diejenigen, deren Name drei Vokale und vier Konsonanten enthielt. Schützen und Holzmäuse, die unter dem Zeichen der Schattenreichen Eiche geboren worden waren, litten, ein Unglück widerfuhr allen, deren Name drei Konsonanten und einen Vokal enthielt.

Mir versprachen die Sterne nichts Besonderes.

Kurz und gut, eine ganz normale Zeitung in einer ganz normalen Kleinstadt.

Wenn da nicht der Wolkenkratzer auf dem Berg wäre, gäbe es hier ohnehin nichts Bemerkenswertes.

Da es anfing zu regnen, beschloss ich, meine Bekanntschaft mit der hiesigen Presse zunächst nicht fortzusetzen. Schließlich würde es in der Bibliothek weitaus bequemer sein, der Leidenschaft fürs gedruckte Wort zu frönen.



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