Sechzehn



Isabella liegt bäuchlings auf dem Boden und gibt vor, ein Wurm zu sein. Xavier kichert wie verrückt, süß wie ein klingelndes Glöckchen. Eigentlich soll er der Vogel sein, aber er lacht zu sehr, um seine Rolle zu spielen. Von hier aus kann Isabella Teile eines Puzzlespiels unter dem Bett sehen und weiß, dass es nicht mehr lange dauert, bis die Köchin oder Katarina oder vielleicht sogar Ernest ihr sagen werden, dass sie zu viel Zeit mit Spielen und nicht genug mit Saubermachen verbringt. Doch wenn sie mit Xavier zusammen ist, wird Aufräumen unwichtig. Nur die Gegenwart zählt und daran festzuhalten, solange es nur möglich ist.

»Wurm«, sagt Xavier und zeigt auf sie. »Wurm.«

Sie ist jetzt daran gewöhnt, ihn sprechen zu hören, obwohl es nur wenige Worte am Tag sind. In Gegenwart seiner Eltern hat er noch keinen Ton von sich gegeben. Sie zeigt auf ihn. »Vogel. Komm. Du bist dran.«

Als sich Schritte nähern, schrumpft er in sich zusammen und steckt sich den Daumen in den Mund. Isabella steht auf und wischt sich den Staub vom Kleid. Die Tür zum Kinderzimmer geht auf, und Katarina steht auf der Schwelle.

»Tut mir leid, falls wir zu laut …«, setzt Isabella an, doch Katarina hebt die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen.

»Mr. Seaward vom Telegrafenamt ist da, um dich zu sehen.« Sie klingt etwas verwirrt, vielleicht auch missbilligend, vor allem aber gereizt.

Isabella springt auf. Er muss Neuigkeiten von ihrer Schwester haben. Sie will nicht, dass jemand es mithört, also sagt sie zu Katarina: »Würde es Ihnen etwas ausmachen, bei Xavier zu bleiben, während ich mit Mr. Seaward spreche?«

Katarina schaut den Jungen an, als hätte sie Angst vor ihm, und zwingt sich zu lächeln. »Nein, es macht mir nichts aus.« Als Isabella das Zimmer verlässt, fügt sie hinzu: »Aber nicht lange.«

Matthew wartet vor der Tür. Isabella weiß nicht, ob Katarina ihn nicht hereingebeten hat oder ob er nicht eintreten wollte. Vermutlich Letzteres. Er setzt an, ohne sie zu begrüßen. »Ich habe kein Telegramm für Sie. Es tut mir leid.«

Isabella begreift, dass er keine falschen Hoffnungen wecken will. Sie fragt mutlos: »Kein Wort?«

Er schüttelt den Kopf, breitet die Hände aus und sagt leise: »Es tut mir leid, aber Ihre Schwester wohnt nicht mehr unter dieser Adresse.«

Stille. Nein, keine Stille. Sie kann in der Ferne das Meer hören, den Wind in den Wipfeln der hohen Eukalyptusbäume, die Krähen im Garten. Und über allem hört sie das laute Hämmern des Blutes, das durch ihren Körper jagt. Das Leben legt eine Pause ein, so als würde sich alles, an das sie glaubt, in etwas Neues verwandeln. »Nicht mehr?«

»Sie muss umgezogen sein.«

»Aber warum hat sie mir das nicht gesagt?«

»Vielleicht hat sie das getan. Vielleicht hat sie Ihnen nach England geschrieben.«

So muss es sein. Vermutlich wartet der Brief in jenem Haus auf sie, das sie mit Arthur geteilt hat. »Aber wie soll ich sie jemals wiederfinden?«

Matthew will ihre Hand berühren, zieht seine aber im letzten Moment zurück. Sie spürt das Bedauern, das zwischen ihnen schwebt. »Ich tue, was ich kann, um sie zu finden.«

»Falls Sie sie nicht finden …« Trostlosigkeit steigt in ihr auf, schlägt wie eine Welle über ihr zusammen. Was soll sie machen? Wohin soll sie gehen? Sie streckt die Hände aus und tastet nach dem Türrahmen, um sich abzustützen. Sie verliert das Gleichgewicht, doch er ergreift ihre Hand und hält sie ganz fest. Er stützt sie mit seinem Griff, und sie sieht, wie sich sein Unterarm unter dem Baumwollstoff anspannt. Sie steht wieder auf eigenen Füßen, doch er lässt nicht los. Er lässt nicht los. Immer noch nicht. Seine Hitze breitet sich von ihren Fingern in ihrem ganzen Körper aus. Sie errötet. Er will die Hand wegziehen, doch sie hält seine Finger umklammert. »Lass mich nicht los«, flüstert sie.

»Ich werde sie finden«, erwidert Matthew. Er zieht sanft seine Hand weg, und diesmal lässt sie es zu. »Hab Geduld, Isabella, und verliere nicht den Mut.«

Isabella denkt an Xavier, der im Kinderzimmer auf sie wartet. Sie versucht, sich mit dem Gedanken an ihn zu wärmen, doch selbst das gelingt ihr kaum, denn wenn sie sich auf die Suche nach ihrer Schwester macht, sobald sie genügend gespart hat, wird sie ihn verlassen müssen. Sie fühlt sich verloren in der Welt. Sie schließt die Augen und spürt, wie die Zeit durch sie hindurchfließt und sie von den Füßen reißt.

»Isabella? Geht es dir gut?«

»Ich sollte zu meinem kleinen Jungen zurückgehen.« Sie wendet sich zur Tür.

»Dein kleiner Junge?«

Sie ist gereizt. »Was willst du damit sagen? Xavier liebt mich und verlässt sich auf mich.« Sie senkt die Stimme und beugt sich vor, obwohl Matthews Gesicht auf einer Höhe mit ihrem ist. »Er hat gesprochen. Mit mir. Mit niemandem sonst.«

Matthew will etwas sagen, bremst sich aber. Es ist zu spät; sie weiß, was er denkt.

»Ich bin für ihn verantwortlich. Das ist alles. Warum sollte ich ihn nicht als ›meinen‹ Jungen bezeichnen? Das schadet keinem.«

»Du hast sicher recht«, gibt er nach und senkt den Kopf. »Auf Wiedersehen. Ich sage Bescheid, sobald ich etwas höre.«

Sie schaut ihm nach, als er die Treppe hinunter-, über den Rasen und zum Tor hinausgeht. Er dreht sich nicht um.

Isabella bleibt einen Moment lang stehen, um sich zu sammeln. Ihre Gelenke fühlen sich locker an, als könnten sie sich in alle Richtungen biegen. Eine Erinnerung blitzt in ihr auf, sie ist mit Arthur zu Hause, sitzt an einem kalten Februarabend am Kamin. Arthur liest Zeitung, Isabella arbeitet, sie hat den Stickrahmen auf ihrem gewölbten Bauch abgestützt. Ein ganz gewöhnlicher Abend. Alles ist verlässlich. Sie war gewiss nicht glücklich, aber auch nicht unglücklich. Der Alptraum sollte erst noch kommen. Noch hatte sie festen Boden unter den Füßen.

»Mary? Geht es dir gut?«

Isabella sieht Katarina durch den Flur kommen, die Hand fest um Xaviers Handgelenk geschlossen.

»Jaja«, sagt Isabella. »Ich erwarte ein Telegramm von meiner Schwester. Mr. Seaward hat mir nur mitgeteilt, dass sich die Übermittlung verzögert hat.«

Katarina schiebt ihr den Jungen hin. »Geh mit ihm an die frische Luft. Ich habe Kopfschmerzen davon bekommen, ihn zu unterhalten. Ich muss mich hinlegen.«

»Sollen wir im Garten Blätter sammeln?« Sie sehnt sich danach, ihn an sich zu drücken und sich von seinem kleinen, warmen Körper trösten zu lassen, aber erst, wenn Katarina weg ist.

Xavier nickt feierlich, und Isabella führt ihn mit unsicheren Schritten vom Haus weg, hinein in den seltsam warmen Winter, der so weit von der Heimat entfernt ist.


Der Einspänner rattert den Bergpfad hinauf. Xavier sitzt zwischen Isabella und Katarina. Vor ihnen fährt Ernest in einem weiteren Einspänner, zusammen mit seinem Freund und Geschäftspartner Abel Barrett und dessen Frau Edwina. Die Sonne scheint hell, und die fremden Gerüche des australischen Waldes umgeben sie. Isabella kennt inzwischen den scharfen medizinischen Duft von Eukalyptus und Teebaum, andere Gerüche kann sie nicht einordnen. Vögel zwitschern irgendwo fern des Weges. Es ist Sonntag, sie unternehmen ein Picknick. Der Korb mit dem Essen steht zwischen Isabellas Füßen. Die Köchin hat ihn heute Morgen gepackt und schien erleichtert, dass sie nicht mitkommen muss.

Katarina prahlt damit, sie könne gut reiten, sie habe in ihrer Jugend in Costa Daurada Preise gewonnen. Gewiss versteht sie sich gut auf Peitsche und Zügel. Sie trägt ein weißes Rüschenkleid und einen großen weißen Hut. Isabella trägt das gelbe Kleid, das sie aus dem Leuchtturm mitgebracht hat. Sie hat versucht, es an der Taille enger zu nähen, mit wenig Erfolg. Sie denkt an das blaue Musselinkleid, das in ihrem Koffer auf dem Meeresboden liegt, und erinnert sich dann daran, dass sie nicht mit Katarinas Schönheit Schritt halten muss. Sie drückt mehrfach Xaviers Hand. Dies ist kein Wettbewerb.

Sie sind seit einer Stunde unterwegs und immer noch auf den unteren Berghängen. Der Zigarrenrauch der Männer driftet nach hinten zu Isabella. Sie hört nur Gesprächsfetzen und findet Ernest und Abel ungemein langweilig. Gelegentlich lacht Abels Frau gackernd und bemüht sich, mit den plumpen Witzen mitzuhalten. Wann immer Edwina lacht, verkrampft sich Katarinas Kiefer, und Isabella fragt sich, ob sie lieber mit den Männern im Wagen sitzen würde statt bei dem Jungen und seinem Kindermädchen.

»Ist es noch weit?«

»Nein, der Weg ist bald zu Ende. Man kann nur zu Fuß auf den Berg steigen, und das werden wir heute nicht tun. An der nördlichen Seite gibt es eine kleine Lichtung, die sich für das Picknick eignet. Von dort aus kannst du den Ozean und die Berge sehen. Es ist sehr schön.«

Isabella ist begeistert, dass Katarina den Ort schön findet. Sie hatte vermutet, dass sie sich eher nach der vertrauten Landschaft der Heimat sehnt. »Ist es schöner als dort, wo Sie herkommen?«

Katarina schaut sie an und lächelt knapp. »In Spanien war ich nicht reich. Ich glaube, Geld macht manches schöner.« Sie schaut wieder auf den Weg. »Männer, beispielsweise.«

Isabella antwortet nicht. Sie staunt, dass Katarina so in Gegenwart ihres Sohnes spricht. Doch vermutlich unterschätzt sie den Jungen; vielleicht hat sie vergessen, dass er hören und verstehen kann, auch wenn er nicht spricht.

»Woher kommst du, Mary?«

»Aus Somerset, Ma‘am. Im Südwesten Englands.«

»Vermisst du es?«

»Manchmal.«

»Träumst du davon, dorthin zurückzukehren?«

»Ich gehe nie dorthin zurück.« Die Endgültigkeit ihrer eigenen Worte macht sie traurig. Wohin wird sie gehen? Lebt ihre Schwester überhaupt noch in New York? Sie könnte eine Straße weiter, aber auch auf einen anderen Kontinent gezogen sein.

»Gut.« Katarina lächelt, doch diesmal sieht es ein wenig grausam aus. »Alle anderen Kindermädchen haben gekündigt. Du musst also verzeihen, wenn ich vorsichtig bin. Es ist gut zu wissen, dass du mit dem Herzen hier bist.«

Doch wo ist Isabellas Herz? Sie denkt kurz darüber nach und tadelt sich selbst, weil sie es vergessen hat. Es ist bei Daniel im Grab. Und während sie das denkt, zieht eine Wolke vor die Sonne, und einen abergläubischen Moment lang fragt sie sich, ob sie die plötzliche Kühle verursacht hat. Doch dann biegt der Wagen mit den Männern ab und rollt über eine kleine Anhöhe hinunter auf eine grasbewachsene Lichtung. Sie folgen und halten bald an. Sie befinden sich auf halber Höhe der Nordflanke des Berges. Er ist nicht sehr hoch, eher wie eine vulkanische Erhebung im flachen Küstenland. Die Lichtung liegt auf einem weiten Felsplateau. Es gibt keine Bäume, die ihnen die Sicht auf den Ozean versperren. Von hier oben sieht alles noch viel unermesslicher aus: die Brecher, lautlos und fern, scheinen sich langsamer und bedächtiger zu bewegen. Die Luft ist klar und kühl. Isabella hilft Xavier aus dem Wagen und kniet sich hin, um seine Jacke zuzuknöpfen. Katarina ist schon zu Ernest, Abel und Edwina gegangen. Sie rückt ihre Haube zurecht und führt Xavier zu den anderen.

»Soll ich das Picknick hier vorbereiten?«, fragt sie.

»Ja, das wäre famos«, sagt Abel Barrett und zieht die Nase hoch. Er hat einen kräftigen Kiefer, leuchtend blaue Augen und dichtes, lockiges Haar. Seine Frau Edwina ist weit weniger attraktiv – eine Pfauenhenne – und schaut ihn unverwandt an. Ihre Miene ist leicht verwundert, so als könne sie es nicht fassen, dass dieser unglaublich gutaussehende Mann tatsächlich ihr gehört.

Xavier bleibt bei Isabella, als sie die Picknickdecke ausbreitet und Teller, Tassen und Besteck darauf anordnet. Die anderen sind ein Stück weitergegangen, um die Aussicht zu bewundern. Abel erklärt, dass Lighthouse Bay so heißt, weil einer der ersten Entdecker sie aus ebendieser Position gesehen hat. Die Sonne fiel zuallererst auf die Landzunge, auf der jetzt der Leuchtturm steht. Isabella gefällt die Idee, dass Matthew jeden Morgen vor allen anderen von der Sonne begrüßt wird. Sie wirft einen Blick über die Schulter, sieht die weiße Nadel des Leuchtturms und fragt sich, was Matthew jetzt gerade tut.

Die Köchin hat Sandwiches und Obst vorbereitet und einen Apfelkuchen gebacken. Isabella breitet alles fein säuberlich aus. Ernest hat Whisky und Wein dabei, und Isabella sieht verwundert, wie schnell die Frauen trinken. Sie hat in ihrem Leben nur ein Glas Rotwein getrunken, und das Gefühl im Magen hat ihr gar nicht gefallen. Xavier hilft ihr, Servietten zu falten und Silber zu polieren. Die anderen werden schon ungestüm, trunken von der Verheißung, später betrunken zu werden.

Katarina ruft: »Xavier. Komm zu Mama, Kleiner.«

Er sieht entsetzt aus. Dann schaut er fragend zu Isabella.

»Nur zu. Tu, was deine Mama sagt.«

Xavier geht zögernd hinüber, und Isabella sieht aus dem Augenwinkel, wie er eine Fliege verscheucht. Katarina kauert sich mit ausgebreiteten Armen hin. Das hat Isabella noch nie gesehen. Xavier wohl auch nicht, denn er bleibt abrupt stehen. Isabella kann sein Gesicht nicht sehen, doch sie ahnt, dass er sich vor Katarinas plötzlichen Liebesbezeugungen fürchtet.

»Komm her, Liebling. Gibt mir einen dicken Kuss. Sei nicht schüchtern.« Dann schaut sie Edwina an und verdreht die Augen. »Er ist nicht sehr schlau, aber seine Mama liebt ihn trotzdem.«

Isabellas Magen verkrampft sich vor Zorn. Sie versteht jetzt, dass Katarina vor der anderen Frau angeben will. Edwina ist älter als sie und kinderlos. Katarina spielt die liebevolle Mutter, um ihr eins auszuwischen, vielleicht sogar grausam zu sein. Xavier zögert, und Isabella fürchtet schon, er werde zu ihr zurücklaufen, also steht sie auf und schiebt ihn sanft nach vorn. »Nur zu, Xavier.«

Er macht noch ein paar zögernde Schritte, dann schießt Katarina vor und umschlingt ihn mit ihren Rüschenärmeln. Isabella sieht, wie sich seine pummelige Hand um ihren Unterarm schließt, und der Stich der Eifersucht ist so tief und stählern, dass sie zurückweicht. Edwina gurrt Xavier an, während die Männer Whisky trinken und ihre Zigarren im Gras ausdrücken. Isabella bleibt außen vor. Sie gehört nicht hierher. Xavier gehört nicht hierher.

»Das Essen ist fertig«, verkündet sie, und einen Augenblick später reicht Katarina ihr das Kind zurück, sie soll ihn woanders hinbringen, damit er sie nicht stört, und ihm etwas zu essen geben. Isabella schiebt Xavier vor sich her und greift nach der kleinen Papiertüte, die die Köchin eigens für ihn vorbereitet hat. Dann gehen sie ins Gebüsch.

»Ich kann einen Bach hören.« Sie ergreift seine Hand, sobald die Eltern sie nicht mehr sehen können. »Sollen wir mal nachsehen, ob Fische darin sind?«

Xavier nickt, und sie gehen zusammen durchs Gebüsch. Sie zeigt ihm die Beeren, die man essen kann, und er fragt nicht, woher sie das weiß. Auch scheint er nicht sonderlich an ihnen interessiert zu sein, denn sie schmecken bei weitem nicht so süß wie die Banane, die die Köchin ihm eingepackt hat. Die beiden setzen sich auf einen großen Felsbrocken und lassen die nackten Füße in den flachen Bach baumeln. Sie horchen auf die Vögel und lassen sich die Schultern von der Sonne wärmen, während sie Sandwiches mit Honig essen.

Schließlich wagt sie sich vor. »Warum sprichst du nicht mit deiner Mama?«

Er schaut sie an, zuckt mit den Schultern und isst weiter.

»Hast du deine Mama lieb?«

Er antwortet nicht. Seine freie Hand kriecht hervor und umklammert die ihre. Isabella spürt, wie ihr das Herz bis in die Kehle schlägt. Sie ist diesem Kind so tief verbunden, zu tief. »Ich liebe dich, mein kleiner Junge.«

»Mary«, sagt er und spricht es wie seine Mutter aus, mit einem weichen, runden A. Es hört sich beinahe wie »Mami« an.

Sie öffnet den Mund, um ihm zu sagen, dass sie Isabella heißt, damit er weiß, wer sie wirklich ist, unterlässt es aber. Er ist zu jung, um das zu verstehen. Er isst weiter glücklich sein Sandwich, ohne zu merken, dass er ihr Herz zum Singen gebracht hat.

Nachdem sie gegessen haben, spielen sie am Rand des Baches und bleiben so weit wie möglich im Schatten. Hier ist es schlammig, aber den Schmutz kann man im kühlen Wasser abwaschen. Sie spielen mit Stöcken, die können sie hierlassen, wenn sie zu den anderen zurückkehren. Isabella versinkt völlig in dem Glück, mit Xavier zusammen zu sein, ihn zu lieben und von ihm geliebt zu werden. Als sie hören, dass Ernest sie ruft, waschen sie sich rasch Hände und Füße und kehren unwillig auf die Lichtung zurück.

Die anderen sind betrunken, ihre Gesichter von Alkohol und Sonne gerötet. Das Essen ist verschwunden, und Abel Barrett döst auf dem Rücken im Gras. Edwina ist kühn geworden durch den Wein, läuft auf Xavier zu und beginnt ihn zu streicheln. Katarina lässt ihr großzügig den Vortritt und sonnt sich in der Überlegenheit der Frau, die ein so schönes Kind hervorgebracht hat. Xavier beginnt zu weinen, und Edwina setzt ihn sofort wieder auf den Boden.

»Tut mir leid, Kleiner.«

Im Nu ist er zu Isabella gerannt und verbirgt sein Gesicht an ihrer Hüfte. Sie streichelt ihm über die Haare. Katarina kneift die Augen zusammen.

Ernest blickt auf. »Seht euch das an. Er behandelt Mary, wie ein anderer Junge seine Mutter behandeln würde.«

Da ist es. Isabella kann es hören. Den einen falschen Ton in einer wunderschönen Symphonie. Er wurde angeschlagen, und sein Echo wirft einen Schatten über sie alle. Katarina kommt auf sie zu, reißt Xavier von Isabella weg und sagt: »Mary, du kannst mit Ernest und Abel zurückfahren. Sie sind beide betrunken und brauchen eine nüchterne Begleitung. Edwina, du fährst mit Xavier und mir.«

Xavier weint noch immer, doch Katarina scheint ihn nicht zu hören. Isabella packt rasch die Reste des Picknicks zusammen, während Ernest Abel mit der Fußspitze anstößt, um ihn zu wecken. Isabella spricht sich selbst Mut zu. Katarina ist nicht an Xavier interessiert. Sie wird über diese Demütigung hinwegkommen. Wenn Isabella sich zurückhält, wird das alles schnell vergessen sein.


Ernest und Abel sind betrunken, und sie wird in ihrem Sitz zusammengequetscht, erstickt fast am Tabakrauch und ihren männlichen Ausdünstungen. Ernest sitzt neben ihr, hat ihr aber halb den Rücken zugewandt, und sie reden, als wäre sie gar nicht da. Abel beklagt sich über seine Frau, sie sei zu sanftmütig. Ernest beklagt sich über seine Frau, sie sei zu wild. Isabella würde sie am liebsten unterbrechen und fragen, wie viel Temperament eine Frau denn haben müsse, um sie glücklich zu machen, spürt aber, dass die Frage nicht erwünscht ist. Sie fahren zu schnell den Berg hinunter, und Isabella beißt die Zähne zusammen, damit sie nicht aufeinanderschlagen. Dem Gespräch entnimmt sie, dass Abel sein Vermögen nicht nur seinen Geschäften, sondern vor allem der Familie seiner Frau verdankt, und Ernest so hingerissen von Katarinas Schönheit war, dass er erst nach einem Jahr Ehe merkte, welch eine Harpyie sie ist. Isabella schaut zu dem anderen Wagen zurück. Xavier sitzt still und unbemerkt zwischen Katarina und Edwina. Das kostbare Kind, umgeben von Eitelkeit und Käuflichkeit.

Zum ersten Mal schleicht sich ein Gedanke heran: Er hätte es besser, wenn er mit ihr nach New York zu Victoria reiste.

Sie verbannt den Gedanken sofort. Das ist Wahnsinn. Sie hat sich selbst Angst eingejagt, und das macht sie ungehalten. Warum sollte sie nicht zu diesem Schluss gelangen, wo sie das Kind doch so sehr liebt und alle anderen unfähig scheinen, ihn zu lieben? Sie bezweifelt, dass Katarina ihn überhaupt vermissen würde; Ernest ganz sicher nicht. Und wenn er bei ihnen bleibt, wird er genau wie sie. Das ist unvermeidlich. Er wird lernen, dass Geld wichtiger ist als Menschen, und selbst ein kalter, harter Mann werden.

Wäre Daniel auch so geworden? Sicherlich nicht. Isabella hätte ihn geleitet, ihre Liebe hätte seine Wertvorstellungen geformt und seine Konturen weicher gezeichnet. Sie kann das Gleiche für Xavier tun, zumindest solange er sich in ihrer Obhut befindet.

Sie dreht sich um und fängt seinen Blick auf, winkt ihm lächelnd zu. Er strahlt und winkt zurück. Katarina sieht es und legt schützend den Arm um ihn, lenkt ihn mit einem geflüsterten Wort ab. Doch das ist Isabella egal. Sie spürt, wen das Kind wirklich liebt.


Isabella weiß es eigentlich besser, doch manchmal malt sie sich die lange Reise über den Ozean zusammen mit Xavier aus. Nur sie beide. Die Dinge, die sie sehen würden, bevor sie das andere Ufer erreichen. Seine Hand in ihrer, für immer. Sie nimmt sich vor, jeden Tag nur eine Minute daran zu denken, doch aus der einen Minute werden fünf, und bald bewegen sich ihre Gedanken immer in dieselbe Richtung. Sie versucht, es zu unterdrücken. Sie weiß, dass sie es niemals tun wird. Sie liebt Xavier, und weil sie ihn liebt, wird sie ihn nicht von seinen Eltern und seinem Zuhause wegholen und als Flüchtling in eine ungewisse Welt stoßen. Doch die Phantasie wird zu einem vertrauten Vergnügen, in das sie sich flüchten kann, wenn andere, dunklere Gedanken drohen.

In der folgenden Woche bricht Ernest eines Morgens zu einer Geschäftsreise nach Brisbane auf, einer großen Stadt viele Meilen im Süden. Xavier hat die halbe Nacht wach gelegen, weil er leichtes Fieber und Husten hat. Isabella bemüht sich, ihn warm zu halten, damit er das Fieber ausschwitzen kann; die Krankheit des Kindes macht ihr Angst, ihr wird ganz flau im Magen. Sie hält Katarina tagsüber auf dem Laufenden, doch diese wirkt gleichgültig. Das Wetter ist stürmisch geworden, und das Scheppern der Dachrinne verstärkt nur ihre Angst, so als wäre nichts auf der Welt mehr sicher.

»Vor drei Monaten hatte er das schon einmal«, sagt Katarina. »Nach einem Tag war es bereits besser.«

Isabella weiß nicht, ob sie Katarinas Haltung als hartherzig betrachten soll oder ob es einfach die Weisheit einer Mutter ist, die ihren Sohn seit seiner Geburt kennt. Sie kehrt ins Kinderzimmer zurück und bleibt bei Xavier sitzen, bis die Nachmittagsschatten länger werden. Dann verlässt sie ihn, um der Köchin bei der Zubereitung des Abendessens zu helfen.

Die Tür am Ende des Ganges ist verschlossen. So früh. Isabella hat nicht zu Mittag gegessen, und ihr knurrt der Magen. Es ist doch noch nicht Abend, warum hat man sie eingeschlossen? Egal. Sie weiß jetzt, wie sie hinausgelangt. Sie drückt den Schlüssel durchs Schlüsselloch, zieht ihn auf einem Blatt Papier unter der Tür durch und geht in die Küche.

Weder die Köchin noch Katarina sind da. Das Haus liegt still und dunkel da, man hört nur das Klicken der Reiseuhr auf dem Bücherregal. Isabella horcht auf Geräusche, spürt aber nur den schwachen Widerhall der Stille im Haus, die einen Gegensatz zum draußen tobenden Wind bildet. Sie zündet in der Küche eine Lampe an und geht zur Eiskiste. Xavier schläft, er sollte ohnehin nicht essen, solange er Fieber hat, aber sicher hat niemand etwas dagegen, wenn sie sich Brot und Käse nimmt.

Schweigend isst sie im flackernden Lampenlicht und kehrt zu dem Jungen zurück.

Sie legt ihm die Hand auf die Stirn. Das Fieber ist gewichen, ihre Hand mit kühlem Schweiß bedeckt. Eine Last ist von ihrer Seele genommen, und ihr wird klar, dass sie den ganzen Tag lang nicht richtig durchgeatmet hat. Sie setzt sich auf die Bettkante und streicht ihm sanft das Haar aus der Stirn, spricht leise mit ihm. Er rührt sich, wird aber nicht wach. Sie ist geradezu lächerlich glücklich.

Dann hört sie ein lautes Geräusch von unten – eine Tür? – und denkt an Katarina. Sie wird wissen wollen, dass es Xavier wieder gutgeht. Isabella beschließt, nachzusehen, ob Katarina selbst oder die Köchin da ist. Wenn sie keine der beiden Frauen antrifft, wird sie die Nachricht für sich behalten und sich umso besser fühlen, weil sie die Einzige ist, die davon weiß.

Sie nimmt eine Laterne und steigt die Hintertreppe hinunter. Das Gras ist nass nach dem Regen, die Luft kühl. Ein rauher Wind zerrt an den Ästen der hohen Eukalyptusbäume, sie rauschen, als wollten sie mit der Meeresbrandung wetteifern. Sie geht in die Waschküche und bleibt stehen, horcht. Nichts … nichts …

Dann doch etwas. Eine Frauenstimme. Leise und sanft. Isabellas Haut kribbelt. Ist es die Köchin oder Katarina? Es klingt, als hätte sie Schmerzen.

Isabella drückt sich in den dunklen Bereich unter dem Haus und erkennt, dass das Geräusch aus dem verbotenen Zimmer kommt. Gleichzeitig wird ihr klar, dass die Frau keine Schmerzen hat. Sie empfindet Lust.

Die Zigarrenstummel vor dem Fenster. Ernest in Brisbane.

Die Teile fügen sich zusammen, und sie erkennt, dass sie umkehren und ins Kinderzimmer gehen und alles vergessen muss. Das ist so bei Dienstboten. Doch Isabella ist keine Dienstbotin. Isabella ist eine Frau wie Katarina, und sie vermutet, dass diese keine gute Mutter ist. Besser gesagt: Isabella hofft, dass Katarina keine gute Mutter ist, denn dann wären ihre Phantasien gerechtfertigt.

Sie hat die Finger am Türgriff, bevor sie sie zurückziehen kann. Natürlich abgeschlossen. Aber sie hat noch den Schlüssel in der Schürzentasche. Isabella hört eine rauhe Männerstimme. Sie muss erfahren, wer es ist, welche lasterhaften Dinge in diesem verschlossenen Zimmer vorgehen. Sie muss es dringend erfahren, wenn sie Xavier beschützen will. Es ist ihr egal, ob sie ein Geräusch macht; ihr Herz schlägt so laut in ihren Ohren, dass sie nicht mehr die Stimme der Vernunft hört: Lass, es wird nichts Gutes dabei herauskommen.

Die Tür schwingt nach innen. Das Zimmer ist dämmrig, doch sie kann einen einzelnen Mann sehen, und es geht um nichts Schlimmeres als den ältesten Akt der Liebe auf dieser Welt.

Katarina stößt einen Laut aus, halb Schrei, halb Kreischen. Abel Barrett zieht sich die Decke zu spät über den Kopf. Isabella erstarrt; das Eis steigt von ihren Füßen durch die Adern hinauf zu den Knien, Oberschenkeln und noch höher, bis es schließlich ihr Herz und ihre Schultern und ihren Kopf erreicht hat. Katarina kreischt, sie solle raus, raus, rausgehen.

Isabella hat alles verloren. Sie hat Xavier verloren. Sie kann nicht mehr zurück ins stille Kinderzimmer, sich auf der Seite zusammenrollen und davon träumen, mit ihm in New York zu sein. Diese Phantasie zerfällt schneller, als sie begreifen kann. Katarina hat sich in ihr Kleid gewickelt, das sie vom Boden aufgehoben hat, und stößt Isabella weg, schreit, sie solle ihre Sachen packen und verschwinden.

Isabella kann sich nicht bewegen. Das passiert nicht wirklich. Die Realität wogt um sie herum.

Dann ist Abel da, hat sich wie der Wind angezogen, während sie nicht auf ihn geachtet hat. Er zerrt sie am Arm in den Garten.

»Du hast fünf Minuten, um deine Sachen zu packen und zu verschwinden. Sonst rufe ich die Polizei, ich bin mit dem Constable gut befreundet.«

Der Selbsterhaltungstrieb rüttelt sie auf. Sie rennt die Treppe hinauf ins Kinderzimmer, so laut, dass Xavier aufwacht. Sie nimmt ihn in die Arme und schluchzt. »Ich muss gehen. Ich finde dich. Sei nicht traurig. Ich kann alles gutmachen, bestimmt. Wir leben ja.« Sie merkt, dass sie Unsinn redet, und verstummt.

Katarina steht angezogen in der Tür. »Raus! Hände weg von meinem Jungen! Raus und komm nie wieder her!« Sie schlägt und boxt Isabella, lässt die Hiebe mit der ganzen Intensität ihrer Angst und ihres Zorns auf sie niederregnen.

Xavier krabbelt aus dem Bett und will nach Isabella greifen, doch Abel schreitet ein, klemmt sich das Kind unter den Arm und sagt, er solle still sein. Xavier beginnt zu schreien, dass es Isabella das Herz zerreißt. Weiße Hitze blitzt durch ihren Körper. Wenn sie könnte, würde sie beide töten und das Kind nehmen und …

Isabella reißt sich zusammen. Es wird leichter für Daniel sein, wenn sie einfach geht … Nein, nicht für Daniel. Es wird einfacher für Xavier sein, wenn sie rasch und leise geht. Sie kann es irgendwie gutmachen. Sicher. Bitte, Gott, lass es nicht vorbei sein. Lass es nicht vorbei sein.

»Es tut mir leid«, sagt sie zu allen, am meisten aber zu sich selbst. Denn es tut ihr sehr, sehr leid, dass sie so blind gehandelt hat.

Xavier beginnt zu schreien. »Mary! Mary!« Katarina schaut ihn an, verblüfft, ihn sprechen zu hören. Isabella geht, so schnell sie kann, wobei ihr die Stimme des Kindes die Treppe hinunter und bis in den Abendschatten folgt.

»Mary! Mary!« Der Wind und das Meer verzerren den Namen, und es klingt wie »Mami! Mami!«. Und sie muss weg von hier. Ihr bleibt nichts anderes übrig. Sie kann nichts tun. Gar nichts. Er ist weg. Es ist vorbei. Ihre Knie zittern.

Sie wendet sich zum Leuchtturm.


Er scheint eine Million Meilen entfernt, dabei ist es nur eine einzige. Der Regen prasselt nieder. Wolken verdecken die Sterne. Der Wind heult, das Meer donnert, ihr schluchzendes Herz dröhnt. Und die ganze Zeit über scheint Matthews Licht hell und klar über das Meer. Sie stolpert den Weg hinauf, Schlamm in den Schuhen, kalter Regen und heiße Tränen, und hämmert an seine Tür.

Sie wartet.

Sie hört Schritte auf der Treppe. Dann geht die Tür auf, und er steht da, und sie fällt in seine Arme. Er zögert. »Ich habe ihn verloren.« Dann legen sich Matthews Arme eng um sie, und er hat den Kopf in ihrem Haar, und er küsst sie auf den Kopf. »Mein hübscher Vogel«, murmelt er. Nie gekanntes Begehren erwacht in Isabella. Matthew greift über sie hinweg, um die Tür zu schließen, um Wind und Regen auszusperren. Ihre Kleidung tropft, also löst sie die Knöpfe an ihren Handgelenken und das Band an ihrer Kehle. Matthews Hände bewegen sich im Einklang mit ihren, ziehen ihr die nassen Kleider aus. Sie fallen in einer Pfütze auf den Boden, und seine warmen Finger fahren über ihr kaltes Schlüsselbein. Sie bekommt eine Gänsehaut, alles kribbelt, ihre Brustwarzen richten sich auf und werden hart. Er greift nach unten und hebt sie hoch, als würde sie gar nichts wiegen, trägt sie in sein Schlafzimmer und bettet sie sanft auf die Decke. Der vertraute Geruch – sein Geruch: Mann und Seife – überwältigt sie, und sie schließt die Augen. Seine Lippen berühren ihre Kehle. Sie bäumt sich auf. Tränen laufen noch immer über ihre Wangen, tropfen aufs Kissen. Er küsst ihr Gesicht, wischt ihr die Tränen ab. Sie spürt sein Begehren, seinen heißen, angespannten Körper. Als sie die Augen öffnet, steht er nackt im Lampenlicht. Sie greift nach ihm. Sein Herz, ihr Herz, in makellosem Einklang.


Viel später sagt er im Dunkeln: »Ich werde deine Schwester finden. Du kannst nicht bei mir bleiben. Du musst zu ihr fahren.«

»Ich habe kein Geld. Ich habe alles verloren, das mir teuer ist.«

»Ich habe den Amtsstab behalten.«

Sie setzt sich auf und schaut ihn an. Seine Augen sehen schwarz aus.

»Bist du wütend?«

»Nein. Ich bin es müde, das Richtige zu tun. Wenn nötig, nehme ich mir auch etwas, das mir nicht gehört.« Und dabei denkt sie nicht nur an den Amtsstab. Sondern auch an Xavier.

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