Einunddreißig

2011


Libby hatte den Vertrag immer noch nicht unterzeichnet. Der Anwalt hatte ihr versichert, dass alles in Ordnung sei, aber sie hatte noch immer nicht den Stift in die Hand genommen. Warum, wusste sie selbst nicht genau. In ihrer Phantasie hatte sie das Geld bereits ausgegeben. Sie war absolut bereit, Lighthouse Bay zu verlassen und ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Doch den Vertrag hatte sie nicht unterzeichnet.

»Sie haben ihn vor einer Woche rausgeschickt«, sagte Tristan, als sie auf der kleinen gepflasterten Terrasse hinter dem Haus saßen. Die Luft hatte nach dem Sonnenuntergang einen zarten Blauton angenommen. Es roch verlockend nach dem Lamm, das im Ofen schmorte, und der Brandy schmeckte süß auf ihrer Zunge.

»Ich dachte, du wolltest nichts mit dem Geschäft zu tun haben?«, erwiderte sie lächelnd.

»Das will ich auch nicht. Aber ich habe gehört, wie Yann darüber sprach. Ist alles in Ordnung?«

»Ja, alles klar. Ich warte nur darauf, dass sich der Anwalt bei mir meldet. Er hat zu tun.«

»So ist das in Kleinstädten. Ich kann dir die Nummer einer guten Kanzlei in Brisbane geben.«

»Kein Problem. Mach dir keine Sorgen. Ich mache mir auch keine.« Sie lächelte knapp. »Und jetzt bitte ein anderes Thema.«

Tristan lehnte sich auf dem Stuhl nach hinten und streckte die Beine aus. »Hast du dir schon überlegt, was du machen willst, wenn du hier ausziehst?«

»Ich habe daran gedacht, nach Paris zurückzukehren.« Sie beobachtete ihn genau.

»Für immer?«

»Das weiß ich nicht. Kommt drauf an.«

»Worauf?«

»Auf viele Dinge.« Diesmal schaute sie ihn unmittelbar an und hob eine Augenbraue.

Er lächelte langsam. »Nun, falls du dich entscheidest, zu bleiben, würde ich mich gerne weiter mit dir treffen.« Er ergriff ihre Hand und strich sanft über ihre Finger. »Ich finde, du bist sehr schön.«

Sie saßen eine Weile schweigend da. Libby trank von ihrem Brandy und versuchte, die Nackenmuskeln zu entspannen. Den Entwurf für den Katalog hatte sie verschickt. Sie hatte nichts mehr zu tun. Das war jetzt die Atempause, die Zeit zwischen zwei Aufträgen. Sie versuchte, sie zu genießen, konnte aber das unbehagliche Gefühl im Bauch nicht vertreiben und war beschwipst genug, um es anzusprechen. Tristan hatte den ganzen Tag mit ihr verbracht und auch den Vorabend, und sie hatten immer noch nicht über seine »Mitbewohnerin« gesprochen. Also sagte sie unbekümmerter, als sie sich in Wirklichkeit fühlte: »Und, wie geht es deiner Mitbewohnerin?«

Ihre Blicke trafen sich. Er schaute sie lange an, und sie erkannte, dass er ihren Gesichtsausdruck deuten und herausfinden wollte, was sie vermutete und wie sie sich dabei fühlte.

»Schon gut. Ich weiß, dass sie nicht deine Mitbewohnerin ist. Ich habe dir nie von Mark erzählt, oder? Wir waren zwölf Jahre zusammen. Die ganze Zeit über war er mit einer anderen Frau verheiratet.«

Tristan nickte. »Ich habe nicht gelogen, als ich sagte, ich sei nicht verheiratet. Das bin ich auch nicht. Aber wir haben vier Jahre zusammengelebt. Es funktioniert nicht. Wir schlafen in getrennten Betten. Aber sie hat Probleme mit dem Loslassen. Also ist sie im Grunde genommen nicht mehr als eine Mitbewohnerin. Ich versuche, ihr vor Augen zu führen, dass sie sich eine andere Unterkunft suchen muss.«

Wir schlafen in getrennten Betten. Das hatte Mark auch gesagt. Vielleicht sagte das jeder untreue Ehemann.

»Und was glaubt sie, wo du jetzt bist? Was hat sie letzte Nacht geglaubt?«

»Dass ich in Perth bin«, gestand er.

Libby fiel ein, dass er auch ihr vorgegaukelt hatte, er sei in Perth. War Perth einfach nur ein Deckname für »bei einer anderen Frau«?

»Hasst du mich jetzt?« Er klang verletzlich wie ein kleiner Junge.

»Nein. Ich kann schlecht über dich urteilen. Wenn du sagst, es ist vorbei …«

»Definitiv. Ich nehme an, sie wird bis Ende nächsten Monats ausgezogen sein.«

Libby dachte darüber nach. Sie hatte nicht den Wunsch, weitere zwölf Jahre als Geliebte zu verbringen, aber sie konnte Tristan bis Ende nächsten Monats Zeit geben. Wenn er dann immer noch Ausreden vorschob, würde sie den Flug nach Paris buchen. Dann wäre sie schon eine reiche Frau. Bei dem Gedanken musste sie lächeln.

»Du bist ein gutes Mädchen, Libby.« Er trank sein Glas aus. »Manche Frauen … setzen sich etwas in den Kopf und machen sich das Leben richtig schwer. Beziehungen sind kompliziert. Chaotisch und nicht ideal. Aber mit dir macht es Spaß.«

»Ja, mir macht es auch Spaß.« Sie sprang auf. »Ich sollte mal nach dem Braten sehen.«

Sie ging in die Küche. Durchs Fenster konnte sie seine hinter dem Kopf verschränkten Hände sehen, seine breiten Schultern in der gutsitzenden Kleidung. Er war in vieler Hinsicht genau richtig für sie: intelligent, ausgeglichen, stark, gutaussehend. Aber er hatte sie belogen. Indirekt, indem er gesagt hatte, er sei nicht verheiratet, statt seine Situation zu erklären. Und direkt, indem er seine Freundin als Mitbewohnerin bezeichnet hatte. Er hatte sich schützen wollen. Das konnte sie verstehen. Jeder wollte sich instinktiv selbst schützen oder im besten Licht darstellen oder seine Interessen wahren.

Aber er hatte gelogen. Einfach so. Ohne mit der Wimper zu zucken.

Libby erinnerte sich an ihr erstes Gespräch. Seine Pläne für eine Öko-Ferienanlage, die Zusicherung, dass sich in Lighthouse Bay nichts verändern würde. Zum ersten Mal zweifelte sie an ihm. Er hatte sie bezüglich seiner Beziehung belogen. Was sollte ihn daran hindern, auch bei anderen Dingen zu lügen?


Das Telefon klingelte um vier Uhr morgens. Libby brauchte einen Augenblick, um wach zu werden. Tristan schlief ruhig neben ihr auf dem Bauch, die frühe Morgenluft strich über seinen glatten, muskulösen Rücken.

Er regte sich und murmelte: »Telefon?«

»Ja«, sagte sie leise. »Schlaf weiter.« Sie schlug die Decke zurück und stolperte ins Wohnzimmer. Griff nach dem Hörer. »Hallo«, meldete sie sich mit heiserer Stimme.

»Du lieber Himmel«, sagte die energische Frauenstimme am anderen Ende. »Da habe ich wohl die Zeitverschiebung nicht bedacht.«

»Emily?«

»Ja. Tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe.«

Libby setzte sich auf den Bürostuhl und schaltete die Lampe ein. »Schon gut. Ich wollte ohnehin gleich aufstehen.« Das stimmte nicht. Sie und Tristan waren erst nach ein Uhr eingeschlafen. Sie räusperte sich und versuchte, geschäftsmäßig zu klingen. »Ich nehme an, Sie haben sich den Katalog inzwischen angeschaut.«

»Ja, und ich bin begeistert, Libby, ich kann gar nicht sagen, wie sehr. Ich hatte gewisse Bedenken, weil ich befürchtet habe, dass Ihnen die neue Richtung nicht gefallen könnte. Sie haben den Katalog so lange auf die traditionelle Weise gestaltet. Aber jetzt habe ich gesehen, dass Sie nicht nur meiner Meinung sind, sondern meine Ideen wirklich verstanden haben. Sie haben verstanden, was ich empfunden habe.«

Libby lächelte. »Ganz sicher.«

»Mark hätte ihn gehasst.«

»Ich weiß.«

Emily ahmte auf geradezu unheimliche Weise seine tiefe Stimme und den typischen Tonfall nach. »Winterbourne steht für Tradition. Unsere Kunden wollen Tradition und verlangen sie auch.« Sie lachte und sprach mit ihrer eigenen Stimme weiter: »Er konnte manchmal furchtbar altmodisch sein.«

Libby lachte mit ihr. »Ich weiß, was Sie meinen.« Dann fragte sie sich sofort, ob sie zu weit gegangen war, ob Emily den liebevollen Ton und das selbstverständliche Wissen bemerken würde.

»Ich habe mich übrigens für Sie umgehört. Wegen der Aurora

»Und?«

»Wie es scheint, wollte Arthur Winterbourne den Amtsstab persönlich überbringen, weil er krankhafte Angst vor Dieben hatte. Er wollte ihn nicht aus den Augen lassen. Auch war nicht klar, wann die Firma das Geld erhalten würde. Als er verlorenging, war sich niemand sicher, ob er noch den Winterbournes, der Königin oder dem australischen Parlament gehörte. Sollte man ihn jemals entdecken, könnte das zu einem ziemlichen Durcheinander führen.«

»Verstehe.«

»Außerdem habe ich herausgefunden, dass Arthurs Frau Isabella mit an Bord war.«

»Isabella?« Das geheimnisvolle »I«.

»Ja, die Ärmste. Sie war halb so alt wie er. Sie hatten ein Kind, das sehr jung gestorben ist. In den Familienunterlagen ist kaum etwas über sie zu finden. Vermutlich ist sie zusammen mit ihrem Ehemann ertrunken.«

Libbys Herz machte einen Sprung. Nein, sie war nicht mit ihrem Ehemann ertrunken. Sie wollte es Emily schon erzählen, besann sich aber. Im Augenblick war alles noch reine Spekulation. »Vielen Dank«, sagte sie stattdessen. »Das verleiht einer alten Legende eine neue Dimension.«

»Ich frage mich, ob Mark sich jemals das Wrack angesehen hat.«

»Er hat mir davon erzählt.«

»Tatsächlich? Mir gegenüber hat er es nicht erwähnt. Aber er hat mir wohl ohnehin nicht alles erzählt. Jedenfalls nicht, wenn es um Geschäftsreisen ging.«

»Ich vermute, er hat es nur erwähnt, weil ich in der Gegend aufgewachsen bin.«

»Ja, das kann gut sein. Es tut gut, mit Ihnen über ihn zu sprechen. Sie scheinen ihn gut gekannt zu haben«, sagte Emily.

Libby war auf der Hut. »Ich habe gern mit ihm zusammengearbeitet.«

»Ich habe mich oft gefragt …« Emilys Stimme verklang. Die Stille zwischen ihnen dehnte sich aus. Libby konnte ihren eigenen Pulsschlag hören.

»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber Mark hat so liebevoll von Ihnen gesprochen. Wenn er Ihren Namen erwähnte, wurde seine Stimme immer ganz weich. Ich habe mich oft gefragt, ob Sie beide … zusammen waren.«

Das war ihre Chance. Sie konnte reinen Tisch machen. Alles gestehen. Gestern Abend war sie wütend gewesen, weil Tristan sie belogen hatte. Warum es nicht einfach aussprechen? Ja. Wir waren verliebt. Ich habe Mark geliebt. Ich habe Ihren Ehemann geliebt. Ihr Herz hämmerte. Der Gedanke, dass Marks Stimme weich geklungen hatte, wenn er ihren Namen ausgesprochen hatte. Es rührte Gefühle tief in ihrem Inneren auf. Sie war nicht über ihn hinweg. Vielleicht würde sie nie über ihn hinwegkommen. Aber er hatte ihr nie gehört.

Sie erinnerte sich an Damiens Rat. Vergiss, was du in der Vergangenheit getan hast. Denk lieber daran, was du jetzt, in der Gegenwart, tun kannst. Tristan hatte gelogen, um sich selbst zu schützen. Libby musste sich nicht mehr schützen. Sondern Emily.

»Ich habe Sie gekränkt, was?«, fragte sie schließlich.

»Nein, das haben Sie nicht. Ich habe nur überlegt, was ich Ihnen antworten soll. Mark und ich waren gute Freunde. Er hat mich oft in Paris besucht. Aber sein Herz gehörte nur Ihnen, Emily.« Und als sie es sagte, erkannte sie, dass es die Wahrheit war. Er war bei Emily geblieben. Er hatte sie beschützt. »Er hat Sie so sehr geliebt. Quälen Sie sich nicht mit der Angst, er hätte eine andere Frau geliebt. Er hätte Sie nie verlassen.« Niemals.

Sie konnte Emily leise weinen hören. Irgendwann beruhigte sie sich und putzte sich die Nase. »Sie sind so lieb. Und ich freue mich sehr, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Ich werde Ihnen auf jeden Fall weitere Aufträge geben. Vielen Dank, Libby, ich danke Ihnen so sehr.«

»Ich freue mich mehr, als ich sagen kann.«

Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück. Tristan war wieder eingeschlafen. Sie legte sich neben ihn und strich ihm sanft mit den Fingern über den Rücken. Er regte sich, wurde aber nicht wach. Sie würde es ihm sagen, wenn die Sonne aufging.

Sie hatte ihre Meinung geändert. Über alles.


Als Juliet aus der Dusche kam, hörte sie die Türklingel.

»Ich komme!«, rief sie, trocknete sich rasch ab und zog ein rotes Baumwollkleid über. Die Spätnachmittagssonne fiel schräg durch die Fenster auf der Westseite. Konnte das Damien sein? Er war seit einer Woche weg, und sie hoffte jeden Tag, von ihm zu hören. Gewiss konnte sie nach diesem Tag ein bisschen Aufmunterung gebrauchen. Sie hatte eine unerwartete Steuerforderung vom Finanzamt erhalten, und dann hatte Cheryl gekündigt, weil sie sich verliebt hatte und nach Neuseeland ziehen wollte.

Aber es war nicht Damien, wie sie gehofft hatte, nein, sie stand ihrer unwillkommenen Schwester gegenüber.

»Kann ich reinkommen?«

Juliet trat wortlos beiseite und schloss die Tür hinter Libby.

Libby hatte einen großen Umschlag unter dem Arm. Sie legte ihn behutsam auf den Couchtisch und setzte sich. »Wir müssen uns unterhalten.«

»Ach ja?«

Und dann lächelte sie auch noch, verflucht noch mal. Ein breites, wunderschönes, aufrichtiges Lächeln. Die Zeit wurde zu einem Teleskop, und sie erinnerte sich, wie Libby als Kind gelächelt hatte. Wenn sie im B & B Ritterburg gespielt oder Muscheln am Strand gesammelt oder einfach nur spätabends im Bett gelegen und über Jungs geredet hatten. Juliet spürte, wie sich die Zärtlichkeit in ihr Herz stahl.

Sie setzte sich. »Was ist los?«, fragte sie schon nachgiebiger.

Libby klopfte auf den Umschlag. »Sieh es dir an.«

Juliet nahm die Unterlagen heraus, las die Worte »Vertrag zwischen Ashley-Harris Holdings und Elizabeth Leigh Slater« und schob sie wieder hinein. »Ich will das gar nicht wissen.«

Libby nahm den Umschlag, zog die Papiere wieder heraus und suchte nach einer bestimmten Seite. »Keine Sorge, Juliet. Die Geschichte hat ein Happy End. Dafür werde ich sorgen. Schau mal.« Sie hielt ihrer Schwester die Dokumente unter die Nase und deutete mit ihrem leuchtend roten Fingernagel auf eine Zahl mit vielen Nullen.

Juliet wurde übel.

»Ich habe abgelehnt.«

Ihrer Schwester blieb die Luft weg. »Du hast …?«

»Ja, ich habe zweieinhalb Millionen Dollar abgelehnt. Sie sagten, sie wollen eine Öko-Ferienanlage bauen, aber … ich weiß nicht recht. Klingt ein bisschen verdächtig. Tristan Catherwood könnte nicht einmal dann die ganze Wahrheit sagen, wenn sein Leben davon abhinge. Also habe ich abgelehnt. Ich verkaufe nicht.«

Licht und Luft kehrten in Juliets Welt zurück. »Du wärst reich geworden.«

»Ich bin reich. Mir gehört das Haus ohnehin. Es liegt an einem der schönsten Strände der Welt. Sicher, ich habe noch keine richtige Arbeit, aber ich werde zurechtkommen.« Sie beugte sich vor und legte ihre Hand auf Juliets. »Es tut mir so leid. Wegen allem. Ich liebe dich, Juliet. Ich weiß, du glaubst mir nicht, aber es ist die Wahrheit.«

Die Erleichterung machte sie verletzlich. Und die aufrichtigen Worte brachten Juliet endgültig zum Weinen. Zuerst waren es lautlose Tränen, doch dann schluchzte sie einmal auf, und Libby kniete sich hin und nahm sie in die Arme. Juliet drückte ihr Gesicht an die Schulter ihrer Schwester und schluchzte, als könne sie gar nicht mehr aufhören. Dann endlich lehnte sie sich zurück und wischte sich die Tränen an ihrem Kleid ab. »Entschuldigung. Ich habe heute ein bisschen nah am Wasser gebaut. Ich liebe dich auch, Libby. Ich hoffe, wir bringen das alles wieder in Ordnung.«

»Lass uns damit anfangen, dass wir den Vertrag feierlich verbrennen.«

Sie verließen die Pension und gingen den Sandweg zum Strand hinunter. Juliet streifte die Schuhe ab. Der Sand war kühl und weich. Sie gingen nebeneinander über die grasbewachsenen Dünen und suchten nach kleinen Stöcken für ein Feuer. An einer geschützten Stelle häuften sie alles auf. Der gewaltige Ozean dröhnte, während sich der Himmel allmählich blass und rosa färbte. Sie entzündeten ein Feuer, kauerten sich daneben, und der Wind fing ihre lachenden Stimmen auf.

»Wenn Scott Lacey uns erwischt, müssen wir ein Bußgeld bezahlen.« Der Wind wehte Juliet die Haare in den Mund, und sie zog eine Strähne nach der anderen heraus.

»Ich muss ein Bußgeld bezahlen. Er hasst mich.«

»Nein, tut er nicht. Ich glaube, er steht sogar auf dich.«

Libby tat es lachend ab. »Nun, ich hoffe, man wird mich hier irgendwann akzeptieren. Scott Lacey und alle anderen auch. Vor allem aber du.«

»Natürlich. Keine Frage.«

»Das mit Andy tut mir so … leid. Es war meine Schuld.«

Juliet war einen Moment lang sprachlos. Wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Ja, es war Libbys Schuld. Aber es war ein Unfall gewesen. Nun, zwanzig Jahre später, erschien die Vorstellung, ihren Groll noch weitere zwanzig Jahre zu hegen, wenig einladend. »Ich verzeihe dir. Andy hätte dir schon vor einer Ewigkeit verziehen.«

Libby versuchte zu lächeln und hielt Juliet den Umschlag hin. »Du hast die Ehre.«

»Nein, ich finde, du solltest das machen.«

Libby nickte. Ihre Haut war warm vom Feuer. Sie hielt den Vertrag darüber. Die Flammen schossen so rasch hoch, dass sie den Umschlag mit einem leisen Aufschrei fallen ließ. Beide sahen kichernd zu, wie sich das Papier schwarz färbte, aufrollte und dann zu Asche wurde. Es brannte nieder, und sie saßen eine Zeitlang in freundschaftlichem Schweigen barfuß am Strand.

Irgendwann meinte Libby: »Ich will ehrlich mit dir sein. Ich habe zuerst ja gesagt. Darum gab es überhaupt einen Vertrag, den wir verbrennen konnten.«

Juliets Magen zog sich zusammen, doch dann wurde ihr klar, dass der Vertrag nur noch ein Häufchen Asche war. »Warum hast du deine Meinung geändert?«

»Das habe ich Damien Allbright zu verdanken. Für einen so jungen Kerl ist er ganz schön weise.«

Einen so jungen Kerl. Juliet presste die Lippen aufeinander und fühlte sich plötzlich alt und unattraktiv. »Damien ist toll.«

Libby lachte. »Du also auch. Oh Gott.«

»Wie meinst du das?«

Sie schaute ihre Schwester im erlöschenden Licht des Feuers an, während der warme Nachtwind die Asche aufwirbelte.

»Genauso hat Damien ausgesehen, als er über dich sprach.«

Die Hoffnung flackerte in Juliets Herz auf. Sie wartete auf eine Erklärung.

»Weißt du, ich sollte es eigentlich nicht erwähnen, aber ich bin vierzig und keine fünfzehn mehr. Geheimnisse sind etwas für Teenager. Er ist in dich verliebt, Jules.«

»Ehrlich?«

»Und wie.«

»Du meinst nicht, es wäre zu seltsam? Der Altersunterschied, meine ich.«

»Mein letzter Partner war achtzehn Jahre älter als ich, und wir waren zwölf Jahre zusammen. Es gab Probleme, aber nicht wegen des Altersunterschieds.«

Libby hatte nie einen Partner erwähnt. Ihre Stimme klang melancholisch.

»Was ist aus euch geworden?«

»Er ist gestorben. Er hat mir das Cottage hinterlassen.«

»Aha. Mark Winterbourne.«

»Er war verheiratet. Die ganze Zeit.« Libby lächelte bitter. »Ich muss dir meine dunkelsten Geheimnisse enthüllen, Jules. Meinst du, du liebst mich danach noch immer?«

Sie ergriff Libbys Hand. »Da bin ich mir sicher.«


Das Wochenende wurde warm. Alle sagten, es sei die letzte Wärmeperiode vor dem Winter, also nutzte Libby die Gelegenheit, um ein letztes Mal im Meer zu schwimmen. Das Wasser war schon frisch, aber sie gewöhnte sich daran und schwamm durch die Brecher, bevor sie sich weiter hinauswagte und auf den Wellen dahintrieb. Der Himmel war tiefblau. Wunderschön. Zu Hause.

Dann kehrte sie an den Strand zurück, wickelte sich in ihr Handtuch und spülte die Füße neben dem Haus ab. Als sie einen Blick zum Leuchtturm warf, sah sie, wie Damien gerade herauskam und die Tür hinter sich schloss.

Sie rief ihn und winkte mit beiden Händen.

Er kam zum Strand herunter. »Ich habe geklopft, aber du warst nicht zu Hause.«

»Ich war schwimmen. Weißt du was? Ich habe beschlossen, in Lighthouse Bay zu bleiben.« Sie staunte selbst, wie glücklich die Worte sie machten.

»Ich wusste gar nicht, dass du weggehen wolltest.«

»Doch. Aber jetzt bleibe ich hier.«

»Das sind ja tolle Neuigkeiten. Willst du noch mehr hören?« Er schwenkte eine Mappe voller Papiere. »Fotokopien von Matthew Seawards Tagebuch. Sie waren in den Kartons bei mir zu Hause.«

»Auch die fehlenden Daten?«

Er nickte. »Du wirst begeistert sein, Libby.«

»Und du auch: Ich habe nämlich herausgefunden, wer sie war. Isabella, die Frau von Arthur Winterbourne. Sie war an Bord der Aurora, als das Schiff unterging.«

Er grinste. »Aha, allmählich kommt Licht in die mysteriöse Vergangenheit. Lass uns reingehen.«

Er wartete im Wohnzimmer, während sie sich etwas überzog. Als sie zurückkam, hatte er die fotokopierten Seiten auf dem Tisch ausgebreitet.

»Ich nehme an, du hast Rachel davon überzeugt, dich ins Haus zu lassen?«

»Ja, und an meine Bankkonten. Sie regt sich allmählich ab. Es war nicht einfach, aber ich glaube, wir können uns wenigstens gütlich trennen.« Er klopfte auf die Dokumente. »Mein Großvater hat alle Tagebuchseiten kopiert, bevor er starb. Es gibt einen vergrabenen Schatz, Libby.«

»Was?«

Er suchte die Seite heraus und las vor: »Heute Morgen haben wir Is Schatz vergraben. Er liegt hundert Schritte von der Haustür des Leuchtturms entfernt, und ich werde ihn für sie bewachen, wenn sie weg ist.«

»Hundert Schritte von … das ist ja mitten auf meinem Grundstück.«

»Ich weiß.«

»Graeme Beers …«

»Muss das Original haben. Darum waren die Tagebücher auch so durcheinander, als ich zum ersten Mal in den Leuchtturm kam. Er hatte sie durchsucht.«

Libby ging ein Licht auf. »Natürlich. Etwas in den Papieren von Percy Winterbourne muss darauf hingedeutet haben, dass sich der Amtsstab im Leuchtturm befand. Er kam hierher und fand den Teil des Tagebuchs, in dem der vergrabene Schatz erwähnt wurde …«

»Und ist immer wieder gekommen, um danach zu suchen.«

»Vergrabener Schatz«, murmelte Libby und drehte und wendete diesen Gedanken. »Genau unter meinen Füßen. Was glaubst du, was es ist?«

Er nickte lächelnd. »Der Amtsstab.«

Sie sog scharf die Luft ein. »Wann fangen wir an zu graben?«

Er hob die Hände. »Immer mit der Ruhe. Hundert Schritte, aber in welche Richtung? Darum hat sich Graeme hier herumgetrieben, aber noch nichts ausgegraben. Er versucht, die genaue Stelle zu berechnen. Sie könnte sich sogar unter dem Haus befinden.«

»Aber wir schauen uns um, oder?«

»Natürlich.«

Binnen Minuten waren sie draußen und maßen in verschiedene Richtungen eine Strecke von hundert Schritten ab. Wenn sie von der Tür des Leuchtturms geradeaus gingen, landeten sie genau dort, wo Graeme und sein Sohn gesucht hatten.

»Was jetzt?«, fragte Libby.

»Das hat sich Graeme Beers wohl auch gefragt.«

»Büsche, Steine. Aber kein großes X, das die Stelle markiert.«

Damien schaute konzentriert zu Boden. »Oder vielleicht doch.«

Libby folgte seinem Blick. »Das ist ein Stein. Davon gibt es hier jede Menge.«

»Stell dich mal zu mir.«

Sie kam herüber.

»Kennst du das, wenn man versucht, Dinge in Wolken zu erkennen?«

»Ja, aber Juliet konnte das immer besser als ich.«

»Und ich erst. Woran erinnert dich dieser Felsen?«

Sie blinzelte und lächelte dann schelmisch. »An einen Vogel.«

»›Mein hübsches Vögelchen.‹ Graeme hat es nur nicht erkannt, weil er lediglich die letzten Seiten des Tagebuchs besaß. Er hatte nicht wie wir die ganze Liebesgeschichte verfolgt.«

»Meinst du, Matthew Seaward hat den Schatz mit diesem Felsbrocken markiert?«

»Hast du einen Spaten?«

***

Eine Stunde später stießen sie auf die hölzerne Kiste. Als sie sie von Erde befreit hatten, entdeckten sie die Messingplakette auf dem Deckel, die das Wappen der Winterbournes trug. Libby dachte an Mark und schluckte schwer.

»Ich kann es nicht glauben. Der Amtsstab war die ganze Zeit hier. Wem gehört er denn? Den Winterbournes? Oder der australischen Regierung?« Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke. »Er gehört doch nicht etwa mir, oder?«

»Ich habe keine Ahnung. Wir brauchen ein Seil oder so, um die Kiste heraufzuziehen. Er hat sie ziemlich tief vergraben.«

Sie ging ins Haus und knotete ein blaues Seil an einen Kleiderbügel, den sie in das Loch hinabließen und um den Griff der Kiste hakten. Langsam zogen sie sie nach oben. Die Kiste war schwer, aber nicht schwer genug für den Schatz.

Damien grinste sie an. »Was werden wir wohl darin finden?«

»Käfer? Diamanten?«

»Mal sehen.« Er klappte den Deckel auf. Die Kiste war leer.

Damien lehnte sich zurück und lachte. »Kein Schatz. Vielleicht ist uns jemand zuvorgekommen. Graeme Beers?«

»Aber weshalb sollte derjenige die Kiste wieder vergraben?« Sie griff hinein und tastete alles ab. Dabei strichen ihre Finger über einen kleinen, harten Klumpen, und sie zog ein winziges Armband hervor. Kein Schatz: Es waren Korallenperlen, und die silberne Schließe hatte sich schwarz verfärbt. Libby betrachtete das Armband in der Nachmittagssonne. »Das ist für Babys.«

»Warum hat Seaward es als Schatz bezeichnet?«

Libby fiel ein, was Emily erzählt hatte: Isabella Winterbourne hatte ihr Baby verloren. »Dinge müssen nicht viel wert sein, um als Schatz zu gelten.« Sie strich sanft über die Perlen.

Sie spürte, wie sich Vergangenheit und Gegenwart überlagerten. Ihr Herz zog sich zusammen, sie war überwältigt. Hatte Tränen in den Augen und musste sich verlegen abwenden.

»Schon gut, ich spüre es auch«, sagte Damien.

Ein Augenblick verging, als die Vergangenheit wieder Geschichte wurde. »Schau uns nur an, wir sind total schmutzig. Möchtest du reinkommen und bei mir duschen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich fahre jetzt zu Juliet. Ich hoffe, sie lässt mich noch ein bisschen bei sich wohnen, wenn ich weiter an der Küche arbeite.«

»Oh, das wird sie nur zu gerne tun«, sagte Libby mit einem unübersehbaren Augenzwinkern.

Damien schaute sie verwirrt und hoffnungsvoll zugleich an. »Hast du mit ihr über mich gesprochen?«

»Na los, sie wartet auf dich.«

Libby schaute ihm nach und kehrte dann ins Haus zurück. Die fotokopierten Tagebücher lagen noch auf ihrem Schreibtisch. Sie raffte die Seiten zusammen und fächelte sich damit nachdenklich Luft zu. Dann schob sie sie behutsam in einen Umschlag und schaltete ihren Computer ein.

Liebe Emily, begann sie, ich glaube, ich habe ein Familiengeheimnis der Winterbournes gelüftet …

***

Juliet reinigte die Tische auf der Terrasse, als sie sich plötzlich beobachtet fühlte. Bitte keine Gäste mehr. Sie musste viel mehr arbeiten, seit Cheryl gekündigt hatte. Bisher hatte sie keinen passenden Ersatz gefunden. Melody half, soweit sie konnte, aber letztlich blieb das meiste an ihr selbst hängen. Sie fragte sich, ob sie vielleicht Libby um Hilfe bitten könnte, bezweifelte aber, dass es ihrer Schwester lag, Frühstück zu machen und Gäste nett zu bedienen.

Sie drehte sich um. Es war Damien. Ihr Herz flatterte.

»Du bist schmutzig.«

»Ich habe einen Schatz ausgegraben«, meinte er lachend.

Sie lächelte verwundert. »Wie das denn?«

»Es war ein bisschen enttäuschend. Hör mal, Juliet, du hast sicher viel zu tun, aber …«

Sie warf den Lappen weg, machte zwei Schritte auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. Er hielt die Luft an, dann drückte er sich fest an sie. Sie spürte seinen Herzschlag. Er nahm ihr Kinn sanft in die Finger, drehte ihr Gesicht nach oben und strich mit den Lippen über ihre. Zwanzig Jahre, sie hatte seit zwanzig Jahren keinen Menschen mehr geküsst. Zuerst fürchtete sie, sie könnte es verlernt haben, doch seine Lippen waren warm und weich und schmiegten sich an ihre, so dass ihr ganzer Körper zu singen begann.

»Ich habe nichts zu tun«, murmelte sie und löste sich von ihm. »Ich nehme mir den Nachmittag frei.«

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