Fünfzehn



Xavier schläft seit einem Monat in Isabellas Bett. Beide finden Trost darin. Isabella weiß, dass Katarina nicht erfreut wäre, doch sie schließt sie immerhin jede Nacht zusammen hier ein; sie wird es nicht erfahren. Und es ist ja nicht so, als würde Katarina das Kind mit körperlicher Zuneigung überschütten. Sie fasst den Jungen kaum an. Sie hat kein Recht, eifersüchtig auf die Umarmungen zu sein, die Isabella von ihm bekommt. Etwas, das nicht geschätzt wird, kann auch nicht gestohlen werden.

Isabella wähnt sich sicher, hat aber nicht mit dem unzuverlässigsten aller Gefäße gerechnet: der Blase eines dreijährigen Kindes. Eines Morgens erwacht sie noch vor der Dämmerung in einer warmen Lache.

»Oh, nein«, sagt sie leise.

Xavier wacht wimmernd auf.

»Alles in Ordnung, Kleiner.« Sie zündet eine Laterne an und hebt ihn hoch. Alles ist durchweicht – ihr Nachthemd, das Bett, das Kind. »Komm, wir ziehen dir etwas Sauberes, Trockenes an.«

Sie holt einen Schwamm, zieht ihm die durchnässte Kleidung aus und säubert ihn, während er ins Licht blinzelt. Er bekommt eine Gänsehaut, und sie reibt fest über seine Arme. Ihr wird auch kalt, das nasse Nachthemd klebt an ihren Beinen. »Na bitte, ein frischer Schlafanzug, und dann kannst du dich in dein eigenes Bett legen.«

Er schüttelt den Kopf und streckt die Arme in die Höhe. Er will bei ihr schlafen.

»Aber das Bett ist ganz nass. Du musst in dein eigenes gehen.« Sie zieht ihn wieder an und legt ihn schlafen. Er hält ihre Hand fest, also kniet sie sich neben ihn, kalt und nass, wie sie ist, und wartet, bis er eingeschlafen ist. Dann löst sie vorsichtig ihre Hand aus seiner, zieht sich aus und das Bett ab. Die Matratze ist nass, und sie reibt mit dem Schwamm darüber, aber es ist natürlich nutzlos. Sie muss draußen an der Sonne trocknen. Außerdem muss sie die Waschküche benutzen, und zwar dann, wenn die Köchin nicht da ist und sie erwischen kann.

Aber sie ist eingeschlossen. Isabella hält die Laterne vors Schlüsselloch. Katarina hat den Schlüssel von der anderen Seite stecken lassen. Sie braucht nur ein Blatt Papier … eine Zeichnung von Xavier. Sie schiebt sie unter der Tür durch und drückt den Schlüssel mit einem Pinsel durchs Schlüsselloch. Er landet mit einem leisen Geräusch auf dem Papier, und sie zieht ihn zu sich und schließt die Tür auf. Leise trägt sie die feuchte Wäsche hinunter in die Waschküche.

Sie entzündet das Feuer unter dem Kupferkessel und füllt ihn mit Wasser. Durch die Bodenbretter dringt das erste Licht der Dämmerung. Vögel singen, aber es sind die rauhen Stimmen der australischen Vögel. Keine Rotkehlchen und Amseln. Einer, den Katarina Kookaburra nennt, macht ein Geräusch, das wie wahnsinniges Gelächter klingt. Isabella ist so damit beschäftigt, auf die Vögel und das einlaufende Wasser zu horchen, dass sie nicht hört, wie die Köchin hereinkommt.

»Mary?«

Isabella zuckt schuldbewusst zusammen und dreht sich um. »Oh, es tut mir leid. Habe ich dich geweckt?«

»Nein, ich stehe immer um diese Zeit auf. Du aber nicht. Und du hast noch nie das Feuer unter dem Waschkessel angezündet.« Die Köchin betrachtet den Wäschehaufen. »Deine Bettwäsche?«

Isabella weiß, dass sie ihr Geheimnis bewahren muss. »Ich … ich habe sie beschmutzt.«

Die Köchin wendet sich verlegen ab und murmelt: »Nun, das kann wohl jedem passieren.« Sie beugt sich vor und hebt zaghaft eine Ecke des Bettlakens hoch. Dabei fällt Xaviers durchweichter Schlafanzug auf den Boden. Die beiden Frauen blicken sich an. Isabella hält die Luft an.

»Das ist falsch«, sagt die Köchin. »Du darfst dem Kind nicht so nahe kommen.«

»Es war nur das eine Mal. Er hatte schlecht geträumt.«

»Wenn Mrs. Fullbright das herausfindet, schickt sie dich weg, dann siehst du das Kind gar nicht mehr.«

»Verrate es ihr bitte nicht.«

Die Köchin presst die Lippen fest aufeinander, bis sie ein umgedrehtes Hufeisen bilden.

»Bitte«, sagt Isabella noch einmal und wirft rasch den Schlafanzug, ihr Nachthemd und die Bettwäsche in den Kessel. »Es ist nichts Schlimmes passiert. Xavier bekommt von seinen Eltern keine Zuneigung, und ich …«

»Wage es nicht, über sie zu urteilen. Warst du denn noch nie in Diensten?«

Isabella schüttelt langsam den Kopf.

Die Köchin kneift die Augen zusammen. »Ich hätte es mir denken können. Also, woher kommst du?«

»Das spielt keine Rolle. Ich bin jetzt ein Kindermädchen und will es richtig machen und Geld verdienen. Und ich will das Beste für Xavier.«

»Seine Eltern entscheiden, was das Beste für ihn ist. Du musst nur ihre Anweisungen befolgen. Mrs. Fullbright will nicht, dass wir ihr Kind anfassen, und sie will schon gar nicht, dass du mit ihm in einem Bett schläfst. Ich werde es ihr nicht sagen, dieses Mal nicht. Aber sorge dafür, dass es nicht mehr vorkommt.«

»Natürlich. Natürlich.«

Die Köchin gibt nach und berührt Isabella am Ärmel. »Mary, du darfst dem Kind nicht zu nahe kommen. Nicht nur seinetwillen, auch deinetwillen. Kindermädchen bleiben nicht lange in diesem Haushalt. Irgendwann gibt man ihnen die Schuld, weil Xavier nicht spricht, und dann werden sie entlassen. Wenn du das Geld brauchst, solltest du dich zurückhalten und ihnen keine zusätzliche Veranlassung geben, dich wegzuschicken. Lass ihn nicht in dein Bett. Es wird nichts Gutes dabei herauskommen.«

Isabella nickt, doch sie ist nicht überzeugt. Sie hat vor, genauso weiterzumachen. Sie ist nur nicht geschickt genug gewesen. Beim nächsten Mal wird sie es besser machen. Sie werden sie nicht daran hindern, bei ihrem Jungen zu schlafen.

***

Isabella kauert wartend hinter dem Sofa und lächelt angestrengt. Sie hört Schritte, weich und unsicher. Xavier sucht nach ihr. Er kommt näher, sie hält die Luft an …

»Buh!«, ruft sie und springt hinter dem Sofa hervor.

Er zuckt zusammen, gackert laut und hämmert mit dem Holzlöffel auf den Topfdeckel, den er beim Versteckspiel mit sich herumträgt. Auf diese Weise sagt er ohne Worte: »Ich habe dich gefunden.« Er läuft lachend und scheppernd davon, seine Füße hämmern auf die Dielenbretter. Sie läuft ihm lachend hinterher.

Die Tür zu Katarinas Schlafzimmer öffnet sich.

»Mary«, sagt sie scharf.

Isabella dreht sich um und ist sofort still. Xavier bleibt zögernd in der Küche stehen und schaut sie aus großen, angstvollen Augen an.

Katarina deutet auf das Kind. »Warum muss er solchen Lärm machen? Nimm ihm den Topfdeckel weg.«

»So zeigt er mir, dass er mich gefunden hat.«

In Katarinas Gesicht arbeitet es. Isabella meint, Zorn, Scham, vielleicht auch eine Spur von Traurigkeit zu entdecken. Dann fasst sie sich und sagt: »Er sollte Wörter benutzen.«

Das Schweigen dehnt sich aus. Isabella wird nicht in Xaviers Gegenwart über seine vermeintlichen Mängel sprechen. Sein Daumen steckt im Mund.

»Nimm den Daumen heraus«, schreit Katarina ihn an. »Und dann geht ihr beide nach draußen. Ich habe Kopfschmerzen. Ich will jetzt nicht diesen lauten Unsinn hören.«

Etwas in Isabella sträubt sich. Wie herzlos muss diese Frau sein, um so mit einem kleinen Kind zu sprechen? Aber es geht auch um sie selbst: dass man sie in einem solchen Ton zurechtweist. Wenn Katarina wüsste, wer sie ist, wie reich die Familie ihres Ehemannes war …

Aber es ist nicht ihre Familie, sie will nicht zu ihr gehören. Sie ist allein auf der Welt und besitzt gar nichts.

»Komm, Xavier«, sagt sie zu dem kleinen Jungen. »Lass uns im Garten Verstecken spielen.«

Sie gehen leise die Hintertreppe hinunter und spielen eine Zeitlang ganz vorsichtig. Doch Xavier liebt das Versteckspiel, und bald hämmert er glücklich auf seinen Topfdeckel. Die Sonne steht hoch am Himmel. Hier verlaufen alle Jahreszeiten rückwärts: Es ist Mai, aber der Herbst hat begonnen. Der Himmel wirkt kühler, und die Blätter der Birke am Ende des Gartens färben sich gelb. Es riecht nach Meersalz und Holzrauch, und Xaviers Gelächter klingt bis zum Himmel hinauf. Sie verstecken sich, suchen, jagen und fangen einander. Grasflecken an den Knien, gerötete Gesichter.

Dann zählt Isabella am Gartenzaun bis zehn und hält sich die Hände vors Gesicht. Sie dreht sich um – Xavier ist verschwunden. Sie schaut in sein letztes Versteck, doch er ist nicht da. Sie versucht es hinter den anderen Büschen und Bäumen, aber da ist er auch nicht.

Sie verlässt den sonnigen Garten und geht in die Waschküche. Keine Spur von ihm. Dann entdeckt sie, dass ein Dielenbrett am Ende der Waschküche fehlt. Sie nähert sich und stellt fest, dass das Brett daneben zerbrochen und lose ist. Man kann es beiseiteschieben, und es tut sich eine Öffnung auf, durch die sich ein kleiner Junge hindurchzwängen und an der Seite des Hauses hinauskriechen kann. Isabella windet sich mit Mühe hindurch und findet sich in einem Teil des Gartens wieder, in dem sie noch nie gewesen ist. Ein Stück weiter hockt Xavier und spielt mit etwas, das auf dem Boden liegt. Das Gras wächst hier unregelmäßig und ist von Unkraut überwuchert. Ein hoher Zaun trennt diesen Bereich vom Rest des Gartens. Es ist ein Niemandsland, und doch hat Xavier etwas sehr Interessantes gefunden.

»Was hast du denn da?« Sie kniet sich neben ihn.

Er hält zwei Zigarrenstummel hoch, einen in jeder Hand.

Isabella nimmt sie ihm rasch und sanft aus der Hand. Sie fallen auf den Boden, und sie bemerkt, dass unter einem Fenster Dutzende weitere Stummel liegen. Sie geht im Kopf den Grundriss des Hauses durch und erkennt, dass sie sich unter dem Fenster des verbotenen Zimmers befinden. Es wird Ärger geben, wenn man sie entdeckt. Sie hebt Xavier hoch. »Nein, die sind schmutzig. Die darfst du nicht anfassen.«

Er streckt ihr die Hände entgegen, ein Zeichen, dass er sie waschen will. Sie führt ihn rasch und leise zurück in die Waschküche, schiebt ein leeres Fass über das Loch im Boden, damit er nicht noch einmal hindurchkriechen kann, und geht mit ihm zur Wanne, um ihm die Hände einzuseifen. Während sie sich um ihn kümmert, überlegt sie, was sie da gerade gesehen hat. Eine Ansammlung von Zigarrenstummeln draußen vor dem Fenster, als hätte jemand sie hinausgeworfen. Ist das Katarinas schreckliches Geheimnis? Dass sie gerne Zigarren raucht? Es ist keine Sünde, aber Isabella kann sich vorstellen, wie Arthur reagiert hätte: Er hätte sie mit seiner scharfen Zunge grausam zurechtgewiesen. Also kann sie die Heimlichtuerei in gewisser Weise verstehen.

Sie trocknet Xavier energisch die Hände ab und schaut nach unten. Er hat ihr sein kleines Gesicht zugewandt, es leuchtet vor Glück. Sie lächelt, und die Worte kommen ihr über die Lippen, bevor die Weisheit es ihr verbietet. »Mein kleiner Junge«, sagt sie. Er wirft sich gegen sie, umschlingt ihre Beine und vergräbt sein Gesicht in ihrem Rock. Er gehört ihr, so wie sie ihm gehört. Sie gehören zueinander.


Isabella bemüht sich tagsüber, Matthew zu vergessen, gibt abends aber manchmal ihre Zurückhaltung auf und gestattet sich, an ihn zu denken. Sie hat ihn so lange nicht gesehen, dass er fast zu einer fiktionalen Gestalt in ihrer Welt geworden ist: der dunkeläugige, nach Moschus riechende Mann, der sie gerettet hat, der sie um ihrer selbst willen auf Distanz hält. Als sie ihn eines Morgens im Lebensmittelgeschäft trifft, ist sie beinahe überrascht, einem echten Menschen gegenüberzustehen.

Sie hält Xaviers warme Hand in ihrer, als sie sich ihm nähert. Die Kartoffeln, die sie fürs Abendessen kaufen sollte, sind vergesen. »Mary«, sagt er vorsichtig. »Und das muss der kleine Master Fullbright sein.«

»Xavier«, erwidert sie und legt dem Kind schützend die Hand auf die Schulter. »Darf ich dir Mr. Seaward, den Leuchtturmwärter, vorstellen?«

Xavier ist schüchtern oder ängstlich oder beides und verbirgt sein Gesicht in Isabellas Rockfalten. Sie streicht ihm sanft über den Rücken. »Komm, Liebling, du brauchst keine Angst zu haben.«

»Hallo, Xavier. Freut mich, dich kennenzulernen.« Matthew kniet sich, um mit dem Jungen auf Augenhöhe zu sein.

Xavier riskiert einen Blick, erschauert, als er Matthews warmes Lächeln sieht, und verbirgt wieder sein Gesicht. Matthew steht auf und lacht. »Kinder haben mich noch nie auf den ersten Blick gemocht.«

»Sie sind ziemlich groß und furchteinflößend«, sagt Isabella und bedauert es sofort. Wird er es als Beleidigung auffassen? Sie wechselt rasch das Thema. »Ich nehme an, Sie haben noch nichts von meiner Schwester gehört?«

Er runzelt besorgt die Stirn. »Nein. Kein Telegramm. Ich hoffe, sie hat Ihnen einen Brief geschrieben, der hierher unterwegs ist. Sobald ich etwas weiß, melde ich mich.«

»Ja, ein Brief wird eine Weile brauchen. Es ist ja erst sechs Wochen her.«

Er nickt. »Es kommt mir länger vor, dass ich …« Er beendet seinen Satz nicht, und sie kennt auch den Grund. Es kommt mir länger vor, dass ich Sie zuletzt gesehen habe, klingt nicht sachlich, sondern romantisch. Und sie weiß, Matthew Seaward ist ein sachlicher Mensch. Isabella merkt, dass er mehr sagen möchte, doch sein Blick wandert zu Xavier, und er schweigt. Das Schweigen hält an. Sie will nicht, dass er geht, doch er wird es tun.

»Ich muss los.«

»Es war sehr schön, Sie zu sehen.« Sie möchte mehr. Sie möchte, dass er sie zum Tee einlädt. Dass er sie einlädt, in der Dämmerung auf der Plattform des einsamen Leuchtturms zu stehen und zuzusehen, wie die Nacht über den Himmel rollt, während er ihre Hand hält. Woher kommen diese fehlgeleiteten Gedanken?

»Auf Wiedersehen, Master Fullbright«, sagt er, und der Junge wagt ein leichtes Nicken.

Dann ist Matthew verschwunden. Sie drückt Xaviers Hand. »Komm, Kleiner. Die Köchin braucht noch ein paar Sachen fürs Abendessen.«


Matthew läuft auf und ab.

Auf der Treppe. Um die Plattform. Durchs Haus. Schließlich bleibt er im Telegrafenraum stehen, seine langen, stumpfen Finger zeichnen zarte Muster auf den Schreibtisch. Die Nacht ist hereingebrochen, das Leuchtfeuer arbeitet, er hat ein wenig Zeit für sich.

Isabella hat nichts von ihrer Schwester gehört. Matthew weiß das, doch ihr enttäuschtes Gesicht hat etwas in ihm ausgelöst. Isabella sitzt in Lighthouse Bay fest, und sie nennt das Fullbright-Kind »Liebling«, als wäre es ihr eigenes.

Das bereitet ihm die größten Sorgen. Sie sah so glücklich aus mit Xavier. Sie sah aus wie eine Mutter, die stolz auf ihr Kind ist. Aber Xavier ist nicht ihr Kind; er gehört den Fullbrights, die ebenso wankelmütig wie reich sind. Matthew hätte eigentlich wissen müssen, dass Isabella, die ihren Sohn verloren hat, nicht die Richtige ist, um das Kind einer anderen Frau zu versorgen. Er hätte ihr die Stelle niemals empfehlen dürfen. Isabella braucht ihre Schwester; sie braucht einen Grund, um von hier wegzugehen.

Er hat die Adresse natürlich behalten. Diesmal schickt er das Telegramm selbst, eine einzige Zeile, in der er fragt, ob dies noch die Adresse von Mrs. Victoria King sei. Er schickt es, um sich zu vergewissern, dass das erste Telegramm angekommen ist. Jeder Telegrafierende verlässt sich auf den Nächsten in der Kette.

Er schiebt seinen Stuhl zurück und steigt die steile Wendeltreppe hinauf zur Plattform. Das Meer ist seit zwanzig Jahren sein einziger Begleiter; diese Aussicht seit den letzten sechs. Heute Abend aber kann ihn auch das Umherlaufen nicht beruhigen. Es tut ihm nicht gut, Isabella zu sehen, gar nicht gut. Ihre wilde Lieblichkeit dringt ihm bis ins Mark. Er fühlt sich von innen wund.

In der Ferne fängt das Leuchtfeuer die geisterhaften Umrisse eines Schiffs unter vollen Segeln auf. Immer weniger Segelschiffe kommen nach Australien, immer öfter tuckern plumpe Dampfer über den Horizont. Er spürt, wie eine Zeit endet und eine neue beginnt; wie sich die Eleganz der hässlichen Sachlichkeit beugt. Er denkt an Clovis McCarthy, der zum letzten Mal die Treppe seines Leuchtturms hinabgestiegen ist. Eines Tages wird auch er zu alt sein, um das Leuchtfeuer zu bedienen, ein Relikt aus der Vergangenheit. Und was dann? Welche Einsamkeit und Leere erwarten ihn danach?

Jetzt wird er sentimental. Er reißt sich zusammen, geht wieder die Treppe hinunter und erfüllt seine üblichen abendlichen Pflichten. Doch drei Nächte darauf wird das Antworttelegramm eintreffen. Empfänger verzogen. Keine Nachsendeadresse angegeben.

Matthew schließt die Augen und reibt sich den Nasenrücken. Isabellas Schwester ist umgezogen. Deshalb hat sie nicht geantwortet. Sie weiß nicht, dass Isabella sie braucht. Matthew spürt ihre Hilflosigkeit. Was wird sie tun, wenn sie nicht zu ihrer Schwester reisen kann? Zurückkehren zu der Familie ihres Mannes, die sie verachtet? Bei den Fullbrights bleiben, bis sie sie hinauswerfen, weil sie Xavier zu nahe gekommen ist? Sie ist zerbrechlich wie ein Vogel. Diese Dinge könnten sie zerstören. Er erinnert sich, wie sie an jenem ersten Abend auf der Straße zusammengebrochen ist. Und obgleich er weiß, dass dieser Zusammenbruch auf die strapaziöse Wanderung zurückzuführen war, sieht er ihn auch als ein Symbol ihres Wesens: nur noch wenige Schritte, dann wird sie einfach stehen bleiben, in sich zusammenfallen, sich auflösen.

Seufzend öffnet Matthew die Augen. Er hat einen Telegrafen zur Verfügung. Er wird tun, was immer er kann, um Isabellas Schwester zu finden.

***

Der Himmel brennt blau über Isabella und Xavier, als sie Hand in Hand über den Strand gehen und Muscheln sammeln. Erst seit kurzem kann Isabella über den Sand laufen, ohne kaltes Entsetzen zu verspüren. Die Erinnerung an ihre lange Wanderung wirft noch immer alptraumhafte Schatten. Doch es hilft, dass Xavier den Strand und den Sand liebt. Bevor die Nachmittagshitze hereinbricht, zieht sie ihm Hut und Schuhe an und holt seinen kleinen Bastbeutel, dann geht es los.

Am meisten liebt Xavier die schlanken, dunkelrosa Muscheln. Isabella sucht immer nach den vollkommen weißen. Sie spazieren gemeinsam über den festen Sand nahe des Wassers und waten manchmal bis zu den Knöcheln durch die Brandung. Die blaugrünen Brecher heben und kräuseln sich, tragen weiße Pferde auf ihrem Rücken, prallen donnernd gegeneinander. Die Sonne scheint warm, aber nicht grell. Xavier findet ein langes Stück Treibholz und zeigt es ihr. Das Ende ist spitz wie bei einem Stift.

»Das ist ein sehr schöner Stock. Braver Junge.«

Xavier bohrt die Spitze in den Sand, dreht sich langsam um sich selbst und zeichnet einen Kreis. Isabella klatscht und holt ein Stück Tang, das sie als Haare auf dem Kreis drapiert. Xavier schaut zu, wie sie aus Muscheln Augen bastelt und dann ein breites Grinsen aus moosgrünen Pipi-Muscheln. Xavier vollendet es mit zwei unregelmäßigen Ohren.

Das Meer donnert. Eine Möwe flattert laut schreiend über ihnen dahin.

Sie lächeln einander im Sonnenschein an. Isabella erinnert sich an Daniels Gesicht und versucht, sich vorzustellen, wie er jetzt aussähe. Doch seine Gesichtszüge waren noch nicht ausgeprägt genug, und sie malt sich einfach aus, dass er wie Xavier aussehen würde. Dass Xavier und Daniel, die am selben Tag geboren sind, ein und derselbe Mensch wären. Ihr ist unterschwellig bewusst, dass es nicht rational ist, aber ihrem Herzen tut es gut. Es ist richtig, dass sie und Xavier zusammen sind, allein am Strand im Sonnenschein, während die Welt mit ihrer kleinlichen Trivialität jenseits der Schraubenbäume und Akazien weitertickt.

Dann deutet Xavier auf die Zeichnung und sagt so deutlich, wie der Schrei der Möwe vorhin geklungen hat: »Das ist ein lächelndes Gesicht.«

Zuerst traut Isabella ihren Ohren nicht. Xavier ist fast drei und hat noch nie gesprochen. Noch nie. Nicht »Mama« oder »Dada« oder »Essen« oder »Spiel mit mir«. Und jetzt hat er einen vollständigen Satz gesprochen. Sie ist so schockiert, dass sie zuerst nicht antwortet, doch dann begreift sie, dass sie antworten muss, sonst spricht er vielleicht nie wieder.

»Ja. Es muss glücklich sein.« Dann fügt sie noch hinzu: »So glücklich, wie ich mit dir bin.«

»Es muss glücklich sein«, wiederholt Xavier und steckt den Daumen in den Mund.

»Bist du glücklich?«, fragt sie.

Er nickt schweigend, als wäre nichts Besonderes geschehen, und sucht weiter nach seinen rosa Muscheln.

Isabella fasst sich wieder. Sie weiß, sie müsste mit ihm nach Hause gehen und es Katarina erzählen, genießt aber den Gedanken, als einzige Frau die süße Stimme des Kindes zu kennen. Sie ist etwas Besonderes für Xavier, dies ist sicher der Beweis. Er hat nicht mit seiner Mutter gesprochen, sondern mit Isabella.

In diesem Moment wird ihr klar, dass sie es Katarina nicht erzählen wird. Soll sie doch genügend Zeit mit ihrem Sohn verbringen und es selbst herausfinden.

Isabella unterdrückt ein Lächeln. Vielleicht wird Xavier mit niemandem außer ihr sprechen. Die Sonne scheint nur für sie.

»Warte auf mich, Liebling«, ruft sie ihm nach, als eine Welle über den Strand rollt und ihr Sandbild wegspült.

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