Elf



Als Libby am nächsten Morgen ihre E-Mails abrief, hatte Emily Material geschickt. Achtzig Fotos, die allesamt aussahen, als hätte sie sie tatsächlich mit dem Handy aufgenommen. Auf vielen erkannte Libby das klassische Winterbourne-Design, aber es waren auch ein paar neue und überraschende Entwürfe dabei. Sie ging die Bilder durch und las dann Emilys E-Mail:


Ich möchte, dass der Katalog eine Hommage an Mark und die Geschichte der Winterbournes wird, doch er soll auch eine neue Hoffnung und den Weg in die Zukunft widerspiegeln. Sie werden mir sicher zustimmen, dass unsere neuen Entwürfe sehr modern gehalten sind, und ich würde sie gerne im Zentrum des Katalogs sehen. Aber ich lasse mich jederzeit von Ihnen beraten. Was halten Sie davon?


Libby begriff, dass Emily den Katalog und die neue Linie benutzen wollte, um aus ihrem eigenen Kummer herauszufinden und sich der Zukunft zu stellen. Mark hätte niemals eine solche künstlerische Entscheidung getroffen. In seinen Augen lebte Winterbourne von seiner Geschichte, so verstaubt sie manchmal auch erscheinen mochte. Neue, vor allem experimentelle Entwürfe wurden immer weit hinten im Katalog versteckt. Libby verspürte eine spontane Zuneigung, weil Emily in der Lage war, über die Tradition hinauszublicken und in so viel Negativem dennoch die Chance auf einen Neuanfang zu sehen. Sie antwortete begeistert auf die E-Mail und begann sofort damit, Ideen in ihr Notizbuch zu zeichnen. Dann schickte sie E-Mails an einige Fotografen, mit denen sie in Paris und London gearbeitet hatte, und stellte einen Zeitplan für die Produktion des Katalogs auf. Sie war verrückt: Sie hätte sich von Emily für die zusätzliche Arbeit bei der Koordinierung bezahlen lassen sollen. Es würde ganz schön aufwendig werden.

Dann hörte sie das Motorrad des Briefträgers und merkte, dass sie seit Stunden die Beine nicht bewegt hatte. Sie stand auf und ging nach draußen, wobei sie tief die frische Seeluft einatmete. Die Arbeit hatte ihr gutgetan. Sie vermisste Mark natürlich noch immer, doch Emily hatte ihr heute gezeigt, dass es noch etwas jenseits der Trauer gab. Sie wusste nicht, was das für sie war, würde es aber auch nie herausfinden, wenn sie sich nicht selbst in diese Richtung bewegte.

Sie holte einen großen gelben Umschlag von Winterbourne aus dem Briefkasten, in dem sich die ungeöffneten Briefe befanden, die Cathy in Marks Büro entdeckt hatte.

Libby setzte sich an den Schreibtisch und sortierte sie chronologisch; sie stammten alle von Ashley-Harris Holdings. Der erste war zwei Jahre alt. Er begann mit den Worten: »Vielen Dank für den Briefwechsel. Wir verstehen die Gründe, aus denen Sie nicht verkaufen möchten. Dennoch möchte ich mich vorstellen …«

Es war also gar nicht der erste Brief. Mark musste davor schon ein Schreiben erhalten haben, in dem die Firma anbot, das Cottage zu kaufen, was er abgelehnt hatte. Rasch las sie die anderen Briefe. Die Firma hatte zwei Jahre lang um ein Treffen mit Libby ersucht, sich bereit erklärt, nach London zu fliegen, hatte Pläne und Zeichnungen schicken wollen. Alle Briefe waren von einem gewissen Tristan Catherwood unterzeichnet. Er wirkte hartnäckig, aber nicht unangenehm. Der letzte Brief war auf vier Monate vor Marks Tod datiert.

Libby lehnte sich zurück und dachte nach. Ein kleiner Teil von ihr, auf den sie nicht sonderlich stolz war, ärgerte sich, weil Mark ihr diese Briefe nie gezeigt hatte. Natürlich hätte sie das Haus nicht verkauft, doch er hatte ihr sonst alles weitergeleitet: die Mitteilungen über die Raten – die er natürlich zuvor bezahlt hatte – und die jährlichen Wertfestsetzungen für die Immobilie. Hatte er befürchtet, sie würde an den erstbesten Bauunternehmer verkaufen? Andererseits, konnte sie es ihm verdenken? Sie war so zögerlich gewesen, als er das Haus für sie gekauft hatte. Vermutlich war sie ihm undankbar erschienen. Er hatte ihr ein Haus geschenkt, doch sie hatte es es eher als Last denn als Segen empfunden.

Sie war neugierig. Weshalb wollte Ashley-Harris Holdings unbedingt das Cottage kaufen? Es gab doch viele andere Stellen, an denen man ein Hotel errichten konnte.

Da Tristan Catherwood so lange geduldig auf eine Antwort gewartet hatte, setzte sie sich hin, um eine Absage zu formulieren. Dann bemerkte sie die örtliche Telefonnummer auf dem Briefkopf. Die Firma hatte ihren Sitz in Noosa. Also rief sie ihn auf dem Handy an.

»Tristan Catherwood.« Er hatte eine sanfte Stimme, nicht so tief und polternd, wie sie erwartet hatte.

»Hallo. Ich heiße Elizabeth Slater. Ich …«

»Das Cottage am Leuchtturm! Wie schön, von Ihnen zu hören, Elizabeth.«

»Es tut mir leid, dass Sie mir so oft geschrieben haben. Aus Gründen, die ich auf die Schnelle nicht erklären kann, habe ich die Briefe erst jetzt erhalten. Ich möchte Ihnen nur mitteilen, dass ich an einem Verkauf nicht interessiert bin, Sie brauchen mir also nicht mehr zu schreiben. Ich bin in Lighthouse Bay sehr glücklich und werde hier wohnen bleiben.«

»Sie wohnen im Cottage?«

»Ja, seit einigen Wochen.«

»Es ist ein wunderschönes Fleckchen. Der Blick vom Leuchtturm geht mir immer ans Herz. Wenn Sie schon in der Stadt sind, würde ich Sie gern zum Mittagessen einladen. Hätten Sie morgen um eins Zeit?«

»Morgen? Ich … ich weiß noch nicht, was ich da vorhabe.«

»Dann heute. Es ist kurz nach zwölf. Ich könnte Sie um eins abholen, dann fahren wir nach Noosa. Es gibt einen Italiener in der Hastings Street, der unglaubliche Spaghetti alla puttanesca macht.«

Libby wusste, dass er ihr Honig ums Maul schmierte. Dennoch gefiel ihr die Vorstellung, zu einem teuren Essen eingeladen zu werden, und sie war neugierig, welche Pläne Tristan für Lighthouse Bay hatte.

Juliet musste es ja nicht erfahren.

»Na gut«, stotterte sie. »Es kann wohl nicht schaden.«

Um Punkt eins fuhr er in einem schwarzen Audi vor. Aus dem Spalt zwischen ihren Schlafzimmervorhängen beobachtete Libby, wie er aufs Haus zukam. Er sah völlig anders aus als erwartet. Zum einen war er jünger, als sie gedacht hatte, etwa in ihrem Alter. Er war lässig gekleidet, in verblichene Jeans und ein graues Hemd, das er über der Hose trug. Er klopfte, und sie ließ sich Zeit mit dem Öffnen. Er sollte bloß nicht auf die Idee kommen, sie hätte auf ihn gewartet, obwohl genau das der Fall war.

»Hallo«, sagte sie.

Er nahm die Sonnenbrille ab und lächelte warm. Er hatte dunkelbraune Augen, die sanft und freundlich blickten, und Libby ertappte sich dabei, wie sie ebenso warm zurücklächelte. »Sie sind also Elizabeth.« Er streckte die Hand aus.

»Libby.« Sie ergriff sie. Er roch wunderbar, ein holziges Parfüm mit Moschusnote.

»Aus irgendeinem Grund hatte ich Sie älter geschätzt.«

»Geht mir genauso.« Sie war froh, dass sie die dunkelrote Bluse angezogen hatte, die ihrer blassen Haut schmeichelte. Sie genoss seinen anerkennenden Blick.

»Sollen wir? Ich verhungere.«

Libby folgte ihm zum Wagen und setzte sich auf den cremefarbenen Ledersitz. Dann fuhren sie die Strandpromenade entlang nach Süden, vorbei an Juliets Teestube. Libby duckte sich kurz in ihrem Sitz, was Tristan jedoch nicht zu bemerken schien. Dann bogen sie auf die Hauptstraße.

»Sie waren also in London?«

»Nein, in Paris. Die Adresse in London war die eines Freundes. Er hat Ihre Briefe nicht weitergeleitet.«

»Am Ende schon.«

»Er ist gestorben.«

»Das tut mir sehr leid«, sagte Tristan und senkte ernst die Stimme. »Wie lange sind Sie schon in Australien?«

»Seit ein paar Wochen. Ich stamme ursprünglich von hier. Meiner Schwester gehört das B & B.«

»Juliet? Natürlich. Das hätte mir klar sein müssen. Sie haben ja den gleichen Nachnamen.«

»Ach, Sie kennen Juliet?«

»Ich kenne viele Leute in der Stadt, leider aus den falschen Gründen. Ich bin derjenige, der die Eingaben der Gemeinde durchlesen muss, wenn wir Baugenehmigungen beantragt haben. Daher weiß ich, wie sehr mich manche hassen.« Er verzog das Gesicht und lachte dann. »Es macht keinen großen Spaß, der Buhmann zu sein.«

»Warum geben Sie nicht auf? Wenn die Stadt wirklich kein Hochhaus will?«

»Das Hochhaus ist längst vom Tisch«, sagte er mit einer weit ausholenden Geste. »Die Bevölkerung hat sich dagegen ausgesprochen. Die Gemeinde will es nicht, und unsere Firma arbeitet nach ethischen Grundsätzen. Letztes Jahr haben wir sogar einen Preis für Ethik im Baugewerbe gewonnen. Darauf sind wir stolz.«

»Dann wollen Sie das Cottage also nicht mehr kaufen?«

»Und ob. Aber lassen Sie uns beim Essen darüber reden. Ich will nicht als aufdringlicher Verkäufer erscheinen und würde gerne mehr über Sie und Paris und die Gründe für Ihre Rückkehr erfahren.«

Libby lieferte ihm eine Kurzfassung, bei der sie fast alle wichtigen Punkte ausließ – die zwölf Jahre dauernde Affäre, die lange Fehde mit ihrer Schwester –, aber voller Stolz erwähnte, dass sie jetzt freiberuflich für Winterbourne arbeitete, wenn sie nicht gerade malte.

»Ich habe kreative Menschen immer bewundert«, sagte er. »Ich habe nichts Kreatives mehr gemacht, seit ich in der Schule schlechte Gedichte geschrieben habe. Ich habe Geotechnik studiert.«

»Und das ist nicht poetisch?«

Er presste nachdenklich die Lippen aufeinander. »In gewisser Hinsicht schon. Es geht um die Geologie von Baufundamenten, dass man die Harmonie mit der Erde herstellt. Aber ich habe es nie als poetisch betrachtet. Und heutzutage arbeite ich meistens im Büro und beschäftige mich mit Geld, darin steckt nicht viel Poesie.«

Er sprach noch ein wenig über sich selbst – es stellte sich heraus, dass seine und ihre Highschool in den späten achtziger Jahren bis aufs Blut um Fußballpokale gekämpft hatten. Dann parkten sie in Noosa vor dem italienischen Restaurant, dessen Einrichtung aus viel Chrom bestand und das geschmackvoll beleuchtet war.

»Mr. Catherwood«, rief der Oberkellner. »Der übliche Tisch? Für Sie und Ihren reizenden Gast?«

»Bitte, Mario. Und eine Flasche von meinem Lieblingswein.«

Nachdem sie bestellt hatten, schenkte Tristan ihr ein Glas Wein ein. Er erinnerte sie in vielem an Mark, besaß das gleiche angeborene Selbstbewusstsein. Das Personal schien ihn zu mögen, und auch sie fand ihn sympathisch. Er wirkte nicht wie der typische erfolgsorientierte Verkäufer, sondern fröhlich und gelassen. Der Wein und der sanfte Jazz im Hintergrund halfen ihr, sich zu entspannen. Sie fühlte sich angenehm leicht und merkte bald, dass sie den Augenblick genoss.

Während des Essens kam er endlich zum Geschäftlichen. Er arbeitete seit zehn Jahren für Ashley-Harris Holdings und hatte sich zum stellvertretenden Abteilungsleiter für die Entwicklung hochgearbeitet. Er träumte von einer exklusiven Öko-Ferienanlage in Lighthouse Bay, genau an der Landzunge, wo das Cottage stand. Falls sie es kaufen konnten, würden sie auch Geld in Kauf und Restaurierung des Leuchtturms investieren, der der Ferienanlage das entscheidende Etwas verleihen und, wie er es ausdrückte, der Gemeinde »etwas zurückgeben« würde. Er holte aus seiner Brieftasche Fotos einer ähnlichen Anlage, die er in Tasmanien gebaut hatte, und Libby musste gestehen, dass sie wirklich eindrucksvoll aussah.

»Dieses Resort bedient eine ganz bestimmte Klientel. Wir verlangen neunhundert Dollar pro Nacht und haben selten Leerstand. Nicht einmal im Winter.«

Libby nickte. »Warum wollen Sie mein Cottage?«

»Weil es meine letzte Chance ist. Der Gemeinderat und die öffentliche Meinung haben verhindert, dass ich irgendwo anders baue. Gegenüber von Ihrem Haus ist nur Gebüsch, also kann sich niemand beschweren, dass ihm die Sicht verbaut wird. Und es liegt abseits des Gewerbegebiets, also gelten die dortigen Regelungen auch nicht. Ich gebe zu, zuerst waren wir zu ehrgeizig. Ein Komplex mit fünfzig Zimmern würde hier nicht funktionieren, und auch kein Hochhaus. Aber eine hochklassige Öko-Ferienanlage mit nur achtzehn Zimmern? Lighthouse Bay ist wie dafür geschaffen. Es wäre gut fürs Geschäft. Gut für den Tourismus. Gut für alle. Es würde Lighthouse Bay zu einem Begriff machen.«

Für alle? Sie überlegte, was Juliet wohl davon halten würde.

»Ihr Gesichtsausdruck verrät mir, dass Sie immer noch nicht verkaufen wollen.«

»Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen und mir das alles gezeigt haben. Aber vielleicht sollten Sie sich lieber woanders umsehen.«

»Lighthouse Bay ist wie dafür geschaffen. Es muss erschlossen werden. Unbedingt.« Dann kehrte er die Handflächen nach außen. »Aber ich verstehe. Darf ich Ihnen wenigstens ein paar Zahlen zusammenstellen und ein Angebot schicken?«

Wieder war Libby neugierig. Doch sie spürte auch eine leise Angst. Angesichts ihrer Geldprobleme könnte die Versuchung zu groß werden.

»Bitte.«

Sie schaute ihn an. Sein Lächeln war so aufrichtig. »Es kann nicht schaden. Aber machen Sie sich auf eine Enttäuschung gefasst.«

»Natürlich. Nachdem Sie einmal ein offizielles Angebot abgelehnt haben, lasse ich Sie in Ruhe. Ich bekomme trotzdem einen goldenen Stern, weil wir uns überhaupt getroffen haben. Das hat mein Boss schon seit Jahren vergeblich versucht.«

Sie lächelte. »Vielen Dank für das Essen.«

»Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite.« Er hielt ihren Blick flüchtig gefangen und wandte sich dann beinahe schüchtern ab, worauf Libbys Herz einen unerklärlichen Sprung machte. »Ich habe einen Termin um drei. Ich fahre Sie jetzt besser nach Hause.«


Abends fand sie das Angebot in ihrer Mailbox, als Anhang einer Nachricht von einem gewissen Yann Fraser. Tristans Name tauchte nirgendwo auf. Libby war seltsam enttäuscht. Als sie die Datei öffnete, blieb ihr fast das Herz stehen.

Das Angebot belief sich auf zweieinhalb Millionen Dollar.

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