Drei



Es war nicht der ideale Tag für eine Mutter-Kind-Gruppe. Cheryl hatte sich um sieben Uhr krankgemeldet, und Juliet hatte Melody noch nicht erreicht, um zu fragen, ob sie früher kommen konnte. Vielleicht könnte sie die Teestube bis Mittag, wenn Melody zum Dienst kam, allein bewältigen, sofern sie die schmutzige Wäsche in Zimmer 2 warten ließ. Nach dem Mittagessen könnte sie rasch nach oben laufen, die Betten frisch beziehen und das einzige vermietete Zimmer staubsaugen. Dann wäre sie bereit für die Nachmittagsgäste. So funktionierte es allerdings nur an einem normalen Morgen.

»Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus«, sagte die junge Frau mit dem runden Gesicht und dem ebenso rundgesichtigen Baby auf der Hüfte, »wir wollten uns eigentlich bei mir treffen. Leider hatte ich vergessen, dass die Handwerker heute kommen, um einen neuen Wäscheschrank aufzubauen. Das ist einfach zu laut.«

»Natürlich macht es mir nichts aus«, erwiderte Juliet und stellte im Kopf hektisch Berechnungen an. Es waren insgesamt zwölf Frauen. Selbst wenn jede von ihnen Scones mit Erdbeermarmelade und Rahm bestellte, blieben immer noch vierzehn Scones für die Stammgäste übrig. Sollte sie schon jetzt neuen Teig anrühren? Bevor alle zehn verschiedene Arten Kaffee bestellten und ihre Babyflaschen aufgewärmt haben wollten?

Schon kamen die Bestellungen herein, und Juliet eilte geschickt und anmutig zwischen Tischen und Küche hin und her und warf dabei einen betrübten Blick auf die vier ungeöffneten Toastpackungen, aus denen sie eigentlich die Sandwiches für die Mittagszeit zubereiten wollte. Der heutige Tag würde ein Alptraum werden. Augen zu und durch, anders ging es nicht. Zum Glück war Juliet harte Arbeit gewohnt. Sie band die langen, braunen Haare nach hinten und legte los.

Juliet‘s B & B und Teestube oder einfach Juliet‘s verdankte seinen Erfolg der günstigen Lage: unmittelbar am Strand gelegen, mit einer breiten, überdachten Holzterrasse, auf der Kleinkinder Möwen füttern und gehetzte Mütter ihre müden Augen mit einem Blick aufs Meer entspannen konnten. Doch der Erfolg stand und fiel mit Juliet. »Sie ist ein wahres Wunder«, hörte sie die Leute oft sagen. Manchmal sagten sie auch: »Sie ist mit ihrem Job verheiratet.« Allerdings erst nachdem sie die Annäherungsversuche von Sergeant Scott Lacey, dem früheren Unruhestifter der Bay High und jetzigen Ortspolizisten, zurückgewiesen hatte. Doch Juliet war weder ein Wunder noch mit ihrem Job verheiratet. Als ihr Vater vor fünfzehn Jahren starb, hatte er ihr das Geschäft hinterlassen, irgendjemand musste ja die Zügel in die Hand nehmen. Sie war erst dreiundzwanzig gewesen, wusste aber, dass das Lebenswerk ihres Vaters nicht vor die Hunde gehen durfte. Sie hatte die Teestube eröffnet, den Namen Juliet‘s außen angebracht und seitdem nicht einen einzigen Tag Urlaub gehabt. Selbst als sie drei Wochen in einem Meditationszentrum in Neuseeland verbracht hatte, hatte sie Cheryl täglich angerufen, um sich einen Lagebericht geben zu lassen, Probleme zu lösen und die enorme Aufgabenliste zu erweitern, die sie nach ihrer Rückkehr abarbeiten musste.

Um halb zwölf räumte Melody gerade die Tische auf der Terrasse ab, während Juliet im Eiltempo Sandwiches schmierte und das Telefon im Hintergrund endlos klingelte. Dann läutete es an der Tür. Juliet dachte nur: Bitte nicht noch mehr Gäste. Gib mir nur zehn Minuten, bis ich diese Sandwiches fertig habe.

Doch dann trat Melody in die Küchentür. »Du hast Besuch.«

Juliet blickte auf, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und schob sich eine Haarsträhne aus den Augen. »Wen denn?«

»Sie sagt, sie heißt Libby.«

Trotz der stickigen Wärme, die in der Küche herrschte, wurde Juliet eiskalt. »Nein. Bist du dir sicher?«

»Das hat sie jedenfalls gesagt«, antwortete Melody argwöhnisch. »Alles in Ordnung?«

Juliet fluchte nie. Nicht weil sie prüde gewesen wäre, nur wurden solche Worte oft derart zornig und heftig ausgesprochen, dass sie innerlich zusammenzuckte. Jetzt aber legte sie das Buttermesser hin, drückte die Handflächen auf die Arbeitsplatte aus Edelstahl und brüllte: »Verdammte Scheiße!«

Melody war erst neunzehn und wich, mehr erschreckt als verwirrt, vor ihr zurück. »Schon gut, ich sage, du bist zu beschäftigt.«

Juliet nahm die Schürze ab. »Nein, nein. Ich komme. Sie ist meine Schwester. Ich habe sie seit zwanzig Jahren nicht gesehen.« Ihr Herz schlug schneller. Zwanzig Jahre. Nicht seit … Juliet schüttelte den Kopf. »Hier«, sie reichte Melody die Schürze. »Du machst vier mit Schinken und Salat, vier mit Truthahn, Emmentaler und Cranberries und vier … Ach, lass dir was einfallen. Wo ist sie?«

»Auf der Terrasse. Ich bin noch nicht fertig mit Aufräumen, seit die Krabbelgruppe gegangen ist.«

Juliet schluckte mühsam. Ihr Mund war trocken. Sie ging nach draußen auf die Terrasse. Libby saß mit dem Rücken zu ihr, ihr schwarzes Haar glänzte in der Sonne. Sie trug ein ärmelloses, dunkelblaues Kleid, das einen starken Kontrast zu ihrer Elfenbeinhaut bildete. Juliet betastete unsicher ihr verschwitztes Haar. Die Tische waren voll mit schmutzigem Geschirr. Die Möwen taten sich an den halb zerkauten Resten gütlich, die die Kleinkinder hatten fallen lassen. Juliet verscheuchte sie.

Libby drehte sich um. »Juliet.« Sie sprang auf.

»Ich hatte nicht mit dir gerechnet.« Klang das zu kalt? Hätte sie sagen sollen: »Ich freue mich, dich zu sehen?« Freute sie sich denn wirklich, ihre Schwester zu sehen – nach zwanzig Jahren und acht Weihnachtskarten, die immer erst im Februar angekommen waren? Nein, eigentlich wollte sie fragen: »Was machst du hier«? Plötzlich bekam sie Angst, dass Libby ihren Anteil am Geschäft einfordern würde, das ihr Vater ihnen beiden vermacht hatte.

»Es tut mir leid«, sagte Libby mit dem gewinnenden Lächeln, das die Herzen der Jungen an der Bay High hatte höherschlagen lassen. Aller Jungen außer Andy. Sie breitete die Hände aus. »Jetlag. Ich kann nicht klar denken. Ich hätte vorher anrufen sollen.«

»Ich habe Zimmer frei, aber sie sind noch nicht fertig. Heute Morgen war furchtbar viel zu tun und …«

»Ich brauche kein Zimmer. Alles in Ordnung.«

»Wo willst du denn wohnen?« Wenn ihre Schwester eine Ferienwohnung gebucht hätte, hätte sie gewiss davon erfahren.

»Im Leuchtturm-Cottage auf dem Hügel. Komm, lass uns reden.«

Juliet ärgerte sich, weil Libby nicht zu begreifen schien, wie viel sie zu tun hatte. »Das geht nicht. Gleich ist Mittagszeit, ich habe jede Menge Arbeit. Das Cottage ist nicht zu vermieten. Irgendein englischer Geschäftsmann hat es gekauft.«

»Wir waren befreundet.«

»Juliet?«

Sie drehte sich um. Melody stand in der Tür.

»Entschuldige, aber gerade hat der Lighthouse Ladies Book Club angerufen. Sie möchten um halb zwei zum Essen kommen. Achtzehn Personen.«

Juliet ließ die Schultern hängen und wandte sich wieder Libby zu. »Es tut mir leid, aber ich kann jetzt nicht mit dir reden.«

Libbys Pupillen zogen sich zusammen. Sie war gekränkt. Juliet wurde wütend. Wenn ihre Schwester nicht begreifen konnte, dass sie den denkbar schlechtesten Zeitpunkt ausgewählt hatte, um nach zwanzig Jahren wieder aufzutauchen, war das nicht ihr Problem. »Wie lange bleibst du? Können wir uns vielleicht unterhalten, wenn ich nicht so viel zu tun habe?«

»Sicher«, sagte Libby und hängte ihre Tasche um.

Juliet schaute ihr nach. Jahre der Bitterkeit und Reue, des Kummers und der Angst tobten in ihr. Andererseits hatte sie zu viel zu tun, um jetzt darüber nachzudenken.


Im Breakers Room des Lighthouse Bay Surf Clubs fanden sämtliche Hochzeitsempfänge, die Bankette anlässlich des Melbourne-Cup-Rennens und Gemeindeversammlungen statt. Als Teenager hatte Juliet hier ihren ersten Kellnerjob gehabt und Häppchen und Gläser mit dem zweitbilligsten Champagner serviert. An diesem Nachmittag saß sie jedoch auf einem harten Plastikstuhl mit zwei Dutzend weiteren engagierten Bürgern und hörte sich den Vortrag eines gutaussehenden, aalglatten Herrn namens Tristan Catherwood an. Er vertrat eine Firma namens Ashley-Harris Holdings, die seit Jahren wie ein Wolf um Lighthouse Bay herumschlich. Alle Bauvorhaben der Firma waren von der Bezirksregierung abgelehnt worden: die achtstöckige Ferienanlage, die fünfstöckige Ferienanlage und, erst kürzlich, die dreistöckige Ferienanlage. Allerdings schienen Catherwood und seine Leute den Wink mit dem Zaunpfahl nicht zu begreifen: Niemand wollte überhaupt irgendein Ferienresort in Lighthouse Bay.

Doch auch das war nicht ganz richtig. Einige Leute glaubten daran, dass eine richtige Anlage – mit Fitnessstudio und schickem Pool, reetgedeckten Pergolen und Geldspielautomaten in der Bar – den Ort bekannt machen könnte. Dann wäre dies keine verschlafene Kleinstadt mehr, in der es gerade genügend Ferienwohnungen und Pensionen gab, um den familienorientierten Tourismus am Laufen zu halten. Großes Geschäft, großes Geld.

Doch Juliet wollte keine großen Geschäfte in der Bucht. Diese bedeuteten Einzelhandelsketten, und sie fürchtete, dass sie ihren Betrieb schließen müsste, sobald sich eine Kaffeehauskette ansiedelte. Bei dem Gedanken kribbelten ihre Füße, als würden sie in ein Loch fallen. Alle wussten, dass es bei Juliet‘s den besten Kaffee der Stadt gab. Ihr Frühstück war berühmt. Doch in den dunklen Winkeln ihrer Phantasie sah sie, wie ihre Kunden davonzogen, um an Tischen aus Holz und Chrom Caffè Latte aus logobedruckten Tassen zu schlürfen, während sie auf vier leeren Gästezimmern und selbstgebackenen Scones sitzenblieb.

Sie zitterte. Vermutlich war die Klimaanlage zu hoch eingestellt.

Nachhaltig. Das war Tristan Catherwoods Lieblingswort. Als wüsste er, was es bedeutete. Als hätte er auch nur die geringste Ahnung davon, dass ein Küstenstädtchen ein empfindliches Ökosystem besaß, das nur allzu leicht kippen konnte.

»Wir bei Ashley-Harris Holdings haben uns Ihre Sorgen angehört und arbeiten sehr hart daran, eine nachhaltige Zukunftsvision für Lighthouse Bay zu entwickeln, während wir gleichzeitig den Nutzen für Ihre Gemeinde und unsere Investoren maximieren.« Die dramatische Betonung war beleidigend, er sprach, als hätte er es mit einem Raum voller tauber Rentner zu tun.

Juliet schaute sich um. Gut, es gab einige taube Rentner unter ihnen, aber trotzdem …

Nach diesen Versammlungen lud Ashley-Harris immer zu Tee und Gebäck ein, doch Juliet konnte es nicht ertragen, dazubleiben und zu plaudern. Sie empfand Teebeutel und gekaufte Kekse als Beleidigung. Hätte es die Firma denn umgebracht, einheimische Produkte zu kaufen? Sie ging durch die Bar und musste sich zwingen, nicht schnell einen Scotch zu trinken. Draußen machte sie einen Spaziergang durch den Park zum Strand, um einen klaren Kopf zu bekommen, bevor sie wieder an die Arbeit ging. Warum quälte sie sich überhaupt zu diesen Gemeindeversammlungen? Danach hatte sie tagelang ein schmerzhaftes Gefühl in der Kehle. Irgendwann würde Ashley-Harris Holdings einen Weg finden, um die Ferienanlage zu bauen. Sie würden ein Grundstück finden und eine Möglichkeit, die Bezirksregierung zu beschwichtigen, und dann würde die Zukunft über Lighthouse Bay hereinbrechen, so wie die Flut nachts über den Strand hereinbricht: wirbelnd und unentrinnbar, und sie würde sie in eine Richtung zerren, in die sie eigentlich nicht wollte.

Vor sich bemerkte sie eine dunkle Gestalt am Strand. Zuerst dachte sie, jemand hätte seine Kleider im Sand gelassen, um schwimmen zu gehen, doch dann erkannte sie, dass es sich um eine große Meeresschildkröte handelte.

Juliet lief auf sie zu. Falls sie noch lebte, wäre es im Grunde sogar schlimmer. Eine so große Schildkröte konnte sie nicht hochheben, und falls sie wegen einer Krankheit gestrandet war, würde sie vermutlich ohnehin nicht überleben. Aber die Schildkröte war schon tot, ihre schwarzen Augen blickten ins Leere, und aus ihrem Maul ragte ein Stück von einer blauen Plastiktüte. Sie hatte die Tüte für eine Qualle gehalten und war daran erstickt. Müll, vor allem Plastikmüll, tötete in dieser Gegend die meisten Meeresschildkröten.

Juliet wünschte sich, dass Tristan Catherwood genau jetzt neben ihr stünde. »Nachhaltig, Tristan?«, würde sie ihn fragen. »Wie wollen Sie die ganzen Touristen daran hindern, unsere einheimische Meeresfauna versehentlich zu vernichten?«

Sie schaute seufzend aufs Meer hinaus. Die Brise ließ ihr langes braunes Haar flattern und riss an ihrem weiten Baumwollkleid. Sie verstand nicht, weshalb die ganze Welt immer alles größer und besser machen und von allem mehr haben wollte. Was war denn so falsch daran, wenn kleine Dinge so blieben, wie sie waren? Sie warf einen Blick zu dem alten Leuchtturm und dachte an Libby. Für sie war Lighthouse Bay immer zu klein und Juliet heilfroh gewesen, als sie weggegangen war.

Nie hätte sie damit gerechnet, dass ihre Schwester zurückkommen würde, die immer noch nicht hierherpasste mit ihrem schimmernden, dunklen Haar und der faltenlosen weißen Haut. Sie sah aus, als hätte sie sich noch nie um etwas Sorgen gemacht. Zwanzig Jahre in Paris als … nun, Juliet wusste nicht, was Libby in Paris gemacht hatte. Doch wenn sie glaubte, sie könne einfach so herkommen und die Hälfte des Geschäftes übernehmen, hatte sie sich geirrt. Juliet hatte die ganze Arbeit gemacht. Vielleicht könnte sie eine neue Hypothek aufnehmen und Libby auszahlen. In ihrem Kopf kreisten die verrücktesten Gedanken, wie immer, wenn es um Geld ging. Sie zwang sich, sich ganz auf die Gegenwart zu konzentrieren.

Die Spätnachmittagsschatten krochen über den Sand. Juliet ging nach Hause, um den Küstenschutz anzurufen. Sie würden die Schildkröte mitnehmen, sezieren und überprüfen, woran sie gestorben war. Doch eigentlich war der Grund offensichtlich: Sie war am Fortschritt um des Fortschritts willen gestorben, der rücksichtslos und ohne jegliches Gewissen war. Und dies war die Ware, mit der Tristan Catherwood handelte.


Abends um zehn war es gewöhnlich vollkommen still. Die Arbeit war erledigt, Küche und Teestube waren sauber, die Gäste schliefen, Formulare waren ausgefüllt und abgeheftet. Dann konnte sich Juliet endlich bei einer Kanne Tee entspannen, bevor sie eine Stunde später ins Bett ging. An diesem Abend hatte sie einen Übernachtungsgast: die siebenjährige Tochter ihrer Freundin und Mitarbeiterin Cheryl. Cheryl arbeitete eine Nachtschicht pro Woche im Surfclub, um Katies Privatschule zu finanzieren. Für eine alleinerziehende Mutter gab es um diese Uhrzeit kaum Betreuungsmöglichkeiten, also sprang Juliet ein. Katie schlief seit acht Uhr tief und fest im Gästebett in Juliets Schlafzimmer.

Juliet schloss die Tabellenkalkulation, ging ins Internet und rief die üblichen Seiten auf. Es war ein warmer Abend, und sie beugte sich vor, um ein Fenster zu öffnen. Es störte sie, dass sie das Meer zwar hören, aber nicht sehen konnte. Vor zehn Jahren war sie aus der Wohnung mit Meerblick ausgezogen und hatte sie in zwei Gästezimmer umgewandelt. Damals hatte sie gehofft, dass es nur vorübergehend wäre; dass sie bald heiraten und Kinder bekommen und in ein größeres Haus ziehen würde. Aber sie war noch immer hier. Die Größe der Wohnung war eigentlich kein Problem. Unten gab es eine geräumige Küche, falls sie etwas Aufwendiges kochen wollte, und der kleine Raum hier oben war leichter sauber zu halten, was angesichts ihrer Arbeitsbelastung kein Nachteil war. Dass sie nicht verheiratet und Mutter war, störte sie hingegen sehr. Sie war achtunddreißig und kam sich vor, als zerrte man sie durch ein Fenster, das immer enger wurde. Eigentlich hätte sie schon vor vier Jahren den Richtigen kennenlernen müssen, damit sich das Fenster nicht vor ihrer Nase schloss.

Die Schlafzimmertür ging auf. Katie stand im Schlafanzug da und kniff die Augen zu.

»Was ist denn los, Liebes?«

»Ich habe schlecht geträumt.« Das kleine Mädchen tapste herüber und kuschelte sich auf ihren Schoß. »Wo ist Mummy?«

»Sie arbeitet noch. Sie holt dich morgen früh ab.« Juliet strich über Katies blondes Haar. »Hilfst du mir morgen beim Frühstück?«

Katie zuckte schlaftrunken mit den Schultern.

»Mach dir keine Sorgen wegen der schlechten Träume. Die verschwinden, sobald du die Augen aufmachst.«

Katie drückte sich wortlos an sie. Juliet spürte den Herzschlag des kleinen Mädchens. Tock-tock, tock-tock, tock-tock.

Schließlich fragte Katie: »Wer sind die ganzen Leute auf den Bildern?«

»Männer.« Juliet warf einen Blick auf den Bildschirm.

»Sind das alles deine Freunde?«

»Nein, ich kenne keinen von ihnen.« Juliet war verlegen. Hoffentlich erzählte Katie ihrer Mutter, die immer noch hoffte, Juliet werde sich irgendwann von Scott Laceys Flehen erweichen lassen, nichts von Datemate. »Das ist nur eine Internetseite, auf der man neue Freunde kennenlernen kann.«

Katie hatte jedoch bereits das Interesse verloren und gähnte.

»Komm, ich bringe dich wieder ins Bett.«

Sie hob Katie hoch und trug sie zurück zum Gästebett, deckte sie zu und sang ihr noch ein Schlaflied vor. Dann schloss sie leise die Tür und kehrte zu den Männergesichtern auf dem Bildschirm zurück. Sie hatte nie mit einem von ihnen Kontakt aufgenommen. Nicht ein einziges Mal. Dennoch verbrachte sie viel Zeit damit, sie nacheinander anzuklicken, über ihre Interessen, politischen und religiösen Überzeugungen zu lesen. Manche wirkten sehr nett und natürlich, andere waren hemmungslose Egomanen. Manche sahen gut aus, andere unscheinbar, aber freundlich. Doch bei keinem Einzigen hatte sie den Wunsch verspürt, sich mit ihm auf einen Kaffee zu verabreden. Sie warf einen Blick auf das gerahmte Bild von Andy im Bücherregal, auf dem er ewig neunzehn Jahre alt war.

»Juliet?«

Sie drehte sich um. Katie stand schon wieder in der Tür.

»Legst du dich zu mir? Ich habe Angst.«

Juliet schaltete den Computer aus und stand auf. »Na, komm.« In der Dunkelheit zu liegen und einer Siebenjährigen etwas vorzusingen, war eigentlich nicht ihre Vorstellung von einem perfekten Freitagabend, aber es ließ sich nicht ändern. Cheryl war sieben Jahre älter als Juliet und hatte irgendwann beschlossen, dass es besser wäre, eine alleinerziehende als gar keine Mutter zu sein. »Das Problem ist«, hatte sie damals gesagt, »dass Männer um die vierzig Frauen um die zwanzig haben möchten.«

Juliet wusste nicht, wie viele von Cheryls Weisheiten über Männer und ihre Wünsche der Wahrheit entsprachen, und versuchte daher, positiv zu denken. Wenn es passieren soll, passiert es, sagte sie immer.

Doch in den dunkleren Stunden der Nacht fürchtete sie manchmal, dass es nie passieren würde. Sie hatte ihre Chance gehabt. Sie hatte eine wahre, verrückte, tiefe Liebe erlebt. Vielleicht wäre es anmaßend, das noch einmal zu verlangen.

Katie wickelte eine ihrer langen, braunen Haarsträhnen um den Zeigefinger. Von fern grollte Donner. »Geh nicht weg«, sagte sie.

»Das werde ich nicht«, erwiderte Juliet sanft. »Mach die Augen zu.«

Sie sah zu, wie das Kind einschlief, und blieb noch ein bisschen bei ihr, während das Gewitter heranzog. Sie war froh, im Dunkeln Gesellschaft zu haben.


Es dauerte Tage, bis Libby den Jetlag überwunden hatte, und sie konnte immer noch nicht richtig schlafen. In ihrem Kopf kreisten die Gedanken. Manche waren praktischer Natur, zum Beispiel wann ihre Sachen aus Paris eintreffen würden. Andere waren komplizierter. Sie fragte sich, wie sie sich an dieses neue Leben gewöhnen und sich mit ihrer Schwester versöhnen sollte. Sie schloss die Augen, versuchte es auf der linken Seite, dann auf der rechten und stand schließlich auf. In der Ferne zog ein Gewitter herauf. Sie schaltete die Taschenlampe ein, ging ins Hinterzimmer – das Atelier, wie sie es schon bei sich nannte – und öffnete das Fenster. Die kühle Meeresluft und das Rauschen der Wellen fluteten herein. In der Ferne zeichneten sich Blitze vor den Wolken ab. Sie stellte die Taschenlampe in eine Tasse, so dass sie an die Decke leuchtete. Das reichte, um die Malutensilien auszupacken. Vielleicht würde sie davon müde genug, um endlich zu schlafen. Mark hatte natürlich an alles gedacht. Nicht nur an die Aussicht und das Licht, das durch die Fenster fiel. Auch an die Staffeleien, die Leinwände auf Keilrahmen aus Zedernholz, einen Rollschrank voller Farben, Pinsel, Paletten, Palettenmesser, Flaschen mit Leinöl, Gummi arabicum, Terpentin und Firnis, zusammengerollte Lappen, die mit einem blauen Band verschnürt waren, sogar Gläser mit Schellack, Bienenwachs und Bimssteinpulver. Die Gerüche von Öl, Lösungsmitteln, Holz und Erde stiegen ihr zu Kopf. Auf einem Regal waren Tinte, Schreibfedern und Aquarellpapier angeordnet, dazu Kunstbücher über Cézanne, Monet und Turner. Während der Wind böiger wurde und der Donner näher rückte, packte sie alles aus und verstaute es ordentlich in den Schubladen. Sie arbeitete mechanisch, weil sie einerseits müde war und andererseits das alles ohne Mark nicht richtig genießen konnte. Er hatte all diese Dinge gekauft und sich vorgestellt, sie eines Tages mit ihr auszupacken. Dass er ihr Gesicht sehen und ihre Freudenschreie hören würde, dass sie mit Champagner auf ihr neues Atelier im Strandcottage anstoßen würden. Doch in ihrer Sturheit und Angst hatte sie sich immer wieder geweigert, mit ihm herzukommen. Jetzt war es zu spät, um ihm für seine Großzügigkeit zu danken und vor allem dafür, dass er ihren Traum vom Malen ernst genommen hatte.

Als es richtig anfing zu regnen, fiel ihr ein, dass im Wohnzimmer und in der Küche die Fenster offen standen. Sie schnappte sich die Taschenlampe und eilte hinaus. Der Wind wehte heftig und schlang die Vorhänge zu Knoten, erfüllt vom süßen, feuchten Geruch des Regens. Libby schob die Fenster zu. In den Räumen blieb eine stickige Feuchtigkeit zurück. Sie hätte sie am liebsten wieder geöffnet, aber dann müsste sie am Morgen das Regenwasser vom Boden wischen. Sie ging zur anderen Seite des Hauses und öffnete die Haustür. Von hier aus konnte sie den Gewitterhimmel sehen, ohne nass zu werden. Eine Zeitlang sah sie zu, wie die Blitze über den Himmel zuckten und der Wind die Bäume in alle Richtungen bog. Dann schaute sie zum Leuchtturm hinüber.

In einem der Fenster flackerte ein schwaches Licht. Libby blinzelte angestrengt, weil sie ihren Augen nicht traute. Der Leuchtturm stand ganz sicher leer. Und doch war da Kerzenlicht. Wer mochte um diese Uhrzeit mit einer Kerze in dem alten Gebäude sein? In ihrem Bauch kribbelte es, als ihr einfiel, wie unheimlich sie den Leuchtturm als Kind gefunden hatte. Pirate Pete warf einen langen Schatten.

Aber nein, die Müdigkeit und das Gewitter hatten sie nervös gemacht. Sie kehrte ins Bett zurück, trat die Decke beiseite und versuchte, nackt in der stickigen Wärme zu schlafen, was ihr allerdings mehr schlecht als recht gelang, denn sie träumte von flackernden Lichtern in Fenstern und einem kalten Ozean, der wie ein Ungeheuer brüllte.

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