Siebenundzwanzig



Seit über einer Woche hatte Libby keine Lebenszeichen im Leuchtturm gesehen und war daher überrascht, als Damien am Samstagnachmittag im Cottage auftauchte.

»Hi«, sagte sie und trat beiseite, um ihn hereinzulassen. »Ich würde ja wirklich sagen, dass Bossy dich schrecklich vermisst, aber ich glaube, sie hat es nicht mal bemerkt.«

Er setzte sich neben die Katze aufs Sofa und begann sie unter dem Kinn zu kraulen. Sie reckte sich einmal und schlief weiter. »So sind Katzen. Freuen sich immer, einen zu sehen.«

»Wo bist du gewesen?«

»Im B & B. Ich wollte mich bei dir bedanken, weil du mir den Tipp mit Juliet gegeben hast. Ich baue ihr eine neue Küche und kann dafür jede Nacht in einem schönen, weichen Bett schlafen.« Dann stand er auf und warf ihr einen strafenden Blick zu, der nicht ganz ernst gemeint war. »Allerdings hattest du ihr nicht gesagt, dass ich komme.«

»Nein. Wir sind irgendwie …«

»Ja, ich weiß.«

»Hat Juliet dir alles erzählt?«

»Sie hat mir manches erzählt. Genau wie Cheryl. Aber dass du jetzt mit Tristan Catherwood zusammen bist, dem Feind der gesamten Stadt … das nenne ich Mumm«, neckte er sie.

»Hör auf.« Sie schlug spielerisch nach ihm. »Du hasst mich also nicht?«

»Ich hasse dich nicht.«

»Und du stehst nicht auf ihrer Seite?«

»Ich stehe auf eurer Seite. Ich finde, ihr solltet versuchen, euch auszusprechen. So etwas wirft man nicht einfach weg.«

Plötzlich wurde Libby unsicher und ging in die Küche, um den Wasserkocher einzuschalten, damit sie ihr Gesicht verbergen konnte. »Tee? Oder möchtest du zum Essen bleiben?«

»Tee wäre wunderbar. Heute Abend brauchst du mich allerdings nicht zu füttern. Juliet versorgt mich immer mit übriggebliebenen Quiches und Roastbeef-Sandwiches.«

Sie schaute ihn prüfend an. »Du siehst tatsächlich viel gesünder aus.«

»Eine Woche in Juliets Pflege.« Libby fand, dass er sich sehnsüchtig anhörte. Sie machte sich an der Teekanne zu schaffen und schob Bossy vom Sofa, damit sie sich zusammensetzen konnten. »Heißt das, du hast dir eine Auszeit von deinem Leuchtturm-Geheimnis genommen?«

»Ganz und gar nicht. Ich habe meine Sachen ausgeräumt und die Kiste mit den Papieren mit zu Juliet genommen. Ich habe sie chronologisch geordnet, aber es fehlen viele Daten. Daten, über die ich gern etwas wüsste.«

Sie goss Tee ein und lehnte sich mit ihrer Tasse zurück. »Erzähl weiter.«

»Ich habe noch einmal das Tagebuch gelesen, das ich dir geliehen hatte. Das, in dem Matthew Seaward die geheimnisvolle Frau namens ›I‹ immer öfter erwähnt. Er schreibt nie ausführlich über sie oder seine Gefühle, aber … Für mich hört es sich an, als wäre er in sie verliebt gewesen.«

»Ehrlich?«

»Vielleicht bin ich nur schmalzig.«

»Schmalzig. Schönes Wort.«

»Du weißt, was ich meine. Vielleicht deute ich Dinge hinein, die gar nicht da sind. Ab und zu erwähnt er sein ›hübsches Vögelchen‹, und ich frage mich, ob er sie meint oder ein echtes Haustier. Ein anderes Mal schreibt er, sie sei mit einem Dampfer nach Brisbane gefahren, und dieser eine Satz sagt alles. ›Der Leuchtturm scheint leerer als gewöhnlich.‹ Es klingt, als hätte er Liebeskummer.« Er trank von seinem Tee. »Ich frage mich, ob sie gewusst hat, was er für sie empfand.«

Ein Lächeln spielte um Libbys Lippen, als sie Damien anschaute. »Du klingst selbst ein bisschen … als hättest du Liebeskummer.«

Er schaute sie von der Seite an. »Deine Schwester ist schon etwas Besonderes.«

Die Antwort kam so unerwartet, dass ihr der Mund offen stand. »Juliet? Aber sie ist zehn Jahre älter als du. Sie war deine Babysitterin.«

»Ich weiß, also wird sie in mir immer nur ein Kind sehen, stimmt‘s? Aber wir sind jetzt beide erwachsen. Meinst du, ich habe eine Chance bei ihr?«

Sie wollte ihm so gern Mut machen, konnte es aber nicht. »Das kann ich dir ehrlich nicht sagen. Ist das nicht traurig? Ich kenne meine Schwester nicht gut genug, um diese Frage zu beantworten. Ich nehme an, sie ist eher konventionell, daher …« Dann lächelte sie, konnte einer kleinen Neckerei nicht widerstehen. »Soll ich mich vielleicht deshalb mit ihr versöhnen?«

Er lachte leicht. »Vergiss, dass ich gefragt habe.«

»Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Außerdem weiß ich nicht, ob Juliet jemals wieder mit mir sprechen wird. Vermutlich bekomme ich gar nicht die Gelegenheit, dich zu verraten.«

Sie schwiegen einen Moment. Bossy sprang auf Damiens Schoß, und das Geräusch des Meeres und das Summen des Ventilators lullten Libby ein wenig ein. Dann sagte er plötzlich: »Juliet hat mir erzählt, was an dem Abend passiert ist, an dem Andy starb.«

Das schlechte Gewissen und die Scham waren überwältigend. »Oh.« Mehr brachte sie nicht heraus.

Er sagte nichts weiter, kraulte nur Bossys Ohren.

»Ich weiß, dass ich das war«, sagte sie schließlich. »Aber es kommt mir vor, als wäre es ein anderer Mensch gewesen. Zwanzig Jahre. Mein halbes Leben. Damals kam ich mir erwachsen vor, aber heute weiß ich, dass ich praktisch noch ein Kind war.«

»Als Juliet mir davon erzählt hat, hatte ich schreckliches Mitgefühl mit ihr. Aber auch mit dir.«

Sie schaute ihn skeptisch an. »Tatsächlich?«

»Wir alle machen in unserer Jugend Fehler. Die meisten sind nicht tragisch. Du hast allerdings großes Pech gehabt. Das habe ich Juliet auch gesagt.«

Sie schaute in ihre Teetasse und bemerkte, dass ihre Hände zitterten. Die Erinnerungen an jene Nacht kamen wieder hoch. Das Salzwasser in der Kehle, der kalte Wind, die Sirenen, die wachsende Angst. Am schlimmsten aber waren Juliets Schreie, die wie die eines verwundeten Tieres klangen, nicht mehr menschlich. »Ich war ein Idiot«, stieß sie hervor. »Wenn ich nicht ins Wasser gegangen wäre, würde er noch leben. Er und Juliet wären verheiratet und hätten Kinder. Sie wäre glücklich geworden.« Sie kniff die Augen zu, um die Tränen zu unterdrücken.

»Das kannst du nicht wissen. Sie waren noch Kinder, als sie zusammenkamen; es hätte auch alles schiefgehen können. Das kann man nie mit Sicherheit sagen.«

»Nein. Aber ich habe ihnen die Möglichkeit genommen, diesen Traum zu leben. Ich habe ihr Leben zerstört.«

»Ihr Leben ist nicht zerstört.«

Sie blickte auf. »Genau das Gleiche hat sie auch gesagt. Genauso.«

»Dann muss es stimmen.« Er lächelte warmherzig und sanft. »Bist du wegen des Unfalls nach Paris geflohen?«

»Ja. Ich meine, ich wollte schon immer weg aus dieser Stadt. Doch als es passierte, wollte ich auch so weit wie möglich weg von Juliet. Die Schuld hat mich förmlich erdrückt. Es hat geholfen, dass sie mich nie wiedersehen wollte.« Libby hielt kurz inne. Juliets Worte klangen ihr in den Ohren und weckten die furchtbaren Schuldgefühle aufs Neue. Sie wollte die Augen schließen und im Boden versinken und nie wieder daran denken müssen, doch Damien wartete darauf, dass sie weiterredete. »Ich sprach gut Französisch, also habe ich keinen Rückflug gebucht. Ich bin weggelaufen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und irgendwie wurden aus einem Jahr zwei, dann vier, dann zehn, dann … Ich habe alles verpasst. Jeden Geburtstag, jedes Weihnachten, Dads Beerdigung. Ich habe keine Ahnung, was Juliet in der Zeit gemacht hat, weil ich sie nie danach gefragt habe. Vermutlich würde sie es mir erzählen, wenn sie geheiratet oder ein Kind bekommen hätte. Manchmal habe ich mich gefragt, wie ihr Leben aussehen mag, aber dann bekam ich ein so schlechtes Gewissen …« Ihre Stimme bebte, und sie musste tief Luft holen, um nicht zu weinen. »Ich habe mich gezwungen, sie zu vergessen.«

Damien schob Bossy auf seinem Schoß zurecht und legte sanft die Hand auf Libbys Arm. »Es ist alles gut.«

Etwas in seiner Berührung, seiner Stimme machte sie ungeheuer zornig. Warum sollte dieses Kind Mitleid mit ihr haben? Ihr Mut zusprechen? Sie zuckte zusammen und zog die Hand weg. »Ich weiß, dass es gut ist«, fauchte sie und schämte sich sofort. Sie stand auf und ging ans Fenster. Sie spürte ihn hinter sich im Zimmer, wo er geduldig wartete. Anscheinend hatte er ihr die hitzigen Worte nicht übelgenommen. »Könnten wir bitte das Thema wechseln?«

»Sicher. Tut mir leid, dass ich es erwähnt habe.«

»Nun, zu unserem liebeskranken Leuchtturmwärter …«

»Mir fehlen einige Papiere von 1901. Sein Tagebuch bricht ab, als es gerade interessant wird und er … ähm … liebeskrank. Dann schreibt er nichts mehr. Das nächste Tagebuch stammt von seinem Nachfolger.«

Libby drehte sich zu ihm um, den Rücken an die Spüle gelehnt. Er wurde immer noch von Bossy auf dem Sofa gefangen gehalten. »Wo könnten diese Unterlagen sein?«

»Ich habe so eine Ahnung. Aber ich komme nicht heran.«

Sie neigte fragend den Kopf.

»Sie sind bei mir zu Hause. Mit all meinen anderen Sachen. In dem Haus, in das ich nicht hineinkomme. Als mein Großvater starb, hat er kistenweise Bücher und Papiere hinterlassen. Meine Mutter hat ein halbes Dutzend davon in mein altes Zimmer gestellt, weil sie sie irgendwann durchgehen wollte. Ich glaube, sie hat sie vergessen. Aber ich habe den Verdacht, dass auch einige alte Dokumente aus dem Leuchtturm dabei sein könnten, darunter das Tagebuch von Matthew Seaward.«

»Warum kannst du die Kisten nicht durchsuchen, wenn sie bei dir zu Hause sind?«

Er verzog das Gesicht. »Weil meine Ex da wohnt. Und sie ist auf hundertachtzig.«

Allmählich verstand sie sein Dilemma. »Was hast du ihr angetan?«

Nun war es an ihm, verlegen und verärgert zu sein. »Ich habe ihr gar nichts angetan.«

»Du hast gesagt, sie sei auf hundertachtzig.«

»Weil ich aufgehört habe, sie zu lieben«, platzte er heraus. »Sie ist wütend, weil ich sie nicht mehr liebe.«

Libby setzte sich neben ihn und rieb Bossys Ohren. »Also hat sie dich ausgesperrt?«

»Und sämtliche Passwörter unserer gemeinsamen Konten geändert. Aber sie wird sich schon wieder abregen.«

Libby schaut ihn prüfend an. »Du hast Angst vor ihr, was?«

»Sie ist jähzornig. Das schüchtert mich ein bisschen ein.«

»Du darfst dir das nicht gefallen lassen. Du brauchst deine Sachen. Du musst nach vorn blicken.«

»Ich weiß.«

Sie lächelte. »Ich brauche den letzten Teil von Seawards Tagebuch.«

Er lächelte und entspannte sich wieder. »Vielleicht kann ich sie noch einmal anrufen. Vielleicht hört sie mir ausnahmsweise zu, statt mich zu beschimpfen und aufzulegen.«

Libby konnte sich nicht vorstellen, dass jemand den sanften, freundlichen Damien so behandelte, und spürte plötzlich den Drang, ihn zu beschützen. »Würde es helfen, wenn ich sie anriefe? Oder mit dir hinfahren würde?«

Doch er schüttelte sofort den Kopf. »Nein, nein, nein. Ich muss das allein regeln.« Er holte tief Luft. »Danke für den Tipp. Ich bin im B & B, falls du mich brauchst.«

»Es fällt mir schwer, dorthin zu gehen. Aber du kannst jederzeit zu mir kommen.«

Erst als sie sich an der Tür von ihm verabschiedete, fiel ihr die Sache mit Graeme Beers ein. Sie erzählte ihm davon, und im Gegensatz zu Tristan und Scott glaubte Damien ihr sofort.

»Was meinst du, wonach er sucht?«

»Keine Ahnung.«

»Und er hat nie versucht, hier einzudringen?«

»Gott sei Dank nicht.«

»Es hat etwas mit deinem Haus zu tun. Vielleicht meint er, er hätte irgendeinen Anspruch darauf. Wohnen Verwandte von ihm in der Gegend? Geht es vielleicht um die Grundstücksgrenzen?«

»Oder er hat etwas verloren. Aber falls ja, was und wann?« Sie lehnte sich an den Türrahmen. »Soll ich ihn einfach darauf ansprechen?«

Damien schüttelte den Kopf. »Nein. Er könnte gefährlich sein. Man kann nie wissen.«

Ihre Haut fühlte sich plötzlich kalt an. »Sergeant Lacey glaubt mir nicht.«

»Sorge dafür, dass die Türen gut abgeschlossen sind und du dein Handy immer griffbereit hast. Ich wünschte, ich hätte eins, damit du mich anrufen kannst, aber das ist bei meinen anderen Sachen.«

Aus irgendeinem Grund fand Libby das lustig. Sie unterdrückte ein Lachen, doch Damien bemerkte ihr Augenzwinkern und lachte ebenfalls. Es tat gut, wenn man seine eigene missliche Lage nicht so ernst nahm.

»Darf ich dir einen Rat geben?«, fragte sie.

»Sicher, nur zu.«

»Falls du dich ernsthaft für meine Schwester interessierst, solltest du dafür sorgen, dass du unter deine andere Beziehung einen Schlussstrich ziehst. Ich habe keine Ahnung, ob sie euren Altersunterschied problematisch findet, aber sie würde sich bestimmt nicht mit jemandem einlassen, der so viele alte Beziehungsprobleme mit sich herumschleppt. Du musst es jetzt regeln, nicht irgendwann.«

Er nickte. »Ein guter Rat. Ich lasse ihn mir durch den Kopf gehen. Und weißt du, was ich dir rate?«

Er merkte, wie sie sich innerlich sträubte, und lächelte. »Na los, du musst ihn dir anhören.«

»Schön, wie lautet er denn?«

»Vergiss, was du in der Vergangenheit getan hast. Denk lieber daran, was du jetzt, in der Gegenwart, tun kannst.«

»Danke«, sagte sie mit einem leichten Nicken. »Ich denke darüber nach.«


Am Montagmorgen kam Juliet nach unten und entdeckte Melody, die sich lachend und flirtend an Damiens Tisch herumdrückte.

Ihr Magen zog sich zusammen. Melody war gerade erst zwanzig geworden und ihm somit vom Alter her näher als Juliet. Außerdem hatte sie makellose Haut und lange, schlaksige Fohlenbeine. Sie spielte mit dem Gedanken, Melody in die Küche zu schicken, um die Lieferung der Bäckerei entgegenzunehmen – immerhin war das ihre Aufgabe –, ließ es aber sein. Cheryl hatte sie gewarnt. Datemate hatte es bestätigt. Sie würde Damien nicht daran hindern, woanders sein Glück zu finden.

»Guten Morgen«, sagte sie leise und ging in die Küche.

Kurz darauf traf die Lieferung von der Bäckerei ein, und Juliet lenkte sich damit ab, Waren und Rechnung zu prüfen. Der einzige Gast kam nicht zum Frühstück herunter, es wurde ein ruhiger Morgen. Sie bereitete den Teig für die Scones vor und schnitt sie gerade auf der bemehlten Arbeitsplatte, als Damien hinter sie trat.

»Juliet?«

Sie zuckte zusammen und legte die Hand aufs Herz.

»Entschuldigung.«

»Ich war im Geist kilometerweit entfernt. Wie war das Frühstück?«

»Super, wie immer.«

Sie schluckte schwer. »Melody macht das in der Woche wirklich wunderbar. Ohne sie wäre ich verloren.« Sie lächelte aufmunternd. »Ein tolles Mädchen.«

»Hm … ja.«

»Ihr beide scheint euch gut zu verstehen. Ihr solltet euch mal verabreden. Ich wette, sie weiß, wo man hier abends hingehen kann.« Abends hingehen? Wirklich? Was wusste sie denn schon darüber, wie junge Leute ihren Abend verbrachten?

Zwischen ihnen entstand ein verlegenes Schweigen. Dann sagte Damien: »Ich muss weg. Höchstens eine Woche. Vielleicht auch weniger. Ich … ich muss ein paar Sachen mit Rachel regeln. So kann es nicht weitergehen.«

Sie nickte vorsichtig.

»Ich verspreche, ich komme zurück und mache deine Küche fertig.«

»Keine Sorge, du hast schon so viel getan.«

»Nein, nein. Ich komme zurück. Versprochen.«

Doch sie spürte es. Er entfernte sich von ihr, zog sich aus ihrem Leben zurück. Es war vermutlich besser so. Ihre Schwärmerei war ohnehin albern. Verrückt. Sie schämte sich für sich selbst. »Viel Glück.«

Dann trat er näher und umarmte sie. Sie war so berauscht, dass die Umarmung vorbei war, bevor sie sie begreifen und richtig genießen konnte. Ein flüchtiger Eindruck von seiner Wärme, wie er sich anfühlte, wie sein Herz schlug, vor allem aber von seinem Geruch: würzig, frisch, wie das Meer. Er trat zurück und sagte leise etwas.

»Wie bitte?«

»Egal. Wir sehen uns, wenn ich zurück bin.«

»Ich halte dein Zimmer frei.«

Er lächelte und ging zur Tür hinaus.


Alle kannten Juliet. Das war der Vorteil, wenn man sein ganzes Leben in einer Kleinstadt verbracht hatte. Alle kannten sie, und die meisten meinten es gut mit ihr. Manche erzählten ihr gerne Klatsch, obwohl sie selbst wenig Spaß daran hatte. Und niemand klatschte lieber als Shelley Faber, die Sekretärin von Anderson und Wright, der Anwaltskanzlei in der Puffin Street.

Sie war in der kurzen Ruhepause zwischen Morgentee und Mittagessen zur Bank gegangen, um rasch etwas zu erledigen. Doch Shelley, mit der sie in der elften Klasse zusammen Englisch gehabt hatte, stand vor ihrem Büro und rauchte eine Zigarette.

»Juliet! Auf dich habe ich gewartet.«

»Auf mich? Wieso?«

Shelley blies einen dünnen Rauchstrahl aus und trat die Zigarette auf dem Gehweg aus. »Deine Schwester. Was hat sie zu verkaufen?«

Juliet stöhnte innerlich. Warum gingen nur alle davon aus, dass sie wusste, was ihre Schwester trieb? »Keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Bronwyn drüben bei Pariot‘s hat erzählt, Elizabeth Slater habe für diese Woche einen Termin mit einem Anwalt vereinbart. Wegen eines Immobilienverkaufs.«

Das brennende Gefühl begann tief in ihrem Bauch. »Ich weiß von gar nichts. Libby und ich stehen einander nicht sehr nahe.«

»Meinst du …?«

»Ich sagte doch, ich weiß von nichts«, fauchte Juliet. »Tut mir leid, ich muss los.«

Die Sache mit der Bank war vergessen. Juliet marschierte zum Strand hinunter, zog die Schuhe aus und watete ins Wasser. Einatmen. Ausatmen.

Libby. Tristan Catherwood. Immobilie. Alles passte zusammen. Seit Jahren kämpfte die Gemeinde gegen Ashley-Harris Holdings. Und am härtesten hatte Juliet gekämpft – nicht nur um die Zukunft ihrer Firma, sondern auch zum Wohl der Stadt, ihrer Bewohner und der Natur. Was wussten Libby und Tristan denn schon von Lighthouse Bay? Gar nichts. Was stand auf dem Spiel? Alles.

So trostlos hatte sich Juliet schon lange nicht mehr gefühlt. Der jahrelange Kampf hatte sie erschöpft. Sie hatte sich so sehr bemüht, ihre eigene Zukunft zu sichern, und musste nun feststellen, dass diese Zukunft leer war: keine Liebe, keine Familie und nun auch noch eine zum Tode verurteilte Existenz in einer Stadt, die sich unwiderruflich verändern würde. Und sie war nicht mehr jung; das hatte die Geschichte mit Damien ihr nur zu deutlich vor Augen geführt. Ganz plötzlich kam ihr das Leben kurz und vergänglich vor. Sie bohrte die Zehen in den Sand, doch die zurückweichenden Wellen zogen ihr den Boden unter den Füßen weg. Sie schloss die Augen, ihr war einen Moment lang schwindlig.

Aber es war halb zwölf. Sie konnte nicht ewig hier stehen bleiben und sich bemitleiden. Melody und Cheryl warteten auf sie: auf ihre allzu ernste, verbrauchte Chefin. Heute würden sie jedenfalls noch Gäste haben. Was morgen oder übermorgen oder nächstes Jahr geschah, konnte niemand wissen. Schon gar nicht Juliet.

***

Libby wachte mitten in der Nacht auf. Sie hatte die Decke weggestrampelt, und ihre Haut kribbelte vor Kälte. Im Halbschlaf griff sie nach der Decke.

Dann hörte sie ihn. Den Wagen. Der Motor wurde abgestellt.

Sie setzte sich auf, schob den Vorhang beiseite und schaute hinaus. Die Scheinwerfer brannten noch. Das Nummernschild konnte sie nicht erkennen.

Sie hatte ihr Handy neben dem Bett liegen, wie Damien ihr geraten hatte, und wählte rasch die Nummer der Polizei. Ein junger Beamter meldete sich. Sie erzählte, was passiert war, und hängte ein.

Die Polizei würde ein paar Minuten brauchen. Sie schaute aus dem Fenster. Eine dunkle Gestalt – unverkennbar der Sohn von Graeme Beers – stieg aus dem Wagen und kam von Norden her auf das Haus zu.

Libby saß wie erstarrt da, unentschlossen. Sie konnte ihn zur Rede stellen. Sie konnte ihn fragen, was zum Teufel er hier trieb.

Er könnte gefährlich sein. Das kann man nie wissen. Gut, sie würde sich von ihm fernhalten. Aber sie konnte von der anderen Seite ums Haus schleichen und einen Blick auf das Nummernschild riskieren. Dann müsste selbst Scott Lacey ihr glauben.

Sie stand auf und ging in ihrem kurzen Baumwollpyjama durchs Atelier, um die Taschenlampe zu holen. Durch die Haustür konnte sie nicht gehen; falls Graeme im Wagen saß, würde er sie entdecken. Also entfernte sie leise das Fliegengitter vom Fenster des Ateliers, stellte einen Stuhl davor und kletterte vorsichtig hinaus, um mit einem sanften Aufprall in dem zugewucherten Beet darunter zu landen. Sie blieb stehen und horchte. Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie kaum die Meeresbrandung und das Zirpen der Grillen hören konnte. Keine Schritte. Nichts. Sie schlich um die Ecke des Hauses und wartete ab.

Der Wagen stand auf der Straße. Wenn sie aus dem Schatten des Hauses trat, würde er sie kommen sehen. Also kletterte sie über den Zaun, von dem Farbe blätterte, und schürfte sich das Knie dabei auf. Geduckt lief sie zur Straße, schaltete die Taschenlampe ein, leuchtete damit auf das Nummernschild und merkte sich die Zahlenkombination.

Jetzt kam jemand angelaufen: Graemes Sohn hatte sie entdeckt. Sie schaltete die Taschenlampe aus und wich mit pochendem Herzen zurück, stolperte über einen Stein und fiel der Länge nach hin. Der Motor erwachte donnernd zum Leben, die Reifen knirschten auf dem Schotter.

Dann waren sie verschwunden.

Doch diesmal hatte sie einen Beweis.

Sie wollte ins Haus gehen, doch ihr fiel ein, dass die Tür von innen abgeschlossen war, also musste sie wieder durchs Fenster des Ateliers steigen. Ihre Neugier erwachte. Wonach suchten sie bloß?

Libby leuchtete mit der Taschenlampe vor sich auf den Boden. Seine Fußabdrücke waren deutlich im Schlamm neben dem tropfenden Gartenschlauch zu erkennen. Sie ging vorsichtig durch das hohe Gras, leuchtete hin und her, suchte nach einem Hinweis. Doch sie sah nur Steine und Pflanzen und Spinnweben. In der Nähe der Hausmauer war das Gras niedergedrückt, und sie richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Stelle. Das Cottage stand auf Pfählen, die etwa einen halben Meter lang waren. Es sah aus, als hätte er sich auf den Bauch gelegt und dabei das Gras platt gedrückt. Sie kauerte sich hin, leuchtete unter das Haus, es roch nach kalter Erde. Ein Abdruck deutete darauf hin, dass er ein Stück unter das Haus gekrochen war … sie schob sich halb darunter … und entdeckte ein flaches Loch, das er mit einer Gartenschaufel ausgehoben hatte.

Ein Motorengeräusch ließ sie zusammenzucken, und sie stieß sich den Kopf an der Unterseite des Hauses. Sterne tanzten vor ihren Augen. Libby ließ die Taschenlampe fallen, um sich abzustützen, bevor sie hinfiel.

Diesmal war es nicht Graeme, sondern Scott Laceys Streifenwagen. Sie begegneten sich vor dem Haus.

»Sie waren wieder hier.« Libby rieb sich den Kopf. »Ich habe das Kennzeichen.«

»Alles in Ordnung?«

»Ich habe mir nur den Kopf gestoßen.«

»Und das Knie.«

Sie schaute an sich hinunter und sah, dass es mit Blut und Dreck verschmiert war. Sie seufzte.

»Gehen wir rein.«

»Ich habe mich ausgesperrt. Wir müssen durchs Fenster einsteigen.«

Er berührte sie leicht an der Schulter. »Warte hier. Ich gehe rein und mache dir die Tür auf.«

Sie nickte dankbar. Ein paar Minuten später schaltete sie im Wohnzimmer das Licht ein, während Scott sich hinsetzte und seinen Notizblock hervorzog.

»Tee?«

»Nein. Lass uns das erledigen.«

Sie drehte den Wasserhahn in der Küche auf und hob wenig elegant das Bein, um ihr Knie abzuwaschen. Sie nannte ihm das Kennzeichen sowie Fabrikat, Modell und Farbe des Wagens.

Sie drehte sich um und bemerkte, dass Scott offenbar ihre Beine in dem kurzen Pyjama bewunderte. Ihre Wangen wurden heiß. Er wandte sich rasch ab.

»Die suchen nach etwas«, sagte sie. »Die haben unter das Haus geschaut. Hast du irgendeine Ahnung, was es sein könnte? Kennst du dich mit Heimatkunde aus?«

»Ich weiß gar nichts.« Scott tippte mit dem Stift auf den Notizblock. »Aber wenn wir das Kennzeichen morgen früh identifiziert haben, fahre ich sofort hin.« Er lächelte. »Und du wirst es als Zweite erfahren.«

Sie betrachtete ihn nachdenklich. »Bist du noch sauer wegen Juliet?«

»Ich war nie sauer auf dich.« Er konnte ihr nicht in die Augen sehen.

»Keine Sorge. Ich bin bald weg.«

»Ach ja?«

»Ich war hier doch nie richtig willkommen, oder?«

»Du hast es auch nie richtig versucht.« Er stand auf.

Sie schaute ihm nach und schloss dann die Tür ab. Sie war viel zu aufgedreht, um weiterzuschlafen, und schaltete den Computer ein, um am Katalog zu arbeiten. Das Meer donnerte, die Sterne schimmerten, und der Wind fuhr leise durch die Bäume, die den Strand von der Stadt trennten. So war es auch vor zwanzig Jahren gewesen, als sie hier gelebt hatte. Und so würde es auch lange, nachdem sie weggegangen war, bleiben.

***

Ein anderer Polizeibeamter kam am Nachmittag vorbei, um ihr zu sagen, dass der Wagen tatsächlich wie vermutet auf Graeme Beers zugelassen war, sie aber nicht mit ihm gesprochen hatten. Sein Haus war verschlossen, das Tauchboot verschwunden, Wagen und Anhänger parkten an der Bootsrampe. Sie hatten eine Karte für ihn hinterlassen, doch fürs Erste konnten sie nichts unternehmen. Libby fühlte sich leer und unbehaglich und war froh, dass sie bald von hier weggehen würde.

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