Fünf



Das Abendessen wird immer im Salon serviert, und dort beginnt auch der Plan für diesen Abend. Isabella muss vor ihrem Mann zu Bett gehen, um ihr Vorhaben durchzuführen. Als der Steward einen Klumpen halbgares, zu stark gesalzenes Schweinefleisch mit Soße aufträgt, in der einige einsame Kartoffeln schwimmen, schützt sie plötzliche Übelkeit vor. Angesichts des Essens kostet sie das keine allzu große Mühe. Wie sehr sie sich nach frischem Fleisch und neuen Kartoffeln sehnt.

»Oh«, sagt sie und schlägt die Hand vor den Mund.

»Isabella?«, fragt Arthur in seinem üblichen misstrauischen Ton.

»Mir ist plötzlich übel.«

Meggy, die ihr in versteinertem Schweigen gegenübersitzt, weicht ihrem Blick aus. Der Kapitän ist damit beschäftigt, Rotwein in sein Kristallglas zu gießen. Also muss Arthur reagieren.

»Wirst du mit uns essen?«

»Ich glaube nicht. Ich gehe sofort zu Bett.«

Arthur öffnet den Mund und will sie zum Bleiben ermuntern. Er ist ein Mann, der sich ständig darum sorgt, was andere Leute von ihm denken, und wenn sie in seinen Augen gegen die guten Manieren verstößt, schnauft und keucht er wie eine Dampflok. Allerdings ahnt er wohl, dass die Übelkeit ihr Benehmen nur verschlimmern würde, und behält seine Gedanken für sich. Er winkt sie mit teigiger weißer Hand davon.

Nachdem sie die Kajütentür hinter sich geschlossen hat, knöpft sie ihr Mieder auf und löst die Haken am Korsett. Sie streift den Rock ab und hängt alles in den schmalen Kleiderschrank, der in den Winkel hinter den Kojen eingebaut ist. Sie zieht ihr Nachthemd an und bleibt einen Augenblick lang mit klopfendem Herzen stehen, horcht auf Schritte. Nichts. An der Tür hängt die Weste ihres Mannes. Isabella greift in die Tasche. Als sie gefunden hat, was sie sucht, legt sie sich aufs Bett. Aber sie schläft nicht. Sie liegt ganz still da und hört ihnen zu. Silberbesteck klirrt gegen Porzellan. Ihr Gespräch: immer das Wetter, obwohl sie die Besessenheit hier auf See verstehen kann. Gerade vorige Woche, als sie Ostindien verließen, war ein Sturm so rasch und unerwartet aufgezogen, dass sie gefürchtet hatte, sie alle müssten sterben. Das Wetter entscheidet über Leben und Tod.

Isabella hört Meggys sanfte Stimme, die sagt, sie wolle erst baden und dann schlafen gehen. Isabella entspannt sich ein wenig: Meggy mit ihrem geradezu unheimlich scharfen Gehör darf nicht im Salon sein. Dann nehmen Arthur und der Kapitän das Gespräch wieder auf. Das wiederholte Entkorken der Rotweinflasche, das Klirren der Gläser auf poliertem Holz. Jeden Abend nach dem Essen trinkt Arthur mit dem Kapitän. Und der Kapitän trinkt eine Menge. Je betrunkener sie werden, desto geringer ist die Gefahr, dass sie sie hören.

Isabella lauscht lange. Die Männer reden über das Wetter, alte Freunde, Isabella. Arthur berichtet dem Kapitän von dem neuen Haus, das er nach ihrer Rückkehr in England bauen will, und klingt vorübergehend aufgeregt und glücklich. Isabella hat kein Mitleid mit ihm. Sie will das neue Haus nicht, weil Arthurs Mutter dann bei ihnen einzieht. Und wenn sie da ist, wird auch Percy häufiger kommen, und Isabella will Percy nie wiedersehen.

Schließlich kehrt Arthur zu seinem üblichen säuerlichen Tonfall zurück. »Wie sehr vertraust du eigentlich deiner Mannschaft?«, fragt er den Kapitän.

»Ziemlich. Warum?«

»Es sind siebzehn Männer und ganz schön niedere Gesellen. Kannst du sicher sein, dass niemand dich bestiehlt?«

»Sie könnten es nirgendwo verstecken, Winterbourne«, nuschelt der Kapitän, wobei es ihm gelingt, jedem Wort einen Zischlaut zu entlocken.

Es ist eine von Arthurs Hauptsorgen im Leben, dass ihn jemand bestehlen könnte. Zu Hause in Somerset fielen mehrere Dienstboten dieser Angst zum Opfer. Tatsächlich scheint seine gesamte Familie diese unbegründete Furcht zu teilen: unbegründet, weil ihres Wissens niemals einer von ihnen bestohlen worden ist. Vielleicht liegt es daran, dass sie mit Edelsteinen zu tun haben, mit kleinen, kostbaren Dingen, die sich leicht verstecken und transportieren lassen. Doch Isabella hat es immer fürchterlich gefunden, dass Menschen, die so viel besitzen, so große Angst davor haben, ein wenig davon zu verlieren.

»Falls einer von ihnen auf die Idee kommen sollte, den Amtsstab zu berühren …«, fährt Arthur fort, und Isabella merkt, wie betrunken er ist. Der Alkohol lockt seine morbiden Gedanken ans Licht wie verschreckte Fledermäuse, die aus einer Höhle flattern.

»Niemand wird deinen Amtsstab berühren.«

»Ich bin wachsam. Ich trage den Schlüssel Tag und Nacht bei mir.«

Isabella lächelt, da sie in ebendiesem Augenblick den Schlüssel in der Hand hält. Er steckt ihn in seine Westentasche und hängt die Weste jeden Abend vor dem Essen an ihre Zimmertür. Dann rollt er die Hemdsärmel auf und wäscht sich Gesicht und Hände in der Porzellanschüssel neben ihren Betten. Der Tag ist vorbei, der Abend hat begonnen. Arthur ist ein Mann der festen Abläufe.

Der Kapitän murmelt noch etwas, dann wechseln sie das Thema. Isabella wartet kurz ab und entscheidet, dass sie nicht zu lange warten darf, sonst ist Arthur so betrunken, dass er nur noch ins Bett fallen will. Sie schlägt leise die Decke zurück und klettert die Leiter hinunter.

An das ständige Schwanken des Schiffes unter ihren Füßen musste sie sich erst gewöhnen. Daher wartet sie, bis sie sicher steht, und geht erst dann zur Tür. Es gibt keinen Riegel, sie öffnet sich schon mal von allein. Auch jetzt steht sie einen Zoll weit offen: genug, um zu hören, wenn sich jemand nähert, und ein wenig Lampenlicht aus dem Salon hereinzulassen. Ihr Puls hämmert dumpf in ihren Ohren. Als sie sicher ist, dass die Männer sich nicht von den Samtpolstern rühren werden, an denen ihre betrunkenen Hintern kleben, weicht sie zurück und kauert sich neben die Koje ihres Mannes. Sie tastet darunter nach der Kiste aus Walnussholz.

Ihre Finger legen sich um die Messinggriffe an beiden Seiten, und sie zieht langsam, ganz langsam daran.

Das Schiff gerät plötzlich ins Schlingern, als es in ein Wellental stürzt; die Kiste schabt über den Holzboden, und Isabella fällt nach hinten, wobei sich ihre Finger von den Griffen lösen. Sie stürzt unelegant und nicht ganz lautlos auf den Boden.

»Was war das?«, fragt Arthur.

Isabella steht rasch auf und schiebt die Kiste mit dem Fuß unter die Koje. Dann geht die Kabinentür auf, und Arthur schaut sie im Dunkeln an.

»Isabella?«

»Ich wollte mir etwas Wasser holen und bin von der letzten Sprosse gefallen.« Sie deutet auf die Leiter.

Sein Blick fällt auf ihr nacktes Handgelenk, an dem sie das schwarze Band getragen hat. »Ist dir immer noch schlecht?«, fragt er schließlich.

Sie nickt. Der Schlüssel zur Kiste brennt ein schuldbewusstes Loch in ihre Handfläche.

»Geh wieder ins Bett. Ich bringe dir Wasser.«

Sie kann nichts tun, als sich in ihre Koje zu legen. Kurz darauf kommt er mit einem Becher Wasser zurück, das sie trinkt, während er wartet. Der Kapitän tritt in die Tür. »Ich gehe jetzt schlafen, Winterbourne.«

»Gute Nacht, Francis. Das werde ich auch tun.«

Nein! Ihr Plan ist gescheitert, und sie hält den verfluchten Schlüssel immer noch in der Hand. Wie soll sie ihn in seine Westentasche stecken, bevor er sein Fehlen bemerkt?

Arthur zieht sich aus und wünscht ihr eine gute Nacht. Grunzend und keuchend legt er sich in die Koje unter ihr. Sie dreht sich auf die Seite und wartet, bis er schläft, damit sie in Ruhe nachdenken kann.

Endlich verrät ihr das vertraute trompetende Schnarchen, dass er in einen trunkenen Schlaf gefallen ist. Der einzig sichere Weg ist, hinabzusteigen, den Schlüssel in die Westentasche zu stecken, sich hinzulegen und das Vorhaben zu verschieben.

Wieder schlägt sie die Decke zurück. Wieder steigt sie die Leiter hinunter. Als ihre nackten Knöchel seinen schlafenden Körper streifen, überläuft sie ein Schauer, wie man ihn in Gegenwart einer Schlange spürt.

Sobald ihre Füße den Boden berühren, will sie den verfluchten Schlüssel nicht mehr zurücklegen. Noch nicht. Sie steht im Dunkeln neben ihm, er hört sie nicht. Er wacht nicht auf. Ein verrückter Mut überkommt sie. Sie kniet sich hin und greift unter seine Koje.

Wenn er aufwacht, ist sie ertappt. Das weiß sie und tut es dennoch.

Behutsam zieht sie die Kiste heraus, bis sie ihre Knie berührt. Sie ist schmal und drei Fuß lang. Isabella muss sie auf ganzer Länge nach den fünf Schlössern abtasten. Sie fingert im Dunkeln mit dem Schlüssel herum. Es dauert eine Ewigkeit, von einem Schloss zum nächsten zu gelangen, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und mit einem leisen Klick herumzudrehen. Die ganze Zeit über wagt sie kaum zu atmen. In dem dunkelgrauen Zimmer gibt es kein Licht. Sie ertastet sich ihren Weg.

Endlich klappt sie die Kiste auf. Zwei dünne Goldketten verhindern, dass der Deckel nach hinten auf den Boden schlägt. Sie hebt den schwarzen Samt hoch und sieht den Amtsstab dumpf schimmern: Gold, mit kostbaren Edelsteinen besetzt. Vorsichtig tastet sie in der Kiste nach dem Samtkissen, auf dem der Amtsstab ruht, hebt eine Ecke an, zieht ihr kostbares schwarzes Band aus dem Nachthemd und schiebt es darunter. Dann lässt sie das Kissen los und schließt die Kiste.

Klack.

Sie war zu selbstbewusst und hat den Deckel einen halben Zoll herunterfallen lassen. Das Geräusch erscheint ihr unglaublich laut in der Dunkelheit. Ihr Körper wird eiskalt, sie kann sich nicht bewegen. Das Herz springt ihr fast aus der Brust; selbst ihre Augäpfel scheinen zu pulsieren. Arthur hält inne und grunzt.

Dann setzt das Schnarchen langsam und rhythmisch wieder ein. Noch nie war sie so froh, ihn schnarchen zu hören. Sie muss beinahe lachen.

Wieder tastet sie nach den Schlössern, schließt eins nach dem anderen ab. Eine kühne Gewissheit hat sie ergriffen. Alles wird gut, daher lässt sie sich Zeit, schiebt die Kiste langsam unters Bett und steckt den Schlüssel in Arthurs Westentasche.

Dann die Leiter hinauf. Ins Bett. Sie liegt stundenlang wach, bis ihr erregtes Blut abgekühlt ist.

Fürs Erste ist Daniels Armband in Sicherheit. Es wird wenigstens auf die andere Seite gelangen, nach Sydney, wo Arthur Mr. Barton den Amtsstab im Namen der Königin überreichen soll. Isabella wird vor der Zeremonie natürlich noch einmal den Schlüssel stehlen und heimlich, still und leise die Kiste öffnen müssen, doch im Augenblick ist sie einfach nur froh, dass das schwarze Band nicht über Bord gehen wird. Alles andere wird sich finden, wenn sie dieses stinkende Schiff erst verlassen hat.


Die nächsten Tage sind trostlos. Eine schwarze Wolke senkt sich auf sie herab. Zuerst denkt sie, das fehlende Armband sei der Grund für die Dunkelheit, und vielleicht ist etwas Wahres daran. Vor allem aber liegt es am Wetter, das bleigrau und windig und rauh geworden ist.

Bei stürmischer See hält man sich am besten an Deck auf. Unter Deck, wo man sich nicht am Horizont orientieren kann, kann die Seekrankheit den Körper aufwühlen. Also verbringt sie Stunden auf dem Achterdeck, wo die Männer hinter ihr brüllen und fluchen, betrachtet das graue Meer und den grauen Himmel und versucht, sich unter einer Leinwand vor dem Regen zu schützen. Normalerweise wäre Meggy bei ihr, doch die weicht ihr jetzt aus und zieht es vor, die Zeit mit Stickarbeiten im Salon zu verbringen. Unter Deck geht das Leben weiter, dehnt die Zeit zu einer Linie. An Deck, wo nichts zu sehen ist außer dem endlosen Meer, bleibt die Zeit in einem ewig währenden, grauen Augenblick stehen. Die endlose Reise ist wie ihre Traurigkeit. Sie sieht kein Land, kann kein Ende vorhersagen, alles ist vom Sturm umtost.

Und manchmal, wenn der harte, aber niemals kalte Regen niederprasselt, verkriecht sie sich in der letzten trockenen Ecke hinter dem Steuerrad des Schiffes und hört Mr. Harrow Befehle brüllen und denkt daran, was Meggy ihr erzählt hat. Er hat seine Frau verloren. Und hier funktioniert er einwandfrei. Sie selbst würde kein Schiff segeln können. Sie würde es in ihrer Trauer gewiss auf Grund laufen lassen. Aber während der Kapitän durch seine Aufgaben stolpert, bleibt Mr. Harrow ruhig und geschickt. Manchmal wirft sie ihm einen Blick zu, sucht nach dem Schmerz in seinem Gesicht, kann ihn aber nicht finden. Dann wird ihr klar, dass sie ebenso schlimm ist wie Meggy, und sie legt den Kopf auf die Knie und wartet und wartet, durch Zeit und Entfernung und stürmische See hindurch.

***

Dann schimmert das erste graue Licht am Saum der Dunkelheit.

Isabella bemerkt Mr. Harrow in der Kombüse. Genau wie sie sucht er nach etwas, um bis zum Mittagessen den Hunger zu vertreiben. Er kniet vor dem Schrank.

Als sie ihm einen guten Morgen wünscht, zuckt er zusammen und stößt sich den Kopf.

»Oh, tut mir leid.«

»Schon gut«, sagt er und steht auf, wobei er sich den Kopf reibt. »Suchen Sie auch etwas zu essen?«

Sie nickt. »Ich habe in der Dose hinter dem Mehl ein paar getrocknete Äpfel versteckt.«

Er wendet sich wieder dem Schrank zu und lächelt. »Aha, sehr schlau.« Er holt die Dose heraus und versucht, den Deckel zu öffnen. »Haben Sie den selbst zugemacht?«, fragt er angestrengt.

Sie lacht und breitet die Hände aus. »Meine Mutter hat immer gesagt, ich hätte als Junge zur Welt kommen sollen. ›Stark wie eine Ziege, wild wie eine Amsel.‹« Sie wird traurig, als sie sich an Mutters altes Sprichwort erinnert. Heute fühlt sie sich nicht mehr stark und wild.

Er hat die Dose schließlich geöffnet und hält sie ihr hin. Sie nimmt eine Handvoll Apfelscheiben heraus. Mr. Harrow will an ihr vorbei aus der Kombüse schlüpfen, doch sie hält ihn zurück.

»Warten Sie.« Sie betrachtet ihre Hand auf seinem Unterarm, als wäre es nicht ihre. Ihr war nicht klar, dass sie mit ihm sprechen würde, ein plötzlicher Impuls hat sie überkommen.

Er wartet, und ein kleines Stück Zeit bindet sie erwartungsvoll aneinander.

Dann sagt sie: »Meggy hat mir von Ihrer Frau erzählt.«

Und da ist er: der nackte Schmerz, den sie unbedingt auf seinem Gesicht sehen wollte. Endlich hat sie jemanden gefunden, der Bescheid weiß. Zu ihrem Entsetzen kräuseln sich ihre Mundwinkel nach oben, als wollte sie lächeln. Sie wird rasch ernst.

Doch dann ist die Verletzlichkeit in Mr. Harrows Gesicht verschwunden, verborgen hinter einer sorgfältig gekünstelten Akzeptanz. »Ja, ich habe Mary verloren. Es war schwer. Aber das Leben muss weitergehen.«

»Muss es das?«

Ihre Frage verblüfft ihn. Er will etwas sagen, tut es aber nicht. Er schweigt, die Lippen leicht geöffnet.

»Mein Sohn Daniel ist vor beinahe drei Jahren gestorben«, stößt sie hervor. »Er war fünfzehn Tage alt. Vollkommen gesund, er gedieh gut. Dann habe ich eines Morgens spät die Augen geöffnet – zu spät, es war zu hell – und mich gefragt, weshalb er mich nicht geweckt hatte. Er hatte mich nicht geweckt, weil er tot war, Mr. Harrow, tot und kalt.« An dieser Stelle bricht ihre Stimme, und sie legt die Hand auf den Mund, um die Tränen zu unterdrücken. »Weil ich außer mir vor Kummer war, hat die Familie meines Mannes dafür gesorgt, dass das Kind in meiner Abwesenheit begraben wurde. Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, mich von ihm zu verabschieden.«

»Oh, meine liebe Mrs. Winterbourne«, sagt er und löst sanft ihre Hand vom Gesicht und hält sie in seinen rauhen Fingern. »Es ist schrecklich, einen geliebten Menschen zu verlieren, aber die Sonne wird ganz bestimmt wieder scheinen.«

»Das kann sie nicht.« Sie zweifelt an ihm. Er hat nur seine Frau verloren, nicht sein Kind. Was kann er von ihrem Schmerz wissen?

Mr. Harrow sucht nach Worten. Das Schiff kippt in ein tiefes Wellental, dass die Kochtöpfe gegeneinanderschlagen. Schließlich sagt er: »Diese Traurigkeit hinterlässt nicht nur blaue Flecken, die irgendwann verbleichen. Sie zerstört. Man kann nur alles Stein für Stein wieder aufbauen. Und manchmal hat man nicht die Kraft oder den Willen und sitzt zwischen den Ruinen und wartet, dass sich etwas ändert. Aber es wird sich nichts ändern, solange wir nicht wieder aufstehen und die Steine aufsammeln.«

Ihr Herz wird heller und wieder dunkler, während er spricht: Hoffnung, Verzweiflung, Hoffnung, Verzweiflung, Wolken, die rasch an der Sonne vorbeiziehen. Er versteht sie, sagt aber, dass sie versuchen müsse, sich zu erholen. Weiß er denn nicht, dass sie Daniel ein zweites Mal verliert, wenn sie sich von seinem Tod erholt? Es wäre wie Vergessen.

Doch sie hat sich nach solch tröstlichen Worten gesehnt, und vielleicht hat auch Mr. Harrow sich eine verwandte Seele gewünscht, mit der er seinen Kummer teilen kann. Sie stehen einen Augenblick lang da, die Hände verschränkt, Tränen in den Augen. Und dann kommt Meggy herein.

»Oh«, sagt sie und registriert mit blassen Augen ihre Haltung, die verschlungenen Hände, den suchenden Blick. Zuerst versteht Isabella nicht, was das bedeutet: Der Augenblick, den sie und Mr. Harrow miteinander teilen, hat nichts Romantisches. Doch, bei Gott, es sieht so aus.

Mr. Harrow lässt entsetzt ihre Hände fallen – denn Isabella argwöhnt, dass er für Meggy schwärmt –, weicht einen Schritt zurück und stößt sich den Kopf an einer Kupferpfanne.

»Warte, Meggy«, sagt Isabella, doch diese hat schon auf dem Absatz kehrtgemacht und ist davongeeilt.

Mr. Harrow reibt sich den Kopf. »Ich sollte besser gehen.«

Isabella nickt und bleibt allein in der Kombüse. Sie fragt sich, wann sie die unvermeidlichen Konsequenzen zu spüren bekommt.

***

Der Geruch nach geschmortem Fleisch dringt aus der Kombüse bis in den Salon, wo Isabella alleine mit ihrem Stickrahmen sitzt. Sie hat an diesem Abend viele Fehler gemacht und so viel Zeit damit verbracht, falsche Stiche aufzutrennen, dass sie gar nicht erst mit der Arbeit hätte beginnen müssen. Meggy ist nirgendwo zu sehen. Isabella hat die schwache Hoffnung, dass sie die Szene mit Mr. Harrow für sich behalten wird. Doch diese Hoffnung ist nicht von Dauer, denn in der Dämmerung poltert Arthur die Treppe herunter und steht kurz darauf vor ihr, die Augenbrauen so stark zusammengezogen, dass finstere Schatten über sein Gesicht fallen. Isabella legt den Stickrahmen beiseite und versucht, nicht zu blinzeln oder zusammenzuzucken oder in irgendeiner Weise zu zeigen, dass sie weiß, was ihr bevorsteht.

»Was ist denn los, Arthur?« Sie zwingt ihre Hände, still zu sein, greift nach einem Streichholz und entzündet die Öllaterne über ihrem Kopf, bevor sie leise die Klappe schließt.

Einen Moment lang fehlen ihm die Worte. Er stottert und spuckt und sagt dann schließlich: »Ich werde nicht dulden, dass du einem anderen Mann solche Aufmerksamkeit entgegenbringst.«

Sie täuscht weiterhin Verwunderung vor, spürt Meggys Verrat jedoch wie einen Stich. »Ich habe dir keinen Anlass dazu gegeben und werde es auch nicht tun«, erwidert sie gelassen.

»Jetzt spiel hier nicht die Unschuld!«, brüllt er, und sie stellt sich vor, dass es alle unter Deck bis hin zum Mannschaftsquartier hören können. Das Schiff mag hundertsechzig Fuß lang sein, aber unter Deck ist alles eng beieinander. Arthur spürt, dass er sich kompromittiert, und senkt die Stimme. »Meggy hat dich mit Harrow gesehen.«

»Mr. Harrow hat mich getröstet«, sagt sie. »An seiner Berührung war nichts, das die Grenzen ganz gewöhnlichen menschlichen Mitgefühls überschritten hätte.«

»Weswegen hat er dich getröstet?« Er sagt es in einem so verblüfften Ton, als glaubte er tatsächlich, dass sie keines Trostes bedürfe.

In diesem Moment verspürt sie einen brennenden Hass, weil er so blind und gänzlich ohne Mitgefühl ist. »Mr. Harrows Frau ist gestorben. Ich dachte, er könnte verstehen, was ich wegen Daniels Tod empfinde.«

»Was du empfindest, Isabella, solltest du nicht fremden Männern auf einem Schiff …«

»Einem Mitmenschen, der ebenfalls einen schweren Verlust erlitten hat«, sagt sie und schneidet ihm damit das Wort ab, obwohl sie weiß, dass er diese Eigenschaft am meisten an ihr verachtet. Isabella, du solltest mir zuhören und weniger reden.

Arthur stottert noch ein bisschen und läuft in dem kleinen Raum auf und ab, seine Schuhe klappern auf dem Holz. Der Geruch von Regen und Rauhreif ist stark, und sie denkt an das ruhelos tosende Meer dort draußen, und auch in ihren Eingeweiden tost es ruhelos.

Schließlich sagt er: »Der Tod des Kindes hat dich nicht zu etwas Besonderem gemacht, Isabella. Du bist immer noch die Frau, die du warst. Du verdienst keine besondere Behandlung, du stehst nicht über den Regeln der Gesellschaft.« Sein Blick wandert zu ihrem Handgelenk. »Immerhin hast du das verschlissene Band abgenommen.«

Sie sträubt sich, beißt aber nicht.

Er reckt die Schultern und zuckt mit den Nasenflügeln. »Du wirst unter Deck bleiben, bis wir Sydney erreichen.«

»Was? Nein!«

»Du bleibst im Salon oder in unserer Kajüte. Leistest Meggy Gesellschaft. Mir ist egal, was du tust. Aber halte dich von der Mannschaft fern. Wahre den Anstand. Und suche nicht Trost für alte Wunden, die längst verheilt sind, nur um die Aufmerksamkeit auf dich zu lenken.«

»Ich bin nicht verheilt!«, schreit sie. Doch er hat sich schon abgewandt und ist durch die vordere Luke verschwunden. Sie will ihm die Stickschere in die Stirn rammen; vielleicht Daniels Namen dort einritzen, damit er sich an das Baby erinnert, das er verloren hat, das sie verloren haben. Isabella ist, als verlöre sie den Verstand. Jeder Nerv in ihrem Körper kribbelt vor Frustration. Der Zorn staut sich in ihr, unter ihren Rippen und um ihr Herz herum. Sie will irgendetwas zerstören. Gerade jetzt ist es Arthur, doch wenn Meggy in diesem Augenblick durch die Luke käme, würde sie auch ihr Gesicht zerfetzen. Woher kommt diese Gewalt? Sie war einst eine freundliche Frau. Wie sanft ihre Hände waren, wenn sie die leichten, zarten Gliedmaßen ihres Sohnes hielten.

Unter Deck gefangen. Die stehende Luft und die Gerüche aus dem Laderaum, ganz zu schweigen vom Mannschaftsquartier. Ihr wird schlecht werden. Doch Arthur interessiert es nicht, ob ihr übel ist. Weshalb will er sie überhaupt noch, wenn sie nur eine Enttäuschung und ein Ärgernis für ihn darstellt? Wie kann er es ertragen, mit ihr verheiratet zu sein, wenn sie es kaum ertragen kann, mit ihm verheiratet zu sein?

Isabella bemerkt, dass sie ihren Stickrahmen zerdrückt und dass die Nadel sich in ihre Handfläche gebohrt hat. Sie zieht sie vorsichtig heraus, und es bildet sich ein kugelrunder Blutstropfen. Sie starrt wie gebannt darauf, auf die zarten Linien in ihrer Handfläche. Sie drückt neben der winzigen Wunde in die Haut, und die Kugel verwandelt sich in einen Tropfen, der über ihr Handgelenk rinnt.

Flucht.

Sie ist weit von zu Hause entfernt. Wenn sie in Australien verschwände, wie sollte er sie jemals finden? Sie könnte eine Überfahrt nach Amerika buchen, wo Victoria lebt. Schon nimmt ihr Plan deutlichere Gestalt an. Im letzten Brief hat ihre Schwester erwähnt, sie erwarte ein Baby. Isabella könnte ihr Daniels Armband bringen, so ungern sie sich auch davon trennt, und dann würde sein Geist im Kind ihrer Schwester weiterleben. In diesem Augenblick, in dem sie von einem Brennen ergriffen wird und erkennt, wie richtig diese Idee ist, wünscht sie sich nichts mehr als das.

Zum ersten Mal seit Jahren fühlt Isabella sich leicht.

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