Neunzehn



Der Dienstag, an dem der Tauchgang anstand, versprach perfektes Wetter. Den ganzen Montag lang hatte Libby gehofft, die Sache möge wetterbedingt ins Wasser fallen. Sie wollte nicht dorthin. Sie war mutlos, verängstigt und zerstreut, fühlte sich ganz und gar nicht wie eine Frau, die zu einem Schiffswrack hinuntertauchte. Sie hätte gerne mit jemandem gesprochen, mit jemandem, der sie und ihre Situation wirklich verstand. Doch es gab niemanden. Ihre Beziehung zu Mark hatte sie isoliert. Sie war mit Arbeitskollegen ins Kino oder zum Picknick gegangen, hatte aber keine wirklich engen Freunde, weil sich ihr ganzes Leben um eine geheime Affäre gedreht hatte.

Dennoch, es war Dienstag. Tauchtag. Und sie würde hinfahren, denn Mark hätte sich gnadenlos über sie lustig gemacht, wenn sie in letzter Minute kniff.

Libby zog ein leichtes Sommerkleid über ihren Badeanzug und stieg ins Auto. Als sie auf die Straße zurücksetzte, merkte sie, wie ihre Finger am Lenkrad zitterten. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie versuchte, sich mit der Idee aufzumuntern, dass sie das Schiff, das sie in den vergangenen Wochen gezeichnet und gemalt hatte, nun mit eigenen Augen sehen würde. Sicher, es lag zerborsten auf dem Meeresboden, aber sie hätte die Chance, es anzufassen, lebendige Geschichte zu berühren. Marks Geschichte.

Graeme hatte gesagt, er werde an der Bootsrampe auf sie warten. Und da stand er auch und blinzelte im hellen Sonnenlicht. Sie gab ihm die Pläne zurück, die er ihr geliehen hatte, und er nahm sie augenzwinkernd entgegen.

»Haben sie Ihnen weitergeholfen?«

»Ja, vielen Dank.« Dann fiel ihr Matthew Seawards Tagebuch ein. »Wissen Sie, ob Frauen an Bord der Aurora waren?«

»Whiteaways Frau Margaret.«

»Sonst niemand?«

»Ein Schiff wie dieses war kein Ort für eine Frau. Ach, da kommt mein Sohn Alan.« Ein schmächtiger Mann Mitte zwanzig trat zu ihnen. Er hatte störrisches, rötliches Haar, das in alle Richtungen abstand. »Er wird Sie begleiten, weil Sie noch nie getaucht sind. Er hat eine Menge Erfahrung und behält Sie im Auge.«

Libbys Magen schlug einen Purzelbaum. »Ist es denn in Ordnung, ohne vorherige Ausbildung zu tauchen?«

Er wich ihrem Blick aus, was eigentlich Warnung genug hätte sein müssen. »Klar. Ist nur ein kleiner Tauchgang. Die Ausbildung ist teuer und zeitaufwendig. Wir werden Sie problemlos runter- und wieder raufbringen.«

Libby schaute zu Alan, der sich abgewandt hatte und ein leises, hitziges Gespräch mit seinem Vater führte. Ihre Panik wuchs. Er sah nicht gerade vertrauenerweckend aus. Sie wollte einen großen Mann an ihrer Seite, der mutig, stark und ehrenhaft war. Sie wollte Mark. Sie hatte nie einen anderen als Mark gewollt.

Ein Paar fuhr in einem schwarzen BMW vor. Damit war die Gruppe vollständig, und sie gingen an Bord. Graeme ließ den Motor an und fuhr mit ihnen hinaus in die Bucht.

Die Sonne schien hell, aber sanft auf das blaugrüne Wasser. Libby saß an der Steuerbordseite und blickte über die niedrige Reling. Der Mann und die Frau, die noch hinzugekommen waren, schienen erfahrene Taucher zu sein und unterhielten sich selbstbewusst mit Alan. Graeme stand in der offenen Kabine und steuerte das Boot zum Riff hinaus. Nach zehn Minuten stellte er den Motor ab, und das Boot kam schaukelnd zum Stehen.

Er holte einen Taucheranzug und Flossen, die Libby rasch anzog. Dann redete er wie ein Maschinengewehr auf sie ein, während er sie in eine sogenannte Tarierweste packte und mit Lufttanks und Schläuchen, einem Gürtel und einer Tauchermaske versah, die in die Haut an ihren Wangen kniff. Sie hörte aufmerksam zu, als er ihr alles erklärte, während sich das andere Paar schon ins Wasser fallen ließ. In ihrem Kopf arbeitete es fieberhaft. Es war nicht einfach. Ganz und gar nicht. Und sie würde das ganze Wasser über sich haben. Das war anders als die Runden im Pool des Fitnesscenters. Oder das nachmittägliche Planschen im Ozean. Sie würde ganz tief unten sein.

»Ach, nichts ist zu kompliziert. Sie atmen durch das hier, und wenn das nicht funktioniert, dann durch das hier. Alan bleibt die ganze Zeit bei Ihnen.«

Libby nickte, fürchtete sich aber trotzdem. Dann saß sie an der Seite des Bootes und musste sich ins Wasser fallen lassen.

Sie war eine gute Schwimmerin. Das war nicht immer so gewesen, doch Mark machte gerne Strandurlaub, und sie hatte in dem kleinen Pool des Fitnesscenters geübt, der nur einen Häuserblock von ihrem Pariser Büro entfernt lag. Mark hätte gesagt, stell dich nicht so an. Er hätte gesagt, spring einfach rein.

Doch Mark hatte nicht alles über sie gewusst.

Sie steckte sich den Atemregler in den Mund, nahm allen Mut zusammen und ließ sich ins Wasser fallen.

Alan bedeutete ihr, ihm zu folgen, doch sie musste sich erst daran gewöhnen, durch den Regler zu atmen. Zuerst fühlte sich ihre Brust eng an, doch bald hatte sie den Dreh heraus und schwamm in die blaue Tiefe hinunter. Sanftes Licht drang herunter und überzog alles mit einem rauchigen Schleier. Sie konnte das Wrack schon sehen, auch wenn es kaum noch als Schiff zu erkennen war. Es wirkte künstlich und organisch zugleich, sorgfältig von Menschenhand erbaut und doch überwuchert von verrückten, wolligen Meeresgeschöpfen. Die warmen Farben des Spektrums verschwanden, je tiefer sie schwammen, bis alles nur noch rauchblau war. Staunend schaute Libby sich um. Rochen, Schildkröten und Schwärme silbriger Fische. Sie fühlte sich frei und leicht und lebendig und war wahnsinnig froh, dass sie mitgekommen war. Mark wäre begeistert gewesen. Er wäre stolz gewesen, weil sie ihre Angst überwunden hatte und hinabgetaucht war. Alan deutete zum Wrack und gab ihr ein Zeichen. Sie schwamm auf die Aurora zu.

Voller Staunen betrachtete Libby das Wrack, dieses geheimnisvolle Schiff, das sie seit Wochen gezeichnet und gemalt hatte. Es war, als wäre ein mythisches Wesen vor ihren Augen zum Leben erwacht. Nachdem sie es nur in ihrer Vorstellung gesehen hatte, wirkte die tatsächliche Gegenwart elektrisierend. Es lag in zwei Teilen auf dem Meeresboden, in unmöglichen Winkeln geneigt, umgeben von Steinen und Algen. Nur ein Teil des Hauptmastes stand noch und ragte wie ein gezackter Zahn aus dem Deck. Sie vergewisserte sich, dass Alan in der Nähe war, und schwamm dann um das Wrack herum durchs warme blaue Wasser. Ein großer Rochen zog schattenhaft unter ihr dahin, glitt über die Reling und in die dunkle Tiefe darunter. Libby entdeckte eine Luke und schwamm darauf zu.

Genau darüber hielt sie an, trat Wasser und schaute hinein. Es war dunkel, doch an ihrer Weste war eine Taschenlampe befestigt. Der Strahl fiel in die Luke, die von Algen und Rankenfüßern überwachsen war. Sie sah einige Stufen, Trümmer auf dem Boden. Eine Porzellanscherbe. Langsam wagte sie sich vor.

Es war eng, sie wollte auf der Stelle kehrtmachen. Das war gar nicht so einfach, doch es gelang ihr. Dann plötzlich war sie von winzigen Bläschen umgeben, die vor ihrem Gesicht tanzten. War das normal? Sie tauchte aus der Luke auf und wurde von einer warmen Strömung durchgerüttelt. Sie stieß mit dem rechten Ellbogen hart gegen den Rand der Luke und streckte instinktiv die Hände aus. Zu spät fiel ihr ein, dass Graeme sie gewarnt hatte, nichts mit bloßen Händen zu berühren. Sie spürte kaum, wie die scharfe Kante des Rankenfüßers in ihre Hand schnitt, sah aber das Blut im Wasser. Es wolkte um sie herum wie grüner Rauch.

Libby schaute sich nach Alan um, konnte ihn aber nicht sehen. Sie war allein.

Sie drückte die Hand gegen den Oberschenkel, um die Blutung zu stoppen, und schwamm aus der Luke hinaus. Sie versuchte, das Glücksgefühl wieder zu erwecken, das sie vorhin empfunden hatte. Vergeblich. Sie hatte die Orientierung verloren und konnte nicht erkennen, aus welcher Richtung sie gekommen war. Weder Alan noch das andere Paar waren zu sehen. Sie hatte auch keine Ahnung, wo sich das Boot befand. Und es wurde nur noch schlimmer durch den Schleier aus Blasen, die vor ihren Augen aufstiegen.

Sie beschloss, nach oben zu schwimmen.

Da plötzlich versiegte der Luftstrom.

Gerade noch hatte sie geatmet, jetzt ging es nicht mehr.

Kalte Panik schoss durch ihren Körper. Nicht nur wegen der Lage, in der sie sich jetzt befand, sondern auch, weil eine furchtbar dunkle Erinnerung in ihr aufstieg wie ein Alptraum aus Kindertagen, den ihr Gehirn irgendwo gespeichert hatte. Ich bin unter Wasser und kann nicht atmen.

Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ihr fiel ein, dass sie einen zweiten Atemregler irgendwo an der Weste hatte. Sie tastete herum, doch ihre Hände waren ganz taub. Sterne tanzten am Rand ihres Blickfelds.

Das Gewicht ihres Körpers.

Das Blei in ihren Lungen.

Sie reckte hilfesuchend die Arme.

Dann ging in ihrem Gehirn das Licht aus.

Plötzlich riss ihr jemand den Regler aus dem Mund und ersetzte ihn durch einen anderen. Sie öffnete die Augen und sah Alan, der ihr seinen Ersatzregler an die Lippen hielt. Sie atmete gierig und ließ sich langsam von ihm an die Oberfläche ziehen. Sie war dankbar, so dankbar, als sie auftauchte und endlich richtige Luft atmen konnte. Alan rief seinem Vater etwas zu, der sie wie einen rekordverdächtigen Fang ins Boot hievte. Er nahm ihr die Maske ab, und sie blinzelte das Wasser aus den Augen. Die Sonne schien blendend hell.

»Alles klar mit Ihnen?«

»Ich denke schon. Was ist passiert?«

»Alan sagt, Ihr Regler habe nicht funktioniert.«

»Mein … was …?«

»Keine Sorge, alles in Ordnung. Müssen Sie ins Krankenhaus?«

»Ich … nein, mir geht es gut.« Libby setzte sich auf. »Es war vor allem die Panik.« Sie schluckte schwer. »Ich bin vor Jahren fast ertrunken. Das kam alles wieder hoch.«

Graeme schaute blinzelnd in die Ferne, als fürchtete er, beobachtet zu werden. »Jaja. Ich verstehe. Nun. Wir wollen nicht … so, ich werde Ihnen das heute nicht berechnen. Sie brauchen es ja niemandem zu erzählen.«

Sie begriff, dass er Angst hatte, sie könnte ihn wegen der fehlerhaften Ausrüstung anzeigen. Und weil er sie ohne Ausbildung hatte tauchen lassen. Sie schüttelte den Kopf. »Das will ich nicht. Keine Sorge. Das ist so ziemlich das Letzte, was mich jetzt beschäftigt.«

Er bemutterte sie noch ein bisschen, bis das andere Paar auftauchte, und steuerte das Boot zurück ans Ufer. Libby schaute wieder aufs Wasser, doch ohne die Leichtigkeit im Herzen, die sie auf der Hinfahrt gespürt hatte. Alles erschien ihr zu hell; überbelichtet und grell. Der heutige Tag hatte alles wieder aufgewühlt: warum sie nie hierher zurückkehren wollte, warum Juliet ihr nie verziehen hatte. Vor zwanzig Jahren hatte sie etwas Schreckliches getan, dem sie nie entfliehen konnte.


Juliet saß an einem Tisch in der Teestube, vor sich einen Haufen Rechnungen. Es war spät am Nachmittag, kurz nach Ladenschluss. Normalerweise erledigte sie so etwas oben am Schreibtisch, aber Damien war noch damit beschäftigt, die Küchenschränke auszumessen. Dann klopfte es an die Tür, und als sie aufblickte, sah sie das ältere Ehepaar, das in Zimmer 1 gewohnt hatte.

Juliet schloss die Tür auf, und die beiden gaben ihr den Zimmerschlüssel.

»Gute Heimfahrt.«

»Danke, dass wir so spät auschecken konnten«, sagte der Mann. »Das war wirklich nett von Ihnen.«

»Kein Problem. Es wird allmählich ruhiger, das Zimmer ist ohnehin nicht weitervermietet.« Sie hörte einen Rums aus der Küche und fragte sich, was Damien dort trieb.

Der ältere Mann stieß seine Frau an, die eine Flasche Rotwein aus ihrem Korb holte.

»Die ist für Sie. Es war sehr schön bei Ihnen, und das Frühstück war ein Genuss.«

Juliet strahlte. »Oh, vielen Dank.« Sie klemmte sich die Flasche unter den Arm und gab den beiden die Hand. Dann verabschiedeten sie sich, und sie schloss die Tür wieder ab, stellte die Flasche auf den Tisch und ging in die Küche.

»Alles in Ordnung mit dir?«

Damien hockte auf dem Boden, den Kopf in einem Schrank. Als sie hereinkam, blickte er auf. »Ja, tut mir leid. Ich habe eine Schublade fallen lassen. Sie ist jetzt wieder an Ort und Stelle.« Er stellte sich hin und streckte sein Bein aus. »Sie ist allerdings auf meinem Fuß gelandet.«

»Autsch. Brauchst du Eis?«

»Geht schon.«

Sie beugte sich vor und schaute sich den Fuß genauer an. Eine rote Schwellung war zu sehen. »Nein, das muss gekühlt werden. Und du brauchst Arbeitsschuhe, keine Flip-Flops.«

»Habe ich doch. Aber …«

»Ich weiß, es ist kompliziert. Das hast du schon ein paarmal gesagt.«

»Ich wollte nicht geheimnisvoll klingen.« Er schaute sich um. »Mit dem Ausmessen bin ich fertig. Sollen wir jetzt mal über meine Ideen sprechen?«

Juliet zögerte, schluckte dann und warf alle Vorsicht über Bord. »Ich habe eine Flasche Wein geschenkt bekommen. Sollen wir sie aufmachen?«

Er lächelte. »Das wäre toll.«

Sie holte eine Tüte Tiefkühlerbsen für seinen Fuß, und dann setzten sie sich im sanften Lampenlicht in die Teestube und tranken den Wein aus Tassen. Sie hatte die Seitenfenster geöffnet, damit man das Meer hören konnte. Bei der ersten Tasse sprachen sie über seine Ideen für die Küche, bei der zweiten darüber, wie sie die letzten fünfzehn Jahre das Geschäft geführt hatte. Bei der dritten Tasse gewann ihre Neugier die Oberhand.

»Du solltest mir besser erzählen, was los ist. Warum du keinen Zugang zu deinen Bankkonten und deinen Stiefeln hast.«

Damien schüttelte den Kopf. »Eine sehr, sehr schlimme Trennung.« Der Schmerz in seinem Gesicht wurde einen Moment sichtbar, bevor er ihn sorgfältig verbarg. Juliet erinnerte sich, wie es vor zwanzig Jahren gewesen war, als er sich vor Alpträumen gefürchtet hatte. Bei Kindern ging es darin meist um Ungeheuer. Bei Erwachsenen um weit weltlichere Dinge. Ein gebrochenes Herz, Geldsorgen, familiäre Probleme.

»Wir haben viel gemeinsam angeschafft«, fuhr er fort. »Sie hat mich praktisch ausgesperrt. Ich komme nicht an die Konten oder in unser Haus … Ich musste in meine eigene Garage einbrechen, um das Auto zu holen. Die Katze habe ich bei der Gelegenheit auch geklaut. Habe sie bei Libby gelassen.«

»Das tut mir wirklich leid.«

Er schüttelte den Kopf. »Wow. Ich habe zum ersten Mal mit jemandem darüber gesprochen.« Er lachte. »Ich weiß nicht, ob es am Wein liegt oder weil ich dich schon so lange kenne. Ich habe dir meine Gefühle anvertraut …«

Ihr wurde warm ums Herz. Vielleicht war sie auch ein bisschen betrunken.

»Ich habe es nicht mal meiner Mutter erzählt. Sie mag Rachel nicht und hat mich vor ihr gewarnt.« Er zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, ich höre mich wohl ziemlich jämmerlich an.«

»Ganz und gar nicht. Aber du solltest sie nicht einfach … damit durchkommen lassen. Kannst du dir keinen Anwalt nehmen?«

»Es wird schon. Irgendwann. Im Laufe der Zeit wird sie sich abregen und … man kann nie wissen, was die Zukunft für einen bereithält. Ich versuche, optimistisch zu sein, aber es war ein bisschen hart, in einem Leuchtturm auf einer Matratze zu schlafen. Daher bedeutet es mir auch so viel, endlich eine richtige Unterkunft zu haben.«

Juliet betrachtete ihn im Lampenlicht. Das Meer donnerte in der Ferne. Mit ihm zusammen zu sein, fühlte sich vertraut und gleichzeitig fremd an, als würden sich Vergangenheit und Gegenwart überlagern. Sie kannte Damien, aber gleichzeitig auch wieder nicht; sie kannte ihre Schwester, aber gleichzeitig auch wieder nicht. Warum passierte all das zur selben Zeit? Es war, als hätte Andys zwanzigjähriger Todestag längst vergrabene Dinge an die Oberfläche geholt.

»Egal.« Er rutschte auf seinem Stuhl herum und rückte die Tiefkühlerbsen zurecht. Er schien sich sehr wohl und ungezwungen zu fühlen. »Tauschgeschäft. Ich habe dir mein dunkles Geheimnis erzählt. Was ist deins?«

Sie lächelte. »Ich habe keins.«

»Oh, doch. Was ist mit dir und Libby los?«

»Nichts«, sagte sie automatisch.

»Na, komm schon. Es steht dir ins Gesicht geschrieben, dass etwas nicht stimmt. Du zuckst jedes Mal zusammen, wenn ich ihren Namen ausspreche.«

Juliet seufzte. Libby. Sie konnte ihr einfach nicht entkommen. »Die Kurzversion ist, dass ich sie seit zwanzig Jahren nicht gesehen habe. Dann taucht sie plötzlich auf und macht mir das Leben schwer.«

»Schwer? Immerhin hat sie dir einen kostenlosen Tischler besorgt.« Er breitete die Hände aus.

Sie lachte. »Na ja, dann sollte ich ihr wohl eine Danksagung schicken.«

»Du kannst dich glücklich schätzen, eine Schwester zu haben. Ich habe mir immer Geschwister gewünscht.«

Juliet musste daran denken, wie oft sie sich gewünscht hatte, keine Schwester zu haben. »Es ist kompliziert.«

»Warum ist sie zwanzig Jahre weggeblieben?«

»Lighthouse Bay war ihr nicht genug.«

»Aber sie ist nicht mal zu Besuch gekommen. Hat keinen Kontakt zu dir gehalten.«

Dunkle Gefühle. Sie wünschte, sie hätte nicht so schnell getrunken. Ihr Hirn war wie vernebelt.

Damien schien ihre Stimmung zu spüren und sagte leise: »Juliet? Alles in Ordnung?«

Sie schüttelte den Kopf.

Er schwieg einen Moment und sagte dann sanft: »Was ist passiert?«

»Andy ist ertrunken.«

»Das hat mir Libby auch erzählt. Aber was ist wirklich passiert?«

Juliet holte tief und zitternd Luft, bevor sie die furchtbare Wahrheit – die seit Jahren verschwiegene Wahrheit – laut aussprach. Würde sie es wirklich sagen? Doch dann stürzten die Worte aus ihrem Mund, und sie konnte sie nicht zurücknehmen. »Andy ist ertrunken, und es war Libbys Schuld.«

Damien war verblüfft, einen Moment lang fehlten ihm die Worte. »Okay«, sagte er dann, »ich glaube, du musst mir alles erzählen.«

Und sie erzählte es ihm. Alles.


Juliet und Andy waren füreinander bestimmt gewesen, das wusste jeder. In der neunten Klasse hatte sie im Matheunterricht einen Platz für den neuen Jungen mit dem rötlich blonden Haar und den dunkelbraunen Augen frei gehalten, und er hatte von da an immer neben ihr gesessen. In der letzten Klasse waren sie schon wie ein altes Ehepaar. Andere Beziehungen kamen und gingen. Libby mit ihrem aufsehenerregenden Äußeren und der koketten Eitelkeit eines Teenagers verschliss einen Freund nach dem anderen, doch bei Juliet und Andy blieb alles gleich.

Gleich, aber nicht langweilig. Langweilig war es nie. Er besaß eine einzigartige Intelligenz. Sah Dinge aus einem interessanten Blickwinkel. Mit ihm konnte sie stundenlang über alles reden: die Natur, die Gesellschaft, Geschichte, Philosophie, Kochen, Malerei, egal was. Er konnte zu allem etwas sagen. Und gerade wenn sie glaubte, sie sei nicht interessant oder klug genug für ihn, lachte er über einen ihrer Witze, und sie begriff, dass es mit Andy immer leicht sein würde. Er liebte sie mühelos und war mühelos zu lieben.

Einmal hatten sie Angst gehabt, sie könnte schwanger sein. Es war ein falscher Alarm, aber sie waren ins Grübeln gekommen. Warum warten? Sie wussten, dass sie zusammenbleiben, eine Familie und eine gemeinsame Zukunft wollten. Dad hatte ihnen seinen Segen gegeben, er vergötterte Andy. Eine Hochzeit am Strand in einem schlichten, hübschen Kleid, danach ein gemeinsames Leben mit schlichten und abenteuerlichen Momenten. Seelengefährten.

Die Idee mit der Party am Vorabend stammte von Libby. Juliet hatte keine Lust auf einen Junggesellinnenabschied gehabt, so wie sich auch Andy nicht sonderlich für Männerabende in der Kneipe interessierte. Libby hatte ein paar alte Schulfreunde in den Surfclub eingeladen. Juliet wollte bei ihrer eigenen Hochzeit keinen Kater haben, außerdem trank sie nie besonders viel. Andy leistete ihr Gesellschaft und blieb ebenfalls nüchtern. Alle anderen aber tranken zu viel, so wie es bei jungen Erwachsenen üblich war.

Libby trank am meisten. Juliet hatte sie schon öfter wild erlebt, aber an diesem Abend war es anders. Sie trug ein enges, blaues Kleid, ihren üblichen knallroten Lippenstift und hatte das dunkle Haar hochgesteckt. Alle Männer im Surfclub schauten sie an. Doch es war nicht nur ihr Aussehen, das Aufmerksamkeit erregte. Sie lachte laut, flirtete mit jedem und suchte ständig Augenkontakt. Juliet fragte sich, ob Libby eifersüchtig auf ihre Hochzeit war; immerhin war sie es gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen. Vielleicht aber war sie auch nur aufgeregt und glücklich.

Es war definitiv Libbys Idee, nackt schwimmen zu gehen. Es gab gemurmelte Zustimmung, aber eigentlich war es nicht ernst gemeint. Sie gingen an den Strand, lachten und redeten und spritzten mit Wasser, doch niemand wollte wirklich schwimmen.

Bis jemand Libby herausforderte. Es war einer der Jungs, der vermutlich von ihrem provokanten Verhalten angestachelt worden war.

»Und ob ich mich traue«, rief Libby. »Warte nur ab!«

Es ging eine Weile so weiter, bis Juliet müde wurde. Sie drückte Andys Hand und lehnte sich an seine warme Schulter. Der Aprilwind strich sanft über ihre Haut. »Zeit fürs Bett.«

»Und wenn wir aufwachen, ist es morgen.«

Sie drehte ihr Gesicht, um ihn zu küssen, und sein warmer Mund legte sich über ihren. Ein plötzliches Kreischen unterbrach sie. Hundert Meter weiter schlängelte sich Libby gerade aus ihrem blauen Kleid. Die anderen lachten und grölten. Juliet und Andy traten zurück.

»Sie ist verrückt geworden.«

»Sie sollte nicht so ins Wasser gehen. Sie ist zu betrunken.«

Juliet verspürte ein erstes Unbehagen.

Libby watete ins Wasser, nur mit Slip und schwarzem BH bekleidet. Dann tauchte sie unter und kam wieder hoch, das Haar nass und glatt, das Make-up lief ihr übers Gesicht, und sie konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen.

»Na, kommt schon! Das Wasser ist toll.«

Sie tauchte wieder unter.

Die Zeit dehnte sich wie Gummi. Juliet atmete schwer.

»Wo ist sie?«, fragte Andy.

Ein weißer Arm schoss hoch, weit entfernt von der Stelle, an der Libby verschwunden war. Panische Schreie am Ufer. Andy rannte zum Wasser – er war als Einziger nüchtern und stark genug, um sie zu retten –, zog sich das Hemd aus und sprang hinein.

Und kam nie wieder heraus.


Juliet hörte das Schweigen, das ihrer Erzählung folgte. Es dauerte lange, und sie konnte Damien nicht in die Augen schauen. Sie fühlte sich auf unerklärliche Weise verlegen. Weil sie zu lange geredet hatte, weil es ihr die Kehle zuschnürte, weil sie nach zwanzig Jahren nicht vergeben und vergessen konnte. Weil sie zu sehr geliebt hatte. Weil sie es nicht überwunden hatte. Weil sie es diesem attraktiven jungen Mann erzählte, der sie vermutlich bemitleidete, weil sie ihre besten Jahre hinter sich hatte und auf dem Weg war, eine verbitterte alte Jungfer zu werden. Ihr Selbsthass war so gewaltig, dass er sie zu ersticken drohte.

Doch dann legte sich Damiens Hand vorsichtig über ihre. Er ergriff ihre Finger und drückte sie fest. »Es tut mir so schrecklich leid.«

Sie beobachtete seine Hand auf ihrer. Seine starken gebräunten Finger. Doch dann löste er den Kontakt und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Sie sah hoch und begegnete seinem Blick.

»Wie ist Libby herausgekommen?«

»Andy hat es geschafft, sie auf die Sandbank zu schieben, bevor ihn die Strömung hinuntergezogen hat.«

Er hielt kurz inne. »Für Libby tut es mir auch leid. Sie hat eine schwere Last zu tragen.«

Zorn, Trauer und ihr schlechtes Gewissen ließen Juliet verstummen.

Er hob lächelnd sein Glas.

Neugierig tat sie es ihm nach. »Worauf trinken wir?«

»Darauf, dass wir lange genug gelebt haben, um unser Leben kompliziert zu machen.«

Sie kämpfte lachend mit den Tränen. »Ja. Ich nehme an, du hast recht. Immerhin sind wir noch hier, ein Opfer ungünstiger Winde.«

»Aber der Wind kann sich jeden Augenblick drehen. Dann wird das Wetter schöner. Ja, immerhin sind wir noch hier.« Er trank seinen Wein aus. »Nun, Juliet, darf ich dir eine neue Küche bauen?«

»Ja. Ich bin froh, dass du hier bist.«


Libby gab den Gedanken an ruhigen Schlaf auf. Sie beschäftigte sich Tag und Nacht mit der Arbeit an dem Katalog und der Malerei. Allmählich kam wieder Ordnung in ihre Gedanken, und die Entscheidung nahm Gestalt an.

Juliet würde ihr ohnehin nie verzeihen, eine Versöhnung schien unmöglich. Also gab es keinen Grund, das Geld nicht anzunehmen. Libby würde Juliet nicht schaden, wenn sie das Grundstück an Ashley-Harris verkaufte, das würde ihre Schwester irgendwann begreifen.

Dann war es sechs Uhr. Sie hatte vielleicht zwei Stunden geschlafen und selbst das nicht an einem Stück. Wenn sie nur blinzelte, tat ihr Kopf weh. Sie konnte sich kaum auf die winzigen Tasten ihres Telefons konzentrieren, als sie Tristan die SMS schrieb: Ich habe mich entschlossen zu verkaufen.

Ihr Daumen schwebte über der Senden-Taste. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Dann schickte sie sie ab.

Nach wenigen Minuten klingelte ihr Handy.

»Du hast die Zeitverschiebung nicht berücksichtigt«, meinte er lachend. Sie hörte eine Störung in der Leitung. Er war irgendwo draußen, wo Wind wehte.

Sie zuckte verlegen zusammen. »Wie spät ist es denn?«

»In Perth vier Uhr morgens.«

»Es tut mir so leid.«

»Zum Glück bin ich nicht in Perth. Bin gestern zurückgekommen. Die Angelegenheit war früher erledigt.«

Libby ließ sich schwer in den Sessel im Atelier fallen. Die aufgehende Sonne tat ihr in den Augen weh. »Bist du in Noosa?«

»Soll ich vorbeikommen?«

»Das wünsche ich mir sehr.« Klang sie verzweifelt?

»Du weißt, ich kann nicht mit dir übers Geschäftliche reden.«

»Ich möchte nur, dass mich jemand festhält. Das ist die schwerste Entscheidung, die ich je getroffen habe.«

»Machst du mir Frühstück?«

»Natürlich.«

Doch dazu kamen sie nicht. Als er klingelte, zog sie ihn herein, und er drückte sie gegen die Tür. Sie zogen eine Spur aus Kleidungsstücken hinter sich her. Sie verlor sich eine Zeitlang in dem harten, leidenschaftlichen Sex, vergaß alles außer dem brennenden Verlangen ihres Körpers. Danach schliefen sie ineinander verschlungen ein.

Endlich schlief sie. Wenn auch mit dem Feind.

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