Sechs



Isabella sitzt auf ihrem Bett. Die Kajütentür ist geschlossen und mit einem Schrankkoffer voller Kleider blockiert. Sie hat einen Füllfederhalter und ein Stück Papier bereitgelegt und stellt ein Verzeichnis der Schmuckstücke auf, die sie vor sich ausgebreitet hat.


1 Armband mit Rubinen und Diamanten1 goldener Anhänger mit Saphiren1 goldener Anhänger mit Perlen1 Platinanhänger mit Perlen und Amethysten1 Paar Ohrringe mit Diamanten und Peridoten1 Paar französische Ohrringe mit Gold und Opalen1 ungarische Smaragdbrosche1 Stiefmütterchen-Brosche aus Emaille mit Diamant1 Platinbrosche mit Rubinen und Perlen1 Ring mit Diamant und Mondstein1 Saphirring


Das ist alles, was sie an Wertsachen besitzt. Schuhe und Kleider lassen sich nicht so leicht verkaufen, Schmuck hingegen schon. Jedes einzelne Teil war ein Geschenk ihres Mannes oder seiner Familie, aber sie trägt nichts davon. Wenn Arthur sie bei besonderen Anlässen dazu drängt, lässt sie sich von ihm beraten, was im Kerzenlicht am schönsten glitzert, doch meist bleiben die Schmuckstücke in der mit Seide bezogenen Schmuckdose, ein verborgener Hinweis darauf, dass Isabella der Familie Winterbourne gehört, denn jedes dieser Stücke ist ein Winterbourne-Original. Sie gehört ihnen, seit die Familie das Geschäft ihres Vaters zu einem »maßlos überhöhten Preis« gekauft hat, wie es Arthurs Mutter auszudrücken pflegt.

Jedes dieser Stücke gehört also auch ihr. Man kann ihr keinen Diebstahl vorwerfen. Da ist sie sich so gut wie sicher.

Nachdem sie das Verzeichnis fertiggestellt hat, packt Isabella die Juwelen wieder nach unten in den Schrankkoffer, faltet das Blatt und schiebt es unter ihr Kopfkissen. Sie legt sich mit verschränkten Armen hin und schließt die Augen. Die Kabine hat kein Fenster, so dass es trotz des Tageslichts grau bleibt. Das Schiff schlingert dahin.

Wieder und wieder genießt sie den köstlichen Gedanken, dass ihr der Verkauf des Schmucks in Sydney genügend Geld einbringen wird, um eine Überfahrt nach New York zu buchen und ihre Schwester zu besuchen. Und zwar nicht auf einem elenden Segelschiff wie diesem, sondern auf einem schönen, großen, soliden Dampfer. Ihre Phantasie wird immer detaillierter, und mit jedem Detail wächst auch ihre Überzeugung, dass es irgendwie vorherbestimmt ist. Sie erfüllt nur ihr Schicksal. Die Winterbournes halten sie für labil und verrückt, und vielleicht ist sie das auch. Warum also sollte sie dann nicht davonlaufen? Sowohl ihr als auch Arthurs Vater sind tot, und die haben diese Verbindung arrangiert. Törichterweise. Die anderen Verwandten ihres Mannes wollen sie nicht: Sie würde ihn für eine andere Frau frei machen, vielleicht eine, die noch ein Kind gebären kann. Ihr Körper weigert sich, noch einmal Leben hervorzubringen. Sie vermutet, dass er sich noch immer nach Daniel sehnt, genau wie sie. Vielleicht würde seine neue Frau sogar seine wöchentlichen Aufwartungen genießen. Obwohl sie sich das kaum vorstellen kann. Sie weiß noch, wie sie mit fünfzehn oder sechzehn über die Geheimnisse der Liebe nachgedacht und sich alles sehr aufregend vorgestellt hat. Entweder hat sie sich geirrt, oder Arthur ist einfach unfähig.

Das Wetter ist schlechter geworden. Vielleicht kommt es ihr auch nur so vor, da sie schon seit zwei Tagen in ihrer Kabine eingesperrt ist. Sie könnte im Salon sitzen, wo das Salzwasser an die Fenster spritzt, aber dann wäre sie mit Meggy und Arthur zusammen. Das Meer ist stürmisch, der Regen prasselt unablässig nieder. Im Gang hat sie einen Blick auf Mr. Harrow und den Kapitän erhascht, die beide trotz ihrer Moleskin-Mäntel bis auf die Haut durchnässt waren. Sie kämpft gegen die abergläubische Furcht, sie selbst könne das schlechte Wetter heraufbeschworen haben, weil sie ihren täglichen Pakt mit dem Meer gebrochen hat.

Vor allem der Kapitän wirkt gehetzt und ruhelos. Sie kann sich nicht vorstellen, warum das so ist; er hat doch schon öfter schlechtes Wetter durchgestanden. Sie würde gerne Mr. Harrow fragen, was vorgeht, wagt es aber nicht, da Arthur sie dabei beobachten könnte. Sie könnte auch Arthur fragen, aber dann müsste sie ja mit ihm sprechen.

Isabella versucht manchmal, sich an eine Zeit zu erinnern, in der sie Arthur nicht gehasst hat, und vielleicht gab es einen flüchtigen Augenblick, damals, als sie Daniel erwartete. Für wenige Monate rundeten sich seine Ecken und Kanten. Er freute sich, dass so schnell ein Kind unterwegs war. Er freute sich wie jemand, dessen Hund ihm die Pantoffeln gebracht hat. Aber Freude war es dennoch. Eines Tages hatte er die Stiefmütterchen-Brosche aus Emaille von der Arbeit mitgebracht und ihr aus einer Laune heraus geschenkt. Sie war so erleichtert gewesen, mildere Züge an ihm zu entdecken, dass sie sie eine Zeitlang getragen hatte. Sie hatte sogar gehofft, dass eine lebenslange Ehe mit ihm nicht das Elend wäre, das sie erwartet hatte.

Ja, sie hatte ihn eine Zeitlang gemocht. Er wirkte immer noch distanziert und kurz angebunden, aber sie sah den Keim zu einem guten Vater in ihm, einem Vater, der das Baby in ihrem Körper lieben würde. Doch als Daniel geboren wurde, zerbrach dieser zärtliche Traum.

Als Arthur Daniel zum ersten Mal sah, lag Isabella im Bett und döste. Es war am späten Nachmittag, und Daniel schlief friedlich. Er war drei Tage alt, hatte die winzigen Fäuste sanft um die Ohren gelegt, den kleinen Mund verzogen und saugte an einer imaginären Brust. Arthur polterte zur Tür herein und fragte: »Warum liegst du um vier Uhr im Bett?«

Sie wachte mit einem Ruck auf, doch Daniel schlief weiter. »Es tut mir leid, Arthur. Ich bin so furchtbar müde. Der Kleine hält mich die ganze Nacht lang wach.«

»Dann hättest du eine Amme nehmen sollen, wie ich es vorgeschlagen habe. Du kannst nicht den ganzen Tag wie eine Schlampe im Bett liegen.«

Die Vorstellung, dass jemand anders ihr Kind ernähren sollte, war ihr zuwider. Sie setzte sich auf und versuchte, Haltung anzunehmen: eine schwierige Aufgabe, da sie erst vor wenigen Tagen niedergekommen war und sich wund fühlte und am ganzen Körper auszulaufen schien. »Bitte, Arthur. Lass mich so für ihn sorgen, wie ich es wünsche.«

»Nun, wenn du entschlossen bist, und ich sehe, dass du es bist, musst du auf jeden Fall mit meiner Mutter sprechen. Sie hat zwei Söhne großgezogen, und ich möchte wetten, dass sie tagsüber nie geschlafen hat.«

Isabella würde lieber Gift nehmen, als seine Mutter um Rat zu bitten. Mrs. Winterbourne sieht aus wie ein Engel: sanfte Kurven, blonde Locken, große blaue Augen und ein einfältiges Lächeln, doch unter dieser Oberfläche besteht sie aus Stahl. Isabella hat Arthur nie erzählt, wie Mrs. Winterbourne sie am Abend ihres Hochzeitsmahls beiseitegenommen und ihr gesagt hat, Arthur habe ihres Erachtens unter seinem Niveau geheiratet, und sie solle sich daher größte Mühe geben, um sich die Haltung und die Manieren anzueignen, an die ihre Söhne gewöhnt seien. Sie hat nie mit ihm darüber gesprochen, weil sie vermutet, dass er seiner Mutter zustimmen würde. Seine ganze Familie würde ihr zustimmen, vor allem der salbungsvolle Percy und das zitternde Mäuschen, das er seine Frau nennt.

Arthur ging zur Wiege hinüber. Die Spätnachmittagssonne fiel durch die Läden und beleuchtete die cremeweiße Spitzenbettwäsche und die unglaublich weiche Wange ihres Sohnes. »Er soll kein Schwächling werden.«

»Er ist doch noch neu auf dieser Welt«, murmelte sie. »Lass ihn eine Weile schwach sein.«

Arthur verschränkte die Hände hinter dem Rücken, als fürchtete er, das Kind sonst auf den Arm zu nehmen. Er verzog missbilligend die Lippen, während er seinen Sohn musterte, ein Blick, mit dem er auch den Schliff eines Diamanten betrachtete. »Er ist kleiner als erwartet.«

»Etwas über sechs Pfund.«

Und das war‘s. Er drehte sich um, die Hände noch immer hinter dem Rücken, und verließ das Zimmer. Sie stand auf und beugte sich über Daniels Wiege, streichelte den Flaum auf seinem warmen Kopf, atmete den süßen Milchgeruch ein und schwor, dass sie ihn für zwei lieben werde.

Isabella öffnet die Augen. Es ist zu viel: Die Erinnerung an Daniel – warm und atmend, nicht kalt und still – hat ein Messer in ihrem Herzen herumgedreht. Wie sehr sie sich wünscht, die Kiste aus Walnussholz zu öffnen, ihr schwarzes Band wieder herauszuholen und den Nachmittag damit zu verbringen, jedes einzelne Glied des Korallenarmbands zwischen Daumen und Zeigefinger zu drehen und die letzte lebendige Wärme ihres Babys herauszusaugen. Aber sie wagt es nicht. Es muss versteckt bleiben, bis sie in Sydney ankommen. Dort wird sie es zurückholen und irgendwie aus dieser elenden Ehe fliehen und Arthur und seine giftige Familie hinter sich lassen. Dann wird auch dieser verfluchte Sturm aufhören, und die ruhige See und der Sonnenschein werden wieder ihr gehören.


Am übernächsten Morgen sucht Mr. Harrow sie klugerweise auf, während Arthur mit dem Kapitän und Meggy im Frachtraum beschäftigt ist, wo es um eine Auseinandersetzung wegen irgendwelcher Marmorfliesen geht. Arthur transportiert nämlich nicht nur den Amtsstab, er exportiert auch kostbare Fliesen und Teppiche. Je weniger Isabella über seine Geschäfte weiß, desto glücklicher ist sie. Doch Arthur ist angespannt wegen der Transaktion und auch weil er fürchtet, dass die Mannschaft die Ware stehlen oder beschädigen könnte.

Als Mr. Harrow an die Kabinentür klopft, macht ihr Herz einen Sprung. Sie will nicht noch eine von Arthurs Lektionen ertragen.

»Mr. Harrow?«, fragt sie misstrauisch.

»Es tut mir leid, Mrs. Winterbourne, ich werde mich kurzfassen. Ist es möglich, dass Sie wegen unseres … Zusammentreffens in der Kombüse unter Deck gehalten werden?«

Isabella weiß, dass eine Frau ihrer Position ihn mit einer leichthin gesprochenen Bemerkung davonschicken müsste, ohne die Aufmerksamkeit auf die Privatangelegenheiten ihres Mannes zu lenken. Doch sie sieht keinen Sinn in solchen Verhaltensregeln. »Ja. Ich habe es ihm erklärt, aber er ist ein zorniger Narr.«

»Ich fühle mich schrecklich. Soll ich mit ihm sprechen?«

»Nein, es würde die Sache nur verschlimmern.«

Er schaut sich um. »Wenn ich irgendetwas tun kann … Ihr Verlust hat mich tief berührt.«

»Und mich der Ihre«, sagt sie und meint es aufrichtig. Ein kleines Funkeln erwacht in ihrem Herzen, Hoffnung keimt auf. Vielleicht ist das Eis doch nicht von Dauer.

»Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe, um zu begreifen, was passiert ist. Das Wetter hat uns ziemlich durcheinandergebracht.«

Die Erwähnung des Wetters weckt in ihr ein leises Unbehagen. Sie erinnert sich plötzlich, dass sie vergangene Nacht geträumt hat, wie sich die graue See hob und senkte, dass sie durch die Planken, durch die Kabine spürte, wie sie Arthurs Koje überflutete, um ihre Decken schwappte und das schwarze Band davontrug, während sie mit Händen danach zu greifen versuchte, die so glitschig waren wie Fischschuppen. Ja, das Wetter beschäftigt sie in der Tat. Wenn sie doch nur an Deck gehen und mit dem Meer reden könnte.

»Das Wetter ist doch normal, oder? Für diese Gegend und Jahreszeit?«

Mr. Harrow schüttelt den Kopf. »Ich muss gestehen, Mrs. Winterbourne, dass der Kapitän und ich darin nicht einer Meinung sind. Mir kommt es vor, als befänden wir uns in der Nähe eines Hurrikans. Er behauptet, es sei zu spät im Jahr für einen Hurrikan, aber …« Er senkt die Stimme. »Captain Whiteaway mag schlechtes Wetter nicht.«

Heißes Eis kribbelt auf ihrer Haut. »Warum besteht er dann auf der Weiterfahrt? Sollten wir nicht lieber in einem Hafen ankern, bis wir sicher sein können, dass wir nicht in einen Hurrikan geraten?«

»Er bewältigt seine Abneigung gegen schlechte Witterung, indem er sie ignoriert.« Mr. Harrow schließt rasch den Mund, er glaubt wohl, er habe schon zu viel gesagt, und zwar gegen seinen Kapitän. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir sind alles gute Männer und werden das Schiff sicher steuern.«

»Der Kapitän trinkt zu viel«, sagt sie schlicht.

Er antwortet in einer nahezu perfekten Imitation von Whiteaways Stimme: »So löse ich die Knoten in meinem Magen.«

»Die Menge, die er beim Abendessen trinkt, lässt darauf schließen, dass es sehr viele Knoten sein müssen.«

Mr. Harrow versucht sich an einem Lächeln. »Wie gesagt, keine Sorge. Die Männer an Bord werden sich um das Wetter kümmern und Sie um Ihre eigenen Angelegenheiten unter Deck.« Als Stimmen vom anderen Ende des Gangs erklingen, zieht er sich rasch und ohne ein Wort des Abschieds zurück.

Isabella wagt sich in den Salon und bleibt stehen, um die Landkarte auf dem Tisch des Kapitäns zu betrachten. Captain Francis Whiteaway befährt seit zwanzig Jahren den Globus von Norden nach Süden und Osten nach Westen. Soweit sie weiß, hat er immer stark getrunken, schlechtes Wetter überstanden und ist heil und gesund nach England zurückgekehrt. Wenn er sagt, dass es zu spät im Jahr für einen Hurrikan sei, hat er vermutlich recht. Immerhin ist Mr. Harrow nur wenige Jahre älter als Isabella. Sie betrachtet die halbleere Whiskykaraffe. Wie oft hat sie sie schon gesehen, dass sie gefüllt und wieder geleert wurde? Ihre Finger fahren die Ostküste von Australien nach, blassrosa neben dem türkisen Meer. Sie sind irgendwo hier. Doch auf dieser Karte sind keine Sturmwolken zu sehen, und das Meer ist so flach und still wie der Deckel einer Gruft.


Isabella glaubt, sie sei allein. Das Frühstück ist vorbei, und ihr wird schlecht von dem Wetter. Das Meer hebt sie unablässig hoch und lässt sie wieder fallen. Sie ist unter Deck gefangen und hält es nicht noch einen langen Tag in ihrer Kabine aus, muss aber Meggy und Arthur aus dem Weg gehen. Also begibt sie sich ans dunkle Ende des Schiffes. Sie hat ihren Füllfederhalter und das Schmuckverzeichnis dabei. Sie hofft, dass sie in einer stillen Ecke unbemerkt den Wert berechnen und einen Plan aufstellen kann, wie viel sie für die Reise nach New York, Essen, Kutschfahrten und so weiter benötigt … Es gibt viel zu organisieren, und nachts halten ihre kreisenden Gedanken sie wach. Sie niederzuschreiben wird sicher hilfreich sein. Außerdem kann sie sich damit vom Wetter ablenken.

Die ganze Mannschaft ist an Deck mit den Segeln beschäftigt. Isabella geht in den Frachtraum und setzt sich auf einen Stapel Fliesen, die mit einem Netz aus Stricken abgedeckt sind. Es ist dämmrig, aber sie streicht den Zettel auf ihrem Schoß glatt und macht sich Notizen.

Das Schiff zittert und schaukelt. Sie holt tief Luft und schreibt weiter.

Ihre Sinne kribbeln. Plötzlich bemerkt sie, dass sie nicht allein ist. Sie blickt auf und legt instinktiv die Hand über die Seite.

»Schreiben Sie einen Liebesbrief, Mrs. Winterbourne?«, fragt Captain Whiteaway.

Isabella faltet rasch den Papierbogen. »Nein, ich stelle eine Liste auf.«

»Wovon?«

»Private Gedanken. Es geht Sie nichts an.« Sie betrachtet ihn im Dämmerlicht. Er ist schon betrunken. »Warum sind Sie nicht bei den anderen an Deck?«

»Ich wollte sehen, ob sich die Ladung bewegt hat. Das war ein ganz schöner Ruck vorhin.«

»Ich habe ihn gespürt.« Sie würde ihn gerne fragen, weshalb er persönlich gekommen ist, statt einen der Seeleute zu schicken, doch die Antwort müsste lauten, dass er betrunken oder faul ist oder sich vor dem schlechten Wetter fürchtet und es ignorieren will. Er ist hier, weil er unfähig ist, und das würde kein Mann je eingestehen.

Seine Augen ruhen noch immer auf dem Blatt in ihrer Hand. »Welche Geheimnisse verbergen Sie vor mir, Isabella?«

»Keine Geheimnisse.« Er streckt die Hand aus, sie soll ihm das Blatt geben.

»Es ist privat.«

Er ragt über ihr auf, ein fleischiger Mann von sechs Fuß Größe mit heißem Brandyatem, und die furchtbaren Erinnerungen werden wieder wach. Sie will protestieren, doch es kommen nur kleine Knacklaute aus ihrem Mund.

Die Erinnerung blitzt auf: der Wintergarten im Haus ihrer Schwiegermutter. Früher Morgen, bevor die anderen aufgewacht waren. Ihr Herz von Trauer zerrissen, ihre Brüste noch von Milch geschwollen. Und Percy Winterbourne, Arthurs jüngerer Bruder, der ihr Gewalt antat.

Frost auf dem Gras draußen, der säuerliche Geruch von Asche im Kamin. Seine Hand über ihrem Mund, der Geschmack seiner Haut, ihr hektischer Atem, der in den Nasenlöchern brannte. »Ein bisschen hiervon?«, hatte er gefragt und ihre empfindlichen Brustwarzen durch das Kleid hindurch rauh geknetet. Schmerz und Scham. Ihre Gegenwehr hatte ihn nur wütender und brutaler gemacht. Dann war das Hausmädchen hereingekommen, und er war von ihr weggesprungen, hatte seine Weste glatt gestrichen und getan, als wäre nichts geschehen.

Und als sie es Arthur erzählte, hatte er sie eine Lügnerin gescholten.

»Lassen Sie mich in Ruhe!«, kreischt Isabella verängstigt und, zu ihrer eigenen Überraschung, beschämt.

Captain Whiteaway weicht zurück. Sein Gewissen erwacht; Isabella ist blass und zittert. Er lässt die Hand sinken. Wahrt das Gesicht, indem er sagt: »Ich interessiere mich ohnehin nicht für solchen weiblichen Unsinn. Aber wenn ich herausfinde, dass Sie und Harrow einander Briefe schreiben, werde ich ihn feuern und Sie am nächsten Hafen aussetzen. Arthur ist ein guter Freund von mir.«

»Es ist kein Liebesbrief«, stößt sie hervor. »Es ist eine Liste. Nicht mehr.« Aber sie hätte ebenso gut schweigen können. Er streicht sich mit der Hand über den Bart und wendet sich ab.

Denn es ist nicht »nur eine Liste«. Es ist ein Plan, eine Fahrkarte aus dem Elend, der erste Schritt, um ihrem Mann und ihrem gemeinsamen Leben zu entfliehen.


Es ist drei Uhr morgens, die tiefste Stunde des Schlafes. Isabella hört ein Klopfen und Rufen, braucht aber einen Augenblick, um zu erkennen, dass sie gemeint ist. Arthur ruft: »Wach auf, Isabella!«

Sie öffnet die Augen. Alles bewegt sich. Sie setzt sich auf und versucht, das Gleichgewicht zu halten. Das Schiff stöhnt, es torkelt und schlingert. Draußen heult der Wind. Angst flammt in ihrem Herzen auf. »Was passiert hier?«

»Zieh dich an. Francis bringt uns in sichere Gewässer. Er will auf den Strand laufen.«

»Auf den Strand …«

»Zieh dich einfach an, Frau!«, donnert er. »Ich komme in zwei Minuten zurück.« Dann ist er verschwunden, hat die Kabinentür hinter sich zugeschlagen. Seine Stimme ertönt im Salon, ebenso die von Meggy. Sie hört sie die Leiter hinaufsteigen, während sie mit zitternden Händen ihr Kleid zuschnürt.

Das Meer hat Zähne. Isabella hat es immer gewusst; die Schönheit des Meeres konnte sie nie über seine Grausamkeit hinwegtäuschen. Es hat Zähne, und sie schnappen nach dem Schiff. Arthur hätte sie nie unter Deck einsperren dürfen. Sie hat mit ihrem Morgengebet für ihrer aller Sicherheit gesorgt, ihren Respekt bezeugt und das Meer daran erinnert, dass sie diese Sicherheit niemals als selbstverständlich erachtet hat. Isabella ist kalt. Das kann nicht passieren. Das Schiff fährt seit Jahrzehnten zur See; warum sollte so etwas gerade jetzt passieren, während sie an Bord ist? Das ist so ungerecht. Isabella bückt sich, um ihre Schuhe zu binden. Das Schiff taumelt, hat starke Schlagseite und prallt dann wieder aufs Wasser. Alles um sie herum fällt herunter, sie selbst auch. Die Luke über dem Salon schlägt zu. Sie steht auf und läuft aus der Kabine und die Leiter hinauf, drückt gegen die Luke, doch sie ist blockiert. Sie hämmert mit den Fäusten gegen das Holz. Um ihre Füße rollt zerbrochenes Geschirr.

»Hilfe!«, schreit sie. »Hilfe! Etwas blockiert die Luke.«

Doch wie sollen sie sie beim Donnern des Meeres hören?

»Arthur!«, schreit sie. »Arthur!«

»Isabella!« Seine Stimme klingt gedämpft durchs Holz. »Hol den Amtsstab. Ein Balken ist gebrochen und liegt auf der Luke. Wir räumen ihn jetzt beiseite. Hol den Amtsstab und halte dich bereit.«

Sie kehrt in die Kabine zurück und zieht die Kiste aus dem Versteck unter dem Bett. Hebt sie schwankend hoch. Der Schlüssel steckt in Arthurs Tasche, also kann sie sie nicht öffnen und ihr kostbares Andenken herausholen. Sie schleppt sie zum Fuß der Leiter und wartet. Mahnt sich, nicht in Panik zu geraten. Sie werden das Schiff auf den Strand laufen lassen. Dann haben sie festen Boden unter den Füßen. An Land werden Wind und Regen nicht so furchterregend sein. Wieder schlingert das Schiff heftig. Leewärts zersplittern plötzlich alle Fenster, und das Meer ergießt sich herein. Isabella schreit auf. Die Laterne ist erloschen. Kaltes, dunkles Wasser wirbelt um ihre Füße, reißt ihr die Schuhe weg, das Herz hämmert in ihrer Brust.

»Helft mir! Helft mir!«, schreit sie. Die Geräusche über ihr sind entsetzlich. Holz zerbricht, Taue spannen sich zum Äußersten. Wann immer sich das Schiff hebt und senkt, schäumt Wasser herein, aber sie sinken nicht.

Noch nicht.

»Drück gegen die Luke, Isabella!«, ruft Arthur.

Isabella drückt, dass die Sehnen in ihren Armen hervortreten. Auf der anderen Seite mahlt Holz gegen Holz, dann springt die Luke auf.

Arthurs Hände. »Der Amtsstab!« Zum ersten Mal, seit sie verheiratet sind, haben sie ein gemeinsames Ziel: die hölzerne Kiste davor zu bewahren, dass das Meer sie verschlingt.

Sie hievt sie die Treppe hoch, setzt sie geräuschvoll auf jeder Stufe auf. Schiebt sie zu Arthur hinauf, der sie durch die Luke zieht und ihr die linke Hand entgegenstreckt. Jetzt ist sie an Deck, überall herrscht Chaos. Das schäumende Meer, zerfetzte Segel, vom Wind verschlungene Taue, der Sturm kreischt in der Takelage.

»Was hat das zu bedeuten?«

»Francis bringt uns an den Strand. Aber er muss das Schiff vor den Wind drehen.«

Isabella schaut sich um. Der Regen läuft ihr in die Augen. Um sie herum ist nur das Meer. »Ich sehe kein Land.«

»Da drüben.« Arthur macht eine ausholende Geste. »Irgendwo da.« Die Kiste steht zwischen seinen Füßen.

Dann schreit ein Mann: »Sturzwellen! Sturzwellen!«

Isabella bleibt nur der Bruchteil eines Augenblicks, um den Kopf zu wenden und die weiß schäumenden Sturzwellen zu sehen, bevor das Schiff mit einem Übelkeit erregenden Mahlen, das Herz und Rippen vibrieren lässt, auf die Felsen läuft.

»Verlasst das Schiff! Verlasst das Schiff!«, ruft der Kapitän, der am Steuer steht, umgeben von zerfetzten Segeln und kaputtem Holz. »Rette sich, wer kann!«

Isabellas Gelenke werden zu Wasser. Arthur zerrt die Kiste schon zu einem Rettungsboot. Sie stolpert hinter ihm her, durch Chaos und Lärm und Salzwasser und Regen. Er nestelt an Seilen, und sie hilft ihm. Menschen kriechen auf der Steuerbordseite in Rettungsboote. Sie sucht nach Gesichtern, nach Meggy oder Mr. Harrow, als eine gewaltige Welle das Schiff um fünfundvierzig Grad kippt und wieder auf das Riff schlägt. Das Holz zerbirst in einer gewaltigen Schaumfontäne. Wo eben noch Männer und Bewegung waren, ist jetzt nur die tosende See. Ihr Herz wird zu groß für ihren Körper.

»Schnell, Arthur!«, ruft sie. Sie schaut sich um, sucht nach dem Kapitän, nach Meggy, nach irgendjemandem.

Arthur lässt ihr Rettungsboot hinab, und wie durch ein Wunder sitzen sie jetzt beide darin und hüpfen auf dem flachen Wasser über das Riff. Arthur ergreift ein Ruder und Isabella das andere, und sie arbeiten sich in tieferes Wasser vor, die Kiste aus Walnussholz zwischen sich. Die Wellen wollen sie zurück zum Schiff tragen, das in der Mitte zerborsten ist. Isabella denkt an ihren Schmuck, der noch an Bord ist, spürt aber kein Bedauern über den Verlust. Wenn sie überlebt, kann sie sich glücklich schätzen. Wenn Daniels Korallenarmband auch überlebt, wird sie über die Maßen reich sein.

Dann erhebt sich Arthur halb, um sich mit dem Ruder von einem Felsen wegzustoßen. Eine Welle ergreift das kleine Boot, und er fällt ins Wasser.

»Arthur!«, schreit Isabella. Sein Ruder ragt noch aus dem Wasser, sie greift danach. Er hält das andere Ende fest, schluckt Wasser und strampelt.

»Zieh, nutzloses Weib, zieh!«, schreit er.

»Das tue ich doch!«

Doch dann schlägt das Wasser über seinem Gesicht zusammen, und sosehr sie auch zerrt, er kommt nicht näher heran. Plötzlich kehren sich die Kräfte um, und sie spürt, dass er sie zu sich zieht. Wenn er ertrinkt, wird er sie mit sich reißen. Doch bevor sie das ganz erfassen und das Ruder loslassen kann, schießt es in die Höhe. Wird leicht. Arthur ist weg.

Isabella spürt ihre eigene Leichtigkeit, fühlt sich körperlos. Der Tod ist nur eine Armlänge entfernt. Eine Welle hebt das Rettungsboot an und stößt es vom Schiff weg. Sie schießt hinunter ins Wellental, schreit vor Angst, kann im Sturm die eigene Stimme nicht hören.

Doch jetzt sieht sie Land und beginnt zu rudern.

Trotz der wahnsinnigen Strömungen.

Trotz der Felsen.

Denn in der Kiste befindet sich die letzte Erinnerung an ihren Sohn.

Sie rudert. Durch das schwarze Wasser. Durch den Sturm. Durch die eisigen Nadeln des Regens, die auf sie niederprasseln. Für Daniel.

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