Siebzehn

2011


Nach der Hektik des Nachmittagstees ging ein leichter Schauer nieder. Juliet zögerte, bevor sie nach draußen ging, aber die Wolken waren nur hellgrau. Immerhin würde sie allein am Strand sein. Sie mochte es gar nicht, wenn sie dort ständig über Kinder und Hunde stolperte.

Ausnahmsweise hatte sie Cheryl und Melody die Verantwortung fürs Saubermachen und Abschließen übertragen. Das kam eigentlich nur einmal im Jahr vor. In der Anfangszeit war sie einmal in der Woche an den Strand gekommen, dann einmal im Monat. Doch die Trauer konnte nicht ewig dauern, und jetzt kam sie nur noch, weil es ihr falsch erschien, sich nicht an das Datum zu erinnern.

Es war zwanzig Jahre her, dass Andy gestorben war.

Juliet ging zu der Stelle, an der sie immer saß, oben im grasbewachsenen Teil der Dünen, von wo aus man auf den weichen weißen Sand hinunterblickte. Sie spannte den Regenschirm auf, setzte sich mit überkreuzten Beinen hin, holte tief Luft und schloss die Augen. Die Brise vom Wasser roch durchdringend nach Regen und Salz. Der Wind verfing sich in ihrem Haar und wehte es ihr ins Gesicht. Behutsam schob sie die Strähnen zurück.

Hätte sie vor zwanzig Jahren an dieser Stelle gesessen, hätte sie alles mit ansehen können. Sie hätte die Scheinwerfer auf dem Parkplatz gesehen, deren Licht auf den Sand fiel, hätte die Sirenen gehört. Sie hätte sich selbst am Strand gesehen, wie sie wie eine Wahnsinnige unter Tränen auf und ab lief, während ihre Freunde sie festhalten wollten. Sie riss die Augen auf. Es hatte keinen Sinn, ein altes Unglück noch einmal zu durchleben.

Sie war lange Zeit hergekommen, um mit Andy zu sprechen, so als wäre sein Geist in den Sand und das Meer gedrungen, als er starb. Sie hatte keine sehr festen Vorstellungen von den Geheimnissen von Leben und Tod und glaubte schon lange nicht mehr, dass Andy in irgendeiner Form noch hier war. Heute aber verspürte sie das Bedürfnis, mit ihm zu sprechen, weil er Libby gekannt hatte. Er wusste, was passiert war. Also war er einer der wenigen Menschen, die ihr einen Rat geben konnten.

Was sollte sie bezüglich ihrer Schwester unternehmen? In der kurzen Zeit, seit Libby völlig unerwartet aufgetaucht war, war alles drunter und drüber gegangen. An den seltenen guten Tagen gelang es ihr, nicht an sie zu denken; sie hatte viel zu tun und war es gewohnt, ihr Leben ohne Libby zu bewältigen. An manchen Tagen erschrak sie fast, wenn sie sich daran erinnerte, dass ihre Schwester nur fünf Minuten entfernt wohnte. Dann überkam sie ein schlechtes Gewissen und der Wunsch, etwas wiedergutzumachen. Familie, Blutsbande, die ganze Geschichte. Gelegentlich verspürte sie auch Panik oder Zorn oder eine unerklärliche Furcht, die sie förmlich herabzog. Dass Libby hier aufgetaucht war, hatte ihr Leben schlagartig unberechenbar und kompliziert gemacht. Zugegeben, es war auch vorher nicht einfach gewesen, aber immerhin vorhersehbar. Die Zeit verrann, es war zwanzig Jahre her, dass Andy gestorben war. Zwanzig Jahre, die sie mit Frühstück und Morgen- und Nachmittagstee und Bettenbeziehen verbracht hatte. Sie hatte den Kopf eingezogen und ihr Leben möglichst einfach gestaltet. Doch dann war Libby zurückgekommen.

Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie hoffte, dass ihre Schwester möglichst schnell wieder abreiste. Libby war immer selbstsicher gewesen, als Jugendliche auch überheblich. Es würde Juliet nicht überraschen, wenn sie erneut zu dem Schluss gelangte, dass Lighthouse Bay zu klein für sie war, und sie wieder an irgendeinen exotischeren Ort aufbrach. Falls Paris seinen Glanz verloren hatte, wäre es demnächst vielleicht London oder New York. Wenn Libby wegging, könnte Juliet ihr ruhiges Leben weiterführen.

Doch sie wusste instinktiv, dass dieses ruhige Leben sie allmählich erdrückte. Manchmal wachte sie mitten in der Nacht auf und spürte eine weißglühende Angst unter den Rippen: Du hast nicht gelebt. Meist gelang es ihr, das Gefühl zu unterdrücken und über sich selbst zu lachen, doch Libbys Ankunft hatte diese Angst spürbarer gemacht. Denn es stimmte: Sie hatte nicht gelebt. Sie hatte Andy verloren und beschlossen, über den Rest ihres Lebens nur dahinzugleiten.

Juliet ließ den Kopf auf die Knie sinken. »Libby ist zurück«, sagte sie. Ihre Stimme wurde fast gänzlich von der Brandung übertönt. »Glaubst du, ich kann ihr verzeihen?«

Andy antwortete nicht, aber das war auch nicht nötig. Er war ein nachdenklicher Mann gewesen und weise für sein Alter. Sie wusste, er hätte etwas gesagt wie: Verbringe doch ein bisschen Zeit mit ihr. Du brauchst nichts zu übereilen. Erwarte keine Wunder. Womöglich hätte er auch gesagt: Du hättest das alles inzwischen hinter dir lassen sollen.

»Hey, Juliet!«

Sie hob den Kopf und öffnete die Augen. Unten auf dem Sand stand Scott Lacey in Surfershorts und einem weißen T-Shirt. Er kam zu ihr hoch.

»Guten Tag, Sergeant«, sagte sie lächelnd.

Er verzog das Gesicht. »Nenn mich nicht so, sonst frage ich, ob du auf deinen Romeo wartest.« Sein üblicher Witz, den er meist humorvoll anbrachte. Nur in den angespannten Wochen, nachdem sie seine Annäherungsversuche zurückgewiesen hatte, hatte es anders geklungen. »Ich dachte mir, dass ich dich hier finde. Es ist heute zwanzig Jahre her, oder?«

»Ja, genau zwanzig Jahre.«

»Und deine Schwester ist auch wieder in der Stadt.« Scott hob die rötlichen Augenbrauen. »Das muss weh tun.«

»Ich glaube, das ist ihr nicht bewusst. Sie kann die Vergangenheit besser hinter sich lassen als ich.«

»Sicher, wir beide sind jetzt hier die Oldtimer. Wir hüten die Lokalhistorie.« Er drehte sich zum Meer und sagte wehmütig: »Andy war ein toller Kerl.« Dann schaute er wieder zu Juliet. »Deine Schwester ist wohl ein bisschen schreckhaft. Sie hat mich letztens angerufen, weil sie Schritte vor dem Haus gehört hatte und einen Automotor und so.«

Zu ihrer eigenen Überraschung war Juliet besorgt. »Tatsächlich? Das hat sie gar nicht erwähnt. Vielleicht hat sie sich deshalb erkundigt, ob noch jemand im Leuchtturm wohnt.«

»Ich war ein paarmal da, habe aber nichts gesehen. Hoffentlich ist sie mir so dankbar, dass sie mit mir ausgeht.« Er zwinkerte ihr zu.

Juliet hatte es aufgegeben herauszufinden, wann Scott etwas ernst meinte und wann nicht. Er war dreimal verheiratet gewesen, und es mangelte ihm nicht an weiblicher Gesellschaft, also war es vermutlich nur ein Witz. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, wie Libby auf jemanden wie ihn herunterblickte, der sein ganzes Leben an einem Ort verbracht hatte. Genau wie sie selbst.

Doch vielleicht stimmte das gar nicht. Vielleicht verwechselte sie die neue mit der alten Libby. Sicher, da war noch ein Hauch des alten Glanzes, der aus ihren besonderen Ambitionen herrührte, doch als sie zum Essen bei ihr gewesen war, hatte sie aufrichtig und wirklich nett gewirkt.

»Meinst du, sie würde ja sagen?« Es regnete jetzt stärker, doch Scott schien es nicht zu bemerken.

»Keine Ahnung. Sie ist wie eine Fremde für mich geworden.«

»Dagegen solltest du etwas unternehmen.«

»Vielleicht hast du recht.«


Am Montagmorgen rief Libby gleich als Erstes bei Ashley-Harris Holdings an, nannte ihren Namen und fragte, ob sie mit Tristan sprechen könne. Kurz darauf hörte sie eine Männerstimme.

»Tristan?«

»Nein, Elizabeth, ich bin Yann Fraser. Ich bin jetzt für diesen Teil des Projektes zuständig.«

»Das verstehe ich, aber ich möchte trotzdem gern mit Tristan sprechen.« Sie hatte sich gut mit ihm verstanden. Da war etwas zwischen ihnen gewesen, und sie wusste, dass er es auch gespürt hatte. Sie wollte nicht mit einem Fremden reden. Sie wollte jemandem, dem sie vertraute, ihre Fragen stellen.

»Tristan ist diese Woche in Sydney. Aber ich helfe Ihnen gerne weiter.«

Frustriert lief sie auf und ab. »Danke, ich komme schon klar. Auf Wiedersehen.«

Sie hängte ein. War Tristan nur ein aalglatter Charmeur, der sie weichkochen sollte? Auf einmal hatte sie keine große Lust mehr, Geschäfte mit Ashley-Harris zu machen.

Aber da war das Geld.

Libby wollte gerade ins Atelier zurückkehren, als das Telefon, das sie noch in der Hand hielt, erneut klingelte.

»Hallo?« Sie merkte, wie ungeduldig sie klang.

»Libby? Hier ist Tristan Catherwood.«

Sie war sofort besänftigt. »Tristan! Wie schön, dass Sie anrufen.«

»Yann hat eine SMS geschickt, dass Sie mich sprechen möchten. Ich bin ein paar Tage in Sydney. Ich muss Ihnen etwas erklären, was möglicherweise ein bisschen heikel ist, also seien Sie bitte gnädig mit mir.«

Libby runzelte die Stirn und sagte langsam: »Okay.«

»Ich habe Ihren Fall an Yann übergeben. Wir haben die gleichen Befugnisse, und er ist durchaus in der Lage, derartige Immobiliengeschäfte zu tätigen. Allerdings hatte ich ganz konkrete Gründe dafür.« Er verstummte.

»Weiter.«

»Ich glaube nämlich, Geschäft und Vergnügen vertragen sich nicht«, sagte er sanft.

»Wie meinen Sie das?« Aber sie ahnte, was er meinte, und spürte, wie Wärme sie durchflutete.

»Ich will damit sagen, dass ich bei unserem Treffen sehr starke Gefühle für Sie entwickelt habe. Es fiel mir schwer, mich von Ihnen zu verabschieden. Und ich kann Sie nicht zum Essen einladen, wenn wir mitten in geschäftlichen Verhandlungen stecken.«

Jetzt fehlten ihr die Worte. Mark war erst zwei Monate tot. Sie war überhaupt nicht bereit, sich mit einem anderen Mann zu treffen.

»Libby?«, fragte er mit einem nervösen Lachen. »Ich habe Sie gerade zum Essen eingeladen.«

»Tut mir leid«, platzte sie heraus. »Ich … der Mann, der gestorben ist. Er war …«

»Ich verstehe. Er war Ihr Partner?«

Nein. Er war nie ihr Partner gewesen, nie ihr Ehemann. Er war ihr Geliebter. Sie trafen sich an einem Wochenende im Monat und verbrachten ab und zu eine gestohlene Woche an einem exotischen Ort, wo niemand sie kannte. Sie hatten nie mit Freunden oder Familie zu Abend gegessen. Sie hatte nie seine Mutter kennengelernt. Sie hatte Mark geliebt, aber er war nicht ihr Partner gewesen. Sie holte tief und zitternd Luft. »Ich würde sehr gern mit Ihnen essen, Tristan.«

»Wirklich? Ich meine, ich kann verstehen, wenn es noch zu früh dafür ist.«

»Nein, wirklich. Wann kommen Sie aus Sydney zurück?«

»Freitagmorgen. Wie wäre es, wenn ich Sie am Freitagabend um sechs abhole?«

»Klingt wunderbar.«

Sie bereute es, sobald sie aufgelegt hatte, aber es war zu spät. Die Zukunft begann. So musste es sein.


Libby fiel erst eine halbe Stunde vorher ein, dass Damien zum Essen kommen würde. Sie wühlte in Vorratskammer und Kühlschrank und fand zu ihrer Erleichterung die nötigen Zutaten für eine Pizza. Dann räumte sie das Haus auf, vor allem den Schreibtisch, an dem sie in den vergangenen vierundzwanzig Stunden fieberhaft an dem Katalog gearbeitet hatte, um sich abzulenken. Ihre letzte falsche Entscheidung lag zwanzig Jahre zurück und verfolgte sie bis heute. Wer konnte schon sagen, wie viele Jahrzehnte sie den Widerhall der Entscheidung spüren würde, vor der sie jetzt stand? Wenn sie das Geld nahm, würde sie es bereuen; nahm sie es nicht, würde sie es ebenfalls bereuen.

Libby war gerade im Bad und bürstete sich die Haare, als Damien klopfte. Sie öffnete und sah ihn mit einem Werkzeugkasten und einer Katze vor der Tür stehen.

»Das ist Bossy. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.«

»Ich habe nichts dagegen, aber ich verstehe es auch nicht.« Die zart gebaute rötliche Katze glitt an ihren Knöcheln vorbei.

»Ich möchte sie nicht allein im Leuchtturm lassen. Es gibt zu viele Orte, an denen sie stecken bleiben oder sich verirren könnte.«

Libby bückte sich und kraulte die Katze unter dem Kinn. »Sie ist wunderschön. Hast du sie gerade erst bekommen?«

»Nein, Bossy ist schon seit Jahren bei mir. Es ist kompliziert, und ich möchte eigentlich nicht darüber sprechen. Nur so viel: Ich habe diese Woche endlich meine Katze, meinen Wagen und mein Werkzeug bekommen.« Er hob den Werkzeugkasten. »Du sagtest, du hättest Probleme mit deinem Wäscheschrank.«

»Kannst du ihn reparieren?«

»Ja, ich bin Tischler. Es ist das mindeste, was ich tun kann, wenn du mich schon zum Essen einlädst.«

»Oh, ich dachte …« Doch es hätte beleidigend geklungen, wenn sie gesagt hätte: Ich dachte, du hättest keinen Job. »Das wusste ich nicht.«

Er war schon im Flur und überprüfte die Türen des Wäscheschranks. Sie beobachtete ihn. Wo war die Katze gewesen? Und sein Auto und das Werkzeug? Er musste sie irgendwann diese Woche geholt haben, aber wieso? Sie hätte so gern danach gefragt, aber es war offenkundig, dass er es ihr nicht sagen würde.

Sie bereitete die Pizza zu, während er die Türen ausbaute, glatt schliff und wieder in die Scharniere setzte. Er ging sehr ungezwungen mit ihr um, was ihr guttat, und sie unterhielten sich über die Vergangenheit und Leute, die sie gekannt hatten. Als die Pizza im Ofen war, setzten sie sich nach draußen auf die zusammengewürfelten Gartenmöbel. Sie war versucht, ihm von dem Angebot von Ashley-Harris zu erzählen und was es möglicherweise für ihr Verhältnis zu Juliet bedeutete, doch er wäre gewiss keine große Hilfe gewesen. Er besaß kein Geld; er hatte nicht mal einen Job. Große Immobiliengeschäfte waren vermutlich nicht sein Ding.

Außerdem gab es andere Sachen, über die er mit ihr sprechen wollte. »Ich habe mir mal das Tagebuch des Leuchtturmwärters von 1901 angesehen.« Er holte es aus dem Werkzeugkasten. »Auf den letzten Seiten habe ich etwas Interessantes gefunden.«

Libby beugte sich vor. »Und?«

»Zuerst dachte ich, der Wärter – er hieß Matthew Seaward – wäre vielleicht Ausländer gewesen, da einige Sätze sehr merkwürdig klingen. So wie: ›Brachte für I frische Äpfel mit‹ oder ›I heute sehr traurig‹. Aber dann wurde mir klar, dass es eine Initiale sein muss.« Er blätterte auf der Suche nach einem bestimmten Eintrag.

»Oh. Wie Isaac oder Ivan oder so?«

»Nein. Es geht um eine Frau. Denn es gibt einen Eintrag … da, ich habe ihn gefunden. ›I besorgt. Unsicher, was mit ihr los ist.‹«

»War er verheiratet?«

»Laut den Unterlagen nicht. Ich habe seine Tagebücher seit 1895 durchgesehen, und es wird kein anderer Mensch erwähnt außer ›I‹. Der Buchstabe taucht erstmals nach dem Tagebucheintrag über die fremde Frau auf, den ich dir vorgelesen habe.«

»Und bleibt sie bis zum Ende bei ihm?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe noch nicht alle Bücher gefunden. Dieses hier endet im Juli 1901.«

Libby dachte nach. »Nur weil eine fremde Frau bei ihm auftaucht – die er wohlgemerkt in die Stadt schickt, um sich eine angemessene Unterkunft zu suchen –, heißt das noch lange nicht, dass es dieselbe Frau ist, über die er später im Tagebuch schreibt.«

»Natürlich nicht. Wir arbeiten hier eher mit Möglichkeiten als mit Wahrscheinlichkeiten. Aber es macht doch Spaß, es sich auszumalen. Sie erleidet Schiffbruch, er nimmt sie auf, sie verlieben sich ineinander. Ist doch egal, wenn es in Wirklichkeit anders war; es ist ohnehin Vergangenheit.«

Libby versuchte, sich mit der Vorstellung anzufreunden. Ja, letztlich wurde alles irgendwann Vergangenheit. Wie ihre Liebesaffäre mit Mark. Die Zeit löschte alles aus. Hatte Mark das gewusst? Hat er sie deshalb immer gedrängt, im Augenblick zu leben? Sie versuchte, den Augenblick zu spüren. Die sanfte Brise, den Rhythmus des Ozeans. Das Glück war beinahe da. Doch noch immer trug sie zu viel Traurigkeit im Herzen. Wenn sie könnte, würde sie Damien weg- und Mark herbeizaubern. Sie hätte es erleben, hätte hier mit Mark sitzen können, in der Brise am Ozean, aber sie war zu stur gewesen, und jetzt war es zu spät. Die Zeit war vorbei.

Doch es bedeutete auch, dass die Entscheidung, das Haus zu verkaufen, irgendwann Vergangenheit sein würde. Sollte das heißen, dass es egal war, was sie tat? Sie runzelte die Stirn, wollte die Gedanken verdrängen.

»Alles in Ordnung?«

Sie blickte auf und versuchte zu lächeln. »Ja. Mir geht es gut. Würdest du mir das Tagebuch anvertrauen? Ich möchte es gern selbst lesen.«

»Sicher.« Er legte es auf den Beistelltisch. »Sollen wir nach der Pizza sehen?«

Damien wollte gern drinnen auf der Couch essen. Er sagte, er habe seit langem nicht mehr auf einer Couch gesessen, was Libby lustig und verwirrend zugleich fand. Doch keiner versuchte, die Geheimnisse des anderen zu ergründen. Es war viel angenehmer, Pizza zu essen, über die Einheimischen zu reden und sich eine aufwendige Erklärung für das Geheimnis des Leuchtturms auszumalen.

»Wenn du möchtest, komme ich irgendwann in der Woche noch einmal vorbei und kümmere mich um die anderen Schränke. Gibt es sonst noch etwas zu tun?«

»Das wäre nicht richtig. Ich kann dich im Augenblick nicht bezahlen und …«

»Ich sage das nicht ohne Hintergedanken.«

Einen Moment lang flatterte ihr Herz; er wollte sich doch wohl nicht an sie heranmachen. Er war nicht ihr Typ und außerdem viel jünger. Doch dann sagte er: »Besteht die Chance, dass ich Bossy bei dir lassen kann?«

Die Idee gefiel ihr sehr. »Natürlich.«

»Und du kannst ab und zu was für mich kochen, ich bezahle dafür mit Hilfsarbeiten. Ich habe … Probleme mit meinen Konten. Ich komme nicht einmal an die Unterlagen, die ich brauche, um mir eine Stelle zu suchen. Ich brauche Jobs, bei denen ich bar bezahlt werde oder etwas tauschen kann. Falls du etwas weißt …«

»Damien, wieso …«

»Es ist noch zu frisch. Ich kann nicht darüber reden.«

Sie nickte. »Du solltest mal bei Juliet vorbeigehen. Sie sagt, in der Küche der Teestube sei etwas zu erledigen.«

»Ehrlich? Gut, das mache ich. Kannst du ihr sagen, dass ich vorbeikomme?«

In Libbys Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Nein, sie würde nicht mit Juliet sprechen, bevor sie ihre Entscheidung getroffen hatte. Wenn sie Damien erzählte, dass sie mit dem Gedanken spielte, die Aussicht auf eine gute Beziehung zu ihrer Schwester für zweieinhalb Millionen Dollar aufs Spiel zu setzen, würde er das nicht verstehen. Die meisten Leute dachten, Familienbeziehungen seien mit Geld nicht aufzuwiegen.

»Sicher, ich sage ihr Bescheid.« Es war eine harmlose Lüge. »Sie wird sich freuen.«

Als Damien nach Hause gegangen war und Libby aus der Dusche kam, wartete Bossy schon am Fußende des Bettes.

»Hallo, Miez«, sagte sie, schaltete die Nachttischlampe ein und legte sich mit dem Tagebuch des Leuchtturmwärters ins Bett. Bossy putzte sich, kuschelte sich neben sie und begann leise zu schnurren.

Zuerst fiel es Libby schwer, Matthew Seawards Handschrift zu entziffern, doch dann gewöhnte sie sich daran und blätterte weiter, wobei sie nach der Initiale »I« suchte. Damien hatte recht, die meisten Einträge fanden sich auf den letzten Seiten des Tagebuchs, die von Ende Juni stammten. Meist ging es um triviale Dinge. Doch dann entdeckte sie einen interessanten Eintrag im April. Zurückgekommen, um Schwester zu telegrafieren. Zurückgekommen. Sprach er von sich selbst oder der geheimnisvollen Frau? Sie wurde neugierig und las jetzt gründlicher, während ein Sturm vom Meer heraufzog und das Dach erzittern ließ. Eine Liste erhaltener Telegramme. Am Ende, ganz unten am Rand der Seite: Noch immer keine Antwort von Is Schwester.

Es hörte sich an, als hätte Matthew Seaward sich sehr mit der geheimnisvollen Frau und ihrer Schwester beschäftigt. Ein Stück weiter erregte ein längerer Eintrag ihre Aufmerksamkeit. I hat nichts von ihrer Schwester gehört. Wäre am besten für I, wenn wir sie bald fänden. Braucht eigene Familie, die sie liebt und leitet.

Libby las die Zeilen wieder und wieder. Die geheimnisvolle Frau – möglicherweise die Überlebende eines Schiffsunglücks – hatte versucht, ihre Schwester zu finden. Ihre Phantasie spielte mit dem Gedanken, während Bossy neben ihr schlief, der Regen schwächer wurde und sich verzog. Unter den schlimmsten Umständen hatte diese Frau eine Schwester gebraucht, die »sie liebte und leitete«. In Libbys Welt gab es eine solche Beziehung nicht, schon gar nicht zu ihrer Schwester. Und es würde sie auch niemals geben. Seit sie erwachsen war, hatte nur Mark sie geliebt und geleitet. Der Ehemann einer anderen Frau.

Bossy stand auf und streckte sich, sprang leichtfüßig vom Bett und tappte davon, vermutlich auf der Suche nach nächtlichen Abenteuern. Es war schon spät. Libby legte das Tagebuch beiseite und schaltete das Licht aus, lag aber noch lange wach.


Am Freitag war Libby ungeheuer produktiv. Sie buchte einen Fotografen für den Katalog, überarbeitete drei Entwürfe, die sie Emily vorlegen wollte, und widmete sich ihrem Gemälde der Aurora. Hauptsache, sie war beschäftigt.

Sie könnte reich werden. Juliet würde sie auf ewig hassen. Zweieinhalb Millionen Dollar. Dreißig Tage Bedenkzeit.

Die Entscheidung würde ihr ganzes weiteres Leben beeinflussen. Während sie am Katalog arbeitete, dachte sie, dass sie sich keine Sorgen mehr um neue Klienten machen müsste. Während sie malte, stellte sie sich vor, dass sie das mindestens ein Jahr lang rund um die Uhr tun könnte. Während sie im Internet nach Fotografen suchte, rief sie eine französische Immobilienseite auf und schaute sich Luxusapartments in Paris an. Sie vermisste Paris, das Tempo, den Esprit. Und als Juliet anrief, um zu fragen, ob sie am Wochenende zum Essen käme, musste sie ablehnen, weil sie ihr nicht in die Augen sehen konnte, bevor die Entscheidung gefallen war.

Libby vermutete, dass Juliets Angst vor Ashley-Harris unbegründet war; ihre Öko-Ferienanlage wäre keine Konkurrenz. Niemand bezahlte neunhundert Dollar pro Nacht für ein Zimmer mit Frühstück. Es war eine völlig andere Branche.

Dann wieder kam es ihr vor, als stellte sie die ganzen Überlegungen nur an, um sich vor sich selbst zu rechtfertigen, falls sie sich für das Geld und gegen die Familie entschied.

Am schlimmsten waren die Nächte. Gewöhnlich konnte sie einschlafen, nachdem sie sich in ihrer Phantasie ein lichtdurchflutetes Zimmer in ihrer Traumwohnung in Montparnasse ausgemalt hatte, doch um drei Uhr morgens riss sie ihr Dilemma aus dem Schlaf, und sie lag bis zum Morgen wach. Inzwischen waren es nur noch dreiundzwanzig Tage.

Libby lief in High Heels und Bleistiftrock im Wohnzimmer auf und ab, als sie den Audi vor dem Haus hörte. Sie wartete, bis Tristan klopfte, holte tief Luft und öffnete die Tür.

»Hi.«

»Sie sehen sehr schön aus.« Er trug einen dunkelgrauen Blazer und Jeans und roch nach einem teuren Aftershave.

Ihr Herz hämmerte. Ein Rendezvous. Sie hatte ein Rendezvous.

Bossy kam durch den Flur und erstarrte, als sie Tristan sah.

»Was ist los, Bossy?«

Tristan kniete sich hin und rieb die Finger aneinander, um die Katze anzulocken, doch diese sauste an ihm vorbei und sprang auf die Couch.

»Gewöhnlich mögen mich Katzen.«

»Keine Sorge«, sagte sie lachend. »Ich würde mir nichts dabei denken.«

Tristan stand auf. »Sind Sie fertig? Ich bin ziemlich ungeduldig, weil ich Ihnen etwas ganz Besonderes zeigen möchte.«

»Tschüss, Bossy.« Sie schloss die Tür hinter sich ab und folgte ihm zum Wagen. Nachdem sie sich angeschnallt hatte, ließ er den Motor an und fuhr zum Leuchtturm hinauf, parkte auf dem Kiesbett neben der Straße und schaltete den Motor aus.

»Wir sind da.«

Sie lächelte neugierig. »Hier?«

Er stieg aus und hielt ihr die Tür auf. Dann öffnete er den Kofferraum und holte zwei Klappstühle und einen Picknickkorb heraus. »Ich wollte Sie mit tollem Essen, einer tollen Umgebung und einer tollen Aussicht beeindrucken.« Er stellte den Picknickkorb ab, klappte die Stühle auseinander und machte eine einladende Geste. »Mylady.«

Sie grinste. »Vielen Dank, Sir.« Sie imitierte Marks vornehmen englischen Akzent. »Und was dinieren wir heute Abend?«

Tristan öffnete den Picknickkorb und holte eine Plastikdecke heraus, die er auf der Motorhaube des Audi ausbreitete. Dann folgten eine weiße Papiertüte mit Fish and Chips, eine Flasche Champagner und zwei Champagnergläser aus Plastik. »Nur das Beste. Aus dem Dorf.«

»Dem Salty Sealion?«

Er goss ihr Champagner ein. »Ja. Die besten Fish and Chips an der Sunshine Coast.«

Sie stießen mit den Plastikgläsern an.

»Auf die schönste Aussicht der Welt«, sagte Tristan.

Libby schaute sich um. Das Meer lag graublau in der Dämmerung. Nebel verschleierte die Landzunge im Süden. Der Himmel war von einem weichen Blau und Purpur. »Sie könnten recht haben«, erwiderte sie leise. Dann blickte sie zum Leuchtturm hinauf. Kein Kerzenlicht im Fenster.

»Wo wohnen Sie?« Sie war neugierig geworden.

»Ich habe eine Wohnung in Noosa und ein Landhaus in den Bergen hinter Sydney. Da komme ich im Augenblick aber nicht oft hin.«

»Haben wir Besteck?« Sie suchte in der Papiertüte.

»In der Nähe meines Audi? Wohl kaum. Schmeckt ohnehin besser, wenn man mit den Fingern isst.«

Libby brach ein Stück panierten Fisch ab und steckte es in den Mund. Göttlich. Mark hatte nie mit ihr auf der Motorhaube seines Autos Fish and Chips gegessen. Eine Zeitlang vergaß sie ihre Probleme, weil ihr der Champagner perlend zu Kopf stieg und die neue Umgebung sie ablenkte. Sie plauderten zwanglos über Arbeit und Wetter, ihre Vergangenheit und Zukunft.

Dann klingelte ihr Handy. Libby holte es aus der Tasche und las »Juliet« auf dem Bildschirm.

Sie hatte schon zwei Anrufe weggedrückt und ein schlechtes Gewissen dabei, es noch einmal zu tun, doch sie stellte das Telefon auf stumm und schob es wieder in die Tasche.

»Jemand Wichtiges?«

»Meine Schwester.«

»Ah. Juliet.«

»Ja.«

»Sie runzeln die Stirn.«

»Ich habe eine wichtige Entscheidung vor mir.«

»Ich weiß. Es tut mir leid, aber wir können nicht darüber sprechen.«

»Wirklich nicht? Ich habe sonst niemanden.«

»Libby, aus ebendiesem Grund habe ich Yann das Projekt übergeben. Meine geschäftlichen und Ihre persönlichen Entscheidungen müssen streng voneinander getrennt sein. Ich weiß, dass Sie in einem Dilemma stecken, aber ich kann Ihnen dabei nicht helfen.«

»Es ist nur deshalb ein Dilemma, weil Juliet fälschlicherweise annehmen wird, sie würde durch den Verkauf ihr Geschäft verlieren.«

Er machte eine Bewegung, als würde er seine Lippen mit einem Reißverschluss verschließen, und schüttelte den Kopf.

Libby seufzte, füllte ihr Champagnerglas nach und ließ sich auf dem Stuhl zurücksinken.

»Ich sage nur, dass Sie Glück haben, überhaupt vor einer solchen Entscheidung zu stehen«, meinte er sanft. »Sie haben wunderbare finanzielle Möglichkeiten und eine familiäre Bindung, die Ihnen viel bedeutet. Andere Leute haben weder das eine noch das andere.«

Sie wollte ihm weitere Fragen stellen, schluckte sie aber hinunter. Er hatte recht. Sie war auf sich allein gestellt.

Am Meer wurde es gegen zehn Uhr kühl, und sie hatte keine Jacke dabei. Er setzte sie zu Hause ab und brachte sie noch bis zur Haustür. Sie wusste nicht, ob sie ihn hereinbitten sollte. In ihrer Champagnerlaune fand sie ihn ungeheuer attraktiv, doch der Verstand riet ihr, lieber abzuwarten, bis sie ihn näher kannte.

Tristan nahm ihr die Entscheidung ab. »Ich fahre besser. Meine Maschine geht sehr früh.«

»Wieder eine Geschäftsreise?«

»Zwei Wochen in Perth.«

Zwei Wochen? Sie war enttäuscht, zwang sich aber zu lächeln. »Klingt spannend.«

»Darf ich Sie anrufen?«

»Natürlich.« Bei seiner Rückkehr wären es nur noch neun Tage, bis sie sich entschieden haben musste. »Sehr gern.«

Er umfing ihre Wange leicht mit der rechten Hand und streichelte mit dem Daumen über ihr Kinn. Ihr Herzschlag übertönte alle anderen Geräusche. Dann beugte er sich vor und küsste sie sanft auf den Mund. Ihr Körper reagierte, indem er sich an ihn drückte. Seine Zunge stahl sich zwischen ihre Lippen.

Es war ein seltsames Gefühl, nach all den Jahren jemand Neues zu küssen. Vertraut und doch anders. Sie konnte sich nicht in dem Augenblick verlieren, weil sie sich selbst von außen dabei beobachtete, wie sie einen anderen Mann als Mark küsste.

Dann ertönte ein Motorengeräusch.

Libby löste sich von Tristan. Waren das die Männer, die sich an ihrem Cottage herumgetrieben hatten? Nein, es war ein Streifenwagen. Scott Lacey stieg aus – ein bisschen fülliger um die Taille als zu Schulzeiten, aber immer noch auf Anhieb zu erkennen. Er blieb zögernd stehen, vermutlich weil Tristan den Arm um sie gelegt hatte.

»Scott?«

»Bist du das, Libby?« Er trat vor und streckte ihr die Hand hin. »Du hast dich nicht verändert.«

Sie stellte Tristan vor, doch er sagte sofort: »Ja … wir … kennen einander.«

Libby schaute von Tristan zu Scott, und ihr Magen verkrampfte sich. Scott stand auf Juliets Seite.

»Ich bin alle paar Tage vorbeigefahren, wie versprochen. Dann sah ich das Auto hier und dachte … aber gut, es ist alles in Ordnung.«

»Ja, alles in Ordnung mit mir.«

»Dann lass ich euch mal allein.«

Libby und Tristan schauten ihm nach. Ihr Herz schlug dumpf. Stöhnend legte sie den Kopf auf seine Schulter. »Er wird es Juliet erzählen.«

Tristan sah aus, als wollte er etwas sagen, überlegte es sich aber anders. »Tut mir leid, dass ich nicht helfen kann, aber ich muss jetzt wirklich los. Essen wir zu Abend, wenn ich zurückkomme?«

»Sehr gern.«

Ein rascher Kuss auf die Wange, dann war er verschwunden. Sie ging hinein und zog die Schuhe aus. Eigentlich wollte sie duschen, rollte sich aber mit Bossy auf der Couch zusammen und döste ein. In ihrem Kopf drehte sich alles, ein Cocktail aus Champagner und schlechtem Gewissen.

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