Dreizehn



Percy Winterbourne kann nicht lesen. Natürlich hat er es gelernt. Natürlich ist er nicht dumm, keineswegs. Aber wenn er Buchstaben und Zahlen betrachtet, verwandeln sie sich manchmal in Hieroglyphen, drehen sich auf den Kopf und von vorn nach hinten. Mit Konzentration und schlauen Tricks – einige Buchstaben abdecken, während er andere entziffert, sie mit oder ohne Taschenspiegel betrachten – kommt er meistens zurecht. Doch am besten geht es ihm, wenn er gar nicht erst am Schreibtisch sitzen, kein Buch oder Register aufschlagen und nicht im Beisein anderer etwas lesen muss.

Wenn Arthur endlich von seiner Reise zurückkehrt, kann ihm Percy den ganzen Papierkram überlassen und muss nie wieder einen Blick darauf werfen.

Er sitzt am großen Mahagoni-Schreibtisch seines Bruders, vor dem Fenster erstreckt sich ein Kastanienwald. Die Weidenkätzchen blühen, und weiße Wildblumen schimmern golden in der Spätnachmittagssonne. Wie gern wäre er jetzt mit seinen Hunden da draußen, würde wandern oder jagen oder einfach nur eine fröhliche Melodie pfeifen. Stattdessen sitzt er hier drinnen und versucht zum vierten Mal, die Zahlen am Ende der Spalte mit den Zahlen am Ende der anderen Spalten auf einen Nenner zu bringen. Er könnte schwören, dass sie zwischen den Spalten hin und her springen, nur um ihn zu ärgern, weil er sie heute so oft verflucht hat.

Es klopft. Percy schiebt das Hauptbuch unter einen Stapel Schmuckbestellungen. Niemand soll merken, dass er Ende April noch mit den Zahlen vom März kämpft.

»Herein«, sagt er und bemüht sich, nicht frustriert oder schwach oder niedergeschlagen zu wirken.

Die Tür geht auf, und Charles Simmons, der Leiter der Handelsabteilung, steht in der Tür. Er ist weiß wie ein Laken. Furcht regt sich in Percys Magengrube. »Mylord, ich …«

»Machen Sie die Tür zu, und setzen Sie sich«, sagt Percy. Es sind schlechte Neuigkeiten. So sieht niemand aus, der etwas Gutes zu berichten hat.

Charles geht über den dicken Teppich und setzt sich auf den Lederstuhl vor dem Schreibtisch. Er faltet die zitternden Hände über den Knien.

»Heraus damit.«

»Vorhin habe ich das Telegramm eines wütenden Geschäftsmanns aus Brisbane in Australien erhalten. Er erwartete eine Lieferung. Es scheint, dass die Aurora nicht in Brisbane eingetroffen ist.«

Percy ist verwirrt. »Wo ist Brisbane? Ich dachte, Arthur führe nach Sydney.«

»Es ist der letzte Hafen vor Sydney. Sie wurden dort erwartet, um eine Ladung Teppiche und Tapeten zu löschen.« Charles wirft einen Blick auf die grüne Flocktapete.

»Sie haben sich verspätet. Da braucht man doch nicht so bleich zu werden.«

»Ich habe ein Telegramm an den Hafen in Townsville geschickt. Die Aurora hat dort am 29. März eine Ladung abgeliefert, kurz vor einer Schlechtwetterperiode. Das ist fast einen Monat her, Sir. Von Townsville nach Brisbane braucht man nur wenige Tage.«

Percy versucht, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Eine Katastrophe! Der unschätzbare Amtsstab, der Gegenstand, der ihnen endlich einen Auftrag der Königin eingebracht hat. Und wie soll er Mutter erklären, dass Arthur auf See verschollen ist? Seit dem Tod des Vaters verehrt sie ihren erstgeborenen Sohn. Sie verehrt ihn so sehr, dass Percys Gefühle für seinen Bruder und die verrückte Schwägerin längst erkaltet sind.

Dann durchzuckt ihn ein Gedanke: Muss er für den Rest seines Lebens über Zahlen und Buchstaben im Büro sitzen, falls Arthur nicht zurückkommt?

Er springt auf. »Erzählen Sie niemandem davon. Vielleicht tauchen sie doch noch auf. Telegrafieren Sie den Leuchtturmstationen entlang der Küste. Nehmen Sie Verbindung zur Polizei in Brisbane auf. Tun Sie alles, um die Aurora zu finden. Wir dürfen nicht gleich das Schlimmste annehmen. Noch nicht.« Bei dem Gedanken, dass der unschätzbar wertvolle Amtsstab tief auf dem Meeresgrund liegt, nur geschützt von den Händen seines toten Bruders, wird ihm übel.

»Das werde ich, Sir.« Charles erhebt sich. »Ich werde nicht ruhen, bis wir wissen, was geschehen ist. Und ich bedauere es außerordentlich, dass ich Ihnen die beunruhigende Mitteilung machen muss, dass etwas so Kostbares womöglich verlorengegangen ist.«

»So kostbar«, wiederholt Percy. »Das Kostbarste, was wir je hergestellt haben.«

Charles räuspert sich. »Ich meinte Ihren Bruder, Sir.«

Das kurze, verlegene Schweigen macht Percy wütend. »Na los, gehen Sie. Und geben Sie mir Bescheid, wenn Sie etwas hören.«


Isabella erwacht sehr früh, doch die Tür am Ende des Flurs ist noch verschlossen. Sie steht auf, wäscht sich, zieht sich an und setzt sich aufs Bett. Sie ist nicht die Herrin in ihrem eigenen Haus. Sie ist eine Dienstbotin. Dienstboten sollen den Launen anderer dienen. Das ist der allgemeinen Stellung einer Frau gar nicht so unähnlich, und sie hofft, sich rasch daran zu gewöhnen. Gewiss wird sie nur einige Monate brauchen, bis sie das Geld für ihre Reise zusammenhat. Isabella streicht vorsichtig mit den Fingern über das schwarze Band. Sie kann es ertragen.

Als die Sonne auf das Fenster trifft, hört sie, wie sich im Haus Leben regt. Vorsichtig steht sie auf und verlässt das Kinderzimmer. Die Tür am Ende des Flurs steht jetzt offen, und es riecht nach gekochtem Obst und Zimt. Sie biegt um die Ecke ins Esszimmer und sieht eine breithüftige Frau am Herd stehen, die in einem Topf rührt. Isabella räuspert sich leise.

Die Frau dreht sich um. »Oh, guten Morgen«, sagt sie mit einem knappen Lächeln. »Mrs. Fullbright hat mir gesagt, dass du hier bist.«

»Ist Mrs. Fullbright in der Nähe?«

»Sie ist unten. Sie wird gleich zum Frühstück aufstehen, aber wenn du Hunger hast, kannst du mit mir essen.« Die Köchin deutet auf den kleinen runden Tisch, der mitten in der Küche steht. »Hier isst das Personal.«

Isabella setzt sich. Der Stuhl ist hart und ungemütlich. »Ich bin Mary«, sagt sie.

»Ich bin Bessie, aber man nennt mich nur Köchin.« Sie löffelt Porridge mit Apfelkompott in eine Schüssel und stellt sie Isabella hin.

»Gibt es noch weitere Dienstboten?«

Die Köchin schaut sich um und sagt mit leiser Stimme: »Die Fullbrights haben nicht mehr so viel Geld wie früher. Sie hat vor zwei Monaten das Mädchen entlassen und noch nicht für ein neues inseriert. Wir beide werden wohl Staub wischen und putzen müssen.«

Staub wischen? Putzen? »Ich verstehe.«

»Es ist nicht so viel, Liebes. Das haben wir im Nu geschafft, und wenn Master Xavier zurück ist, wirst du sehen, dass er nicht viel Arbeit macht. Er kann sich stundenlang selbst beschäftigen.«

»Wirklich? Mrs. Fullbright hat angedeutet, er sei ein schwieriges Kind.«

»Schon, aber nicht laut oder fordernd. Er spricht nicht.«

»Wie alt ist er?«

»Ach, drei oder vier, schätze ich. Sollte inzwischen reden wie ein Wasserfall, hat aber noch kein Wort gesagt. Nicht mal Mama oder Papa.« Die Köchin wendet sich wieder ihrem Topf zu. »Aber du darfst das nicht in Gegenwart der Fullbrights erwähnen. Sie sind da sehr empfindlich. Können die Vorstellung, er könnte nicht normal sein, nicht ertragen. Mr. Fullbright hat sich in den Kopf gesetzt, der Junge sei einfach nur ungezogen.«

Isabella muss die Neuigkeiten verdauen. Sie ist neugierig darauf, Xavier und Mr. Fullbright kennenzulernen. Sie ist auch gespannt, Katarina bei Tageslicht zu begegnen. Sie erinnert sich an eine glanzvolle Schönheit, die im Lampenlicht dunkel schimmerte. Vielleicht sieht sie bei Tag eher wie eine normale Frau aus. Aber Isabella hat auch Angst: Sie hat sich nicht mehr um ein Kind gekümmert, seit sie ihr eigenes verloren hat.

Die Köchin setzt sich mit einer Schale Porridge ihr gegenüber und beginnt geräuschvoll zu essen. Isabella hört Schritte auf der Treppe und dann Katarinas Stimme. »Ist Mary schon wach?«

»Ich bin hier, Ma‘am«, ruft Isabella, schiebt den Stuhl zurück und geht zu Katarina ins Wohnzimmer.

Sie trägt die Haare heute straff zurückgekämmt. Ohne die dunkle Mähne fehlt ihr die Wolke aus üppiger Sinnlichkeit, die Isabella in Erinnerung geblieben ist. Sie ist auch nicht in Rot, sondern in dunkelblauen Serge gekleidet. Immer noch schön, aber nicht mehr so überwältigend. Isabella fragt sich, wo Katarina gestern Abend ohne ihren Ehemann und in solch aufsehenerregender Pracht hingegangen sein mag.

»Ah, Mary, dein Gesicht ist nicht mehr so gerötet, und du hast dir die Haare gekämmt. Zum Glück. Xavier würde sich erschrecken, wenn er dich in diesem Zustand sähe. Komm, ich führe dich durchs Haus, und wir sprechen über deine Arbeit.«

Katarina zeigt ihr all die Zimmer, die sie schon gesehen hat oder an denen sie vorbeigekommen ist, darunter auch die beiden neben dem Kinderzimmer. Das eine ist ein Nähzimmer, das andere ein Gästeschlafzimmer. Auf der anderen Seite des Wohnzimmers gibt es ein prachtvolles Schlafzimmer, das Mr. und Mrs. Fullbright gehört. Isabella wird nach unten und durch ein hölzernes Tor in das Untergeschoss geführt.

»Hier befinden sich das Schlafzimmer und der Wohnraum der Köchin«, sie zeigt auf eine Tür zu ihrer Linken. »Da drüben schläft das Hausmädchen, aber sie ist nach Schottland zurückgekehrt, und wir haben noch keinen Ersatz gefunden.« Dann nickt sie zu einem schmalen Flur, an dessen Ende eine Tür zu sehen ist. »Dorthin darfst du nicht gehen.«

Isabella will schon nach dem Grund fragen, erinnert sich aber daran, dass sie eine Dienstbotin ist und keine Fragen stellen darf. »Ja, Ma‘am«, sagt sie stattdessen.

»Und du gehst auch nicht mit Xavier dorthin.« Sie öffnet eine weitere Tür. »Die Waschküche. Im Augenblick erledigt die Köchin die Wäsche, bis wir ein neues Mädchen finden. Ich möchte, dass du dich um die oberen Zimmer kümmerst. Jeden Morgen Betten machen, am Samstag die Teppiche ausklopfen, Staub wischen und polieren. Die Köchin wird dir zeigen, wo alles ist. Du kannst heute anfangen, solange Xavier noch weg ist.«

»Ja, Ma‘am«, sagt Isabella noch einmal und schaut zurück in den verbotenen Flur zu der verbotenen Tür.

»Hier geht es in den Garten, aber du kannst auch die Treppe von der Küche aus nehmen.« Katarina öffnet eine Tür, die den Blick auf den sonnendurchfluteten Garten freigibt.

Isabella kann das Gras riechen, die Blumen. Es ist so lange her. Ohne zu überlegen, macht sie einen Schritt nach vorn, streift die Schuhe ab und vergräbt ihre Zehen im Gras. Der Herzschlag der Welt donnert durch ihre Fußsohlen.

»Bitte zieh die Schuhe an, Mary«, sagt Katarina stirnrunzelnd und geht wieder die Treppe hinauf.

Isabella schreckt aus ihren Träumen hoch. Schuhe. Sie zieht sie an und eilt hinter Katarina die Treppe hinauf.


Matthew ist auf der Wendeltreppe, als er hört, wie der Telegraf klappernd zum Leben erwacht. Es ist kurz vor acht, und er hat gemächlich die toten Käfer von der Plattform gefegt und sich gefragt, wie es Isabella heute gehen mag. Hat sich nach ihr gesehnt wie ein Junge. Er ist dankbar, dass ihn der Morsecode ablenkt. Er holt den Vordruck für ein Telegramm heraus und beginnt, das Signal zu entschlüsseln. Da er Telegramme übertragen muss, die nicht für ihn bestimmt sind, hat er sich daran gewöhnt, nur zu schreiben, was er hört, ohne auf den Inhalt zu achten. Als er die erste Zeile übertragen hat, begreift er, dass die Nachricht diesmal für ihn ist.

Vermisstes Schiff Aurora. Dreimastbark, zuletzt gesehen am 29. März, Townsville. Erwartet in Brisbane spätestens am 12. April. Erbitten dringende Nachricht über Sichtungen.

In seiner Zeit als Leuchtturmwärter hat er zweimal erlebt, wie Schiffe untergegangen sind. Für die Hinterbliebenen ist es eine langsame Katastrophe, für die Leute an Bord geht es schnell und brutal. Familien, Geschäftspartner und Polizei erleben das Unglück aus der Ferne. Zuerst den Verdacht, etwas könne geschehen sein; dann die wachsende Gewissheit, das allmähliche Begreifen, dass ein grausamer Tod ihnen teure Menschen längst entrissen hat. Das Grauen kommt schrittweise. Und während Matthew für alle Beteiligten hofft, dass es gute Neuigkeiten von der Aurora geben wird, ahnt er bereits, was geschehen ist.

Schließlich hat er das Telegramm übertragen und schaut traurig auf den Namen des Mannes, der es geschickt hat: Charles Simmons im Auftrag von Percy Winterbourne. Er fragt sich, ob es Angehörige sind, ob sie ängstlich und mit heißem Herzen auf und ab laufen und auf Nachricht von den geliebten Menschen warten.

Matthew wendet sich dem Register zu, in das er alle Schiffe einträgt, die er sieht, versehen mit dem jeweiligen Datum. Möglicherweise ist die Aurora weit draußen, außerhalb seiner Sichtweite, vorbeigesegelt, doch wenn sie nach Brisbane wollte, würde sie vermutlich nicht weiter als drei Meilen vor der Küste fahren. Er überprüft das Datum. Extrem schlechtes Wetter. Er erschauert, hätte bei diesen Verhältnissen nicht dort draußen sein wollen. Er schickt sich an, die Wahrheit zu telegrafieren: dass er die Aurora nicht gesehen hat. Vielleicht ein anderer Leuchtturm. Doch dann hält er inne, seine Hand schwebt in der Luft.

Isabella.

Wenn die Aurora untergegangen ist, muss es in den vergangenen drei Wochen geschehen sein. Isabella ist aus dem Nichts aufgetaucht, mit zerfetzter Kleidung, die Kiste im Schlepptau. Die sonnenverbrannte Haut an Gesicht und Armen, die geschwollenen Blasen an den Füßen – wie weit ist sie gelaufen? War sie eine Schiffbrüchige?

Matthew lehnt sich zurück. Er denkt nach und schickt dann eine Nachricht an Clovis McCarthy im benachbarten Leuchtturm von Cape Franklin. Eine Stunde später kommt die Antwort.

Ja, wir haben sie am 7. April gesehen. Habe Simmons Bescheid gegeben.

Am 7. April hat die Aurora Cape Franklin passiert. Nach realistischen Schätzungen müsste sie längst in Brisbane angekommen sein. Sie ist untergegangen; daran zweifelt Matthew nicht. Er ist sich auch sicher, dass Isabella auf dem Schiff war, ebenso wie der Schatz, den er im Wald vergraben hat.

Aber er wird nichts sagen. Noch nicht. Vielleicht nie. Sie hat ihm gestanden, dass sie davongelaufen ist. Er schickt ein Telegramm zurück und liefert die Informationen, um die sie gebeten haben. Mehr nicht. Nein, er hat das Schiff nicht gesehen. Sie haben von Cape Franklin gehört und werden sich denken können, was geschehen ist. Die Aurora ist verloren. Es gibt keine Überlebenden. Zumindest keine, die gefunden werden wollen.


Nachdem sie fünf Tage lang mit Schuhen und einem Dach über dem Kopf gelebt hat, sind Isabellas äußerliche Wunden fast verheilt. Der tiefe Schnitt an ihrem Hals ist nicht mehr blutunterlaufen, an ihrer Hand ist nur noch Schorf zu sehen, der Sonnenbrand schält sich und gibt frische weiße Haut frei. Sie ist damit beschäftigt, Messing und Silber zu polieren, zu fegen und zu wischen und aufzuräumen. Am Nachmittag hilft sie der Köchin bei der Vorbereitung des Abendessens und schickt Katarina eine gewaltige Mahlzeit nach oben, an der diese nur hier und da ein wenig knabbert. Sie isst gut, sie schläft gut, sie findet eine Nische für sich, für ein neues, provisorisches Leben. Es erinnert sie ein bisschen an die Stücke, die sie und ihre Schwester als Kinder für die Familie aufgeführt haben. Sie trägt eine Art Kostüm und spielt die Rolle von Mary Harrow, Kindermädchen und Hausmädchen. Und das macht sie gut, bis auf wenige Ausrutscher – etwa als sie zugibt, dass sie noch nie Messing und Silber poliert hat und nicht weiß, wie man die Vorhänge zum Waschen von der Stange nimmt.

Am Nachmittag hält ein leichter Einspänner vor dem Haus, worauf Katarina sofort eine Flut von Befehlen erteilt. »Das ist Mr. Fullbright«, sagt sie atemlos zu Isabella und der Köchin, die gerade am Küchentisch Erbsen schälen. »Ich möchte in einer halben Stunde den Tee.«

Die Köchin nickt und bedeutet Isabella aufzustehen. Katarina ist zur Tür gegangen, um ihren Mann und das Kind zu begrüßen, doch Isabella kann ihre Neugier nicht bezähmen und schaut aus dem Wohnzimmerfenster. Mr. Fullbright hat eine tiefe, dröhnende Stimme, doch der kleine Xavier hat gar keine. Isabella nimmt an, dass er da ist, einen Beweis hat sie noch nicht erhalten.

Sie und die Köchin holen den Rest des Früchtekuchens, den es zum Frühstück gab, schneiden Äpfel und Käse, kochen Tee, rösten Brot und träufeln Honig darüber. Dann eilt die Köchin mit einem Tablett hinaus und stellt es auf den Esstisch. Isabella zögert auf der Schwelle und wartet auf weitere Anweisungen.

»Mary, komm und begrüße Xavier«, ruft Katarina.

Isabella geht nach vorn. Mr. Fullbright, der sich gerade Butter auf seinen Früchtekuchen streicht, hält inne und schaut sie stirnrunzelnd an. »Wer bist du?« Er hat einen dichten schwarzen Schnurrbart, der sich so weit vorwölbt, dass es aussieht, als hätte er keine Oberlippe.

»Das ist Mary Harrow, unser neues Kindermädchen. Mary, mein Ehemann, Ernest Fullbright.«

Ernest Fullbright stupst den kleinen Xavier an. »Los, Junge, begrüße dein neues Kindermädchen.«

Xavier, der sich eng an seinen Vater gedrückt hat, wirft einen Blick auf Isabella und beginnt zu weinen. Sie spürt, wie wichtig der erste Eindruck ist, kniet sich vor ihn hin und ergreift sanft seine Hand. »Hallo, mein Kind.«

Xavier ist so entsetzt über die Berührung, dass er zu weinen aufhört und sie anstarrt. Seine Augen sind sehr dunkel. Isabella sieht die Angst in ihren tiefen Teichen. Sie versucht nicht, ihn aufzumuntern, sondern respektiert seine Gefühle. »Ich heiße Mary und werde sehr gut zu dir sein.«

Katarina nimmt ihre Hand von Xaviers. »Keine Umarmungen und so etwas.«

Xavier schaut auf seine Finger und dreht sie vor seinem Gesicht hin und her, als sähe er sie zum ersten Mal.

»Immerhin hat er aufgehört zu weinen«, murmelt Ernest in seinen Schnurrbart.

»Dafür sind Kindermädchen da. Dafür bezahlen wir Mary.«

Isabella kauert weiter vor dem Jungen und hält seinem Blick stand. »Wie alt ist er?«

»Er wird im Juli drei.«

Juli? Isabellas Herz schlägt schneller. »An welchem Tag?« Dabei denkt sie: Was, wenn es der 18. ist?

»Am 18.«, sagt Katarina.

Isabellas Gesicht bleibt regungslos, doch Xavier bemerkt die Veränderung in ihren Augen und beginnt schnell zu blinzeln, als wolle er wieder weinen. Der 18. Juli. Xavier ist am selben Tag geboren wie Daniel. Er steht vor Isabella, so hätte ihr Kind aussehen können. Natürlich nicht mit dunklem Haar und dunklen Augen, aber mit dicken Fäusten und kräftigen Beinen, glänzendem Blick und samtiger Haut. Er ist Daniels lebender Zwilling, und sie ist einen Moment lang wie eingefroren, aber das Kind sieht ängstlich aus, also nimmt sie ein Stück Apfel vom Tisch und gibt es ihm. Das lenkt ihn ab, und er entspannt sich wieder.

»Er ist ein schwieriges Kind«, erklärt Katarina. »Er will nicht sprechen, obwohl er eindeutig versteht, was wir sagen.«

»Verwöhne ihn nicht«, fügt Ernest hinzu. »Sorge dafür, dass er lesen und rechnen lernt.«

»Und nicht am Daumen lutscht.«

Isabella erhebt sich und winkt Xavier. »Sollen wir ins Kinderzimmer gehen?«

Er steht auf, um ihr zu folgen. Sie schließt die Tür am Ende des Flurs und streckt ihm sofort wieder die Hand hin. Er ergreift sie rasch und bereitwillig – seine Finger sind weich und etwas klebrig –, und sie weiß, dass er genau das Gleiche spürt wie sie: dass sie irgendwie füreinander bestimmt sind.


Isabella wacht auf und blinzelt in der Dunkelheit. Stimmen. Schreie. Sie liegt still in ihrem schmalen Bett und horcht. Draußen ist es windig, die Bäume biegen sich vor dem nächtlichen Himmel, werfen im Mondlicht Schatten durch die Spitzengardine. Sie kann nicht hören, was sie sagen, aber sie weiß, dass es Katarina und Ernest sind. Katarina kreischt, Ernest dröhnt. Anschuldigungen fliegen hin und her. Isabella steht auf und geht an Xaviers Bett vorbei. Er atmet leicht und ruhig, die Stimmen stören ihn nicht. Sie öffnet die Tür des Kinderzimmers und horcht in den Flur, fängt ein paar Worte auf, keins davon harmlos: Säufer, Hure, Lügner, Bastard. Dann ein ohrenbetäubender Knall, und das ganze Haus erzittert, als einer von ihnen herausstürmt und die Tür mit mörderischer Gewalt hinter sich zuschlägt. Isabella weicht rasch ins Kinderzimmer zurück und schließt die Tür, doch es ist zu spät. Xavier regt sich und beginnt zu wimmern.

»Sch«, sagt sie, kniet sich neben das Bett und streichelt ihm über die Stirn. Sie ergreift seine kleine Hand und legt sie an seine Lippen. Mit traumwandlerischer Sicherheit findet er den Daumen und saugt heftig daran. Das Wimmern hört auf, der Schlaf kehrt zurück. Sie bleibt noch ein paar Minuten bei ihm, bis er sich endgültig beruhigt hat. Dann kehrt sie in den Flur zurück.

Sie kann jemanden schluchzen hören. Katarina, sie weint herzzerreißend. Isabella nähert sich der Tür am Ende des Flurs und drückt die Klinke. Verschlossen. Sie weiß, dass es sie nichts angeht, erinnert sich aber, dass sie selbst einmal so geschluchzt hat und niemand zu ihr gekommen ist. Sie klopft leise.

Das Weinen hört auf. Isabella hört leichte Schritte, dann geht die Tür auf. Katarina steht mit tränennassem Gesicht vor ihr. »Was ist?« Isabella sieht, dass sie einsam und gefangen ist. Isabella weiß genau, wie sich das anfühlt.

»Lassen Sie mich Tee machen, Ma‘am«, sagt Isabella.

Katarina schüttelt den Kopf, doch Isabella ist schon auf dem Weg in die Küche. Katarina folgt ihr und lässt sich auf einen der harten Stühle am Tisch sinken. Dann legt sie den Kopf auf die Arme, um noch ein bisschen zu weinen. Isabella zündet das Herdfeuer an und setzt den Kessel auf, gibt Tee in die Kanne und holt Milch aus der Eiskiste. Schließlich stellt sie das Tablett vor Katarina hin. Dampf steigt aus den Tassen, als sie den Tee eingießt.

Katarina hebt den Kopf. »Danke, Mary. Ist das Kind aufgewacht?«

»Ja, als die Tür zugeschlagen ist, aber nur kurz. Er schläft jetzt wieder tief und fest.«

»Ich bin so unglücklich.«

»Ich weiß.«

»Woher?«

Isabella sagt nicht, dass auch sie in einer Ehe gefangen war, die ihr Herz mit Hass statt mit Liebe erfüllte. Sie sagt nicht, dass ihr Mann erst vor wenigen Wochen gestorben ist und dass sie nicht ein einziges Mal um ihn geweint hat. Sie antwortet nur: »Einfach so.«

»Er ist eifersüchtig. Er meint, ich schaue andere Männer an. Er denkt, ich wolle ihre Aufmerksamkeit erregen und ihn blamieren.« Sie senkt die Stimme. »Manchmal frage ich mich, ob er mir irgendwann weh tut. Er hat sich in den Kopf gesetzt, ich hätte einen Liebhaber. Er will mich umbringen.«

Isabella schaut sie an und erinnert sich an die Zeiten, in denen Arthur so wütend war, dass sie fürchtete, er könnte mit den Fäusten auf sie losgehen. Der Zorn der Männer ist furchterregend. Katarina schluchzt wieder, und etwas in Isabella rührt sich. Sie steht auf, beugt sich vor und umarmt Katarina. Katarina klammert sich an sie und schluchzt nur noch lauter.

»Ganz ruhig.«

»Ich hasse ihn.«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Wie soll ich so weiterleben?«

»Das werden Sie. Ganz ruhig.« Isabella richtet sich auf. »Trinken Sie Ihren Tee. Dann geht es Ihnen besser.«

»Nichts wird sich jemals ändern.«

»Trinken Sie Ihren Tee.« Isabella setzt sich wieder.

»Sie sind seltsam, Mary«, erwidert Katarina schließlich und greift nach ihrer Tasse.

Schweigend trinken sie ihren Tee. Dann sagt Katarina: »Er wird nachher betrunken nach Hause kommen. Keine Sorge, er ist ein fröhlicher Trinker. Halte die Kinderzimmertür geschlossen, damit Xavier ihn nicht hört.« Dann steht sie auf und kehrt ohne ein weiteres Wort ins Schlafzimmer zurück.

Isabella trinkt ihren Tee aus, leert die Kanne und spült die Tassen. Sie ist nicht müde, daher öffnet sie die Hintertür und setzt sich oben auf die Treppe. Die Nacht riecht weich und frisch; die Brise spielt mit ihrem Haar. Der Leuchtturm ist zum Leben erwacht, und sie denkt an Matthew. Ist er ebenso zornig wie andere Männer? Würde er eine Frau jemals ansehen, als wolle er ihr die Knochen brechen? Wäre er jemals herablassend, kalt oder grausam? Sie kann es sich nicht vorstellen, doch vielleicht ist sie töricht. Vielleicht machen Frauen Männer wild, weil sie Beachtung fordern. Vielleicht kann man nur mit einem Mann zusammenleben, wenn man das nicht tut. So wie die Frau von Percy Winterbourne, die so selbstverständlich Söhne wirft, wie andere Frauen Scones backen. Isabella lässt den Kopf auf die Knie sinken. Nein, Matthew ist nicht wie andere Männer. Das spürt sie tief in ihrem Inneren. Sie hofft, dass sie ihn bald wiedersieht.


Am nächsten Morgen frühstückt Xavier glücklich seine Toaststreifen mit Tee, als Katarina in die Küche segelt und verkündet: »Mary, Xavier kann mit seinen Eltern im Esszimmer frühstücken.«

Sie wirkt kühl. Die Köchin ist unten in der Waschküche, also ergreift sie die Gelegenheit. »Geht es Ihnen besser?«

»Besser? Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Sie zieht Xavier vom Stuhl und aus der Küche, er wehrt sich nicht. »Sorge dafür, dass er jeden Morgen bereit ist, um mit seinen Eltern im Esszimmer zu frühstücken«, sagt sie über die Schulter gewandt. »Familie und Dienstboten sollten nicht miteinander verkehren.«

Isabella spürt deutlich die Zurechtweisung.

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