15

Es tut mir Leid, dass ich Gewalt anwenden und Sie knebeln ließ, Officer Hawkwood«, sagte der Grauhaarige, freundlich lächelnd. »Das ist natürlich eine barbarische Maßnahme, aber manchmal unumgänglich.«

Scully hatte Hawkwood den Schlagstock abgenommen. Wiesel hatte ihn an Händen und Füßen gefesselt und die Kette um die Stuhllehne geschlungen. Danach hatte der Zwerg eine Verbeugung angedeutet und war gegangen.

»Mir wurde mitgeteilt, Ihr hättet Lord Mandrake auf seiner Reise in den Norden begleitet«, sagte Hawkwood und versuchte unauffällig, seine Handgelenke in den Fesseln zu bewegen. Aber die Kette saß zu straff.

»Da hat man Ihnen etwas Falsches mitgeteilt.«

»Mir wurde auch anvertraut, Ihr wärt des Englischen kaum mächtig«, sagte Hawkwood.

»Auch falsch.«

»Und ich nehme an, Ihr werdet mir gleich verkünden, dass Ihr auch nicht Rochefort heißt.«

»Für wen halten Sie mich denn?«

»Ich kann nur raten«, entgegnete Hawkwood. »Ich glaube, Sie sind William Lee.«

»Na, so was! Was sind Sie doch für ein kluger Mann. Und wie sind Sie darauf gekommen?«

»In Talavera diente ein amerikanischer Offizier unter Sherbrooke. Er sprach mit demselben Akzent.«

»Ach, tatsächlich? Das ist interessant. Und wie kam es, dass ein Amerikaner für den englischen König gekämpft hat?«

»Der Grund ist mir entfallen«, sagte Hawkwood. »Und wie kommt es, dass Sie für Napoleon kämpfen?«

Und warum steht Jago auf der Seite des Feindes?

»Dafür habe ich meine Gründe.« William Lee verschränkte die Arme vor der Brust.

»Geld!« Aus Hawkwoods Mund klang das Wort wie eine Obszönität.

Lees Gesicht wurde ausdruckslos. »Glauben Sie wirklich, dass es mir nur ums Geld geht?«, fragte er. »Oh, natürlich werde ich gut bezahlt, mein Freund. Das streite ich nicht ab. Aber Geld war nie ausschlaggebend für meine Entscheidungen.«

Hawkwood wartete auf eine Fortsetzung des Amerikaners, doch Lee schien in Gedanken versunken zu sein.

»Und welchen Preis hat Lord Mandrake verlangt?«, fragte Hawkwood schließlich.

Und Jago?

»Nun, damit kommen wir der Sache schon näher. Wir haben Seiner Lordschaft ein Angebot unterbreitet. Wir haben ihm zu verstehen gegeben, sollte er uns seine Mithilfe verweigern, könnte die Regierung der Vereinigten Staaten nicht für die Sicherheit seiner Überseeinvestitionen garantieren. Ihnen dürfte wohl bekannt sein, dass Lord Mandrake in beträchtlichem Maße vom Tabakhandel profitiert.«

Wie um dieser Erklärung Nachdruck zu verleihen, fischte Lee aus seiner Tasche einen halb gerauchten Stumpen, öffnete die Laterne und zündete die Zigarre an der Flamme an. Nach einem tiefen, genießerischen Zug hielt er für ein paar Sekunden die Luft an und stieß dann den Rauch aus.

»Immerhin ist Lord Mandrake nicht nur ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann, sondern auch ein überaus pragmatischer Mensch«, sagte William Lee und inspizierte lächelnd die Spitze seiner Zigarre.

»Mit anderen Worten: Der Lord ist ein verdammter Landesverräter.«

»Das hängt doch wohl davon ab, auf welcher Seite man steht, nicht wahr?«, sagte Lee spöttisch und zog wieder an seiner Zigarre.

»Soll ich den Bastard gleich fertig machen, oder nicht?«

Erst als Hawkwood Scullys Stimme vernahm und dessen Hand auf seiner Schulter spürte, wurde er sich der Anwesenheit des Schlägers wieder bewusst.

Lee schnippte die Asche von seiner Zigarre. »Nur mit der Ruhe, Scully. Du siehst doch, dass der Captain und ich uns angeregt unterhalten.«

»Woher wissen Sie, dass ich Captain war?«

Idiot! Weil Jago es ihm gesagt hat!

Lee setzte sich seitlich auf den Tisch und rollte die Zigarre zwischen Zeigefinger und Daumen. »Ach, es gibt da gewisse höher gestellte Freunde. Man hört so manches. Ich weiß eine Menge über Sie. Stellt sich die Frage, was Sie über mich wissen.«

»Alles!« Hawkwood merkte sofort, dass er nicht überzeugend klang.

»Oh, das bezweifle ich«, meinte Lee trocken und zupfte einen Tabakkrümel von seiner Unterlippe. »Sehr sogar.«

»Wir wissen von dem Tauchboot«, sagte Hawkwood und fragte sich sofort, ob dieses Eingeständnis klug gewesen war.

»Es hätte mich auch mächtig überrascht, wenn ihr das nicht wüsstet«, sagte Lee.

Hawkwood fand die Unbekümmertheit des Amerikaners äußerst beunruhigend. Irgendwie hatte er das Gefühl, von Lee an der Nase herumgeführt zu werden. Warum trat Lee so verdammt großspurig auf?

»Es bringt Ihnen nichts, wenn Sie mich umbringen lassen«, sagte Hawkwood. »Ich bin nicht der Einzige, der in diesem Fall ermittelt.«

»Oh, das glaube ich Ihnen«, sagte Lee jovial. »Wirklich. Aber bis mir jemand auf die Spur kommt, ist es zu spät.«

»Kann ich ihn jetzt endlich fertig machen?«, drängte Scully.

»Geduld, Scully. Du kriegst schon noch deine Chance. Wie Sie sehen, Captain, kann Scully keine Officer ausstehen. Nicht wahr, Scully?«

»Das sind alles Scheißkerle, jeder Einzelne. Egal, ob tot oder lebendig.«

»Habe ich’s Ihnen nicht gesagt, Captain?«

»Dieser Wahnsinnige gehört ins Irrenhaus, nach Bedlam«, sagte Hawkwood. »Wie kommt es, dass er für Sie arbeitet?«

»Was hat er gesagt?«, wollte Scully wissen.

»Dass er dich nicht mag«, sagte Lee. »Für ihn gehörst du ins Irrenhaus.«

»Na, so was«, sagte Scully und verpasste Hawkwood einen Schlag ans Kinn. Ein paar Sekunden wurde es dunkel um den Runner. Hoffentlich hat er mir nicht den Kiefer gebrochen, dachte er, als er aus dem Nebel wieder auftauchte. Er fuhr sich prüfend mit der Zunge über seine Zähne. Ein paar hatten sich gelockert.

»Die Abneigung scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen«, stellte Lee lakonisch fest.

Genussvoll inhalierte der Amerikaner den Rauch seiner Zigarre. »In Le Havre wurde mir Scully von einem Matrosen empfohlen, der mit ihm an Bord desselben Schiffes war. Er hat mir erzählt, dass Scully die Themse wie seine Westentasche kenne und dass er von der Obrigkeit nicht viel hält. König Georg II. kann er auch nicht ausstehen. Da bin ich zu dem Schluss gekommen, dass das der richtige Mann für mich ist.«

Als Scully selbstgefällig grinste, musste Hawkwood an einen Hund denken, der seinen Namen hört und daraufhin mit dem Schwanz wedelt.

»Ich finde das zum Lachen«, sagte Scully. »Monatelang kommt mir kein Officer in die Quere und jetzt schnappe ich mir gleich drei auf einmal. Was bin ich doch für ein Glückspilz.«

Es dauerte einen Moment, bis Hawkwood die Bedeutung dieser Worte verstand.

»Du hast Warlock umgebracht«, sagte er dumpf.

»Wer ist Warlock?«, fragte Scully dümmlich. »Ach, du meinst deinen Kumpel, den Runner. Mag sein – wenn du meinst. Und ich hab’s genossen.«

Nur die Fesseln hinderten Hawkwood daran, Scully an die Gurgel zu springen. Er starrte Lee an und fragte: »Haben Sie ihn damit beauftragt?«

Lee zog ein letztes Mal an seinem Stumpen und blies den Rauch in die Luft. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, mit dem Tod Ihres Kollegen habe ich nichts zu tun. Seine Lordschaft hat leider überreagiert. Nachdem Ihr Freund da einfach so reinplatzte, musste er doch etwas unternehmen.«

Warlock hatte also wie ein guter Bluthund die Spur zu Lord Mandrakes Haus verfolgt und irgendwie die Verbindung zwischen dem Verschwinden des Uhrmachermeisters und Lees Plänen für den Bau eines Unterseebootes entdeckt. Nachdem er die Zeichnungen in seinem Stock versteckt hatte, war er entdeckt und umgebracht worden. Von Scully.

»Und der alte Mann? Ist der auch tot?«

»Der Uhrmacher?« Lee schüttelte wieder den Kopf. »Nein. Lebendig nützt er uns mehr als tot.«

Aber Scully hat doch von drei Officers gesprochen, überlegte Hawkwood. Was hat er damit gemeint?

Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

»Du warst es«, sagte er zu Scully. »Du hast die Postkutsche überfallen.«

Als Exmatrose kannte Scully natürlich die Uniform eines Leutnants.

»Du hast den Kurier erschossen und ihm die Hand abgehackt.«

Scully grinste selbstgefällig. Das genügte Hawkwood als Antwort.

William Lee verzog das Gesicht. »Ja, leider ist es zu dieser exzessiven Gewaltanwendung gekommen. Wir konnten doch nicht zulassen, dass die Konstruktionspläne den Jungs von der Admiralität in die Hände fallen. Oh, ich weiß, das Marineministerium ist im Besitz von Fultons früheren Plänen, aber die sind seitdem wesentlich verbessert worden. Wir wollen es euch doch nicht zu leicht machen. Alle Achtung vor eurem Spion. Er hat sich mit Napoleons Männern eine regelrechte Hetzjagd geliefert. Wir hatten es nur einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass wir ihm auf die Spur gekommen sind. Der Schmuggler, den euer Mann in St.Valéry bestochen hat, um ihn mit nach England zu bringen, ist auch ein alter Freund von Scully. Er ist Gold wert, nicht wahr?«

»Und wer war dein Partner bei diesem Überfall, Scully?«, fragte Hawkwood. »Wer hat den Wachmann auf der Kutsche erschossen? Gehörte er auch zu den Meuterern, wie du damals?« Dann sah Hawkwood William Lee an. »Oder waren Sie es?«

»Weder noch, Euer Ehren«, sagte Scully höhnisch und lachte gemein. »Du würdest es mir nicht glauben, wenn ich es verriete. Wenn du wüsstest …«

Jago? Um Gottes willen, doch nicht Nathaniel?

Hawkwood verwarf diesen schrecklichen Verdacht sofort wieder, denn Scullys Komplize konnte weder Lee noch Jago gewesen sein, weil die Reisenden den zweiten Räuber als sehr jung beschrieben hatten. Der Meister und sein Lehrling.

»Jetzt reicht’s!«, warnte Lee.

Hawkwood spürte, wie Scully den Griff auf seiner Schulter schmerzhaft verstärkte. Er hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Blut, dachte er. Scullys Schlag hat mir die Lippen aufgerissen.

Da schnalzte Lee mit der Zunge. »Sehen Sie, Captain, da liegt der Hase im Pfeffer. Ich habe keine Lust mehr, Ihre Fragen zu beantworten. Und das heißt, Sie werden sterben, ohne die Wahrheit zu erfahren.« Der Amerikaner zuckte bedauernd mit den Schultern. »Es tut mir Leid, Captain, aber mir bleibt keine andere Wahl. Sie sind zu einem Ärgernis geworden, und wir müssen jedes Risiko ausschließen.«

Wir?

»Aber, aber«, fügte Lee beruhigend hinzu. »Warum sind Sie denn so bedrückt? Immerhin haben Sie gute Arbeit geleistet und sind mit Ihren Ermittlungen sehr weit gekommen.«

Weit?, dachte Hawkwood. Nichts habe ich erreicht. Ich bin einer schon fast kalten Spur gefolgt und diesen Leuten in die Falle gegangen – eine tödliche Falle.

Lee erhob sich vom Schreibtisch. »Jetzt bist du dran, Scully. Ich überlass ihn dir.«

»Wir wissen, was ihr mit der Thetis vorhabt«, sagte Hawkwood schnell. Er war verzweifelt.

Lee schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, das wisst ihr nicht. Ihr glaubt nur, es zu wissen.«

»Und ich werde meinen Spaß mit dir haben!«, zischte Scully. »Das schwöre ich dir.« Er griff an seinen Gürtel, und als Hawkwood erkannte, dass er keinen Dolch, sondern ein längliches metallenes Werkzeug herauszog, drehte sich ihm der Magen um. Scullys Spezialwaffe, die Ahle.

»Und sieh zu, dass du die Leiche dieses Mal verschwinden lässt«, ermahnte ihn Lee, die Hand schon auf dem Türknauf.

»Wir wollen nicht, dass der Tote entdeckt wird wie der andere. Das war schlampige Arbeit.«

»Keine Sorge«, sagte Scully und lachte glucksend. »Ich habe mir schon das richtige Grab für ihn ausgesucht.«

»Was auch immer Sie planen, Lee«, machte Hawkwood einen letzten Versuch, »Sie werden nicht damit durchkommen.«

Der Amerikaner lächelte nur.

»Der Teufel wird Ihre Seele holen, Lee!«, rief Hawkwood. »Dafür werden Sie in der Hölle schmoren.«

Der Amerikaner sagte überrascht: »Der Teufel, Captain? Sollten Sie etwa Marlowe gelesen haben? Kenntnisse der klassischen Literatur sind für einen simplen Gesetzeshüter eher ungewöhnlich. Sie versetzen mich immer wieder in Erstaunen, wirklich. Schade, dass ich nicht früher Ihre Bekanntschaft gemacht habe. Jetzt ist es leider zu spät.« Mit einem entwaffnenden Lächeln fügte er dann hinzu: »Wie sagte doch gleich der gute Dr. Faustus: ›Mein Herz ist so verhärtet. Reue kann ich nicht empfinden.‹«

»Die Exekutive wird zu Land und zu Wasser Jagd auf Sie machen«, sagte Hawkwood. »Sie entkommen uns nicht und werden am Galgen enden.«

»Versuchen können sie es ja«, sagte Lee. »Aber dann wird es zu spät sein.« Er öffnete die Kajütentür. »Ihr Diener, Captain. Ach, übrigens, wussten Sie, dass Christopher Marlowe in Deptford gestorben ist. Seltsam, nicht wahr? Wegen unbezahlter Zeche kam der große Dichter bei einer Messerstecherei ums Leben, wenn ich nicht irre. Was diesem Ort keine größere Bedeutung verliehen hat. Aber wer weiß. Manchmal geht die Geschichte sonderbare Wege, nicht wahr?« Er steckte sich den Stumpen wieder zwischen die Lippen und verbeugte sich knapp. Dann schloss er die Tür hinter sich.

»Jetzt sind nur noch wir beide übrig, Euer Ehren«, unterbrach Scully Hawkwoods wirre Überlegungen und klopfte mit der Ahle auf seine Handfläche. Seine Augen waren schwarz und ausdruckslos wie Kohle.

Dr. McGregor hat gesagt, Warlocks Kopf sei durchbohrt worden, musste Hawkwood unwillkürlich denken. Wahrscheinlich von einem Meißel. Er starrte die spitze Ahle in Scullys Pranke an. Die Tatwaffe! Warum bin ich nur nicht früher darauf gekommen?

»Dafür wirst du hängen, Scully. Und ein Festmahl für die Krähen sein.«

»Komisch«, sagte Scully. »Dasselbe hat auch dein Kumpel gesagt. Und was ist mit ihm passiert?«

Hawkwood zerrte vergeblich an seinen Ketten. »Herrgott noch mal, Scully! Der Bastard arbeitet für die Franzosen!«

»Na und?«

»Das sind unsere Feinde, falls du das vergessen hast.«

»Ich habe überhaupt nichts vergessen, Euer Ehren. Weder die miserable Heuer noch den miserablen Fraß. Auch nicht die verdammten Arschkriecher, die Offiziere, oder das Auspeitschen. Bist du je ausgepeitscht worden, Captain Hawkwood? Nein, wahrscheinlich nicht. Und dafür soll ich der Königlichen Marine dankbar sein? Warum glaubst du wohl, bin ich zu den Froschfressern übergelaufen?« Scully hob drohend die Ahle. »Schluss damit. Mir reicht’s! Jetzt bist du dran.«

Ich habe nur eine Chance, dachte Hawkwood. Ich muss Scully angreifen. Er erwartet, dass ich zurückweiche, aber Angriff ist die beste Verteidigung. Er spannte seine Muskeln an, und als Scully auf ihn zutrat, packte er mit beiden Händen die Stuhllehne und sprang auf die Füße. Scully wich grunzend zurück. Hawkwood drehte sich um die eigene Achse und knallte Scully den Stuhl an die Hüfte.

Wenn ich ihn aus dem Gleichgewicht bringe …

Doch Scully wich seitwärts aus und trat Hawkwood gegen den Oberschenkel. Weil der Runner seinen Sturz nicht mit den Händen abfedern konnte, prallte er mit dem Ellbogen zuerst auf den Boden. Ein höllischer Schmerz zuckte durch seinen Arm. Obszön fluchend beugte sich Scully über ihn und zog jetzt ein Entermesser aus seinem Gürtel.

»Das war ein netter Versuch, Kumpel. Aber du bist bereits tot. Du weißt es nur nicht. Zuerst schlage ich dir den Schädel ein, und dann zerhacke ich dich. Die Müllmänner bringen die Stücke flussabwärts und werfen sie zusammen mit dem anderen Dreck ins Wasser.«

Hawkwood konnte sich nicht bewegen. Sein rechter Arm war gelähmt. Er war so wehrlos wie eine auf dem Rücken liegende Schildkröte. Er versuchte, mit beiden Füßen nach Scully zu treten, aber der Stuhl hinderte ihn daran.

Scully lachte höhnisch. »Hast wohl gedacht, du könntest mich überrumpeln, wie?« Er jonglierte jetzt mit der Ahle.

»Dein Kumpel war zäher, als er aussah. Ich habe ihm die Ahle in den Kopf gerammt und dachte, er wäre tot, als wir ihn ins Boot legten. Wir wollten seine Leiche flussaufwärts ins Wasser werfen. Ich habe meinen Augen nicht getraut, als er sich plötzlich über Bord gehievt hat. Wir glaubten, er sei untergegangen, weil wir ihn nicht finden konnten. Dabei hat er’s bis ans Ufer geschafft. Tapferer Kerl!«

Noch immer lag Hawkwood hilflos am Boden. Er wartete darauf, dass Scully zustach.

In diesem Moment flog die Tür krachend gegen die Wand.

»AAAHLEEE!«

Voller Entsetzen sah Hawkwood, dass Wiesel neben ihm auf die Planken prallte. Blut strömte aus einer klaffenden Wunde an seinem Hals. Der Gnom starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ein Knebel hinderte ihn am Schreien. Dann legte sich ein Schleier über seine Augen.

Jago rammte seine Schulter Scully mit derartiger Wucht in den Leib, dass der Halunke rücklings über den Tisch fiel. Dabei stieß die Spitze seines Entermessers an die Laterne, die vom Deckbalken hing. Sie prallte gegen das Schott, und das Glas zerbrach. Sofort ergoss sich brennendes Petroleum über die Koje und setzte Decken und Matratze in Brand.

Schon war Jago wieder auf den Beinen. Mit der rechten Hand umklammerte er seinen schweren Holzknüppel.

»Cap’n!«, rief er, beugte sich über Hawkwood und bemerkte die Fesseln. »O verdammt!«

»Pass auf, Nathaniel!«, schrie Hawkwood, als Scully hinter dem Tisch auftauchte.

Jago richtete sich sofort auf und drehte sich um. »Ich habe dich gewarnt, Scully! Wenn du ihm was antust, kriegst du es mit mir zu tun.«

Das Entermesser in der rechten, die Ahle in der linken Hand, schnellte Scully hinter dem Tisch hervor. »Jago, ich reiß dir das Herz raus!«, schrie der Mörder und sprang nach vorn. Jago machte einen Satz zurück. Die Klinge des Entermessers schrammte um Haaresbreite an seinem Brustkorb vorbei. Scully fluchte und stach wieder zu. Da schwang Jago seinen Knüppel, Scully duckte sich jedoch, sodass er ihn nur an der Schulter traf. Doch er brüllte vor Wut und taumelte rückwärts.

Das Feuer breitete sich aus. Die Koje brannte bereits lichterloh. Züngelnde Flammen krochen über die Planken, leckten am Schott und an der Unterseite der Tür. Der Saum von Wiesels Rock fing an zu schwelen.

Hawkwood stemmte seine Füße gegen Wiesels Leiche und versuchte, sich aufzurichten. Noch immer umkreisten sich Scully und Jago in der engen Kajüte. Die Klinge des Entermessers funkelte im Schein der Flammen, als er damit hektisch nach Jago stieß. Der parierte den Schlag mit seinem Knüppel und prügelte dann mit aller Wucht auf Scullys Handgelenk. Der Knochen brach, und das Messer fiel ihm aus den gefühllos gewordenen Fingern. Jetzt stieß er mit der Ahle nach Jago. Er versuchte, den Hals seines Gegners zu durchbohren, doch Jago schlug das mörderische Werkzeug beiseite und rammte Scully seinen Knüppel derart heftig in den Magen, dass der Glatzkopf keuchend nach Luft schnappte.

Jetzt schlug Jago ihm die Ahle aus der Hand und verpasste ihm einen harten Schlag auf den kahlen Schädel. Scully stürzte seitwärts. Sein Stiefelabsatz verfing sich am Tischbein und noch im Fallen griff er wieder nach seiner Ahle. Blut strömte ihm übers Gesicht. Jago stand mit gespreizten Beinen über ihm, hob seinen Knüppel und schlug ihm noch einmal auf den Kopf. Es war ein Geräusch, als würde eine Melone mit einer Axt gespalten. Dann prallte Scullys Körper auf den Boden und blieb dort reglos liegen.

Jago warf einen letzten angeekelten Blick auf den Toten und knurrte: »Bastard! Feiges Stück Scheiße!«

Wiesels Haare und Kleider brannten jetzt lichterloh. Hawkwood roch verbranntes Fleisch. Die Blutlache unter Wiesels Kopf brutzelte wie Fett in einer Pfanne. Rauch breitete sich in der Kajüte aus. Von draußen waren nun Schreie zu hören.

Hawkwood deutete mit dem Kopf auf Wiesel und rief krächzend: »Der Schlüssel. Jago, hol den verdammten Schlüssel!«

Jago durchsuchte hastig die bereits schwelenden Kleidungsstücke des Toten und hielt dann zufrieden den Schlüssel in die Höhe. Schnell kniete er sich neben Hawkwood, schloss die Fesseln auf und zerrte den Runner auf die Beine.

Hawkwood rieb sich die Handgelenke und suchte nach einem Fluchtweg aus dieser Hölle aus Rauch und Feuer. »Das Bullauge!«, schrie er.

Einen Fuß hatte er bereits durch die runde Öffnung gesteckt, als Jago brüllte: »Nie im Leben!«

»Was?«, keuchte Hawkwood, als er sah, dass Jago zurückwich.

»Da spring ich nicht runter«, krächzte Jago.

»Herrgott noch mal, Nathaniel! Das verdammte Schiff brennt!«

Jago schüttelte den Kopf. »Schauen Sie doch mal runter. Da unten ist es so schwarz wie in einem Höllenschlund. Wie soll ich wissen, wo ich reinspringe?«

Das Knistern der Flammen wurde immer lauter. Wegen der Rauchschwaden konnte Hawkwood die Tür kaum noch sehen. Er starrte Jago fassungslos an. »Um Himmels willen, du bist doch schon mal von Bord eines Schiffs gesprungen, um der Militärpolizei zu entgehen. Was ist jetzt anders?«

»Damals konnte ich sehen, wo ich hingesprungen bin. Jetzt ist es stockfinster draußen.«

»Ich kann’s nicht fassen!«, fluchte Hawkwood und zog sein Bein wieder durch das Bullauge herein. »Also gut. Wir gehen durch die verdammte Tür!«

Mitten in der Kajüte blieb er jedoch abrupt stehen. Jago fluchte, als Hawkwood über Wiesels Leiche stieg und sich mit ausgestreckten Armen zum Tisch vortastete. Es sah aus, als würde er in die lodernden Flammen greifen. Doch dann hatte Hawkwood seinen Schlagstock in den Händen und taumelte hinter Jago zur Tür hinaus.

Auch im Gang hatte sich das Feuer bereits ausgebreitet und Rauchschwaden quollen durch den Schiffsbauch zu den Schlafhöhlen. Die Hängematten und Kojen wurden fluchtartig verlassen. Entsetzt stellte Hawkwood fest, dass manche Opiumraucher, sich der Gefahr nicht bewusst, völlig reglos liegen blieben und ihre Pfeifen umklammerten. Unter den Fliehenden brach blinde Panik aus, aber niemand machte sich die Mühe, die Flammen zu ersticken. Jeder war nur darauf bedacht, seine eigene Haut zu retten.

Hawkwood tappte blindlings durch den Qualm. Seine Kehle und seine Lungen brannten, und seine Augen tränten. Er konnte nur ahnen, dass Jago sich vor ihm den Weg freiboxte. Ein Mann schrie vor Schmerz und stürzte. Andere trampelten einfach über ihn hinweg.

Das Feuer loderte nicht nur nach oben, sondern breitete sich durch die offenen Luken auch nach unten aus. Brennende Hängematten setzten die unteren Decks in Brand. Eine Flutwelle aus Menschen schwappte nach oben. Sie trampelte alles nieder, was ihr im Weg lag. Das Rats Nest wurde ausgeräuchert.

Der Qualm wurde zur größten Bedrohung. In der pechschwarzen Finsternis unter Deck kroch er todbringend in jede Ecke und Nische. Ein alles erstickender Gestank aus brennendem Hanf, Teer und Opium hing in der Luft.

Hawkwood verfluchte sich, weil er Jago nicht einfach durch das Bullauge im Heck gestoßen hatte. Vielleicht hätten sie sich ein paar Knochen gebrochen, sie wären aber wenigstens nicht in dieser Feuerhölle umgekommen.

Da packte ihn Jago plötzlich am Kragen und zog ihn die Leiter hoch und durch die Luke an Deck. Rauchschwaden quollen hinter ihm durch die Öffnung. Die Nachtluft, vorher widerlich stinkend, roch jetzt köstlich frisch.


Später konnte sich Hawkwood nicht an den Namen der Absteige erinnern. Es war wohl eine dieser schäbigen Bruchbuden am Kai gewesen, in denen sich Matrosen, mit ihrer Heuer in der Tasche, eine Matratze, eine Flasche und eine Hure für die Nacht kaufen konnten.

Eine Frau mit harten Gesichtszügen hatte die Tür geöffnet und Jago nicht verärgert oder überrascht, sondern mit Wärme und Zuneigung begrüßt. Nachdem sich die beiden kurz leise unterhalten hatten, folgte Jago, Hawkwood im Schlepptau, der Frau in die rückwärtig gelegene Küche. Die Frau wünschte den beiden eine gute Nacht und tappte mit einer brennenden Kerze in der Hand die Treppe hoch.

Jago deutete auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich.«

Hawkwood sah zu, wie Jago aus der Speisekammer einen Krug und zwei Blechbecher holte und einschenkte. »Da, schlucken Sie das runter.«

»Stammt der auch aus des Kaisers Kellereien?«, fragte Hawkwood und musste husten, als der Schnaps brennend durch seine wunde Kehle rann.

Jago hob grinsend seinen Becher. »Wie in alten Zeiten. Sie kämpfen, und ich passe auf Sie auf.«

Die Worte trafen Hawkwood wie Nägel mitten ins Herz.

»Was ist denn?«, fragte der Exsergeant besorgt.

»Ich glaubte, von dir verraten worden zu sein, Nathaniel.«

»Meinen Sie damit die Nachricht auf dem Zettel?«

Hawkwood nickte. »Ich hätte es besser wissen müssen. Es tut mir Leid, Nathaniel. Entschuldige. Ich war ein verdammter Idiot.«

»Ist das alles, Cap’n? Verdammt, hätte ich in Ihrer Haut gesteckt, hätte ich dasselbe gedacht. Nehmen Sie sich das bloß nicht zu Herzen. Wir haben schon zu viel miteinander durchgemacht, um darüber auch nur ein Wort zu verlieren.«

»Und gerade deshalb hätte ich nicht an dir zweifeln dürfen, Nathaniel«, sagte Hawkwood kopfschüttelnd. »Was war ich doch für ein verdammter Narr.« Plötzlich kam ihm ein Gedanke: »Woher wusstest du, wo ich war? Und dass ich eine Nachricht bekommen hatte?«

»Durch einen glücklichen Zufall. Ich hatte von Lippy Adams in der Bell Lane endlich einen Tipp wegen der Beute vom Überfall auf die Kutsche bekommen. Lippy war mir einen Gefallen schuldig. Er hat mir erzählt, dass Scully ihm das Zeug gebracht hat. Da habe ich Jenny gebeten, Ihnen eine Nachricht zu übermitteln. Und sie meinte, das habe sie schon getan. Scully hatte sie mit einem Zettel losgeschickt. Ausgerechnet dieser verdammte Scully! Und da haben natürlich alle Alarmglocken bei mir geschrillt. Aber Jenny wusste nicht, was auf dem Zettel stand. Die Kleine kann ja nicht lesen.«

Hawkwood hörte sich Jagos Geschichte geduldig an.

»Tja, Scully war nirgends aufzutreiben, was mich nicht weiter verwundert hat. Und dann ist mir eingefallen, dass auch Scully weder lesen noch schreiben kann. Also musste jemand diese Nachricht für ihn geschrieben haben. Und in unserer Gegend kommt dafür nur einer in Frage: Solly Linnett.«

»Du hast also mit Solly geredet?«

»Klar. Und es war sehr aufschlussreich, nachdem er die Wahrheit ausgespuckt hatte. Er hat mir alles erzählt. Und das keine Sekunde zu früh, wie sich herausgestellt hat.« Mit einem entwaffnenden Grinsen fügte Jago hinzu: »Mein Gott, was würden Sie nur ohne mich anfangen? Kaum lass ich Sie eine Sekunde aus den Augen, geraten Sie in Schwierigkeiten. In Todesgefahr.« Dann wurde der Exsergeant plötzlich wieder ernst. »Wie wär’s, wenn Sie mir erzählen würden, worum es bei dieser verdammten Geschichte eigentlich geht.«

»Du wirst es mir nicht glauben«, sagte Hawkwood erschöpft.

»Na, raus damit!«, sagte Jago. »Wir haben viel Zeit.«

Da weihte Hawkwood ihn in alles ein. Angefangen von dem Überfall auf die Postkutsche über das Verschwinden des Uhrmachers bis hin zu Warlocks Ermordung und William Lees Unterseeboot. Als er fertig war, brannte seine mit Brandy gut geölte Kehle, als hätte er Brennnesseln geschluckt.

»O verdammt!«, fluchte Jago nach längerem Schweigen. »Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder doch? Und was passiert jetzt?«

»Wir machen uns auf die Suche nach Lee und hindern ihn daran, seinen teuflischen Plan auszuführen.«

»Puh!«, sagte Jago. »Wen meinen Sie mit wir? Herrgott, Sie haben vielleicht Nerven!« Dann dachte er nach und verkündete nicht ohne Stolz: »Also gut, verdammt noch mal! Ich mache mit. Aber wie sollen wir diesen Mistkerl aufhalten, wenn wir nicht einmal wissen, wo er steckt?«

»Keine Ahnung«, sagte Hawkwood. »Ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass ich etwas Entscheidendes übersehen habe.«

Die beiden starrten eine Weile schweigend in ihre Becher.

»Verdammte Generäle!«, sagte Jago schließlich.

»Was?«, fragte Hawkwood verdutzt und sah Nathaniel an.

Jago seufzte. »Verdammte Generäle, haben wir doch immer geschimpft. Nie haben sie uns irgendetwas wissen lassen. Immer sind wir im Dunklen getappt, und dann steckten wir in der Scheiße. Wenn Sie mich fragen, so passiert jetzt genau dasselbe. Ich glaube, jemand da oben hat Ihnen nicht die ganze Wahrheit erzählt. Erst wenn Sie dahinterkommen, was die Kerle Ihnen verschwiegen haben, können Sie handeln.«

»Du hättest General werden sollen«, sagte Hawkwood bewundernd.

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