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Auf den Straßen von Whitehall machten die klappernden Hufe und polternden Räder einen ziemlichen Lärm auf dem Pflaster, als Richter Read vor dem imposanten Eingang zum Sitz der Admiralität aus der Kutsche stieg.

»Warte auf mich, Caleb«, teilte er dem Mann auf dem Bock mit. »Es dürfte nicht allzu lange dauern.«

»Wie schön, Euer Ehren«, erwiderte der Kutscher und tippte sich an den Hut.

Der Oberste Richter schwang seinen Spazierstock, durchschritt das Tor und überquerte den Vorplatz. Erst als die Gestalt im schwarzen Mantel außer Sicht war, stieg der Kutscher vom Bock, holte den Futtersack aus dem Kasten und hängte ihn der Stute um den Hals. Dann sprang er wieder auf den Bock, nahm seine Pfeife aus der Tasche und stopfte sie gemächlich. Er richtete sich auf eine längere Wartezeit ein, weil der Zeitbegriff des Obersten Richters in London selten mit dem anderer Menschen übereinstimmte. Doch das Warten lohnte sich allemal, denn der Richter gab großzügige Trinkgelder.

Read stieg forschen Schrittes zwischen den hohen weißen Säulen die Treppe empor und betrat das Hauptgebäude. Trotz der frühen Stunde herrschte in der Eingangshalle bereits reges Treiben. Männer in blauen Marineumformen warteten auf Korridoren und Treppen in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit der Adjutanten der Admiralität zu erregen, um ihr Anliegen vortragen zu können.

James Read jedoch wurde sofort von einem schwermütig aussehenden Leutnant unter den neugierigen Blicken der Wartenden zum Sitzungssaal geleitet, wo er vom Adjutanten des Admiralstabs empfangen wurde. Erst dort brach der Leutnant sein Schweigen, salutierte, wünschte dem Obersten Richter einen guten Tag und entfernte sich rasch.

Beim Betreten des Saals registrierte Read nicht zum ersten Mal, wie räumlich beschränkt das Zentrum der britischen Admiralität im Verhältnis zu seiner weltweiten Bedeutung war.

An den Wänden hingen Seekarten, und an einem Ende des Raums stand zwischen hohen, schmalen, mit Glas verkleideten Bücherregalen ein riesiger Globus. Darüber zeigte ein Kompass, der mit der Wetterfahne auf dem Dach verbunden war, stets die augenblicklich herrschende Windrichtung an. Momentan stand der Zeiger auf NNO.

Deswegen ist mir wohl so verdammt kalt, dachte Read.

Ein schwerer rechteckiger Eichentisch, umgeben von acht Stühlen, dominierte den Raum. Zwei Quasten, die an den beiden Kopfenden von der Decke hingen, dienten als Klingelzug.

Drei Männer waren anwesend; zwei saßen am Tisch, während der dritte, ein Mann in mittleren Jahren im zweireihigen Frack, am Fenster stand und hinausschaute. Jetzt drehte er sich abrupt um.

»Ah, Read! Da sind Sie ja endlich. Wird aber auch Zeit! Gibt es Fortschritte bei Ihren Nachforschungen?«

Der Erste Seelord Charles Yorke war Chef des britischen Admiralitätsstabs, außerdem Barrister und Mitglied der Königlichen Akademie der Naturwissenschaften. Seine politische Karriere hatte er als Abgeordneter des Unterhauses begonnen.

Read ignorierte die in herrischem Ton vorgebrachte Begrüßung und trat gelassen an den Tisch. »Guten Morgen, Gentlemen«, sagte er höflich, worauf die beiden ernst aussehenden Männer nur stumm nickten.

»Nun, Sir?« Charles Yorke platzte vor Ungeduld. Seine Stirn warf finstere Falten und seine Unterlippe zitterte vor Wut. »Haben Sie etwas zu berichten oder nicht?«

Richter Read drehte sich um und antwortete ruhig: »Nur, dass die Ermittlungen eingeleitet wurden und ich meinen besten Mann damit beauftragt habe.«

»Und was haben Sie ihm mitgeteilt?«

»Nur das Nötigste, damit er mit den Nachforschungen beginnen kann.«

»Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass der Zeitfaktor von entscheidender Bedeutung ist?«

»Natürlich«, entgegnete Read, ohne sich von dem arroganten Auftreten Yorkes einschüchtern zu lassen. Ein leicht verärgerter Ausdruck huschte über das Gesicht des Ersten Seelords, als der Richter seinen eleganten Spazierstock auf den Tisch legte und seine Handschuhe auszog. Der Chef des Admiralitätsstabs hielt den Stock offensichtlich für ein etwas geckenhaftes Accessoire, doch bei einer näheren Inspektion des Stocks hätte er seine Meinung revidieren müssen, denn in dem Schaft steckte eine sechzig Zentimeter lange Klinge aus feinstem Toledo-Stahl. Diese Waffe war von William Parker aus Holborn speziell für James Read angefertigt worden, und der Richter wusste geschickt damit umzugehen.

Als Oberster Richter war James Read im Laufe der Jahre unzählige Male von Verbrechern, die er hinter Schloss und Riegel gebracht hatte, bedroht worden. Oder Komplizen hatten ihm Rache für Bekannte und Verwandte geschworen, die gehängt, eingesperrt oder deportiert worden waren. Die meisten, im Eifer des Gefechts ausgesprochenen Drohungen wurden jedoch nie in die Tat umgesetzt, denn die Rachegelüste ließen mit der Zeit nach. Aber Read hielt es für angebracht, stets vorsichtig zu sein. Zweimal schon hatte er sich gegen Angreifer verteidigen müssen. Der erste war mit einer Fleischwunde im Bein davongehumpelt, während der zweite an einem Stich in die Lunge gestorben war. Und beide Male war Read unverletzt geblieben.

»Ist Ihr Beamter vertrauenswürdig?«, fragte der Erste Seelord unverblümt.

Erst nach einer kurzen Pause gab Read ziemlich schroff zurück: »Alle meine Beamten sind vertrauenswürdig«, und dachte: Die Runner auf jeden Fall. Für Constables und Wachmänner hingegen würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen.

»Ähm, natürlich, natürlich«, lenkte Charles Yorke, plötzlich erstaunlich verbindlich, ein. »Nichts für ungut«, fügte er beschwichtigend hinzu.

»Dürfen wir den Namen dieses Mannes erfahren?« Die Frage kam von dem blonden, streng wirkenden Marineoffizier am Tisch. Drei Tressen an seinem Ärmel kennzeichneten seinen Rang.

Für den nicht ungewöhnlichen Fall, dass ein Zivilist anstelle eines Militärs Chef des britischen Admiralstabs wurde, diente ihm ein Vertreter des höchsten Dienstgrades der Marine als Berater. Also hatte Charles Yorke Admiral Bartholomew Dalryde auf diesen Posten berufen.

Vom untersten Rang eines Marineoffiziers bis zum Admiral hatte Dalryde seinem Land ehrenvoll gedient und bereits im Alter von vierundzwanzig Jahren das Kommando der Fregatte Audacious übernommen. Seitdem hatte er im Freiheitskrieg gegen die nordamerikanischen Kolonien gekämpft, unter Hood im Mittelmeer und unter Nelson am Kap St.Vincent und Kap Trafalgar.

»Er heißt Hawkwood.«

»Hawkwood?« Der zweite Mann am Tisch hob abrupt den Kopf.

»Sie kennen ihn, Blomefield?« Der Erste Seelord fixierte ihn streng.

Thomas Blomefield, der Generalinspekteur der Artillerie und Generalfeldzeugmeister war mit Ende sechzig der Älteste in der Runde. In vieler Hinsicht ähnelte seine Karriere der des Admirals. Nach seiner Ausbildung als Kadett in der Militärakademie Woolwich hatte auch er im amerikanischen Freiheitskrieg gekämpft und war bei Saratoga verwundet worden. Als Kommandant der Artillerie hatte er am Kopenhagen-Feldzug teilgenommen und war Spezialist für Kriegsgerät. Die Feldzeugmeisterei war zuständig für die Versorgung der Armee sowie der Marine mit Waffen und Munition. Blomefield kontrollierte nicht nur die Verteilung der Geschütze, sondern er konstruierte auch Waffen für die Standardausrüstung der Kriegsschiffe.

»Der Name kommt mir bekannt vor«, überlegte Blomefield stirnrunzelnd und sah James Read an. »Wie lange arbeitet er schon für Sie?«

Ein sechster Sinn warnte Read zwar, dass er sich in gefährlichen Gewässern bewegte, aber es war zu spät für einen Rückzieher. Außerdem würde die Wahrheit sowieso früher oder später ans Tageslicht kommen. Deshalb antwortete er: »Noch nicht lange. Etwas länger als ein Jahr.«

»Und was hat er davor gemacht?«

»Hawkwood hat beim Militär gedient.«

»Hawkwood?«, wiederholte der Generalinspekteur und richtete sich kerzengerade auf. »Beim 95. Rifle Regiment?«

Read schwieg.

»Gott verdammt!«, fluchte Blomefield.

Ein Ausdruck des Missfallens huschte über das Gesicht des Admirals, denn Dalryde war ein eifriger Kirchgänger und missbilligte Kraftausdrücke, bei denen der Name Gottes im Munde geführt wurde. Auf See hatte er sich den Ruf eines strengen Zuchtmeisters erworben, der jede Gotteslästerung mit Auspeitschen bestrafte. Es ging das Gerücht um, dass Offiziere und Matrosen, die unter ihm gedient hatten, mit großer Erleichterung auf seine Versetzung ins Marineministerium reagiert hatten.

»Würde der Generalinspekteur die Güte haben, sein Wissen mit uns zu teilen?«, zischte der Seelord.

Blomefield warf James Read einen Zustimmung heischenden Blick zu, doch der Oberste Richter ignorierte die stumme Bitte.

»Ich habe mir nur überlegt … sollte es sich tatsächlich um denselben Mann handeln, so hat er, gelinde gesagt, eine interessante Vergangenheit.«

»Klären Sie uns auf!«

Blomefield wünschte sich wohl, er hätte den Mund gehalten, denn er antwortete nur zögerlich: »Ich glaube, mich daran erinnern zu können, dass es während seines Militärdienstes einen Zwischenfall gegeben hat. Dabei ging es um einen Ehrenhandel. Er … hm … hat im Duell einen Offizier getötet.«

Während Blomefield unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte, wandte sich der Seelord fragend an James Read: »Stimmt das?«

Der Oberste Richter nickte. »Ja. Der Generalinspekteur hat Recht.«

»Und Sie haben von Hawkwoods Vergangenheit gewusst, ehe er für Ihre Behörde arbeitete?«

»Natürlich. Ich überprüfe alle meine Mitarbeiter mit größter Sorgfalt.«

Der Seelord starrte den Obersten Richter entgeistert an.

»Großer Gott, Mann! Ich muss noch heute Vormittag dem Premierminister und dem Innenminister Bericht erstatten. Wie, zum Teufel, soll ich ihnen begreiflich machen, dass der mit den Ermittlungen dieses Falls betraute Beamte, ein ehemaliger einfacher Soldat, einen Offizier im Duell getötet hat? Erklären Sie mir das!«

»Ein einfacher Soldat?«, widersprach Read schnell. »Hawkwood war ein ungewöhnlich guter Offizier, und ich brauche Sie wohl nicht daran zu erinnern, Mylord, dass der Ruf des Rifle Regiments ausgezeichnet ist.«

»Natürlich kenne ich deren Reputation«, entgegnete der Seelord scharf. »Und mir ist ebenfalls bekannt, dass es widersprüchliche Ansichten über die Kampfmethoden dieser Truppe gibt.«

Der Oberste Richter schürzte die Lippen. »Ich gebe zu, dass ihre Taktik eher unorthodox …«

»Unorthodox?«, schnitt Yorke ihm schnarrend das Wort ab.

»Unorthodox ist nichts als ein euphemistischer Terminus für undiszipliniert. Wie es heißt, exerzieren die Offiziere sogar gemeinsam mit ihren Rekruten!«

»Mit guten Ergebnissen«, konterte Read. »Hawkwood ist ein ausgezeichneter Polizist mit etwas unkonventionellen Methoden, zugegeben. Aber meine jahrelangen Erfahrungen im Umgang mit Gesetzesbrechern rechtfertigen den Einsatz ungewöhnlicher Mittel.«

Dem Seelord schien es die Sprache verschlagen zu haben, denn er starrte den Obersten Richter nur mit offenem Mund an.

»Diese Ansicht entbehrt nicht einer gewissen Logik«, warf Blomefield ein. »Ein im Töten erfahrener Jäger bringt Mörder zur Strecke. Ich bin der Meinung, Sie haben den richtigen Mann für diese Aufgabe gewählt. Es würde mich jedoch interessieren, unter welchen Umständen Hawkwood in Ihre Dienste trat.«

James Read deutete diese lächelnd formulierte Frage als ein Entgegenkommen des Generalinspekteurs und sagte schnell: »Er wurde mir empfohlen.«

»Von wem?«, hakte Blomefield nach.

»Von Colonel Colquhoun Grant.«

Blomefield schnappte höchst beeindruckt nach Luft, denn Colquhoun Grant war einer von Wellingtons erfahrensten Kundschaftern. Kundschafter arbeiteten hinter den feindlichen Linien und spähten die Größe und das Bewegungsmuster der gegnerischen Truppen aus. Offizier Grant war das Hauptverbindungsglied zwischen den Guerilleros und dem Nachrichtendienst des Herzogs. Und obwohl die Aktivitäten des Colonels strengster Geheimhaltung unterlagen, war er in Militärkreisen eine bekannte Persönlichkeit.

»Gott verdammt!«, fluchte Blomefield wieder. »Die Gerüchte stimmen also. Ihr Mann ist damals in die Berge geflüchtet.«

Dann wandte sich der Generalinspekteur lächelnd an den Seelord: »Ich habe nicht den Mut, mich mit Colonel Grant anzulegen. Wie stehen Sie dazu, Mylord?«

Charles Yorke bedachte Blomefield nur mit einem bösen Blick.

Insgeheim mochten sich der Seelord und die beiden dem Ministerium zugeordneten Offiziere wohl die Frage stellen, warum James Read den obersten Nachrichtenoffizier Wellingtons persönlich kannte, aber niemand wagte diese Frage auszusprechen. In eingeweihten Kreisen kursierte das Gerücht, dass die Befugnisse des Obersten Richters weit über innenpolitische Angelegenheiten hinausgingen und dass zwischen der Bow Street und den verschiedensten Behörden geheim gehaltene Verbindungen bestünden. Hinter vorgehaltener Hand wurde gemunkelt, es gebe sogar einen Spionagering. Doch diese Vermutung würde wie viele andere in diesem zweifelhaften Metier weder bestätigt noch geleugnet werden.

»Darf ich interessehalber noch fragen, wen Hawkwood in diesem Duell getötet hat?«, wollte Dalryde jetzt wissen.

In James Reads Wange zuckte ein Nerv. »Es war Delancey, ein Neffe des Herzogs von Rutland.«

»Kein großer Verlust, wenn ich mich recht erinnere«, murmelte Blomefield.

»Das ist ein ziemlich harsches Urteil«, meinte Dalryde und hob missbilligend eine Braue.

»In der Tat«, stimmte der Seelord zu und fixierte den Generalinspekteur mit scharfem Blick. »Nach allem, was man hört, handelt es sich um eine ehrenwerte Familie. Und könnten Sie dem Admiral und mir bitte näher erklären, warum Hawkwood seinerzeit in die Berge flüchtete?«

James Read fing Blomefields um Unterstützung heischenden Blick auf und nickte nach kurzem Zögern.

Thomas Blomefield sammelte seine Gedanken und sagte: »Die ganze Geschichte trug sich während der Schlacht bei Talavera zu.«

»Das 95. Rifles Regiment unterstand damals doch Crauford, nicht wahr? Ich dachte, die Marschkolonne hätte an dem Kampf nicht teilgenommen, weil sie erst einen Tag später dort eintraf.«

»Das stimmt«, bestätigte Blomefield nickend. »Aber Hawkwood gehörte nicht zum Haupttrupp. Wellington hatte eine Hand voll Scharfschützen angefordert und sie dem Vorauskommando zugeteilt. Wellington wollte wohl wissen, ob das Rifles Regiment seinem Ruf gerecht wurde. Und Hawkwood war unter den Auserwählten.« Blomefield fügte grinsend hinzu: »Er scheint die irritierende Angewohnheit zu haben, immer im richtigen Augenblick am richtigen Ort zu sein.«

»Offensichtlich«, bemerkte der Seelord sarkastisch. »Und was ist dann passiert?«

»Es geschah nach dem Angriff der Franzosen unter dem Kommando von Lapisse und Sabastiani, den Sherbrooks Division abgewehrt hat. Das Gardekorps und die Deutschen hätten sich beinahe überrannt und haben hintereinander den Fluss überquert. Erinnern Sie sich daran, Mylord?«

Der Seelord nickte nur wortlos. In den Zeitungen war ausführlich über diese Schlacht berichtet worden, ohne allerdings Hawkwoods Beteiligung daran zu erwähnen. Zum Glück.

»Captain Hawkwood hat dem Major der Garde geraten, am Ufer zu bleiben und die Flanke zu sichern, weil es zu riskant sei, den Fluss zu überqueren und so vom Haupttrupp abgeschnitten zu werden. Und dieser Major war Delancey, der Neffe von … na, Sie wissen schon. Hawkwood hätte genauso gut einem Stier eine Muleta vor die Augen halten können. Ein Major und künftiges Mitglied des britischen Hochadels lässt sich von einem Captain doch nicht sagen, was er tun oder lassen soll. Natürlich hat Delancey die Warnung in den Wind geschlagen, und es ist genau das eingetreten, was Hawkwood prophezeit hat. Kaum hatte die Garde den Fluss überquert, gingen die Franzosen zum Gegenangriff über.

Die Katastrophe war vorprogrammiert. Die Franzosen haben unsere Linie durchbrochen, und die Garde hat mehr als ein Viertel ihrer Männer verloren. Hätte Wellington nicht Mackenzies Brigade vorgeschickt, um die Lücke zu schließen, wären wir alle verloren gewesen.«

Blomefield schüttelte den Kopf, ehe er fortfuhr: »Mackenzie ist ebenso gefallen wie Lapisse, was meiner Meinung nach nur eine Art Gerechtigkeit war. Aber wir sind nur knapp mit einem blauen Auge davongekommen.

Wie auch immer, jedenfalls hat Captain Hawkwood am Ende dieses Tages Delancey zur Rede gestellt und ihm vorgeworfen, auf leichtfertige Weise das Leben seiner Männer aufs Spiel gesetzt zu haben. Kurz gesagt, er hat ihn einen verdammten Idioten und eine Schande für das Militär genannt und behauptet, dass es ein Segen gewesen wäre, wenn er wie die von ihm geopferten armen Kerle gefallen wäre. Und da diese Konfrontation nicht unter vier Augen stattfand, was schlimm genug gewesen wäre, sondern in Anwesenheit von Delanceys Freunden, blieb ihm nichts anderes übrig, als Hawkwood zum Duell herauszufordern.«

Als der Seelord zum Sprechen ansetzte, fügte Blomefield schnell hinzu: »Ja, die Vorschriften. Duellieren ist streng verboten, aber für Delancey war es ein Ehrenhandel. Eine Beleidigung des Familiennamens und so weiter.«

»Und Hawkwood hat ihn getötet«, konstatierte der Seelord.

»Ja. Mit einem Schuss direkt ins Herz. Offensichtlich ist unser Mann nicht nur ein exzellenter Scharfschütze, sondern er trifft auch mit einer Pistole.«

»Hat denn niemand versucht, das Duell zu verhindern?«

Blomefield schüttelte den Kopf. »Für Delanceys Freunde stand der Ausgang des Duells wohl von vornherein fest. Was sich als fataler Irrtum erwies. Natürlich gab es nur eine Konsequenz: Hawkwood hätte in Ketten nach London zurückgebracht und wegen Mordes vors Kriegsgericht gestellt werden müssen. Doch daraus wurde nichts.« Mit gesenkter Stimme fügte Blomefield hinzu: »Ich habe gehört, Wellington habe in dieser Sache persönlich interveniert.«

»Wie das?«, fragte Dalryde.

Blomefield zuckte mit den Schultern. »Niemand kennt die Hintergründe genau. Hawkwood wurde unehrenhaft aus der Armee entlassen, aber nicht nach England zurückgeschickt.«

Er sah den Obersten Richter von der Seite an.

»Und was ist aus ihm geworden?«

Blomefield schürzte die Lippen. »Damals wurde gemunkelt, er sei geflohen und habe sich den Guerilleros angeschlossen.«

»Er ist zu den Spaniern übergelaufen?«, fragte der Seelord entgeistert.

»Er hat mit ihnen in den Bergen gekämpft. Hawkwood spricht angeblich nicht nur Spanisch, sondern auch Französisch.« Wieder warf Blomefield James Read einen Blick zu.

»Ob das mit Wellingtons Einverständnis geschehen ist, kann ich nicht sagen. Es hieß nur, es sei besser, einen Mann mit Hawkwoods Erfahrungen im Kampf gegen die Franzosen einzusetzen, als ihn nach England zurückzuschicken. Vielleicht wollte Wellington mit ihm eine Art Verbindungsmann


schaffen – womit wir bei Colquhoun Grant wären.« Stirnrunzelnd fuhr der Generalinspekteur fort: »Es kursiert ein weiteres Gerücht um einen Sergeant und mehrere ausgewählte Männer, die aus Hawkwoods Kompanie desertiert und ihm in die Berge gefolgt sind. Wie auch immer, jedenfalls war Captain Hawkwood wie vom Erdboden verschluckt und blieb verschwunden – bis jetzt.«

Es folgte ein langes Schweigen. Der Admiral musterte James Read ernst, bevor er sagte: »Was für eine Geschichte! Und trotzdem vertrauen Sie diesem Hawkwood? Ich darf Sie daran erinnern, dass es hierbei nicht um die simple Aufklärung eines Verbrechens, sondern um die Sicherheit des gesamten Königreichs geht.«

»Captain Hawkwood besitzt mein höchstes Vertrauen«, entgegnete Richter Read bestimmt. »Er ist mein bester Polizist mit der höchsten Aufklärungsrate von Diebstählen. Außerdem hat er ausgezeichnete Kontakte zur Unterwelt. Wenn jemand diese Mörder zur Strecke bringen kann, dann er.«

Trotz der Skepsis, die der Seelord auch in den Augen von Blomefield und Dalryde wahrnahm, seufzte er und gab klein bei. »Na gut, Read. Wie es scheint, bleibt uns nichts anderes übrig, als Ihre Entscheidung zu akzeptieren. Mal sehen, ob sich Ihr Mann bewährt. Ich erwarte jedoch, dass dem Ministerium jeden Tag Bericht erstattet wird. Ist das klar?«

»Wie Sie wünschen!« Read deutete eine Verneigung an.

Worauf der Seelord mit dem Finger auf James Reads Brust deutete und drohend hinzufügte: »Hoffentlich behalten Sie Recht, Sir. Denn Gott möge Ihnen helfen, sollte Ihr Mann versagen – oder vielmehr: Gott steh uns allen bei.«


Das Mädchen war schmutzig und konnte nicht älter als zwölf oder dreizehn sein, aber ihre Augen waren die einer alten Frau. Mit einem verschlagenen Gesichtsausdruck hatte sie zu ihm hochgesehen, sich aufreizend über die Lippen geleckt und dann einfach gesagt: »Jago schickt mich.«

Dann ging das verwahrloste Kind in dem zerschlissenen Kleid neben Hawkwood her. Ihm entging nicht, wie die Leute beim Anblick dieses seltsamen Paars reagierten: die spöttischen Blicke, die anzüglich grinsenden Gesichter, das sich gegenseitige Anstoßen und Zuzwinkern. Natürlich bemerkte auch das Mädchen, welche Aufmerksamkeit sie erregten, doch es schien ihr gleichgültig zu sein. Zweifellos war sie daran gewöhnt.

Die Great Earl Street entlang, vorbei an der Kreuzung Seven Dials, zur Kirche St. Giles führte sie ihn durch ein finsteres Gassengewirr, wohl aus Vorsicht, um eventuelle Verfolger abzuschütteln.

An einer Straßenecke, im Schatten des Kirchturms, hatte das Mädchen ihn am Ärmel gepackt und mit dünner Stimme gewarnt: »Bleib dicht bei mir.«

Einen ganzen Tag hatte Hawkwood darauf gewartet, dass Jago auf seine Nachricht reagierte, und diese Zeit genutzt, um mit dem Offizier der berittenen Patrouille, die die Wegelagerer in die Flucht geschlagen hatte, Kontakt aufzunehmen.

Weil Hawkwood den Exmajor der Dragoner Lomax bisher noch nicht persönlich kannte, war er schockiert, als er den Mann traf. Die rechte Seite seines Gesichts bestand von der Braue bis zum Hals nur aus Narbengewebe, die leere Augenhöhle war ein Krater aus zerfetztem Fleisch und der Kiefer sah aus, als hätte jemand ein Brandeisen darauf gedrückt.

Nachdem sich Hawkwood wieder gefasst und sich gezwungen hatte, den Blick nicht abzuwenden, hörte er sich Lomax’ Schilderung der Ereignisse in jener Nacht an.

Es sei nur einem Zufall und der unwetterbedingten Verspätung der Postkutsche zu verdanken, dass seine Patrouille während ihrer Streife durch das Heideland den Überfall bemerkt und eingegriffen habe, erklärte der Major. Er habe zwei seiner Männer bei der Kutsche postiert und mit dem Rest seines Trupps die Räuber verfolgt, ihre Spur jedoch wegen des heftigen Regens nach circa einer Meile in der Gegend von Bermondsey im Norden der Hauptstadt verloren. Das bedeutete, dass die Räuber jeden der etwa ein Dutzend Wege hatten einschlagen können.

Hawkwood unterdrückte seine Enttäuschung über die wenig aufschlussreichen Hinweise – obwohl er nicht viel mehr hatte erwarten können – und bedankte sich bei Lomax.

Da sprach der Exmajor ihn, nach Worten ringend, noch einmal an. »Da gibt es etwas, das Sie wissen sollen. Ich war in Talavera, beim 23. Regiment der Leichten Brigade unter Anson. Ich … das heißt … wir …« Lomax holte tief Luft, ehe er fortfuhr: »Ich meine … dieser Delancey war ein schlechter Offizier. Niemand hat ihn gemocht, und dieser idiotische Angriff hat vielen tapferen Männern das Leben gekostet. Nur Sie haben ihm gesagt, was gesagt werden musste, und getan, was getan werden musste. Viele Kameraden waren der Meinung, dass Sie Besseres verdient hätten.« Lomax zuckte verlegen mit den Schultern. »Wie auch immer, jedenfalls wollte ich, dass Sie das wissen.«

Dann schwieg Lomax und senkte den Blick. Offensichtlich waren ihm seine Worte peinlich.

In dieser Schlacht wurde er also derart entstellt, dachte Hawkwood.

Viele Soldaten waren damals im Kampf gefallen, doch an jenem Tag hatte noch ein anderer, erbarmungsloser Feind fast alles vernichtet, was sich ihm in den Weg gestellt hatte.

Das Feuer.

Vielleicht hatte der Zündfunke einer Muskete oder Kanone das verdorrte Gras in Brand gesetzt. Vom Sommerwind angefacht, hatte sich das Feuer mit unheimlicher Geschwindigkeit und Heftigkeit ausgebreitet und war über verwundete und tote Soldaten hinweggefegt. Noch Monate später hatte Hawkwood die Schreie der brennenden Männer gehört und den Geruch von verbranntem Fleisch in der Nase gehabt.

Lomax musste einer dieser Männer gewesen sein, die auf dem Schlachtfeld eingeschlossen waren. Wie durch ein Wunder, aber um welch entsetzlichen Preis hatte er überlebt.

»Ich war verwundet und lag unter meinem Pferd«, sagte Lomax, als würde er Hawkwoods Gedanken lesen. »Und es war ein verdammter Franzose, der mich rausgezogen hat, sonst wären ich und mein Pferd verbrannt.« Kopfschüttelnd wiederholte Lomax: »Ausgerechnet einem verdammten Franzosen verdanke ich mein Leben. Wer hätte das gedacht?«

Dann hob Lomax den Arm. Seine rechte Hand sah wie eine schwarz verfärbte Klaue aus. »Damit konnte ich natürlich nicht weiterkämpfen. Reiten kann ich zwar noch, aber ein Kavallerist muss auch gleichzeitig eine Waffe ziehen können.« Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen und fügte hinzu: »Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich gerade noch in der Nase bohren.«

Hawkwood bewunderte Lomax’ Offenheit, denn er wusste, wie schwer es dem Exmajor fiel, über diese für die Leichten Dragoner so verheerende Schlacht zu sprechen. Fehlentscheidungen und unglückselige Umstände hatten dazu geführt, dass über die Hälfte des Regiments gefallen war.

Doch trotz Lomax’ wohlgemeinter Worte konnte die Vergangenheit nicht neu geschrieben werden. Hawkwood hatte seine militärische Laufbahn beendet und musste jetzt zum Rhythmus einer anderen Trommel marschieren. Und dieser Trommelwirbel schickte ihn nun auf einen Weg, den er nicht gern einschlug. Er hätte sich wie ein Pilger fühlen können, wäre der Name für diesen Ort, den er aufsuchen musste, nicht der reinste Hohn: Denn dieser Sündenpfuhl, in dem es von Gesetzlosen aller Art nur so wimmelte, hieß Holy Land – Heiliges Land.

Das Elendsviertel von St. Giles war eine Welt für sich. Von der Great Russell Street im Norden, der Oxford Street im Westen und der Broad Street im Süden begrenzt, umfasste das Viertel etwa vier Hektar und glich einem eitrigen Geschwür im Herzen der Stadt. In dem beinahe undurchdringlichen Gewirr schmaler Straßen mit verfallenen Gebäuden, Hinterhöfen und Abwässerkanälen herrschten Armut, Laster und Kriminalität. Hunderte Schleichwege durch Spelunken und Gassen um den Leicester Square, vom Haymarket und durch die nasskalten Tunnel der Regent Street führten in diese Rattenlöcher. Unter dem Holzplatz im Osten gab es angeblich einen bis nach High Holborn reichenden Gang.

Die ersten Bewohner des Viertels – größtenteils katholische Iren und Verfemte – hatten ihrem Zufluchtsort den Namen gegeben. Mörder, Deserteure, Diebe, Bettler und Huren hatten zusammen mit den Armen und Hungernden dort Unterschlupf und Schutz vor Vertretern der Obrigkeit und vor Gendarmen gefunden. Losgelöst von den Zwängen der konventionellen Gesellschaft hatten die Bewohner des Holy Land ein Königreich mit eigenen Gesetzen, Gerichten und Selbstjustiz errichtet. Deshalb handelte jeder behördliche Vertreter, der sich in das Elendsviertel St. Giles wagte, auf eigene Gefahr.

Jagos Botin hieß Jenny und war nur eines von tausenden elternlosen Straßenkindern, die sich mehr oder weniger anständig durchs Leben schlugen oder wie Jenny ihre Körper, ihren einzigen Besitz, verkauften.

Hawkwood spürte die misstrauischen Blicke der halb hinter maroden, schiefen Türen verborgenen Beobachter geradezu körperlich. Er sah, wie teilnahmslose graue Gesichter aus mit Lumpen verhängten Fenstern spähten, während er und das Mädchen durch den Dreck neben der überquellenden Kloakenrinne stapften. Menschliche und tierische Exkremente, verrottender Abfall und Fäulnis boten ein Bild völliger Verwahrlosung.

Aus einer der trostlosen Gassen drang der schrille Angstschrei einer Frau, ein Mann fluchte obszön, dann ein dumpfer Schlag, und der Schrei verkam zu einem kläglichen Wimmern. Jenny klammerte sich an Hawkwoods Ärmel, denn trotz ihrer zur Schau gestellten Dreistigkeit war sie noch ein Kind, das sich fürchtete.

In einer offenen Tür lehnte eine Gestalt – eine Frau, wie Hawkwood erst bei näherem Hinsehen erkannte. Sofort riss sie sich ihr Umhängetuch von den Schultern, hob ihren zerlumpten Rock und entblößte ihre Scham. Brüste und Beine waren fahl wie der Bauch eines Fisches und voller Schwielen. Sie warf den Kopf in den Nacken, lachte laut und rief: »Komm her, Süßer! Lass die Kleine sausen. Molly zeigt dir, was eine richtige Frau draufhat!«

Jenny presste sich dichter an Hawkwood, als ihnen das raue Gelächter der Hure durch die Gasse folgte.

Mittlerweile waren sie tief in das Elendsviertel vorgedrungen. Hawkwood hatte völlig die Orientierung verloren, denn das Mädchen hatte ihn absichtlich in die Irre geführt. Er bezweifelte, ob er ohne ortskundige Führung je wieder in die Zivilisation zurückfinden würde.

Die Gassen zwischen den eng aneinander stehenden Häusern wurden noch schmaler, und es wurde immer dunkler. Hawkwood fiel auf, dass sich kaum noch menschliche Wesen blicken ließen, so als wären sie von den Schatten verschluckt worden. Ob sie die Gassen meiden, weil ich hier aufgetaucht bin?, wunderte er sich.

Plötzlich zerrte Jenny ihn durch einen niedrigen Torbogen und ein paar steinerne Stufen nach unten. Dort blieb sie vor einer massiven Holztür stehen. Dahinter hörte er Stimmen und andere Geräusche, kehlig und undeutlich, das Ganze vom Quietschen einer Fiedel übertönt. Als Jenny an die Tür klopfte, spürte Hawkwood ein Prickeln im Nacken. Dann wurde die Tür aufgerissen, und Hawkwood stolperte hinter dem Mädchen blindlings ins Dunkle.

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