20

Hawkwood wusste in dem Moment, als er zum Sprung ansetzte, dass sein Angriff fehlschlagen würde. Er hörte Lees Warnschrei und sah, dass sich Sparrow blitzschnell umdrehte. Die Druckwelle der Detonation brachte das Boot aus dem Gleichgewicht. Hawkwood stürzte und rutschte über den Boden.

Sparrow, der an schwankende Schiffe gewöhnt war, kam als Erster wieder auf die Beine. Mit einem Wutschrei bückte er sich und riss Hawkwood das Messer aus der Hand, schleuderte es von sich und zerrte den Runner an den Haaren auf die Knie. Dann zog er die Pistole aus seinem Gürtel. Das Laden kam ihm unnatürlich laut vor. Hawkwood starrte auf die Pistole in Sparrows Hand.

»Du Bastard!«, zischte Sparrow und presste zum zweiten Mal an diesem Morgen den Finger um den Abzug.

Der Knall der zweiten Detonation war ohrenbetäubend.

Hawkwood sah nur noch das blanke Entsetzen in Sparrows Augen, als ein Kupfersplitter des explodierenden Luftzylinders dessen Halsschlagader durchbohrte. Ein Schwall Blut ergoss sich über Hawkwoods Gesicht und Schultern. Zu Tode erschrocken sah Hawkwood, wie Sparrow, den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen, in die Knie sank. Die Pistole fiel ihm aus der Hand. Ein Schwall hereinströmenden Wassers traf Hawkwood plötzlich mit aller Wucht und schleuderte ihn gegen das Steuerbordschott.

Der Bug der Narwal kippte nach unten, und das Boot legte sich auf die Backbordseite. Es war, als hätte ein Riese das Boot gepackt und gegen eine Wand geschleudert. Hawkwood klammerte sich verzweifelt an eine der Eisenrippen, als Sparrows Leiche nach vorne fiel und ihn gegen das Schott drückte. Er zog die Knie an und stieß Sparrow von sich. Keuchend nach Atem ringend, hielt er sich an der Eisenrippe fest und richtete sich mühsam auf. Sein Trommelfell schien zu platzen.

Dann schlingerte die Narwal nach Steuerbord, und es klang wie eine schwere Eisentür, die knarrend an verrosteten Angeln schwang. Hawkwood war vor Entsetzen wie gelähmt und krallte sich mit den Fingerspitzen fest. Die Auswirkungen der zweiten Detonation waren katastrophal. Durch das Leck im Heck strömte unaufhörlich Wasser und überflutete das Boot rasend schnell. Hawkwood sah, dass Lee fieberhaft an Reglern und Hebeln zerrte, aber die Tiefenruder funktionierten nicht mehr. Völlig außer Kontrolle geraten, sank die Narwal nun wie ein Stein.


Das Schiff brannte lichterloh.

Die Detonation hallte wie die Stimme Gottes durch die Werft und alle – Arbeiter, Matrosen, Marinesoldaten und der Oberste Richter – brachten sich in Sicherheit. Menschen schrien in panischer Angst und rannten völlig kopflos durcheinander. Irgendwo schrillte eine Alarmglocke.

Der mittlere Teil der Thetis war nur ein rauchendes Wrack, der Mast war auf das Vorderdeck gestürzt und das Notsegel lag wie ein Leichentuch über den Schandeckeln. Die zuvor so stolz im Wind flatternden Flaggen hingen jetzt zerfetzt und versengt an der Reling. Flammen leckten hungrig aus Schießscharten und offenen Luken. Das Schiff bekam Schlagseite.

Mehrere Männer waren durch die Wucht der Detonation über Bord geschleudert worden oder sprangen ins Wasser. Verzweifelt um Hilfe rufend, platschten und zappelten sie im Hafenbecken. Blut färbte das Wasser rot.

Jago, dessen Ohren wie eine Bugglocke dröhnten, hätte es beinahe übersehen.

Warum er ausgerechnet in diesem Augenblick auf die Themse hinausschaute, würde ihm immer ein Rätsel bleiben. Und er war sich nicht einmal sicher, was er eigentlich gesehen hatte: eine Bewegung im Wasser, etwa hundert Meter von dem zerstörten Kriegsschiff entfernt. Wie eine kurz aufspritzende Fontäne oder eine Woge, als wäre etwas an die Wasseroberfläche geschwappt und wieder gesunken. Jetzt kräuselten sich an der Stelle nur noch kleine Wellen, die sich gleichmäßig ringförmig ausbreiteten.

Da kam ein Marinesoldat angerannt, die Flinte im Anschlag. Es war der Corporal, der ihm den Zutritt zur Werft verwehrt hatte.

»He du, Bursche! Komm mit!«, rief Jago ihm zu.

Dieses Mal gehorchte der Corporal. Wortlos folgte er Jago zu der Treppe an der Kaimauer. Jago stieg in das kleine Boot und griff nach einem Ruder.

»Na los Junge. Spring rein!«, rief er. Der Corporal schulterte seine Flinte, stieg die Treppe hinunter und kletterte vorsichtig in das schwankende Boot.

Jago löste die Fangleine, stieß das Boot vom Kai ab und drückte dem Corporal das zweite Ruder in die Hand. »Und jetzt ruderst du, mein Junge. Und zwar mit voller Kraft voraus!«

Wegen der Schieflage des Unterseeboots drang kaum noch Licht durch die Bullaugen. Auf dem Grund der Themse angekommen, schrammte es über Sand und Steine wie eine Zweiundvierzig-Pfund-Kanone über ein sturmgepeitschtes Deck. Nach einer – wie es Hawkwood schien – Ewigkeit bewegte sich das Boot nicht mehr, und es herrschte – bis auf das Sprudeln des eindringenden Wassers – unheimliche Stille.

Hawkwood ließ die Eisenrippe los und tastete nach seinem Messer. Er stand bereits knietief im kalten Wasser. Sparrows Leiche hatte sich mit dem Gesicht nach unten am Pumpenschwengel verkantet. Als Hawkwood das Messer an der Klinge zu fassen bekam, stürzte sich der Amerikaner auf ihn.

Lee hatte seine Pistole im ausbrechenden Chaos verloren, aber er hatte eine andere Waffe in der Hand. Hawkwood hob instinktiv den Arm, um den Schlag mit dem Eisenhammer abzuwehren.

Der Hammer zischte knapp an seinem Ohr vorbei, dann packte er Lees Handgelenk und schleuderte den Amerikaner gegen das Schott und boxte ihn in den Magen. Lee holte jedoch noch einmal aus und traf dieses Mal Hawkwoods Rippen. Er wurde gegen die Kurbel der Schiffsschraube geworfen. Lee watete mit hoch erhobenem Hammer hasserfüllt auf ihn zu.

In dem Moment kippte das Boot ruckartig zur Seite. Sparrows Leiche löste sich von der Kurbel und sank. In der Dunkelheit sah Lee das Hindernis nicht, das jetzt zwischen ihm und Hawkwood lag, und trat auf Sparrows Oberschenkel. Er verlor das Gleichgewicht, und der Hammer fiel ihm aus der Hand.

Da warf sich Hawkwood auf den Amerikaner, beide Männer stürzten, und Hawkwood konnte gerade noch einmal Luft holen, ehe sich das Wasser auch über ihm zusammenschlug.

In der wirbelnden Finsternis wehrte sich Lee mit aller Kraft, und es gelang ihm, Hawkwoods Hals mit tödlichem Griff zu umklammern. Ein rötlicher Schleier legte sich vor Hawkwoods Augen, das Blut pochte ihm in den Ohren, und seine Lungen drohten zu platzen. In dem verzweifelten Versuch, die Hände des Amerikaners von seinem Hals zu reißen, packte er dessen Handgelenke, aber seine Kräfte schwanden schnell. Er griff mit der rechten Hand nach unten, bekam die Hoden des Amerikaners zu fassen und drückte mit aller Kraft zu. Lee ließ sofort Hawkwoods Hals los, sodass er auftauchen konnte. Keuchend schnappte er nach Luft. Er merkte zwar, dass Lee neben ihm auftauchte, konnte aber dem Stoß nicht mehr ausweichen. Lee stieß ihm das Messer in die linke Schulter.

Seltsamerweise spürte Hawkwood den Schmerz erst, als Lee das Messer herauszog und wieder zustoßen wollte. Noch im Fallen hob Hawkwood abwehrend den unverletzten Arm und tastete unter Wasser verzweifelt nach irgendeiner Waffe. Da berührten seine Finger ein längliches Stück Metall. Lee packte ihn am Arm und zerrte ihn hoch. Wieder schwebte das Messer über ihm. Mit letzter Kraft kämpfte sich Hawkwood an die Wasseroberfläche und stieß zu.

Die Spitze des Bohrers drang in Lees rechtes Auge. Er schrie markerschütternd.

Hawkwood rammte den Bohrer noch tiefer in den Schädel des Amerikaners, der Schrei ging in ein leises Wimmern über. Das Messer fiel aus Lees Hand, die zu einer Geste stummen Flehens erhoben war. Mit einem letzten gurgelnden Seufzer richtete sich Lee noch einmal auf, dann wurden seine Glieder schlaff und er ging unter.

Da knarrte und bebte die Narwal noch einmal. Sie bohrte sich tiefer in den Schlamm. Erst jetzt merkte Hawkwood, dass er bereits bis zur Brust im Wasser stand. Bald würde es über seine Schultern schwappen, bis unters Kinn hochsteigen. Und


danach …

Die Erkenntnis, dass er hier unten, in der Finsternis, sterben würde, traf ihn wie ein Schlag. Die Thetis war zerstört. Er würde sterben, ohne seinen Auftrag erfüllt zu haben – ein schändlicher Tod für einen Runner. In der Hitze des Gefechts hatte Hawkwood dem Tod oft ins Auge gesehen – ohne Selbstmitleid und Groll. Einem Feind mit Gewehr und Degen in dem Bewusstsein entgegenzutreten, sterben zu müssen, war tapfer und ehrenvoll. Aber in einem Unterseeboot jämmerlich zu ertrinken …

Als das Wasser um sein Kinn schwappte, watete er blindlings nach vorn zum Kommandoturm. Seine linke Schulter und sein linker Arm waren völlig taub. Er wusste nicht, wie schwer er verletzt war. Aber das spielte keine Rolle, denn er würde nicht an dieser Messerwunde sterben, sondern ertrinken. Er fragte sich, ob es ein schmerzvoller Tod sein würde, denn er hatte gehört, Ertrinken sei eine friedliche Art zu sterben. Doch es wäre ihm lieber gewesen, diese Erfahrung nicht machen zu müssen.

Jetzt musste er den Kopf recken, damit ihm das Wasser nicht in die Nase drang. Jede Bewegung wurde zur Qual, und das Atmen fiel ihm schwer. Im Boot war kaum noch Luft.

Er musste an Jago denken. Hatte sich Nathaniel auf die Suche nach ihm gemacht? Oder hatte er den Obersten Richter benachrichtigen können? Sein letzter Gedanke, ehe das eiskalte Wasser über ihm zusammenschlug, war, dass er sich nicht mehr von seinem Freund hatte verabschieden können.


Jago und der Corporal ruderten durch Holztrümmer und vorbei an teilweise verkohlten Leichen, die mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieben, sowie an brennenden geteerten Planken, die wie geschmolzene Lava glühten.

Rettungsboote suchten nach Überlebenden im Wasser. Ein Bumboot legte am Rumpf des zerstörten Kriegsschiffs an, und im Gefolge eines Offiziers kletterte ein halbes Dutzend Feuerwehrmänner die Leiter zu dem qualmenden Deck hinauf.

Von Steuerbord kamen Hilferufe. Ein Matrose mit blutverschmiertem, rußschwarzem Gesicht reckte flehend seinen Arm aus dem Wasser.

Der Corporal, aschfahl im Gesicht, sah Jago an. Der schüttelte den Kopf. »Rudere weiter, Corporal. Ein anderes Boot wird ihn aufnehmen. Nach diesem Mann suchen wir nicht.«

Ohne auf den fragenden Blick des Corporals weiter einzugehen, suchte Jago weiter nach der Stelle im Fluss, wo er glaubte, etwas Ungewöhnliches gesehen zu haben. Er wusste zwar nicht, wonach er suchte, würde es aber erkennen, sobald er es sah.

Wie dieses Stück Treibholz, zum Beispiel, dachte er. Es könnte von der Thetis stammen. Er fischte es aus dem Wasser und musterte das gebogene Brett. Es sah wie die Daube eines Fasses aus. Die Enden waren zersplittert. Jago biss sich auf die Unterlippe und starrte über das Dollbord hinweg. Der auffrischende Wind kräuselte die Wellen. Jago warf die Daube über Bord. Vielleicht hatte er sich getäuscht und doch nur eine hochschwappende Welle gesehen. Sein Blick schweifte zum Ufer. Dort trieben schwer verletzte Männer im Wasser, die Hilfe brauchten.

Jago ließ die Schultern sinken. »Tja, mein Junge«, sagte er niedergeschlagen. »Hier ist nichts. Wir rudern zurück.«

Aber der Corporal reagierte nicht, sondern deutete aufs Wasser. »Warten Sie! Dort drüben, schauen Sie!«

Jago folgte dem Blick des Marinesoldaten, konnte aber nichts entdecken. Er schüttelte den Kopf. »Da ist nichts, mein Junge.«

»Doch«, widersprach der Corporal heftig. »Da, sehen Sie?«

Jago starrte wieder ins Wasser.

Ein Schatten. Der Schatten ihres Ruderboots und ihrer Gestalten.

Aber der Schatten bewegte sich merkwürdig. Als ob …

Da schnellte etwas durch die Wasseroberfläche. In der Mitte des Strudels reckte sich eine Hand himmelwärts, dann folgten Kopf und Schultern. Ein Mann schnappte keuchend nach Luft. Der Corporal fiel vor Schreck vom Rudersitz.

Jago reagierte sofort: »Los! Steh auf, Junge! Du musst mir helfen!«

Vor Entsetzen wie benommen, hievte sich der Corporal hoch. Doch schon beugte sich Jago über das Dollbord. Er packte den Mann bei den Schultern und zog ihn ins Boot.

Ein Wunder!

Der Marinesoldat ruderte sie ans Ufer. Jago saß im Heck und hielt den Captain in den Armen. Er presste sein Halstuch auf Hawkwoods Schulterwunde. »Ist schon gut, Cap’n. Keine Angst. Jago ist ja bei Ihnen.«

Hawkwoods Brustkorb hob und senkte sich, als er mühsam atmete. Er blickte zu Jago hoch und flüsterte etwas.

Jago beugte sich über ihn. »Tut mir Leid, Cap’n. Das habe ich nicht verstanden.«

Hawkwood holte mit schmerzverzerrtem Gesicht tief Luft, hustete qualvoll und krächzte: »Nathaniel?«

»Ja, da bin ich.«

»Du hattest Recht.«

»Ach?«, sagte Jago. »Womit denn?«

Hawkwood verzog das Gesicht zu einem Grinsen. »Es war kein guter Plan.«

Und da fing Jago an zu lachen.

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