21

Der Arzt verstaute die Instrumente wieder in seiner Arzttasche, lächelte und beruhigte den Obersten Richter.

»Die Bauchwunde ist nur oberflächlich, und die Stichwunde habe ich bestmöglich gesäubert. Mehr kann ich für den Patienten im Augenblick nicht tun. Doch er ist kräftig und wird sich schnell erholen.«

Erleichtert nickte James Read und sagte: »Danke, Doktor.«

Als der Arzt durch die Tür ging, räusperte sich Kommissar Dryden diskret. »Würden Sie mich bitte entschuldigen, Gentlemen. Ich muss mich jetzt um meine Werft kümmern. Wahrscheinlich haben Sie auch noch etwas unter vier Augen zu besprechen …« Dann lächelte er beinahe schüchtern und sagte zu Hawkwood: »Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Sir.« Jago nickte er nur kurz zu. Dann folgte er dem Arzt nach draußen.

Jago und der Corporal hatten Hawkwood in Kommissar Drydens Haus getragen. Der Kommissar hatte seinen Arzt gebeten, Hawkwood zu untersuchen und zu verbinden.

»Er ist ein ausgezeichneter Mediziner«, hatte Dryden dem Richter versichert, »und hat unter Collingwood auf der Dreadnought gedient.«

Als auch Dryden weg war, betrachtete James Read seinen Runner. Er lächelte – was er nur selten tat – und sagte: »Wie schön, Sie wieder in unserer Mitte zu sehen.«

Hawkwood sah sich in dem lichtdurchfluteten Zimmer um. Das Dienstmädchen hatte die Vorhänge zuziehen wollen, aber er hatte gebeten, es nicht zu tun. Er sehnte sich nach Sonne und Wärme, seit er mit knapper Not dem kalten nassen Grab entkommen war. Die letzten Minuten in der Narwal waren die schrecklichsten in seinem Leben gewesen. Den Kopf in dem überfluteten Turm schon unter Wasser, hatte er fast aufgegeben, bis ihm plötzlich Lees Worte eingefallen waren: Dann halten wir die Luft an und beten.

Also hatte Hawkwood in dem stockfinsteren Turm die Luft angehalten und gebetet, dass er die Luke öffnen könne, bevor er ertrinken würde. Er hatte verzweifelt mit einer Hand nach dem Riegel getastet, während ihn die eisige Kälte fast lähmte. Im letzten Augenblick hatte der Riegel nachgegeben und er sich durch die Luke zwängen können, Luft und Licht entgegen.

Als Hawkwood nicht auf James Reads freundliche Worte reagierte, machte sich der Richter Sorgen und fragte: »Haben Sie Schmerzen?«

»Ich war mit meinen Gedanken bei Lee«, sagte Hawkwood. »Ich konnte ihn nicht daran hindern, die Thetis zu zerstören.«

James Read schwieg und schaute zu Jago, der den Blick erwiderte.

»Was ist denn?«, fragte Hawkwood irritiert.

»Hat er nicht«, sagte Jago.

»Was hat er nicht?«

»Er hat die Thetis nicht in die Luft gesprengt«, sagte James Read.

»Natürlich hat er es getan«, widersprach Hawkwood. »Ich habe doch die Detonation gehört. Und ich habe das Wrack gesehen, als Jago mich ans Ufer brachte.«

Der Oberste Richter schüttelte den Kopf. »Nein. Lee hat ein Schiff in Trümmer gelegt, aber nicht das Schiff.«

Hawkwood zweifelte an seinem Verstand. Doch Jago grinste breit. Er starrte die beiden Männer entgeistert an.

»Sie haben die Schiffe ausgetauscht, Cap’n«, sagte Jago.

»Diese durchtriebenen Mistkerle haben die Schiffe ausgetauscht.«

Hawkwood schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, war Jago noch immer da. Er grinste noch immer.

Jago sah den Obersten Richter an. »Also? Erzählen Sie’s ihm, oder soll ich das tun?«

»Dieses Vergnügen will ich Ihnen nicht nehmen, Sergeant.«

James Read lächelte.

»Na, dann rede endlich!«, drängte Hawkwood.

»Also gut«, willigte Jago ein. »Es war nicht die Thetis, die Lee in die Luft gejagt hat, sondern ein abgetakeltes Schiff.«

»Ein was?«

»Ein altes, ausgemustertes Schiff mit einem Mastkran. Es wird auch Arbeitspferd genannt. Keiner kennt mehr seinen Namen, weil es wahrscheinlich schon vor unserer Geburt im Einsatz


war … Na ja, bevor Sie geboren wurden, auf jeden Fall. Also, wo war ich stehen geblieben? Äh, ja … so haben sie’s gemacht.«

»Die Kunst der Täuschung, Hawkwood. Etwas verbergen zu können, was man deutlich sieht …« Der Oberste Richter schritt zum Fenster und blickte auf die Werft hinaus, wo die Arbeit nach diesem aufregenden Morgen wieder ihren normalen Lauf nahm. »Das war die einzig logische Lösung unseres Problems, weil wir nicht sicher waren, ob es Ihnen gelingen würde, Lee aufzuhalten. Also beschlossen wir, ihm sozusagen einen Lockvogel vor die Nase zu setzen. Und ausschließlich dieses abgetakelte Schiff eignete sich dafür. Unser Hauptproblem bestand darin, das Äußere so herzurichten, dass Lee es für unser neues Kriegsschiff hielt. Zum Glück waren genügend Werftarbeiter und ausreichend Farbe vorhanden. Ein Team hat den Rumpf angestrichen, und ein Maler hat den Namen Thetis ans Heck gepinselt. Da die Thetis nur mit einem Notmast ausgestattet war, also ohne Takelage flussabwärts segeln sollte, mussten wir am Mastkran nur ein Segel hissen, Flaggen und Wimpel an die Relinge zurren, die Standarte des Prinzregenten präsentieren, die Mannschaft einkleiden … Bei eingehender Betrachtung wäre die Tarnung natürlich aufgeflogen, aber Lee hatte von seinem Unterseeboot aus nur eine sehr eingeschränkte Sicht.«

»Großer Gott!«, stöhnte Hawkwood.

»Unser größter Feind war die Zeit«, fuhr der Richter fort und wandte sich vom Fenster ab. »Wir konnten nur vermuten, dass Lee die Flut frühmorgens für seinen Sabotageakt nutzen würde, falls Ihr Versuch, ihn aufzuhalten, fehlschlagen würde. Aber wir haben es sogar geschafft, in letzter Minute die Mannschaft an Bord zu schicken.«

»Die Farbe war noch feucht«, sagte Jago. »Das hat mir die Augen geöffnet …« Er verstummte, als er Hawkwoods Gesicht sah.

»Sie haben das Schiff auch bemannt?«, fragte Hawkwood mit ausdrucksloser Stimme.

»Das war unerlässlich«, erwiderte James Read. »Die Tarnung musste möglichst echt wirken.«

»Männer sind gestorben«, erwähnte Hawkwood.

»Es gab vier Tote und sieben Verletzte«, sagte der Richter ernst.

»Und kein einziger Brite ist darunter«, warf Jago ein. »Bis auf einen«, fügte er dann hinzu.

Hawkwood sah den Sergeanten an.

»Sie haben französische Kriegsgefangene in ausrangierte Uniformen aus Werftbeständen gesteckt. Das ist mir als Erstes aufgefallen: wie schlampig die Offiziere gekleidet waren. Eine Schande für die Nation. Kein britischer Offizier, der etwas auf sich hält, würde sein Schiff betreten, als käme er gerade aus dem Armenhaus. Das kam mir merkwürdig vor. Und dass die Matrosen sich auf Französisch beschimpft haben.«

»Ich weiß, was Sie denken«, sagte James Read leise, als er merkte, wie entsetzt Hawkwood war. »Dass es Konventionen für die Behandlung von Kriegsgefangenen gibt. Stimmt. Aber die Gefangenen, die an Bord der Thetis ums Leben gekommen sind, verdienten kein Mitleid. Ihr Schicksal war bereits besiegelt. Wären sie nicht bei der Explosion getötet worden, hätte man sie gehängt.«

Hawkwood starrte den Obersten Richter noch immer fassungslos an.

»Zwei der toten Gefangenen waren die Rädelsführer einer Meuterei auf der Gryphon. Vor vier Tagen haben zwei Dutzend Gefangene unter der Führung eines Lieutenants Duvert einen Aufruhr angezettelt, dabei zwei Marinesoldaten ermordet und sie nackt vor die Schießscharten gehängt. Nur der Tapferkeit des Kommandeurs Captain Hawkins und seiner Männer ist es zu verdanken, dass die Revolte beendet und eine Katastrophe verhindert werden konnte.

Duvert und seine Gefolgsleute waren bereits zum Tode durch den Strang verurteilt, ehe wir von Lees Plänen erfuhren. Mir wird es keine schlaflosen Nächte bereiten, diese Verbrecher etwas früher vom Leben in den Tod befördert zu haben. Duvert und seine Männer hatten das Recht auf Schutz von Kriegsgefangenen verwirkt, als sie die Leichen dieser zwei Marinesoldaten geschändet haben, das heißt, an die Schießscharten gehängt haben.« Nach einer Pause fuhr der Oberste Richter fort. »Wir haben zumindest versucht, das Gemetzel in Grenzen zu halten, indem wir diese Männer am Bug und am Heck positionierten, weil wir davon ausgingen, dass der Torpedo dort den geringsten Schaden anrichten würde. Was sich im Nachhinein allerdings als Irrtum herausstellte.«

»Du hast angedeutet, einer der Toten sei Brite gewesen«, sagte Hawkwood zu Jago.

Der Exsergeant nickte. »Und Sie kannten ihn«, sagte er mit einem Seitenblick auf James Read.

James Read schürzte die Lippen, ehe er das Wort ergriff.

»Wir mussten diese Operation mit etwas krönen, Hawkwood. Im wahrsten Sinn des Wortes. Wir hatten das Schiff, die Flaggen und die königliche Standarte. Da wir nicht wussten, wie gut Lee vom französischen Geheimdienst informiert worden war, brauchten wir etwas, das ihn davon überzeugen würde, das richtige Ziel im Visier zu haben. Wir mussten ihm den Prinzen von Wales präsentieren.«

Hawkwood wollte sich empört aufrichten, doch der rasende Schmerz in seiner Schulter hinderte ihn daran. Sofort ließ er sich wieder in die Kissen sinken. »Der Prinz war an Bord?«, fragte er dann fassungslos.

James Read schüttelte den Kopf. »Nein. Ein Ersatzmann. Ein Köder aus Fleisch und Blut, wenn man so will, den man aus der Ferne mit dem Prinzen verwechseln konnte. Jemand mit der richtigen Figur.«

»Und ich habe den Mann gekannt?«

»Na ja, nicht gerade gekannt«, sagte der Richter lächelnd.

»Da hat der Sergeant etwas übertrieben. Es sollte wohl ein Scherz sein.« Nach einer Pause fügte James Read hinzu: »Aber zu seiner Mutter hatten Sie flüchtig näheren Kontakt. Eli Gant hat diese Rolle gespielt.«

»Gant!«, rief Hawkwood entgeistert und zuckte wieder vor Schmerz zusammen. Diese Enthüllungen trugen gewiss nicht zu seiner schnellen Genesung bei.

»Mir ist eingefallen, dass die Witwe und ihr Sohn auf einem der Transportschiffe in Dudman’s Yark darauf warteten, zur Verbüßung ihrer Strafe mit Schicksalsgefährten in die Kolonien gebracht zu werden. Wir haben der Witwe nicht verraten, wofür wir ihren Sohn brauchen, als wir ihn abholen ließen. Eli war von der Idee begeistert. Das Kostüm hat ihm gefallen.« In ernstem Ton fügte der Richter hinzu: »Ich werde veranlassen, dass er darin beerdigt wird. Das scheint mir angemessen zu sein.«

Eine Weile herrschte Schweigen im Zimmer.

»Warum dieses ganze Täuschungsmanöver?«, wollte Hawkwood schließlich wissen. »Warum haben Sie keine Abfangnetze ausgelegt? Warum haben Sie Lee nicht einfach aufgehalten? Warum wollten Sie, dass er das Schiff zerstört?«

Als der Richter verlegen schwieg, merkte Hawkwood, dass er einen wunden Punkt berührt hatte.

»Weil wir herausfinden mussten, ob das Unterseeboot funktioniert und der Torpedo tatsächlich sein Ziel trifft.«

Trotz des warmen Sonnenlichts, das durch die Fenster leuchtete, überlief Hawkwood ein eiskalter Schauder.

James Read spürte, was in Hawkwood vor sich ging. Er warf Jago einen bedeutungsvollen Blick zu. »Sie brauchen jetzt Ruhe«, sagte er, »damit Sie wieder zu Kräften kommen. Wir treffen uns bald wieder und reden dann weiter. Alles wird sich aufklären. Begleiten Sie mich, Sergeant?«

Jago nickte, beugte sich jedoch kurz über Hawkwood und flüsterte ihm ins Ohr: »Habe ich’s Ihnen nicht gesagt, Cap’n. Diese verdammten Generäle. Nie rücken sie mit der ganzen Wahrheit raus. Und dann steckt man in der Scheiße. Ganz gleich, was passiert ist: Es kommt nur auf Sie und auf mich an.«

Dann berührte er leicht Hawkwoods Arm und folgte dem Obersten Richter nach draußen.

Ezra Twigg blickte auf, als Hawkwood ins Vorzimmer trat.

»Oh, Mr. Hawkwood! Was für eine Freude, Sie wieder zu sehen, Sir! Und Sie scheinen ja wieder in Form zu sein, wenn ich das so formulieren darf.«

»Die Freude ist ganz meinerseits, Ezra. Er ist doch da, oder?«

Der Sekretär deutete mit dem Kopf zur Tür des Amtszimmers. »Ja. Und der Richter erwartet Sie schon.«

Als Hawkwood das Büro des Richters betrat, fand er drei Männer in ein Gespräch vertieft von James Read, Colonel William Congreve und ein Fremder. Die drei verstummten sofort.

Dann stand der Oberste Richter von seinem Schreibtisch auf und ging auf Hawkwood zu.

»Da sind Sie ja endlich, Hawkwood«, sagte er.

Der Colonel begrüßte ihn lächelnd. »Captain! Wie schön, Sie wieder zu sehen! Haben Sie sich von Ihren Abenteuern gut erholt? Ja? Ausgezeichnet!«

»Colonel«, sagte Hawkwood und schüttelte die ihm entgegengestreckte Hand.

Der Fremde musterte Hawkwood neugierig. Er war groß, hatte ein kräftiges, sonnengebräuntes Gesicht und durchdringende blaue Augen.

»Officer Hawkwood, Captain Johnstone«, stellte James Read die beiden einander vor.

Johnstone nickte nur.

Captain?, dachte Hawkwood.

Da trat der Richter zur Tür und sagte: »Danke, Captain Johnstone. Das wär’s für den Augenblick. Der Colonel wird sich zu gegebener Zeit mit Ihnen in Verbindung setzen. Mein Sekretär geleitet Sie nach draußen.« James Read öffnete die Tür und rief: »Mr. Twigg?«

Johnstone schien sich an der abrupten Verabschiedung nicht zu stören. Wortlos folgte er Ezra Twigg ins Vorzimmer.

Der Colonel hatte zwar ein freundliches Gesicht gemacht, aber Hawkwood konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Congreve nicht viel von Johnstone hielt.

Der Richter kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Der Colonel nahm auf einem der Stühle Platz. James Read bat Hawkwood nicht, sich ebenfalls zu setzen. Er schien in Gedanken versunken zu sein. Schließlich sagte er: »Wir haben endlich herausgefunden, wen Lee mit ›höher gestellte Freunde‹ gemeint hat.«

Während Hawkwood auf eine Fortsetzung des Richters wartete, rutschte der Colonel unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

»Es war Admiral Dalryde.«

Dalryde! Ein Mitglied des Admiralstabs! Kein Wunder, dass Congreve so unbehaglich zumute ist, dachte Hawkwood.

»Wie sich herausstellte, hatte der Admiral hohe Spielschulden«, ergriff Congreve jetzt das Wort. »Er schuldete vor allem White’s große Summen. Durch die immensen Spielverluste ist Dalryde einem anderen Mitglied des Clubs aufgefallen.«

»Lord Mandrake?«, riet Hawkwood aufs Geratewohl.

James Read nickte. »Ja. Und Mandrake hat ihn mit dieser Frau bekannt gemacht. Der Admiral hat Mandrake erzählt, dass Sie mit diesem Fall betraut wurden. Am Abend des Balls war er in Mandrakes Stadtpalais.«

Der Schatten zwischen den Büschen, dachte Hawkwood. Wie konnte ich nur auf diese perfide Intrige reinfallen.

»Machen Sie sich keine Vorwürfe, Hawkwood. Diese Frau ist skrupellos und hinterlistig. Eine Kurtisane, mit allen Wassern gewaschen. Sie weiß ihren Charme einzusetzen. Admiral Dalryde war ihr verfallen. Außerdem versprach sie ihm die Tilgung seiner Schulden, wenn er Dinge preisgibt, die der Geheimhaltung unterliegen. Er war es, der sie informierte, mit welcher Kutsche der Kurier nach London fährt, wann der Stapellauf der Thetis in Deptford stattfindet und welche Fortschritte wir mit unseren Ermittlungen bei der Aufklärung des Überfalls auf die Postkutsche und dem Mord an Officer Warlock machen. Letzteres war natürlich von besonderem Interesse, weil dieser Mord, in Verbindung mit den Skizzen, Hinweise auf das Unterseeboot brachte.«

»Dieser Bastard hat uns alle reingelegt!«, schimpfte der Colonel und schlug mit der Faust auf sein Knie. Dann stand er auf und marschierte rastlos im Zimmer auf und ab.

»Er ist doch verhaftet worden, oder?«, fragte Hawkwood.

James Read nickte.

»Also wird er des Hochverrats angeklagt«, sagte Hawkwood.

James Read schüttelte den Kopf.

»Warum nicht, verdammt noch mal?«

»Weil uns der Mistkerl zuvorgekommen ist«, fauchte der Colonel.

Hawkwood sah den Richter fragend an.

»Der Admiral hat sich heute Morgen in seiner Zelle erhängt.«

»Oh, verdammt! Und was ist mit Mandrake? Sagen Sie bloß nicht, dass auch er dem Henker entwischt ist.«

James Read legte seine Hände flach auf den Schreibtisch und stand auf. »Mylord Mandrake ist in Liverpool an Bord eines Schiffs gegangen und befindet sich auf dem Weg nach Amerika. Ich furchte, Runner Lightfoot wird mit leeren Händen zurückkommen.«

Hawkwood traute seinen Ohren nicht. Und er musste noch eine Frage stellen, die offen im Raum stand: »Und was ist mit dieser Frau?«

»Oh, sie sitzt im Gefängnis und wird ständig überwacht. Bevor Dalryde sich erhängte, haben wir ihn verhört. Er war so freundlich, uns Lees Fluchtpläne zu verraten. Auf der dänischen Brigg haben wir sie festgenommen. Die Mannschaft wurde aufs Gefangenenschiff gebracht.«

»Also«, hakte Hawkwood ungeduldig nach. »Wer, zum Teufel, ist sie?«

James Read runzelte nur die Stirn.

»Ich nehme an, sie ist nicht die Marquise de Varesne.«

»Ah«, sagte der Richter und nickte bestätigend. »Ihre Annahme ist korrekt. Die Lady heißt Gabrielle Marceau, und sie ist gewiss keine Aristokratin – obwohl sie ihre Rolle perfekt gespielt hat. Sie ist, oder vielmehr war, ein Dienstmädchen.«

»Ein Dienstmädchen?«

»Ja, bei der richtigen Marquise. Deshalb konnte sie auch in deren Rolle schlüpfen. Ihre Familie steht schon seit Generationen im Dienst der Varesnes. Gabrielle Marceau war einst die Spielgefährtin der Tochter des Marquis. Die beiden waren etwa gleichaltrig, und Gabrielle hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit Catherine. Und diese Ähnlichkeit nutzte das Direktorium und später Napoleons Geheimdienst zu seinem Vorteil.«

»Und was ist mit der richtigen Catherine?«

Das Gesicht des Richters verhärtete sich. »Wie ihre Mutter, ihr Vater und ein jüngerer Bruder wurde sie durch die Guillotine hingerichtet. Die ganze Familie ist diesem Terror zum Opfer gefallen. Deshalb konnte Gabrielle Marceau diese Rolle auch so lange spielen. Aus gewissen Quellen habe ich erfahren, dass sie bei ihren Auftraggebern hohes Ansehen genießt.«

»Wie schade, dass Ihre Quellen Sie nicht früher darüber aufgeklärt haben«, sagte Hawkwood. »Das hätte uns eine Menge Ärger erspart.«

Der Oberste Richter nickte. »Da kann ich Ihnen nicht widersprechen.«

»Und niemand hat diese Täuschung bemerkt?«

»Alle, die die Familie Varesne gekannt haben, sind tot. Und wer hinter ihr Geheimnis gekommen ist, wurde eliminiert. Gabrielle Marceau steht unter höchstem Schutz. Sie ist … war eine ihrer besten Agenten und hat Napoleons Geheimdienst die Namen der Sympathisanten der Bourbonen, geplante Attentate und Invasionen verraten. Und sie wurde in höchste Kreise eingeschleust, um Lees Angriff auf die Thetis mit vorzubereiten.«

»Und jetzt sitzt sie im Gefängnis.«

»Ja«, sagte James Read.

»Und wird am Galgen enden.«

Wieder schüttelte der Oberste Richter zu Hawkwoods Erstaunen den Kopf.

»Aber sie steckte doch nicht nur mit Lee unter einer Decke! Dieses miese Flittchen hat zwei Menschen ermordet! Sie hat den Wachmann auf der Kutsche erschossen und Master Woodburn erstochen!«

Der kaltblütige Mord an Josiah Woodburn hatte Hawkwood mehr erschüttert, als er sich eingestehen wollte. Lee hatte zwar gesagt, er wolle Hawkwoods Leichnam nicht im Lagerhaus zurücklassen, damit keine Verbindung zwischen Lord Mandrake und ihm hergestellt werden könne. Deshalb hatte er den Runner im Unterseeboot mitgenommen. Gabrielle Marceau hingegen hatte diesbezüglich keine Bedenken gehabt und den Leichnam im Lagerhaus liegen gelassen.

James Read erläuterte, welches Motiv seiner Meinung nach hinter dem Mord an Master Woodburn steckte.

»Gabrielle Marceau wusste, dass Lord Mandrake unter Verdacht steht, und dass Sie nicht zufällig im Lagerhaus aufgetaucht sind. Und da Sie in Lees Gewalt waren, hielt sie ihre Mission wohl für beendet. Master Woodburn war ihr im Weg und hätte womöglich ihre Flucht gefährdet. Er war ihr lästig. Deshalb musste er beseitigt werden.«

Es war entsetzlich, diesen Gedankengang nachzuvollziehen, aber er machte Sinn.

Da dämmerte Hawkwood die schreckliche Wahrheit. Als Lee ihn gezwungen hatte, an Bord des Unterseeboots zu gehen, hatte Josiah Woodburn versucht, ihm mit Blicken eine Botschaft zu übermitteln. In diesem Augenblick war dem Uhrmacher klar gewesen, dass auch er zum Tode verurteilt war. Denn nur Hawkwood und er wussten von Lord Mandrakes Verrat.

James Read legte Hawkwood die Hand auf den Arm – ein für den Richter ungewohnt spontaner Ausdruck des Mitgefühls – und sagte beruhigend: »Machen Sie sich keine Vorwürfe. Sie konnten es nicht verhindern.«

»Ich habe ihn einfach zurückgelassen …« Hawkwood rang um Fassung.

»Master Woodburn hat gewusst, dass Sie ihm nicht helfen konnten«, sagte der Oberste Richter und seufzte. »Er war ein sehr tapferer Mann.«

Die Ermordung des Uhrmachers und die Wut, dass er auf die infame Intrige der falschen Catherine de Varesne hereingefallen war, schürten in Hawkwood einen heiligen Zorn. Er schwor sich, alle daran Beteiligten, vor allem diese falsche Schlange, zur Rechenschaft zu ziehen.

Um seine drückenden Schuldgefühle etwas zu lindern, hatte Hawkwood noch einmal das Haus des Uhrmachers besucht. Er hätte sich diesen Weg ersparen können, denn James Read hatte dem Hauspersonal die Nachricht vom Tod Josiah Woodburns bereits überbracht. Diese schwere Pflicht hatte der Oberste Richter keinem seiner Mitarbeiter übertragen wollen. Doch seitdem hatte die Schuld schwer auf Hawkwood gelastet, dass er den Mord an Master Woodburn nicht hatte verhindern können. Er fürchtete sich nicht so sehr vor der Reaktion der Hobbs, sondern hatte Angst, der Enkelin des toten alten Mannes in die Augen sehen zu müssen.

Die Hobbs hatten mit vor Trauer gezeichneten Gesichtern Hawkwood ins Haus gebeten. In dem Augenblick, als er über die Türschwelle getreten war, hatte er die Stille wahrgenommen und gespürt, dass Elizabeth nicht da war. Ob er darüber erleichtert gewesen war, wusste er nicht mehr.

»Elizabeth lebt jetzt bei ihrer Tante in Sussex«, hatte Mrs. Hobbs ihm gesagt. »Ihr Onkel ist dort Vikar einer kleinen Gemeinde außerhalb von Rottingdean. Sie haben eine gleichaltrige Tochter. Wir hielten es für richtig, Elizabeth der Obhut des Vikars anzuvertrauen, bis die Familie die Angelegenheiten des Masters geregelt hat.« Mr. Hobb hatte traurig genickt und hinzugefügt: »Eine schreckliche Sache, Officer Hawkwood. Eine Tragödie. Die Mörder werden doch ihre gerechte Strafe bekommen, nicht wahr?«

»Ja«, hatte Hawkwood versprochen. »Dafür sorge ich persönlich.«

Davon war er zu diesem Zeitpunkt überzeugt gewesen.

Noch immer in Gedanken versunken, hätte er beinahe überhört, was der Richter sagte.

»Sie wird ausgetauscht.«

»Was?«

»Gabrielle Marceau ist Napoleons beste Agentin in England. Das können wir zu unserem Vorteil nutzen. Wir beabsichten, sie gegen britische Agenten in französischer Gefangenschaft auszutauschen. Erste Sondierungsgespräche finden bereits statt. Die Franzosen werden fünf unserer Männer freilassen, sobald Mademoiselle Marceau an Bord eines Schiffs nach Calais ist. Das ist ein hervorragendes Abkommen.

Ich weiß, was Sie denken, Hawkwood«, fuhr James Read mit ungewöhnlich ruhiger Stimme fort. »Wir befinden uns im Krieg, und viele gute Männer haben bereits ihr Leben lassen müssen: der Wachmann, Officer Warlock, Master Woodburn … Aber hier gilt es, nationale, das heißt politische, Interessen zu wahren. Um diesen Konflikt beizulegen, müssen beide Seiten Zugeständnisse machen und diplomatische Kanäle offen halten. Doch Napoleons Befehl, die Thetis zu zerstören, stellt eine Grenzüberschreitung dar. Damit hat der Kaiser einen Präzedenzfall geschaffen. Deshalb hatten wir auch keine Skrupel, französische Kriegsgefangene auf dem Schiff zu positionieren. Auge um Auge, Zahn um Zahn, wenn Sie so wollen. Doch ich glaube, dass wir einen Irrweg beschriften haben. Daher haben wir durch die Verhaftung dieser Frau die Möglichkeit, das Amoralische dieser Handlungsweise zu korrigieren. Hier geht es um Wiedergutmachung. Durch den Austausch von Gefangenen können beide Seiten davon ausgehen, dass ein Dialog noch immer möglich ist. Das ist vernünftig, Hawkwood. Und vor allem eine zivilisierte Art, mit dem Feind umzugehen.«

Hawkwood war außerstande, dem Obersten Richter darauf zu antworten. Er fragte sich, was James Read unter »zivilisiert« verstand. War es zivilisiert, die französischen Gefangenen zu opfern? Oder den schwachsinnigen Eli Gant? Diese Seite an James Read war ihm neu. Unter der kultivierten äußeren Erscheinung des Richters verbarg sich eine Skrupellosigkeit, die besser zu manchem Guerillero gepasst hätte, diesen brutalen Männern, gegen die Hawkwood in den Pyrenäen gekämpft hatte.

Ihm war jetzt klar, dass zur Verteidigung des Königreichs jede Regel gebrochen werden konnte, jedes Mittel recht war. Dann erinnerte er sich an das von James Read so abrupt beendete Gespräch im Haus des Kommissars und wusste intuitiv, dass noch mehr hinter den Erklärungen des Richters steckte.

»Die von Lieutenant Ramillies angefertigten Zeichnungen haben uns bewiesen, dass Lee das Unterseeboot entscheidend verbessert hat«, ergriff jetzt Colonel Congreve das Wort. »Wir mussten herausfinden, ob dieses Boot tatsächlich als Kriegsgerät benutzt werden kann. Und Lees erfolgreicher Angriff auf die Thetis hat das bestätigt.«

»Und wenn ich es geschafft hätte, das Unterseeboot zu zerstören?«, fragte Hawkwood.

»Wir haben ja noch die Zeichnungen, die Master Woodburn Officer Warlock gegeben hat. Damit und mit den Informationen, die Lieutenant Ramillies uns aus Frankreich hat zukommen lassen, haben wir eine gute Ausgangsbasis für eigene Pläne.«

»Eigene Pläne wofür?«, fragte Hawkwood, obwohl er bereits ahnte, worauf der Colonel hinauswollte.

»Für den Bau eines eigenen Unterseeboots natürlich.«

Hawkwood wurde schwindelig.

»Und ich muss zugeben«, sagte der Colonel strahlend, »wir waren verdammt beeindruckt. Sagen Sie, Hawkwood, stimmt es, dass Lee ein Gerät konstruiert hat, mit dem man über Wasser sehen kann, wenn das Boot untergetaucht ist?«

»Er nannte es ›das Auge‹«, sagte Hawkwood hölzern und fragte sich, welcher Wahnsinn da entfesselt wurde.

»Großartig!«, verkündete der Colonel. »Ich kann es kaum erwarten, mir dieses Gerät bis ins kleinste Detail anzusehen.«

Hawkwood starrte ihn fassungslos an.

»Sie glauben doch nicht, dass wir dieses verdammte Ding auf dem Grund der Themse liegen lassen, oder?«

»Dieses Ding«, sagte Hawkwood, »ist eine tödliche Falle. Es ist explodiert.«

»Richtig«, stimmte Congreve zu und nickte. »Weil es explodieren sollte.«

Ohne auf Hawkwoods Verwirrung zu achten, ergriff James Read jetzt das Wort. »Master Woodburn hat dafür gesorgt. Er hat während seiner Gefangenschaft im Lagerhaus ein Tagebuch geführt, das wir bei dem Toten gefunden haben. Es waren nur ein paar Zettel, auf denen er beschrieb, wie er den Zeitregler an der Bombe repariert und gleichzeitig einen eigenen Sabotageakt vorbereitet hat. Wie es scheint, konnte er nachts seine Zelle verlassen, weil sein Wächter Sparrow die Angewohnheit hatte, sich in einer Kneipe zu besaufen. Er glaubte wohl, der alte Mann sei sicher in seiner Zelle eingeschlossen. Und während Sparrows Abwesenheit hat Master Woodburn einige Veränderungen am Unterseeboot vorgenommen. Irgendwie muss es ihm gelungen sein, sich Sprengstoff zu besorgen und eine Bombe zu konstruieren, die durch eine Art Uhrwerkszünder zu einem bestimmten Zeitpunkt – nachdem der Torpedo vom Heck des Boots abgefeuert worden war – zur Detonation gebracht wurde.«

Hawkwood erinnerte sich daran, dass Josiah Woodburn ihm etwas ins Ohr hatte flüstern wollen, als Lee und die Frau die Zelle betreten hatten. Wahrscheinlich hatte er ihm das Geheimnis um seine eigene Bombe anvertrauen wollen. Der Uhrmacher war also nicht nur aus Sorge um seine Enkelin zurückgeblieben, als er Officer Warlock zur Flucht verholfen hatte, sondern weil er geplant hatte, Lees Unterseeboot nach dem erfolgten Angriff auf die Thetis zu sabotieren. Und dieser Ausdruck hatte in den Augen des alten Mannes gelegen: das Wissen um seinen eigenen Tod und um den vermeintlichen Tod Hawkwoods, sobald dieser in ein Boot stieg, das dem Untergang geweiht war.

»Sie wollen die Narwal bergen lassen?«, fragte Hawkwood, noch immer fassungslos.

Cogreve nickte. »Ja. Und wir haben auch schon einen Mann, der sich mit Unterseebooten auskennt.«

Jetzt wurde für Hawkwood aus den Puzzlesteinchen allmählich ein fertiges Bild. »Captain Johnstone«, sagte er nur.

»Stimmt. Der Mann ist zwar ein Schurke, aber ein begabter. Er hat mit Fulton an der Konstruktion der Nautilus gearbeitet. Man könnte ihn einen Hansdampf in allen Gassen nennen. Er war Lotse im Ärmelkanal, Freibeuter, Schmuggler und hat sogar zwei Jahre im Schuldturm gesessen. Kein Typ, den man zu einer Abendgesellschaft einladen würde, aber er ist der beste Mann für diese Aufgabe. Daran besteht kein Zweifel.«


Ich habe also Congreves Miene vorhin, als Captain Johnstone das Zimmer verlassen hat, richtig gedeutet, dachte Hawkwood. Der Colonel hält nicht viel von den Qualitäten dieses Mannes.

»Also sind Sie jetzt am Zug«, sagte Hawkwood. Er konnte seine Wut nicht mehr unterdrücken. »Was soll’s denn werden? Wollen Sie jetzt Napoleons Staatsbarkasse auf der Seine torpedieren? Dann sind wir keinen Deut besser als die Froschfresser. Worum, zum Teufel, geht es hier eigentlich?«

James Read sah ihm in die Augen und sagte: »Um den Sieg natürlich, Hawkwood – worum denn sonst?«


Runner Jeremiah Lightfoot dachte an sein Bett. Und an seine rundliche Frau Ettie, mit der er gern dieses Bett geteilt hätte. In letzter Zeit hatten sie nicht viel voneinander gehabt. Zuerst war er zum Begleitschutz des Goldtransports der Bank von England abkommandiert worden, und dann hatte der Oberste Richter ihn in den Norden geschickt, wo er Lord Mandrake hatte festnehmen sollen. Reine Zeitverschwendung, denn der Vogel war bereits ausgeflogen. Und kaum war er wieder in London und hatte sich auf einen geruhsamen Abend gefreut, war er wieder losgeschickt worden und saß jetzt an Bord eines Schiffs an einem dunklen Kai. Nur die Schiffskatze und eine kleine Flasche Brandy vertrieben ihm die Langeweile.

Die Katze war ein freundliches Tier. Sie rieb sich an seinen Beinen und schnurrte, wenn er sie streichelte. Aber er glaubte, dass die Katze eher an einem guten Bissen als an ihm interessiert war. Leider hatte Lightfoot nichts zu essen dabei.

Außer einem Matrosen, der, statt Wache zu schieben, in seiner Hängematte auf dem Vorderdeck schnarchte, war niemand an Bord. Die Mannschaft war an Land gegangen und verbrachte den letzten Abend vor dem Auslaufen in verschiedenen Kneipen. Die Madrilena, ein portugiesisches Schiff, würde mit der Flut am nächsten Morgen in See stechen und Runner Lightfoots Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass diese Dame mit dem Schiff segelte. Die junge Frau war am späten Nachmittag von zwei Constables an Bord gebracht worden. Der Kapitän hatte ihr sogar seine Kajüte zur Verfügung gestellt.

Als sich die schöne Frau abends an Deck ein wenig ihre Füße vertreten hatte, war es Jeremiah Lightfoot ein Vergnügen und eine willkommene Abwechslung zugleich gewesen, sie zu beobachten. Natürlich waren ihr seine bewundernden Blicke nicht entgangen, und sie hatte ihn mehrmals mit einem Lächeln in den dunklen Augen angesehen. Lightfoot hatte sich vorgestellt, wie es wohl wäre, mit einer solchen Frau zusammen zu sein. Aber es blieb bei der Illusion.

Die Abenddämmerung senkte sich über den Kai, als eine kleine, hurtige Gestalt in Richtung Schiff rannte. Lightfoot sah den Jungen näher kommen und stand auf.

Auf der Gangway blieb der Junge stehen und hielt einen gefalteten Zettel in die Höhe. »Ich habe eine Nachricht für die Lady.«

»Ach, tatsächlich? Und wie heißt du?«

»Man nennt mich Tooler.«

Lightfoot versteifte sich und warf einen Blick übers Deck. Der Matrose schnarchte noch immer in seiner Hängematte.

»Warte hier!«, befahl er dem Jungen.

Dann ging er zur Kapitänskajüte und sah Licht hinter der Tür brennen. Er klopfte leise.

»Herein!«

Sie saß an dem kleinen Tisch und las in einem Buch. Als er eintrat, blickte sie auf und fragte: »Ja, was gibt’s?«

Das Haar fiel ihr lose auf die Schultern. Das tief geschnittene Dekolletee ihres Kleides spannte sich über ihrem üppigen Busen. Ihre Haut schimmerte im Licht der Laterne. Lightfoot schluckte. »Da ist ein Junge. Er sagt, er habe eine Nachricht für Sie.«

»Eine Nachricht?«, fragte sie und runzelte die Stirn.

»Ja, einen Zettel. Er will nicht unter Deck kommen, aber er soll Ihnen die Nachricht persönlich übergeben. Er betont, es sei wichtig.«

Eine kleine Lüge schadet schließlich nicht, dachte Lightfoot. Er nahm ihr Umhängetuch vom Haken an der Tür und reichte es ihr zitternd.

Die junge Frau erhob sich, legte sich das Tuch um die Schultern und ging vor Lightfoot aus der Kajüte.

Der Junge wartete jetzt unter der Laterne am Mast.

»Du hast eine Nachricht für mich?«, fragte die Frau und schlang das Tuch enger um sich.

Der Junge hielt den Zettel hoch, kam aber nicht näher. »Ich soll Ihnen das geben …«

Sie ging zu ihm hin und streckte ihre Hand aus. Der Junge reichte ihr den Zettel und trat aus dem Licht.

Sie glättete das Papier und las es unter der Laterne. Darauf stand ein einziger Satz: Willkommen in der Hölle.

Die Gewehrkugel durchbohrte Gabrielle Marceaus rechtes Auge, schleuderte ihren Kopf nach hinten und trat an der Rückseite ihres Schädels wieder aus. Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse spritzten umher. Als sie zusammenbrach, fiel ihr der Zettel aus der Hand und flatterte gleich einem taumelnden Schmetterling aufs Deck.

Lightfoot und der Junge standen neben der Toten. Dann bückte sich Lightfoot, hob den Zettel auf und steckte ihn in seine Tasche. »Mach dich aus dem Staub und vergiss, was du hier gesehen hast«, sagte er zu dem Jungen.

Tooler drehte sich wortlos um, rannte über die Gangway und verschwand in der Dunkelheit. Völlig ungerührt betrachtete Lightfoot die Tote. Im Licht der Laterne sah die Blutlache unter ihrem Körper aus wie schwarzer Teer.

Dann richtete sich Lightfoot auf und lief zum Vorderdeck. Nicht einmal der laute Schuss hatte den schnarchenden Matrosen geweckt.

Lightfoot holte tief Luft, schüttelte den Mann und schrie: »Mord! Mord!«

Der Schrei hallte weit über den Kai.

Im zweiten Stock eines aufgelassenen Lagerhauses in zweihundert Metern Entfernung kniete Nathaniel Jago vor einem offenen Fenster, der Lauf des Baker-Gewehrs ruhte auf seiner Schulter. Er schnalzte anerkennend mit der Zunge. Pulverdampf umwehte seinen Kopf wie Tabakqualm.

»Exzellenter Schuss.«

Hawkwood senkte das Gewehr. Da seine Schulter noch immer schmerzte und die Muskeln zu schwach waren, hatte er Jagos Schulter als Stütze für den Lauf benutzt. Er wickelte das Gewehr in das Wachstuch ein.

»Das hat Tooler gut gemacht«, murmelte Jago.

»Und Jeremiah auch«, sagte Hawkwood.

Die beiden Männer stiegen die Treppe hinunter und traten auf den Kai hinaus. Als sie eilige Schritte hörten, wichen sie schnell in den Schatten zurück. Der Matrose lief an ihnen vorbei. Bald würde er in Begleitung der Constables zurückkommen.

»Der Oberste Richter wird wissen, dass Sie es waren«, sagte Jago und ging neben Hawkwood den Kai entlang.

»Er wird mich in Verdacht haben«, entgegnete Hawkwood.

»Aber das spielt keine Rolle. Hauptsache, dieses Miststück ist tot. Außerdem habe ich ein Alibi.«

»Stimmt. Wir beide haben im Blue Swan gezecht. Wird der Richter mir, einem ausgemachten Schurken und Deserteur, denn glauben?«

»Was glaubst du, Schurke? Richter Read hat mit seinen Verbindungsleuten bei der Gardekavalleriebrigade gesprochen und erreicht, dass du begnadigt wirst. Also bist du ganz offiziell kein Deserteur mehr, sondern eine Stütze der Gesellschaft.«

»Klar«, sagte Jago grinsend. »Und Sie sind der Kaiser von China.«

Hawkwood betrachtete seinen Freund lächelnd. »Es ist wahr, Nathaniel. Du musst dich nicht mehr vor der Militärpolizei verstecken.«

»Klingt langweilig«, meinte Jago. »Was war denn das für ein Leben?«

»Du könntest ja bei mir mitmachen«, sagte Hawkwood. »Da Henry Warlock leider nicht mehr lebt, ist die Stelle eines Special Constables frei geworden.«

Jago blieb abrupt stehen. »O verdammt! Ich soll ein Runner werden? Das kann nicht Ihr Ernst sein. Oder sind Seine Ehren auf diese Idee gekommen?«

»Er hat es vorgeschlagen und mich gebeten, dich zu fragen.«

»Ach, tatsächlich? Hat ihm jemand aufs Hirn geschlagen oder reingeschissen?«

»Das Angebot steht.«

Jago schüttelte ungläubig den Kopf und fragte dann: »Wie steht’s denn mit der Bezahlung?«

Als Hawkwood die Summe nannte, fing Jago an zu lachen. Hawkwood grinste und stimmte dann in das Gelächter ein.

Als sie das Ende des Kais erreichten, lachten die beiden noch immer. Ihr Gelächter hallte durch die Nacht, und die Dunkelheit legte sich wie ein schützender Mantel um sie.

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