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Constable Edmund Rafferty stand in der verdreckten Küche. Er kratzte sich den Bauch und betrachtete die auf dem Tisch ausgebreitete, wertvolle Diebesbeute. Gleichzeitig hatte er ein wachsames Auge auf Eli Gant, der sich von dem Hieb erholt hatte und nun an der Wand lehnte. Er wiegte sich langsam von einer Seite zur anderen und starrte finster auf die Handschellen an seinen Gelenken. In dieser misslichen Lage sah er so harmlos wie ein zu groß geratener Hundewelpe aus.

Wieder warf Rafferty verstohlen einen Blick auf den Tisch und zuckte zusammen, als jemand hinter ihm sagte: »Wir haben vier kleine Bettler geschnappt, Ire. Was sollen wir mit denen machen?«

Der dünne Mann mit dem Frettchengesicht war ähnlich wie Rafferty gekleidet, nur hatte er eine scharlachrote Weste anstatt einer blauen an. Mit der rechten Hand hielt er einen Knirps am Schlafittchen gepackt, sodass die Zehenspitzen des Kleinen kaum den Boden berührten. Der Junge versuchte, sich strampelnd zu befreien, wofür er sofort mit einem heftigen Klaps auf den Hinterkopf bestraft wurde.

Rafferty musterte die Gestalt an der Tür verächtlich. »Halt ihn fest, Constable Warbeck, bis ich dir etwas anderes befehle. Sei ein guter Junge und bring diesen Schmutzfink jetzt nach draußen.«

Der Constable tippte an seinen Hut und ging. Rafferty stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er war der Ansicht, dass Constable Warbeck im Gegensatz zu ihm nicht gerade mit Verstand gesegnet sei, und dessen Angewohnheit, ihn »Iren« zu nennen, ärgerte ihn zunehmend. Leider war Warbeck mit Raffertys jüngerer Schwester, Alice, verheiratet. Sie hatte ihren Bruder dazu überredet, Warbeck bei der Polizei unterzubringen. Mittlerweile hatte er jedoch ernste Bedenken, ob dieser Akt der Nächstenliebe richtig gewesen sei. Nicht zuletzt, weil sich der Constable als zu dumm oder zu unfähig erweisen könnte, bei passender Gelegenheit ein Auge zuzudrücken.

Der Junge muss noch viel lernen, dachte Rafferty. Aber vielleicht wird ja noch was aus ihm.

Er ging zum Tisch zurück und betrachtete wieder gierig die Sammlung aus Geldbeuteln und Schmuck. Dann warf er einen hastigen Blick über seine Schulter und vergewisserte sich, dass er nicht beobachtet wurde, ehe er den Inhalt der Brieftaschen untersuchte. In mehreren fand er zu seiner Freude Geldscheine, nahm je einen heraus und legte die Brieftaschen wieder auf den Tisch. Dann griff er mit funkelnden Augen nach der Taschenuhr.

Es war ein edles Stück aus massivem Gold mit dazu passender Panzerkette. Die Uhr hatte zweifelsohne einem Gentleman gehört. Rafferty hielt den Chronometer an sein Ohr. Das Ticken klang wie leise Herzschläge. Mit seinem eingerissenen Fingernagel fuhr er unter die Schließe und wollte den Deckel gerade aufklappen, als er Schritte und ein seltsam schleifendes Geräusch hörte. Hastig steckte Rafferty die Uhr in seine Manteltasche. Gerade noch rechtzeitig. Er setzte ein breites Grinsen auf, als Hawkwood, Mutter Gant hinter sich herschleifend, den Vorhang beiseite schob und in die Küche trat.

»Tja, also, Captain, ich habe mich schon gefragt, wo Sie geblieben sind. Ich dachte, wir müssten einen Suchtrupp losschicken, ja wirklich«, brabbelte Rafferty. Dann erst sah er die Witwe Gant, die am Boden lag und das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Sie warf Hawkwood einen derart bösen, hasserfüllten Blick zu, dass es ihn fröstelte.

»Ah, Sie haben die alte Hexe also erwischt«, sagte Rafferty und musterte missbilligend den Riss in Hawkwoods Ärmel. »Hat Ihnen wohl Ärger gemacht, wie?«

Hawkwood zerrte die alte Frau durch den Raum und ließ sie neben ihren Sohn plumpsen. Als er aufblickte, waren seine Augen so dunkel wie ein Grab.

»Wie viele habt Ihr erwischt?«

»Vier«, sagte Rafferty und seufzte. »Der Rest ist entkommen. Meine Jungs halten sie draußen fest.« Seine Forschheit geriet unter Hawkwoods Blick beträchtlich ins Wanken. Der harte Ausdruck in den Augen des Captains ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Als Hawkwood nur nickte, atmete er erleichtert auf.

»Das ist mehr, als wir erwartet haben. Bringt Sie fort.«

»In Ordnung«, sagte Rafferty und trat Eli Gant ans Schienbein. »Steh auf! Du auch, Mutter Gant, sonst trete ich dir in deinen mageren Arsch.«

Hawkwood wandte sich ab, während Rafferty die beiden zur Tür schaffte.

»Halt!«

Bei dem scharfen Ton blieb Rafferty abrupt in der offenen Tür stehen. Ein kalter Wind streifte seinen Rücken. Als er sich umdrehte und Hawkwoods Blick auf sich gerichtet sah, schnürte es ihm vor Angst die Kehle zu.

Der Bastard weiß es!

»Geben Sie mir die Uhr, Rafferty!«, befahl Hawkwood und streckte die Hand aus.

»Hä?«, stammelte Rafferty unschuldig. Er wusste jedoch instinktiv, dass ihn diese einzige Silbe verraten hatte. Dünkel und Furcht zwangen ihn jedoch, einen letzten halbherzigen Versuch zu unternehmen, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

»Uhr? Was für eine Uhr? Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.«

»Ich sage es nur noch einmal, Constable«, entgegnete Hawkwood mit steinerner Miene. »Einen Fehler haben Sie schon begangen. Schlimm genug. Geben Sie mir die Uhr.«

Obwohl Rafferty alles abstritt, wusste er, dass er das Spiel verloren hatte. Jetzt konnte er nur noch versuchen, mit einem blauen Auge davonzukommen. Er runzelte die Stirn, als würde er scharf nachdenken, und grinste dann breit.

»Ach, du liebe Muttergottes! Ja natürlich! Was habe ich mir nur dabei gedacht? Na klar. Da habe ich die Uhr doch glatt in meine Tasche gesteckt, damit sie nicht wegkommt. Und nicht mehr daran gedacht. Mein Gedächtnis bringt mich noch mal ins Grab. Da ist sie ja! Gut, dass Sie mich daran erinnert haben, sonst hätte ich’s wohl glatt vergessen und sie mitgenommen.«

Mit einem Grinsen, das sogar Medusa besänftigt hätte, griff der Constable in seine Manteltasche und zog, wie ein Zauberer ein Kaninchen aus dem Hut, die Uhr hervor.

»Da, nehmen Sie, Captain«, sagte er und gab Hawkwood die Uhr. »Ein schöner Chronometer, das sehe sogar ich. Kostet bestimmt ein hübsches Sümmchen.« Verschmitzt blinzelnd fügte er hinzu: »Sie haben wohl selbst ein Auge darauf geworfen, wie? Wer könnte Ihnen das verübeln? Also, ich …«

Hawkwood drehte die Taschenuhr um und blickte auf. Sofort erlosch das Grinsen im Gesicht des Constables.

»Ersparen Sie mir Ihre dummen Sprüche und Ihre Schmeicheleien, Rafferty. Damit können Sie die Ladys und Ihre Saufkumpane reinlegen. Bei mir zieht das nicht.«

Rafferty errötete noch mehr und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, doch Hawkwood war mit ihm noch nicht fertig.

»Ich warne Sie, Rafferty. Machen Sie nie wieder einen auf Langfinger, sonst hacke ich sie Ihnen ab. Ist das klar?«

Der Constable klappte den Mund auf, brachte aber keinen Ton heraus und nickte nur kläglich.

»Gut, dann verstehen wir uns ja. Ich behalte die Uhr. Den Rest der Beute bringen Sie in die Bow Street zur Aufbewahrung. Die Sachen sind Beweismaterial. Und merken Sie sich eins: Ich mache Sie dafür verantwortlich, dass nichts davon verschwindet. Vielleicht melden sich die Besitzer und wollen ihre Sachen zurückhaben. So, und jetzt gehen Sie mir verdammt noch mal aus den Augen!«

Hawkwood wartete, bis Rafferty und die anderen Constables mit den Festgenommenen abgezogen waren. Dann erst ließ er die Uhr aufschnappen und las die eingravierte Inschrift. Nachdenklich klappte er den Deckel wieder zu, steckte die Uhr in seine Tasche und ging.


In dem Stallhof hinter dem Blind Fiddler näherte sich der Boxkampf in der 47. Runde dem Ende. Die Zuschauer sahen ihre Erwartungen erfüllt und fanden, es sei ein aufregender und fairer Kampf gewesen.

Beide Boxer hatten ordentlich Prügel bezogen. Benbows Gesicht war nur noch eine blutige Masse. Außerdem hatte er zwei gebrochene Rippen. Schwer angeschlagen und wankend wartete er, dass ihm sein Gegner in die Fäuste lief.

Figg war fast taub und blind von Schlägen, die er einstecken musste. Mit stark angeschwollenen Händen und Gelenken und aus jeder Pore schwitzend, schüttelte er benommen den Kopf, spuckte Blutklumpen und umkreiste Benbow schwankend.

Beide Männer konnten sich kaum noch auf den Beinen halten.

Das plötzliche Ende des Kampfes war für das Publikum eher enttäuschend. Nachdem Benbow taumelnd mehr zufällig einen harten Schlag in Figgs Bauch gelandet hatte, brach sein Gegner zusammen. Die Zuschauer stöhnten auf, als ein Blutschwall aus Figgs Mund quoll – ein sicheres Zeichen dafür, dass seine Lunge verletzt war. Daraufhin brach der Schiedsrichter den Kampf ab und erklärte den Mann aus Cornwall zum Sieger.

Zunächst senkte sich Schweigen über die Menge, doch dann breitete sich aufgeregtes Geschwätz wie kleine Wellen auf einer Wasseroberfläche aus. Benbow saß auf einem Hocker, betastete mit dem Finger seine Mundhöhle, spuckte einen Zahn aus und nahm einen kräftigen Schluck aus der ihm angebotenen Brandyflasche. Ohne Mitleid sah er zu, wie der schwer angeschlagene Figg von seinen Sekundanten weggeschleppt wurde.

Unter dem Stallgewölbe schlug der rothaarige Major seinem Kameraden auf den Rücken und schüttelte bewundernd den Kopf. »Bei Gott, Fitz, das war der beste Boxkampf, den ich je gesehen habe. Wie gut, dass ich auf den Mann aus Cornwall gesetzt habe. Jetzt bin ich zehn Guinees reicher. Verdammt, dieser Kampf hat mich durstig gemacht. Wie wär’s, wenn wir uns einen hinter die Binde gießen, ehe wir uns mit den Ladys treffen? Ich glaube, wir werden erst in einer Stunde erwartet.«

Der Major griff unter seine Schärpe und erstarrte. »Verflucht, Fitz! Meine Taschenuhr ist weg! Ich bin bestohlen worden!«

Natürlich wussten beide, dass der Dieb oder die Diebin längst in der sich rasch zerstreuenden Menge untergetaucht war. »Verfluchtes Diebesgesindel!«, schimpfte der Major und knirschte vor Wut und Frustration mit den Zähnen.

Da spürten beide, dass jemand hinter ihnen stand. Als sie sich umdrehten, hielten sie den schwarz gekleideten Mann zunächst für einen Geistlichen. Doch an dem Ausdruck in den rauchgrauen Augen erkannte der rothaarige Offizier sofort, dass dieser Mann kein Priester war. Und dann sah der Major den Gegenstand in der offenen Hand des Fremden.

»Ich fress ’nen Besen, Fitz! Sehen Sie sich das an! Der Kerl hat meine Uhr. Darf ich fragen, wo zum Teufel Sie die herhaben, Sir?«

»Mit Hexerei hat das nichts zu tun, Major«, sagte Hawkwood und hielt ihm die Uhr hin. »Ich habe nur zufällig beobachtet, wie der Junge Sie bestohlen hat. Und was den Rest betrifft, nun, sagen wir mal, er hat seinen Fehler eingesehen.«

Der Major verbarg seine Freude nicht. Er schloss die Finger um seine Uhr und sagte lächelnd: »Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, Sir. Welch ein Glück, dass Sie so gute Augen haben. Entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit – ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt. Lawrence, 1st Bataillon, 40th Light Infantry. Und das ist Leutnant Duncan Fitzhugh.«

»Es ist mir eine Ehre, Sir«, sagte der jüngere Offizier und tippte an seinen Tschako.

Als Hawkwood nur kurz nickte, sich umdrehte und ging, starrten ihm die beiden Offiziere verwundert hinterher.

»Aber nein, Sir!«, rief der Major hinter ihm her. »Bleiben Sie stehen! Erlauben Sie mir doch wenigstens, mich dankbar zu erweisen. Diese Uhr bedeutet mit sehr viel. Der Leutnant und ich wollten gerade ein Gläschen trinken gehen. Darf ich Sie dazu einladen?«

Hawkwood drehte sich um und sagte kurz angebunden: »Nein, danke.«

»Aber, Sir!«, protestierte der Major. »Ich bestehe …«

Als der Leutnant Hawkwoods Gesichtsausdruck sah, nahm er den Major beim Arm und sagte: »Lassen Sie es gut sein, Sir. Bringen Sie den Mann nicht in Verlegenheit.«

Der Major schien widersprechen zu wollen, zuckte dann jedoch mit den Schultern und sagte: »Na gut. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich Ihnen zu Dank verpflichtet bin. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann …« Er verstummte, legte den Kopf zur Seite und fügte dann stirnrunzelnd hinzu: »Verzeihen Sie, Sir. Vielleicht kommt Ihnen meine Frage merkwürdig vor … aber sind wir uns nicht schon mal begegnet?«

»Nicht, dass ich wüsste, Major«, sagte Hawkwood kopfschüttelnd.

»Sind Sie sich da sicher? Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor«, sagte der Major und kniff die Augen zusammen.

»Ganz sicher«, entgegnete Hawkwood und verneigte sich leicht. »Guten Tag, Major … Leutnant.« Dann machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte davon.

»Eigenartig«, murmelte der Major, sah sich schnell um, entdeckte einen herumlungernden Straßenhändler und winkte ihn mit gekrümmtem Zeigefinger heran. Schwarze Fliegen umschwirrten die Süßigkeiten, die auf seinem Bauchladen lagen. Fitzhugh kräuselte angeekelt die Nase.

»Ja, Sir. Womit kann ich dienen?«, katzbuckelte der Mann grinsend und entblößte schwarze Stummelzähne.

Der Major wehrte mit einer unwirschen Handbewegung ab und deutete mit dem Kopf über den Hof. »Der schwarz gekleidete Mann da drüben, der mit dem langen dunklen Haar, kennst du ihn?«

Als der Händler in die Richtung schaute, wurde er zum Erstaunen der beiden Offiziere plötzlich blass. »Warum wollt Ihr das wissen?«, fragte er misstrauisch und blickte den Offizier scheel an.

Major Lawrence griff in seine Tasche, nahm eine Münze heraus und sagte lächelnd: »Ich bin nur neugierig, mein Freund. Sein Gesicht kam mir bekannt vor, das ist alles.«

Der Händler warf einen verstohlenen Blick auf die Münze und grapschte dann gierig danach. Mit einem Biss prüfte er die Echtheit des Geldstücks und murmelte dann finster: »Ich an Eurer Stelle würde um den da einen großen Bogen machen.«

Lawrence und Fitzhugh sahen sich erstaunt an. »Warum denn das?«, fragte der Major.

»Weil er das Gesetz ist, deswegen.«

»Das Gesetz?«, wiederholte Lawrence und hob die Brauen.

»Er arbeitet als Constable und erledigt spezielle Aufgaben für die Bow Street. Runner heißen solche Leute bei uns. Das sind gemeine Scheißkerle. Allesamt.« Der Händler spuckte auf das Kopfsteinpflaster. »Passt bloß auf, Sir. Solltet Ihr je mit dem Gesetz in Konflikt geraten, könnt Ihr nur hoffen, dass der Mann sich nicht an Eure Fersen heftet.«

»Na, so was«, wunderte sich Major Lawrence und fügte hinzu: »Aber wie heißt er, Mann! Kennst du seinen Namen?«

Die Miene des Süßwarenverkäufers verhärtete sich. »Seinen Namen? Und ob ich den Namen kenne. Er heißt Hawkwood. Möge er in der Hölle schmoren. Na, Gentlemen, wollt Ihr nicht etwas kaufen?«, fragte er und deutete auf seinen Bauchladen.

Aber der Major reagierte nicht. Er schien unter Schock zu stehen und starrte über den Hof, dorthin, wo der dunkelhaarige Mann verschwunden war. Als Leutnant Fitzhugh den Händler wegscheuchte, humpelte der vor sich hin schimpfend davon.

»Was ist mit Ihnen, Major?«, wollte Fitzhugh wissen. »Haben Sie etwa einen Geist gesehen?«

Lawrence stand noch immer wie versteinert da. Dann sagte er: »Vielleicht habe ich das.« Er sah den Leutnant an und lächelte wehmütig. »Bei Gott, Fitz, was ist das Gedächtnis doch für eine launische Geliebte!«

»Sie kennen diesen Mann also? Sie sind ihm schon mal begegnet?«

»O ja, das kann man wohl sagen«, antwortete Lawrence leise, ehe er geistesabwesend murmelte: »Und damals waren wir beide verdammt weit weg von zu Hause.«

Leutnant Fitzhugh wartete auf eine ausführlichere Erklärung, aber diesen Gefallen tat ihm der Major nicht. Stattdessen nickte er in Richtung Taverne: »Ich brauche jetzt einen steifen Brandy, lieber Fitz. Wir begeben uns in dieses Wirtshaus, und ich spendiere uns von meinem Wettgewinn ein oder zwei Gläschen.« Dann schlug er seinem Kameraden auf die Schulter und versprach: »Wer weiß? Vielleicht fällt mir dabei eine interessante Geschichte ein.«


Aus dem Schatten eines Torbogens beobachtete Hawkwood, wie der Major und der Leutnant in die Schenke gingen. Es war ein merkwürdiges Gefühl gewesen, Lawrence wieder zu begegnen. Er hatte den Major sofort wiedererkannt und zudem die Widmung gelesen, die in den Uhrendeckel eingraviert war.


Leutnant D.C. Lawrence, 40. Regiment

Einem ritterlichen Offizier

mit aufrichtigem Dank, Auchmuty

Februar 1807


Diese Widmung bewies, dass die Uhr nicht nur ein Zeitmesser, sondern eine Belohnung für eine Tat von außerordentlicher Tapferkeit und für den Besitzer somit wohl mehr wert war als Gold. Hawkwood war nicht entgangen, wie verstört der Major reagierte, als er den Verlust seiner Taschenuhr bemerkt hatte. Es wäre eine Schande gewesen, hätte er Constable Rafferty nicht daran gehindert, dieses Beutestück verschwinden zu lassen. Hawkwood fragte sich nicht zum ersten Mal, wie viele gestohlene Gegenstände wohl den rechtmäßigen Besitzern zurückgegeben wurden. Herzlich wenige, vermutete er. Leider kam es bei Männern wie Rafferty, diesen angeblichen Hütern des Gesetzes, zu häufig vor, dass sie in die eigenen Taschen arbeiteten.

Dann kehrten Hawkwoods Gedanken zu dem Major zurück. Instinktiv hatte er sofort beschlossen, dem Offizier seine Uhr zurückzugeben. Ob er dies aus Pflichtgefühl getan hatte oder weil er glaubte, einem ehemaligen Waffenbruder diesen Dienst schuldig zu sein, wollte er nicht ergründen. Immerhin war ihre Kameradschaft von äußerst flüchtiger Dauer gewesen. Aber er hatte ohne zu zögern gehandelt.

Warum habe ich also die Bekanntschaft geleugnet?, fragte sich Hawkwood. Diese Frage ist leicht zu beantworten. Es hat keinen Sinn, alte Wunden wieder aufzureißen, dachte er und schüttelte den Kopf. Diese zufällige Begegnung hat plötzlich das Rad der Zeit zurückgedreht. Und böse Erinnerungen hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack. Nein, was geschehen ist, ist geschehen. Ich habe jemandem einen Dienst erwiesen, wie es die Pflicht eines Beamten erfordert. Alles spielt keine Rolle. Damit ist die Sache für mich erledigt.

Hawkwood wollte gerade weitergehen, als ihn ein diskretes Räuspern aus seinen Tagträumen riss. Neben ihm stand ein kleiner, o-beiniger Mann mit spitzer Nase. Er trug einen schwarzen Rock mit Kniehosen und unter seinem ebenfalls schwarzen Dreispitz eine altmodische gepuderte Perücke. Die blinzelnden Augen hinter der halbmondförmigen Brille verliehen ihm das Aussehen einer Eule.

»So, so, Mr. Twigg«, grüßte ihn Hawkwood mit einem frostigen Lächeln. »Und wem verdanken wir diese unerwartete Freude?« Als ob ich das nicht wüsste!, dachte er resigniert.

Der kleine Mann überhörte den beißenden Spott und stieß einen kummervollen Seufzer aus, ehe er ihm seine Nachricht überbrachte: »Richter Read lässt grüßen und bittet Sie, sofort zu ihm zu kommen.«

»Er ›bittet‹, Mr.Twigg?«, entgegnete Hawkwood mit hochgezogenen Brauen. »Das bezweifle ich. Und wo erwartet er mich sofort?«

»In seinem Amtszimmer in der Bow Street.«

Während Ezra Twigg sprach, ließ er seinen Blick über den Hof schweifen. Mittlerweile hatte sich die Menschenmenge zerstreut, und auch der Gottesprediger hatte seine provisorische Kanzel abgebaut und steuerte zielstrebig auf die Taverne zu. Nur ein paar Händler boten noch ihre Waren feil. Neben dem Ring saß Reuben Benbow inmitten seiner Getreuen. Er ließ sich seine gebrochenen Rippen bandagieren und feierte seinen hart erkämpften Sieg.

Mit einem berechnenden Funkeln in den Augen nahm der Sekretär des Obersten Richters jetzt seine Brille ab, hauchte die Gläser an und rieb sie an seinem Rockärmel blank.

»Sie hatten Recht, Ezra«, sagte Hawkwood und grinste. »Der Mann aus Cornwall war der bessere Kämpfer.«

Ezra Twigg setzte seine Brille wieder auf, blinzelte kurzsichtig zu Hawkwood hoch, zuckte mit den Mundwinkeln und blickte vielsagend zu der offenen Tavernentür.

Hawkwood klopfte dem kleinen Mann auf die Schulter. »Ist schon gut, Ezra. Wir sehen uns dann in der Bow Street.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sich Hawkwood um und ging davon. Hätte er einen Blick über die Schulter geworfen, hätte er Ezra Twigg gebeugte Gestalt federnden Schritts zur Taverne eilen sehen.


Während sich Hawkwood auf den Weg durch das Gewirr der Höfe und Gassen machte, wurden die Schatten länger.

Die paar Gaslaternen hier im West End schreckten keine Straßenräuber ab, in den dunklen Durchgängen ungestraft ihr verbrecherisches Wesen zu treiben. Sogar bei helllichtem Tag wurde man hier von Huren angesprochen oder von Dieben bestohlen. Bei Nacht drohten unvorsichtigen Fußgängern in diesen finsteren Vierteln von London zusätzliche Gefahren. Sogar Polizisten und Wachmänner hatten Angst, durch diese Gassen zu patrouillieren.

Hawkwood jedoch schritt, sich seiner Autorität bewusst, unbehelligt voran. Seine bedrohlich wirkende Haltung und die Narbe in seinem Gesicht ließ andere Männer hastig beiseite treten.

Hawkwood kannte diese zwielichtige Gegend, aber er hatte sich an die lauernden Gefahren gewöhnt. London war eine Brutstätte für jedes nur erdenkliche Verbrechen, und als Bow Street Runner kannte er die dunkle Seite der Stadt besser, als ihm lieb war. Die schattigen, mit Abfall übersäten Gassen bargen für ihn keine Überraschungen. Trotzdem ließ er in seiner Wachsamkeit nie nach und war ständig auf der Hut.

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