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Den Zuschauern, die sich auf dem hinter der Taverne Blind Fiddler gelegenen Hof mit den Stallungen versammelt hatten, war schnell klar geworden, dass der jüngere der beiden Boxer, Reuben Benbow, seinem Gegner weit überlegen war. Benbow stammte aus Cornwall; Jack Figg war ein Einheimischer und obwohl kräftiger und stärker, hatte er Benbows Taktik und Behändigkeit wenig entgegenzusetzen.

Der Mann aus Cornwall war über ein Meter achtzig groß und hatte kein Gramm Fett an seinem muskulösen Körper, ein Verdienst seines Gönners, des besten Faustkämpfers des West Countrys, Jethro Ward. Sein Gesicht war von den Kämpfen noch nicht gezeichnet, obwohl er sich bereits einen Ruf als harter, wenn nicht sogar skrupelloser Boxer erworben hatte.

Jack Figg hingegen war von gedrungener Statur und hatte ein Gesicht, das mehr als siebzig unbarmherzige Faustkämpfe mit bloßen Händen gezeichnet hatten. Es hieß, Figg habe als junger Mann einen Ochsen mit einem einzigen Faustschlag zu Boden strecken können, und es hieß auch, er habe sogar einmal gegen den großen Tom Cribb gekämpft.

Die Regeln des Kampfs waren einfach: keine Schläge unterhalb der Gürtellinie. Alle anderen Techniken waren erlaubt, selbst wenn es bedeutete, dass man seinem Gegner das Rückgrat brach.

Eine neue Runde begann. Und da Jack Figg um seine Schwäche wusste, versuchte er, so nahe wie möglich an Benbow heranzukommen, was der Jüngere klug zu verhindern wusste. Er plante, den Älteren auf diese Weise zu ermüden, um den Kampf risikolos zu gewinnen. Niemand wusste, wie lange ein solcher Kampf dauerte – vielleicht fünfzig, ja sogar sechzig Runden. Also gewann immer der Mann, der besser in Form war, denn die meisten Begegnungen wurden nicht durch ein K. o. entschieden, sondern durch die Unfähigkeit des Gegners weiterzukämpfen. Etwa, weil er sich die Hand gebrochen, einen Arm ausgerenkt hatte oder seine Fäuste so geschwollen waren und bluteten, dass er nicht mehr richtig zuschlagen konnte.

Der Faustkampf am Nachmittag hatte mehrere hundert Zuschauer aus allen Bevölkerungsschichten angelockt: Handwerker, Holzarbeiter, Lehrlinge, Stallknechte und Matrosen.

Es gab auch andere, feiner gekleidete Männer: Gecken und Dandys, die sich anlässlich dieses Ereignisses heute nicht in einem ihrer Clubs in der Pali Mall oder St. James trafen, sondern es vorzogen, den Vergnügungen der unteren Schichten in einem der anrüchigen Viertel der Hauptstadt zu frönen. Wozu auch die billigen Huren gehörten, die nur zu bereit waren,gegen bare Münze in einer dunklen Ecke oder in einem rattenverseuchten Bordell eine schnelle Nummer zu schieben. Und natürlich fanden sie es besonders reizvoll, Wetten auf den Boxkampf abzuschließen.

Männer in Uniform gehörten ebenfalls zu den Zuschauern: ein paar Armeeoffiziere und lärmende Blaujacken, eine Gruppe Marinesoldaten auf Landgang.

Hausierer und Marktschreier drängten sich durch die Menge, während am Rande der Menschenmassen Mütter ihren Kindern die Brust gaben und rotznasige Gören zwischen den Beinen der Erwachsenen durch den Dreck krabbelten. Verkrüppelte Bettler, die sich als Kriegsversehrte ausgaben, baten um milde Gaben, und Betrunkene übergaben sich in den Rinnstein. In einer Ecke des Hofs stand ein Fanatiker, seinen starren Blick auf eine Holzkiste gerichtet, und predigte gegen die Sünden des Fleisches und der Spielleidenschaft.

Preisboxen war gesetzlich verboten. Aufpasser standen deswegen vor den Hofeingängen und in den schmalen Gassen Schmiere und warnten Kämpfer und Zuschauer, wenn sich Polizisten näherten. Dann wurde der Ring innerhalb weniger Minuten abgebaut und Kämpfer und Veranstalter tauchten in der Menge unter.

Im Gedränge trieben sich allerdings noch andere Gestalten herum, die weder an dem Boxkampf noch an dem Prediger interessiert waren. Diese, dem Wesen nach sehr verschiedene Kreaturen, wurden von der Aussicht auf reiche Diebesbeute angezogen – Straßendiebe.

Einer dieser Taschendiebe, ein neunjähriger, für sein Alter zu kleiner, spindeldürrer Junge, wurde von seinen Kumpanen Tooler genannt, weil er sich schneller, als man nach Luft schnappen konnte, durch die Menge schlängelte und einem Opfer Brieftasche und Uhr entwendete. Schon im Alter von vier Jahren hatte der Zögling des Arbeitshauses Refuge and Bridewell zu klauen angefangen, und mittlerweile galt er in diesem Gewerbe als alter Hase.

Tooler hatte sein Opfer bereits eine Weile beobachtet. Durch die dicht gedrängt stehenden Zuschauer konnte er sich unbemerkt anschleichen, blitzschnell zuschlagen und wieder verschwinden. Jem Whistler, Toolers getreuer und vierzehn Monate älterer Kumpel, wischte sich die Krümel einer gestohlenen Hammelpastete vom Mund und grinste durchtrieben. Dann pirschten sich die beiden barfüßigen Bengel durch die Menge an ihre ahnungslosen Opfer heran.

Zur Freude der Zuschauer rappelte sich Figg noch einmal auf und landete ein paar, wenn auch ungezielte Treffer auf Benbows schon von Schlägen gezeichnetem Oberkörper. Vom Gebrüll seiner Anhänger angespornt, holte er zu einem wilden Schwinger aus, der den Kampf wohl beendet hätte, wäre sein Gegner dem Schlag nicht ausgewichen und hätte er Figg nicht oberhalb des Herzens mit einem mächtigen Aufwärtshaken getroffen. Figg wurde auf dem falschen Fuß erwischt, er taumelte unter der Wucht des Schlags, und Schmerz verzerrte sein übel zugerichtetes Gesicht. Blut tropfte ihm aus der Nase, und sein rasierter Schädel glänzte vor Schweiß.

Toolers Opfer, ein rothaariger Soldat mit kräftiger Gesichtsfarbe in dem scharlachroten Rock und den weißen Kniehosen eines Majors stand mit seinem ebenfalls uniformierten Kameraden unter dem Gewölbe eines Stalls. Mit gesenktem Kopf, Jem dicht auf seinen Fersen, schlich sich Tooler an den Major heran.

Im Boxring hieb Figg dem Mann aus Cornwall jetzt mit der Faust in die Nieren, worauf die Zuschauer kurz den Atem anhielten und dann laut schreiend beide Kämpfer anfeuerten.

Diese Gelegenheit nutzte Tooler. Er berührte leicht die Schärpe des Majors, hakte mit einer einzigen geschickten Bewegung die Taschenuhr aus und gab sie unter seinem Arm hindurch in Jem Whistlers ausgestreckte Hand weiter. Dann trennten sich die beiden kleinen Diebe sofort. Innerhalb von Sekunden waren sie in der Menge verschwunden. Weder der Major noch sein Kamerad hatten etwas von dem Diebstahl bemerkt.

Im Ring droschen die beiden Kämpfer weiter aufeinander ein. Figg machte unter den Schlägen des Mannes aus Cornwall allmählich schlapp. Blut und Schleim troffen aus seiner aufgeplatzten Nase und bespritzten sogar die direkt an den Seilen stehenden, vor Begeisterung grölenden Zuschauer. Der Kampf wuchs sich zu einer erbarmungslosen Keilerei aus.

Ohne auf das Spektakel zu achten, schlängelten sich die beiden Jungen durch die Menge und tauchten am Rand des Hofes in einer schmalen Gasse unter. Die dort postierten Aufpasser waren viel zu sehr mit dem Geschehen im Boxring beschäftigt, als dass sie auf zwei kleine Halunken achten konnten.

In dem Gewirr der feuchten, dunklen Gassen hinter der Taverne hasteten Tooler und Jem Whistler an verfallenen Behausungen und heruntergekommenen Herbergen vorbei. In einer der Jauchegruben in der Mitte einer Gasse lag ein aufgeblähter Tierkadaver. Ratten flohen piepend in den Schutz bröckelnder Hauswände. Finstere, schattenhafte Gestalten standen in dunklen Eingängen oder waren schemenhaft im flackernden Kerzenschein hinter Fensterscheiben zu sehen. Während die Nachmittagssonne hinter den verschachtelten Dächern versank, drangen die beiden Jungen immer tiefer in dieses Labyrinth ein.

Mutter Gants Herberge stand an der Seite eines kleinen Hofs am Ende eines hüftbreiten Durchgangs. Wie bei vielen dieser verkommenen Absteigen in dem Elendsviertel war über dem schmalen Eingang ein überhängendes Dach angebracht. Die Fenster starrten vor Dreck. In dem Bretterverschlag in einer Ecke wühlten zwei magere Schweine in einem leeren Trog. Als die beiden Jungen vorbeiliefen, hoben sie neugierig grunzend die Rüssel.

In der verräucherten Küche der Bruchbude mit rußgeschwärzten Wänden und einem Fußboden aus festgestampftem Lehm verbreitete eine Funzel trübes Licht. An der offenen Feuerstelle rührte eine alte, schwarz gekleidete Frau mit einem zerschlissenen Schal über den Schultern in einem großen Kessel. An dem langen Eichentisch in der Mitte des Raums saßen ein Dutzend Kinder im Alter zwischen sechs und sechzehn Jahren – blasse, ungewaschene Mädchen und Jungen in Lumpen. Als Tooler und Jem hereinkamen, drehte die Alte sich um. Im flackernden Schein des Kohlefeuers funkelten ihre wässrigen Augen.

Niemand kannte Mutter Gants Alter, man wusste nur, dass ihr diese Herberge gehörte, solange sich ihre Nachbarn erinnern konnten. Drei Ehemänner hatte sie überlebt; zwei waren an Krankheiten gestorben, und der dritte war eines Nachts spurlos verschwunden. Gerüchten nach hatte man ihn nach einer Kneipenschlägerei mit aufgeschlitzter Kehle in den Fluss geworfen. Niemand hatte diesen Säufer vermisst, am wenigsten seine Frau.

Die Kinder am Tisch waren Waisen und Herumtreiber, die Mutter Gant bei sich aufgenommen hatte – nicht etwa aus Nächstenliebe, sondern aus Habgier. Für das Dach über dem Kopf und das Essen im Bauch mussten die Gören bezahlen – mit Diebesbeute, denn Geld hatten sie ja nicht.

Mutter Gant beherbergte die Waisen. Sie brachte ihnen das Stehlen bei, schickte sie auf die Straße und verhökerte dann die Beute. Und wehe dem, der mit leeren Händen zurückkam!

Als Tooler und Jem ihre für diesen Nachmittag reiche Beute – drei Uhren, zwei Broschen, eine silberne Schnupftabakdose und vier Geldbeutel – stolz auf dem Tisch ausbreiteten, ließ Mutter Gant ihren Kochtopf im Stich und sichtete leise girrend die Schätze. »Das habt ihr gut gemacht, Jungs«, säuselte sie. »Mutter ist sehr erfreut.«

Dann griff die Alte nach der Schnupftabakdose, betastete sie prüfend, öffnete den Deckel, nahm mit den Fingerspitzen eine Prise heraus, legte sie auf ihren Handrücken, neigte den Kopf und schnupfte laut und genüsslich. Darauf klappte sie den Deckel wieder zu, wischte sich mit dem Ärmel die Krümel von der Oberlippe und ließ hämisch grinsend die Dose in einer der vielen Taschen ihres Rocks verschwinden.

»Heute Abend kriegt ihr eine Extraportion, meine Süßen«, flüsterte sie und kehrte hinkend zur Feuerstelle zurück. »Die, die am härtesten arbeiten, verdienen eine Belohnung. Ist doch richtig, oder?«

In diesem Moment verdunkelte ein Schatten die offen stehende Eingangstür. »Hallo, Mutter Gant. Ist an deinem Tisch noch Platz für einen hungrigen Mann?«

Angst blitzte in den Augen der Alten auf, als der Besucher in den Raum trat.

Der große Mann war mit einem mitternachtsblauen, wadenlangen Reitmantel bekleidet. Darunter trug er eine eng geschnittene schwarze Weste, dazu graue Kniehosen und schwarze, hohe Stiefel. Da er barhäuptig war, fiel sein schwarzes, an den Schläfen ergrautes, langes Haar auf, das er – was für die Mode dieser Zeit ungewöhnlich war – im Nacken mit einem schwarzen Band zusammengebunden hatte. Unter seinem linken Auge zeichnete sich entlang des Wangenknochens eine schartige Narbe ab.

Wie von Matthew Hawkwood nicht anders erwartet, brach in dem Raum gleich nach seinem Eintreten die Hölle los. Stühle und Bänke fielen um, als die Kinder wie von einem Wiesel gejagte Kaninchen an ihm vorbei zur Tür liefen. Und die Alte drehte sich bemerkenswert behände um, warf ihre Suppenkelle nach dem unerwünschten Besucher und stieß gleichzeitig einen schrillen Schrei aus. Daraufhin erhob sich eine bis dahin stumm in der Ecke sitzende massige Gestalt.

Mutter Gant hatte drei Söhnen und einer Tochter das Leben geschenkt. Ihr Erstgeborener war wie ihr erster und zweiter Ehemann von den Pocken dahingerafft worden, und auch ihr zweiter Sohn war ihr genommen worden. Mit sechzehn zum Militärdienst eingezogen, war er zwei Monate später vor Marokko gefallen. Eine Kanonenkugel von einer französischen Fregatte hatte ihn zerfetzt. Von ihrer einzigen Tochter wusste Mutter Gant nur, dass sie als Hure in den Straßen von Covent Garden und Haymarket ein erbärmliches Dasein führte. Geblieben war ihr nur Eli, der Jüngste, der bei ihr lebte. Es war jedoch zweifelhaft, ob er eine Trennung von seiner Mutter überlebt hätte, denn mit zwanzig hatte Eli zwar die Statur eines Ringers, Oberarme so dick wie ein junger Eichenbaum und Pratzen wie ein Schmied, aber das Gehirn eines Säuglings. Unfähig, für sich selbst zu sorgen und mehr als die einfachsten Arbeiten zu verrichten, war er nichts als der Sklave seiner verwitweten Mutter. Sie missbrauchte ihn als Lasttier und nutzte seine Körperkraft zu ihrem Schutz und zur Einschüchterung renitenter Kunden bei zwielichtigen Geschäften. Seiner Mutter zu dienen war Elis einziger Lebensinhalt und darum kam er dieser Pflicht bedingungslos nach.

Während die Kinder in Panik zur Tür rannten, tauchte aus der dunklen Ecke, einen Knüppel in der Hand, der mondgesichtige Eli auf. Er hatte wie immer instinktiv auf den Schrei seiner Mutter reagiert. Denn er wusste, dass es Ärger geben und sie seine Hilfe brauchen würde. Das genügte ihm.

Hawkwood war der Suppenkelle geschickt ausgewichen. Ein Anflug von Belustigung erhellte seine finstere Miene, als das Küchengerät von der Wand abprallte und klappernd zu Boden fiel. Als er jedoch dieses monströse Wesen auf sich zukommen sah, wurde sein Gesicht grimmig. Entschlossen stellte er sich dieser neuen Gefahr.

»Halt ihn auf, Eli! Er will deiner Mutter wehtun!«, kreischte die alte Frau. Für seine massige Gestalt griff Eli Gant erstaunlich rasch an.

Aber Hawkwood war schneller, wich dem Knüppel aus und trat Eli gleichzeitig hart zwischen die Beine. Eli klappte der Kiefer herunter, und er sackte mit schmerzverzerrtem Gesicht in sich zusammen. Schon hatte Hawkwood seinen Schlagstock in der Hand und verpasste Eli einen brutalen Hieb an die Schläfe. Der Boden aus festgestampftem Lehm schien zu beben, als der Koloss völlig zusammenbrach. Hawkwood betrachtete die keuchend nach Atem ringende, sich windende Gestalt und schüttelte müde den Kopf. Wie oft er das schon erlebt hatte!

Als er wieder aufblickte, war Mutter Gant verschwunden. Hawkwood fluchte, drehte sich um und bellte: »Rafferty!«

Sofort tauchte in der Tür ein stämmiger Mann mit rotem Kopf und derben Gesichtszügen in der Uniform eines Constables auf: schwarzer Filzhut, zweireihiger blauer Rock mit dazu passender Weste. Verblüfft betrachtete er die auf dem Boden liegende Gestalt und riss die Augen noch weiter auf, als Hawkwood darüber hinwegsprang, den Raum durchquerte und den verschlissenen Vorhang an der hinteren Wand beiseite zog. Hawkwood spähte in den dahinter liegenden dunklen Gang, hörte ein leises schlurfendes Geräusch und sah dann in einiger Entfernung im schwachen flackernden Licht einer Laterne die geduckte, hastig dahineilende Gestalt. Mutter Gant hatte ihren schwachsinnigen Sohn im Stich gelassen und war auf der Flucht.

Hawkwood musste sich beeilen, denn es war nicht zu erkennen, wie lange der Tunnel war, wo er endete und wie viele Ausgänge, Falltüren und verborgene Treppen es in diesem unterirdischen Gewirr aus Gängen zu den darüber liegenden schmalen Gassen gab. Und die alte Frau kannte dieses Labyrinth natürlich in- und auswendig.

Hawkwood blieb keine Zeit, sich eine Laterne zu besorgen, er musste einfach dem schwachen Lichtschein folgen. Schnell drehte er sich um, deutete mit dem Kopf auf den noch immer zusammengekrümmt daliegenden Eli und befahl dem Constable barsch: »Pass auf ihn auf!« Dann umklammerte er fest seinen Schlagstock und verschwand in dem dunklen Loch.

Der Gestank war entsetzlich. Die feuchte, nach Verwesung riechende Luft raubte ihm den Atem und brannte in seinen Augen. Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich fest an, aber immer wieder trat er in zähen Schlamm, der sich an seinen Stiefeln festsaugte. Mehr als einmal spitzte er die Ohren und hörte das Piepen und Pfeifen der Ratten.

Er konnte nicht erkennen, woraus die Tunnelwände bestanden. Manchmal berührte er Ziegelsteine, dann wieder verrottetes Holz, das unter seinen Fingern zerbröselte. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte er Öffnungen in den Wänden, Gabelungen zu noch mehr Fluchtwegen. Gelegentlich schimmerte durch einen Spalt in einer Wand ein Lichtschimmer, das Flackern einer Kerze, die anzeigte, dass in dieser seltsamen unterirdischen Welt außer Ratten und Mäusen noch andere, höher entwickelte Schädlinge lebten. Und Witwe Gants flackernde Laterne zog ihn immer tiefer in diesen unterirdischen Irrgarten hinein.

Plötzlich erlosch das Licht vor ihm. Hawkwood blieb lauschend stehen, achtete, alle Sinne angespannt, auf die leiseste Bewegung und ging vorsichtig weiter. Er fragte sich, wie weit er in den Tunnel vorgedrungen war. Es kam ihm wie eine Meile vor, aber in der Dunkelheit ließ sich die Entfernung schlecht abschätzen. Wahrscheinlich war er nicht mehr als hundert Schritte gegangen, wenn überhaupt.

Nur noch ein fahler Schein tief am Boden wies ihm jetzt den Weg. Vielleicht senkte sich der Tunnel dort, oder eine Treppe führte hinunter. Plötzlich kam er an eine Biegung, blieb stehen und schloss die Faust noch fester um seinen Schlagstock.

Als er um die Ecke spähte, sah er die Laterne auf der Erde neben dem Schal der alten Frau stehen. Vorsichtig schlich er sich heran, bückte sich und griff nach dem Schal.

Wie eine Fledermaus flatterte in diesem Augenblick von der Wand ein Wesen auf ihn und stieß dabei einen tierischen Laut aus.

Hawkwood fuhr herum, ließ den Schal fallen und sah im Lichtschein eine Messerklinge aufblitzen. Er warf sich beiseite, das Messer zischte knapp an seinem Gesicht vorbei, und er hörte die Alte wütend grunzen, weil sie ihr Ziel verfehlt hatte. Herrgott, wie schnell sie war! Schneller, als er für möglich gehalten hätte. Doch Hass verlieh ihr zusätzliche Kraft. Schon holte sie wieder aus, stieß zu, und er fühlte, wie die rasiermesserscharfe Klinge den Oberärmel seines Mantels aufschlitzte. Blitzschnell nahm er seinen Schlagstock in die linke Hand, wehrte damit das Messer ab und griff gleichzeitig mit der Rechten nach ihrem Handgelenk. Ihr Arm war nicht dicker als der eines Kindes, aber in ihrem gertenschlanken Körper steckte eine erstaunliche Kraft. Während er mit der Rechten so fest zudrückte, dass sie das Messer fallen ließ, hob er den Schlagstock und schlug zu. Er hörte das knirschende Geräusch brechender Knochen. Ihre Schmerzensschreie hallten von den Wänden wider.

Es war unglaublich! Die Alte gab sich noch immer nicht geschlagen. Wieder stürzte sie sich auf ihn, grapschte mit der linken Hand fluchend und spuckend, wie vom Teufel besessen nach seinem Gesicht und wollte ihm mit ihren scharfen Krallen die Augen auskratzen. Der Angriff war so heftig, dass er gegen die Wand prallte und keuchend nach Luft schnappen musste.

Mit einer Hand klammerte sie sich an ihn, trat um sich, spuckte und stieß immer wieder nach seinen Augen. Speichel rann ihm übers Gesicht, er spürte ihren heißen, widerlich stinkenden Atem auf seinen Wangen. Irgendwie musste er dem ein Ende bereiten. Er trieb ihr den Schlagstock in den Magen, spürte, wie sie ihren Griff an seinem Kragen lockerte, rammte ihr mit aller Kraft seine Faust in die Rippen und stieß sie von sich.

Mit einem dumpfen Geräusch prallte ihr Kopf gegen die Wand. Der Schrei erstarb ihr auf den Lippen, als ihr zierlicher Körper in sich zusammensackte. Mit verrenkten Gliedern, den Rock über den Knien und nach Luft ringend lag sie da.

Hawkwood richtete sich auf und wischte sich den Speichel vom Kinn. »Verdammtes Miststück!«, fluchte er.

Die verkrümmte Gestalt zu seinen Füßen stöhnte leise.

Hawkwood steckte seinen Schlagstock wieder unter seinen Mantel und hob den Schal auf. Damit fesselte er Mutter Gants Handgelenke, ohne auf ihren gebrochenen Arm Rücksicht zu nehmen. Im matten Schein der Laterne sah er ihre vor Schmerz glasigen Augen. Jetzt war ihre Widerstandskraft endlich gebrochen. Dann griff er nach der Laterne, hielt sie hoch, packte die alte Frau am Kragen und zerrte ihren schlaffen Körper hinter sich her durch den Tunnel zurück in die Herberge.

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