9

Der Tote lag im Schlamm, den Kopf zur Seite gewandt. Ein Arm war ausgestreckt, als hätte er nach etwas greifen wollen. Der andere lag verdreht unter seinem Körper.

Am Fluss herrschte ein noch widerlicherer Gestank als in manchen Stadtvierteln. Ein Gebräu aus ekelerregenden Gerüchen – Teer, feuchtem Tauwerk, fauligem Brackwasser, vermodernder Vegetation und Kloaken – wetteiferte mit tausend anderen schädlichen, in Augen und Hals brennenden Dünsten aus den angrenzenden Gerbereien, Färbereien und Sägemühlen.

Vorsichtig stieg Hawkwood, den Boden abtastend, die holprige Steintreppe hinunter und fluchte, als seine Stiefel im stinkenden Schlick versanken. Der Junge hingegen lief flink wie eine Krabbe über die glitschigen Stufen. Über ihren Köpfen wölbte sich die Blackfriars Bridge von Ufer zu Ufer und warf einen scharfen Schatten auf Fluss und Böschung.

Zwei Kinder – Mitglieder von Daveys Bande – hockten auf der untersten Stufe und schnellten fluchtbereit hoch, als der Runner auftauchte. Auf den ersten Blick hatte er die beiden für Jungen gehalten, doch dann sah er, dass eins der Kleinen ein etwa neun- oder zehnjähriges Mädchen war. Nachdem Davey den beiden sagte, sie hätten von Hawkwood nichts zu befürchten, hob das Mädchen einen Stein auf und warf ihn in den Morast. Erst als sie zwischen den Würfen anfing hin und her zu hüpfen, begriff Hawkwood, dass die Kleine wohl eine Art Himmel-und-Hölle spielte. Der Junge hingegen setzte sich wieder auf die Treppe, bohrte in der Nase und schmierte die Popel an seine Kniehose. Trotz der dreckverschmierten Gesichter glaubte Hawkwood zwischen den beiden eine Ähnlichkeit zu entdecken. Vielleicht waren sie Geschwister.

Als sich Hawkwood über die von Fliegen umschwirrte Leiche beugte, stieg ihm ein widerwärtig süßlicher Fäulnisgeruch in die Nase. Er schluckte, um seinen aufsteigenden Brechreiz zu unterdrücken.

Es gelang Hawkwood nur mit Daveys Hilfe, den Mann umzudrehen. Beide zerrten und zogen, bis der schwarze Schlamm mit einem schmatzenden Geräusch die Leiche freigab. Aus den verschiedenen Körperöffnungen entwichen furzend Gase. Der säuerliche Geschmack in seiner Kehle ließ Hawkwood würgen. Er wischte Modder und matschige Halme von den Wangen des Mannes. Als er das aufgeblähte Gesicht erkannte, packte ihn das blanke Entsetzen.

Runner Henry Warlock war klein und drahtig, ein stets auf ordentliches Aussehen und gute Manieren bedachter Mann gewesen. Doch unter seiner Schüchternheit hatten sich ein scharfer Verstand und die Zähigkeit eines Terriers auf Verbrecherjagd verborgen. Auch er war, wie die meisten Runner aufgrund ihres Berufs, ein Einzelgänger und ein sehr fähiger und erfahrener Polizist gewesen.

Im Tod bot Runner Warlock keinen schönen Anblick. Sein Körper war aufgedunsen, und seine Haut hatte die fahle Farbe eines Fischbauchs angenommen.

An der scheinbar tiefen Wunde unter dem verfilzten Haar hinter dem linken Ohr erkannte Hawkwood sofort, dass Warlock eines gewaltsamen Todes gestorben war. Er überlegte, womit dieser tödliche Schlag ausgeführt worden war. Vielleicht mit einem Hammer.

»Sieht aus, als hätten sich die Ratten schon über ihn hergemacht«, stellte Davey nüchtern fest und deutete auf die ausgestreckte rechte Hand. Der Junge schien weder den Gestank wahrzunehmen, noch erschütterte ihn der abscheuliche Anblick der aufgeblähten Leiche.

Als Hawkwood das angefressene Fleisch sah, wischte er sich angewidert die Hände an dem Saum seines Rocks ab. »Woher weißt du, dass er ein Runner war, Davey?«, fragte er.

Beinahe mitleidig entgegnete der Junge: »Tun Sie uns bitte einen Gefallen, Mr. ’Awkwood. Wir erkennen euch doch schon von weitem. Und außerdem haben wir den da gekannt, weil er Pen vor ein paar Wochen beim Klauen erwischt hat.«

Davey deutete mit dem Kopf auf das Mädchen, ging dann neben der Leiche in die Hocke und sagte schniefend: »Der war in Ordnung. Nicht wie die anderen Greifer. Er hat sie nur verwarnt und laufen lassen. Sonst hätte man sie wohl aufs Gefängnisschiff geschickt.«

Hawkwood wusste, dass viele seiner Kollegen Warlocks Mitleid für die Straßenkinder für eine Schwäche gehalten hatten, die sie ausnutzten. Normalerweise machten Polizeibeamte kaum oder gar keine Zugeständnisse bei der Festnahme von Verbrechern, ganz gleich, ob es sich dabei um Erwachsene oder Kinder handelte. Warlock hingegen hatte Ausnahmen gemacht. Den Grund für diese Nachsicht – manche nannten sie Torheit – kannten nur wenige, und die, die wie Hawkwood Bescheid wussten, sprachen nicht darüber. Warlocks junge Frau war bei der Geburt seines Sohnes gestorben und der Säugling eine Woche später vom Fieber dahingerafft worden. Dieses tragische Schicksal hatte Warlock wahrscheinlich zu einem Menschen werden lassen, der es nicht übers Herz brachte, ein neunjähriges Mädchen ins Gefängnis zu stecken. Denn eine achtjährige Strafe war für den Diebstahl eines Spitzentaschentuchs durchaus üblich. Auf dem Deck eines Gefangenenschiffs gäbe es kaum Platz für Spiele wie Himmel-und-Hölle, dachte Hawkwood bedrückt.

Wie viele Menschen haben die Leiche hier liegen sehen?, fragte er sich und ließ den Blick übers Ufer schweifen. Auf der Blackfriars Bridge herrschte tagsüber ein reges Kommen und Gehen, und auf dem breiten Strom verkehrten ständig Boote und Schiffe aller Kategorien und Größen. Blackfriars war ein beliebter Liegeplatz für Bumboote, die dort verankerte Schiffe mit Proviant versorgten, und Anlegeplatz für Fähren, die Passagiere vom einen Ufer zum anderen beförderten.

Weil die Leiche teilweise im Schlamm gelegen hat, hätte sie auch tagelang unentdeckt bleiben können, überlegte Hawkwood. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass Passanten einfach weggeschaut und den Toten für das Opfer einer Schlägerei von Betrunkenen gehalten und den Gang zu den Behörden gescheut hatten, um Scherereien aus dem Weg zu gehen. Ein Tod, der keine Aufmerksamkeit erregt.

Doch in diesem Fall würde es ein Nachspiel geben. Denn Henry Warlock war Beamter gewesen und brutal ermordet worden.

Hawkwood war dem Tod auf mannigfaltige Weise begegnet. Im Krieg hatte er von Säbeln zerhackte und von Kanonenkugeln zerfetzte Körper gesehen. Und in seiner verhältnismäßig kurzen Laufbahn als Runner hatte er fast täglich mit Mord und Totschlag zu tun. Tote lassen einen Menschen nie unberührt. Bei einem Fremden kann man noch eine gewisse Distanz aufrechterhalten, doch der Tod eines bekannten Menschen ist immer ein Schock. Hawkwood hatte diese Erfahrung bei Gefallenen aus seiner eigenen Kompanie gemacht und erlebte jetzt, beim Anblick des aufgeblähten Leichnams von Henry Warlock, denselben inneren Aufruhr: ein Gefühl persönlichen Verlustes, eine Ohnmacht über die sinnlose Vergeudung eines Lebens und vor allem eine ungeheure Wut.

Obwohl sich sein Körper vor Ekel schüttelte, machte sich Hawkwood daran, die Taschen seines toten Kollegen zu durchsuchen. Er fand nichts: kein Notizbuch, keine Münzen, keine persönlichen Dinge.

Hawkwood nagte nachdenklich an seiner Unterlippe. So unfassbar es ihm auch schien, Runner Warlock war anscheinend trotz seiner Erfahrung im Umgang mit Übeltätern aller Art einem der gewöhnlichsten Verbrechen Londons zum Opfer gefallen. Er war von demselben Abschaum ermordet und ausgeraubt worden, den er zu Lebzeiten gejagt hatte.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er betrachtete den Jungen und fragte: »Habt ihr ihn etwa gefleddert, Davey?«

Davey zuckte zusammen und entgegnete dann entrüstet: »Nein, wir haben ihn nicht angerührt, Mr. ’Awkwood. Bestimmt nicht.«

Hawkwood packte den Jungen am Arm. »Sag mir die Wahrheit, Davey. Das ist sehr wichtig.«

Davey schüttelte heftig den Kopf. »Bei Gott, ich schwör’s, Mr. ’Awkwood.«

Hawkwood sah dem Jungen an, dass er die Wahrheit sprach. »Und habt ihr vielleicht etwas gesehen?«

Wieder schüttelte Davey den Kopf. »Tut mir Leid, Mr. ’Awkwood. Wir haben ihn nur gefunden. Ned hat ihn entdeckt«, sagte er und deutete auf seinen Freund.

»Hast du sonst noch jemandem von der Leiche erzählt?«

»Nöö. Wir machen doch nur mit Ihnen Geschäfte.«

Hawkwood runzelte die Stirn. »Woher hast du gewusst, wo du mich finden kannst?«

»Hab’s nicht gewusst«, beteuerte Davey und zuckte mit den Schultern. »Ich hab Dandy zum Black Lion und Teaser in die Bow Street geschickt, weil ich mir dachte, früher oder später werden Sie schon auftauchen.«

Eine logische Schlussfolgerung, dachte Hawkwood. Dandy und Teaser gehören wohl zu Daveys Bande. Er fischte eine Münze aus seiner Rocktasche und gab sie dem Jungen. »Du hast das Richtige getan, Davey. Dafür bin ich dir dankbar.«

Während Davey mit den Zähnen die Echtheit der Münze prüfte, warf Hawkwood einen letzten Blick auf den toten Runner. Ich muss zwar dringend mit Jago Kontakt aufnehmen, dachte er, aber dies hier hat jetzt Vorrang. Der Exsergeant muss noch eine Weile auf meinen Besuch warten.


Der Oberste Richter sah den stämmigen Mann, der vor ihm stand, erwartungsvoll an. »Nun?«

In einer pathetischen Geste spreizte der Angesprochene die Hände und verkündete: »Sir, die Bestimmung des genauen Todeszeitpunkts kann bisher unter dem Gesichtspunkt exakter wissenschaftlicher Kriterien nicht vorgenommen werden.«

James Read stieß einen verzweifelten Seufzer aus. »Schon gut, Doktor. Dann möchte ich Ihre gelehrte Meinung dazu hören …«

»Ein halber Tag, vielleicht. Höchstens vierundzwanzig Stunden«, antwortete der kräftige Mann, zog ein seidenes Taschentuch aus seinem Ärmel und wischte sich damit über die Stirn.

Der Oberste Richter presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, ehe er fragte: »Und die Todesursache?«

Das Taschentuch verschwand wieder im Ärmel. »Ah, daran besteht kein Zweifel. Fraktur des Craniums. Der Okzipitalknochen …«

James Read wedelte ungeduldig mit der Hand. »In einer mir verständlichen Ausdrucksweise, bitte, Dr. McGregor.«

»Das heißt«, mischte sich Hawkwood ein, »der arme Kerl wurde erschlagen.«

Dr. McGregor zuckte zusammen. Der beleibte Arzt, der vom Coroner mit der Untersuchung des toten Runners beauftragt worden war, nahm seine eigene Person derart wichtig und war es deshalb nicht gewohnt, bei seinen Ausführungen weder vom Obersten Richter noch von dessen Untergebenen unterbrochen zu werden. Ein Netz roter Äderchen auf Nase und Wangen deutete darauf hin, dass sein Dünkel wahrscheinlich nur von seiner Vorliebe für Portwein übertroffen wurde.

»Präzise ausgedrückt«, wies er Hawkwood zurecht und starrte ihn böse an, »hat meine Untersuchung ergeben, dass der Schädel durchbohrt und nicht durch einen Schlag zertrümmert wurde.«

»Jedenfalls ist er daran gestorben«, konstatierte Hawkwood, der keinen Sinn für Spitzfindigkeiten hatte.

»Nun, ja«, bestätigte McGregor und rümpfte verächtlich die Nase, ehe er hinzufügte: »Letztendlich tat er das.«

Der Oberste Richter hob abrupt den Kopf. »Was meinen Sie damit?«

Der Arzt richtete sich zu voller Größe auf. »Der Zustand der Leiche und der Kleidung lässt keinen Zweifel daran, dass der Mann längere Zeit im Wasser gelegen hat. Eine Untersuchung der Lungen hat jedoch ergeben, dass er nicht ertrunken ist, sondern, wie ich bereits erklärt habe, durch einen Schlag auf den Kopf getötet wurde. Und die Tatsache, dass die Leiche oberhalb der Hochwassermarkierung gefunden wurde, verleiht meiner persönlichen Theorie größte Glaubwürdigkeit.«

»Und wie lautet diese Theorie?«, erkundigte sich James Read stirnrunzelnd.

»Ich glaube, der Doktor will uns sagen«, mischte sich Hawkwood wieder ein, »dass der Schlag wahrscheinlich nicht sofort tödlich war. Mit anderen Worten, nach dem Schlag auf den Kopf ist Warlock in den Fluss gefallen, oder er wurde hineingeworfen. Die Anstrengung, wieder ans Ufer zu gelangen, hat ihn dann umgebracht.«

»Sind Sie zu derselben Schlussfolgerung gekommen?«, fragte James Read den Arzt.

McGregor, sichtlich verärgert, weil Hawkwood ihm die Pointe gestohlen hatte, nickte. »Ja.«

Dann herrschte Schweigen, bis Hawkwood schließlich fragte: »Können Sie uns zur Tatwaffe Auskunft geben?«

Der Arzt, noch immer über Hawkwoods Anwesenheit und dessen mangelndes Taktgefühl gekränkt, atmete tief ein, ehe er dozierte: »Der Schlag wurde mit exzessiver Wucht ausgeführt. Die Tatwaffe muss spitz und schwer gewesen sein. Vielleicht war es ein Pickel oder ein Meißel gewesen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«

»Herrgott noch mal!«, platzte Hawkwood heraus. »Gibt es überhaupt irgendetwas, dessen Sie sich sicher sind? Außer Ihrem verdammten Honorar!«

McGregors Kopf zuckte zurück, als wäre er geohrfeigt worden. »Wie können Sie es wagen, Sir! Ich …«

»Jetzt reicht’s!«, explodierte der Oberste Richter. Seine Stimme klang wie ein Peitschenknall.

Der Arzt sah aus, als wollte er gleich wieder lospoltern, doch ein Blick in James Reads Gesicht hielt ihn davon ab. Hawkwood merkte, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte.

James Read erhob sich. »Ich danke Ihnen, Doktor. Wie immer waren Sie uns eine große Hilfe. Mein Sekretär wird Sie hinausbegleiten.«

Wie auf ein Stichwort hin wurde die Tür geöffnet, und Ezra Twigg tauchte im Rahmen auf. »Hier entlang, Herr Doktor, bitte«, sagte er höflich.

Der Oberste Richter wartete, bis die Tür wieder geschlossen war. Dann fixierte er Hawkwood mit einem strengen Blick und wies ihn zurecht: »Das war unnötig.«

»Er ist ein aufgeblasener Dummkopf.«

»Aufgeblasen mag er wohl sein. Und er hat eine beneidenswerte Art, jeden auf die Palme zu bringen. Aber ein Dummkopf? Nein, Dr. McGregor ist ein ausgezeichneter Arzt. Ich darf Sie daran erinnern, Hawkwood, dass wir wohl mehr auf seine Kenntnisse angewiesen sind als er auf unsere.«

»Das heißt noch lange nicht, dass ich ihn mögen muss«, sagte Hawkwood.

»Stimmt«, bestätigte James Read müde. »Obwohl ich Ihre Gefühle wegen des gewaltsamen Todes Ihres Kollegen achte, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie es unterlassen würden, den Arzt zu beleidigen. Vor allem in meiner Gegenwart.«

Das warnende Glitzern in den Augen des Obersten Richters war so eindeutig, dass Hawkwood einlenkte. »Ja, Sir.«

James Read nickte zufrieden. »Kommen wir zur Sache. Haben Sie sich Gedanken über die Ursache von Warlocks Mord gemacht?«

»Meiner Meinung nach war er entweder Opfer eines Raubüberfalls oder eines Racheakts. Ein anderes Motiv halte ich nicht für wahrscheinlich«, antwortete Hawkwood.

»Die Gegend ist als Schlupfwinkel für Straßenräuber bekannt«, sagte der Richter. »Allerdings …«

Hawkwood nickte. »Ich weiß. Je mehr ich mich damit befasse, umso unwahrscheinlicher halte ich einen Raubüberfall. Warlock war ein zu erfahrener Polizist, um sich von einem Taschendieb überrumpeln zu lassen. Und dass seine Taschen leer waren, hat nichts zu bedeuten. Hätte er noch eine Stunde länger dagelegen, wäre nichts mehr von seiner Kleidung übrig geblieben. Nur wenige lassen sich die Chance entgehen, umsonst zu einem Rock und einem Paar Stiefel zu kommen. Nein, ich schätze, es war ein Racheakt. Warlock war ein guter Runner und hat viele Verbrecher festgenommen. Dabei hat er sich eine Menge Feinde gemacht. Viele mögen ihm den Tod gewünscht haben.«

James Read wirkte niedergeschlagen und fügte nachdenklich hinzu: »Falls es ein Racheakt war, kann es lange dauern, bis wir den Mörder fassen. Als würden wir eine Stecknadel in einem Heuhaufen suchen.«

»Das kommt auf die Größe der Nadel an«, sagte Hawkwood. »Am besten sehen wir uns zuerst die Fälle an, bei denen Warlock zuletzt ermittelt hat.«

Hawkwood ging durch den Kopf, dass Warlock den Auftrag bekommen hatte, einer ziemlich harmlosen Geschichte nachzugehen. Bestimmt kein Fall, bei dem es zu Gewalttätigkeiten hätte kommen können. Was war es nur gewesen? Dann fiel ihm sein Gespräch mit James Read ein. Der Richter hatte ihm aufgelistet, welche Fälle die einzelnen Runner bearbeiteten. Und plötzlich erinnerte er sich: Es handelte sich um einen vermissten Uhrmacher. Oberflächlich betrachtet nichts Aufregendes.

Als er den Richter darauf ansprach, erntete er nur einen skeptischen Blick.

»Wir können genauso gut damit anfangen«, schlug Hawkwood vor.

James Read schwieg eine Weile und nickte dann widerstrebend. »Meinetwegen«, sagte er. »Wie mir scheint, haben wir ja sonst keine Anhaltspunkte.« Stirnrunzelnd fügte er hinzu: »Und die Kinder haben wirklich nichts beobachtet?«

»Das haben sie mir zumindest versichert.«

»Glauben Sie ihnen?«

»Ja.«

Wieder musterte der Oberste Richter Hawkwood skeptisch. »Ich wünschte, ich könnte Ihr Vertrauen in diese kleinen Streuner teilen. Natürlich zweifle ich nicht daran, dass Sie Ihre Informanten gut kennen. Gerade deshalb verlasse ich mich auf Ihr Urteilsvermögen. Und weil Sie der einzige mir zur Verfügung stehende Runner sind, beauftrage ich Sie mit den Ermittlungen. Ich hatte gehofft, Lightfoot von seiner Aufgabe, Begleitschutz zu leisten, abziehen zu können, aber die Bank braucht ihn noch mindestens einen Tag. Ich habe auch mit Laceys Arzt gesprochen und erfahren, dass Officer Lacey in frühesten zwei Tagen in den Innendienst zurückkehren kann. Bis dahin sind Sie leider auf sich allein gestellt. Ich habe bereits dafür gesorgt, dass Belohnungen ausgeschrieben und ein paar zusätzliche Constables eingesetzt werden, die sich in der Gegend umsehen und umhören. Obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht mit irgendwelchen aufschlussreichen Erkenntnissen rechne. Ich kann Ihnen auch einen der Constables als persönlichen Assistenten zur Verfügung stellen, sollten Sie das für nötig halten.«

»Nein«, sagte Hawkwood schnell, denn er wusste aus Erfahrung, dass bis auf wenige Ausnahmen Constables bei Ermittlungen ebenso wenig nützlich waren wie Wachmänner, was bedeutete, überhaupt nicht. Er behielt diese Meinung jedoch für sich und war erleichtert, als sich der Oberste Richter über seine Entscheidung nicht erstaunt zeigte.

»Wie Sie wünschen«, sagte James Read und rieb sich die Schläfe. »Ach, übrigens, da mir noch kein Bericht über den Überfall auf die Kutsche vorliegt, gehe ich davon aus, dass Sie mit Ihren Ermittlungen noch nicht vorangekommen sind.«

»Bisher nicht.«

»Ich verstehe«, sagte der Oberste Richter etwas geistesabwesend. »Das ist sehr bedauerlich.«

»Ich brauche detaillierte Informationen über alle Fälle, an denen Warlock gearbeitet hat«, entgegnete Hawkwood unverzüglich.

»Wie bitte?« Der Richter schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. »Ach, ja, natürlich. Reden Sie mit Mr. Twigg. Er ist bestens unterrichtet.« Dann schnitt James Read eine Grimasse und fügte hinzu: »Wenigstens wissen wir jetzt, warum Warlock neulich abends nicht zum Rapport erschienen ist.«

Hawkwood war schon auf dem Weg zur Tür, als ihn der Richter zurückrief. »Einen Augenblick, bitte. Da ist noch eine Sache, die mich beunruhigt.«

Der kalte Unterton in der Stimme des Richters ließ Hawkwood innerlich erstarren. Er wusste sofort, was jetzt kommen würde. Er straffte die Schultern, drehte sich um und sah, dass James Read wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte, die Hände flach auf die Platte legte und sichtlich bemüht war, gelassen zu wirken. »Sagen Sie, Hawkwood, haben Sie sich eigentlich überlegt, mit welchen Konsequenzen Sie hätten rechnen müssen, wenn Sie den jungen Rutherford erschossen hätten?«

Das Ticken der Standuhr in der Ecke klang plötzlich unnatürlich laut. Aus Sekunden wurden Minuten.

Hawkwood fühlte, wie sich seine Bauchmuskeln verkrampften und seine Wunde zu schmerzen begann.

Der Oberste Richter schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ihr Verhalten hat mich – gelinde gesagt – erstaunt. Als ich erfahren habe, was heute Morgen geschehen ist, habe ich versucht, eine Erklärung dafür zu finden – vergeblich. Wären Sie bitte so nett, mir zu verraten, was Sie sich in Gottes Namen dabei gedacht haben?« James Reads Stimme bebte vor Zorn.

Hawkwood hielt es für das Beste, die Wut des Richters vorerst schweigend über sich ergehen zu lassen, und fixierte einen Punkt oben an der Wand hinter dem Schreibtisch.

James Read stand auf und machte mit weit ausgebreiteten Armen eine den Raum umfassende Geste. »Haben Sie sich etwa eingebildet, dass Ihre Zugehörigkeit zu dieser Behörde Ihnen strafrechtliche Immunität verleiht? War es das? Dann lassen Sie sich von mir gesagt sein, dass dem nicht so ist, Sir!«

Der Richter schwieg kurz, ehe er fortfuhr: »Zu den Grundregeln dieser Behörde gehört die absolute Wahrung eines einwandfreien Rufs. Gegen diese Regel haben Sie verstoßen. Ich weiß nicht, was mich mehr bekümmert: die Tatsache, dass Sie sich in eine derartige Situation haben drängen lassen, oder Ihre absurde Vorstellung, ich könnte nichts davon erfahren?«

Der Oberste Richter schloss wie vom Schmerz überwältigt die Augen und kniff sich in den Nasenrücken. Dann ging er, Hawkwood ignorierend, zum Fenster und starrte hinaus.

»Eigentlich müsste ich Sie vom Dienst suspendieren«, sprach er schließlich weiter, »und ein Ermittlungsverfahren gegen Sie einleiten. Unter den gegebenen Umständen bleibt mir jedoch keine andere Wahl, als davon abzusehen.« Jetzt drehte James Read sich um und sah Hawkwood finster an. »Im Augenblick kann ich nämlich nicht auf Ihre Mitarbeit verzichten.«

Dann herrschte eisiges Schweigen. Hawkwood spürte, dass James Read noch nicht mit ihm fertig war. Wie hat er nur von dem Duell erfahren?, wunderte er sich. Major Lawrence hatte ihm versichert, dass John Rutherford und seine Freunde über die peinliche Affäre Stillschweigen bewahren würden. Der Arzt und der Lakai waren bestochen worden und würden wohlweislich den Mund halten. Hatte Catherine de Varesne darüber gesprochen? Unwahrscheinlich. Blieb nur noch Lord Mandrake, der jedoch Hawkwood gegenüber den Vorfall im Park mit keinem Wort erwähnt hatte, weil er wahrscheinlich keine Kenntnis davon besaß. Und die schattenhafte Gestalt unter den Bäumen?, überlegte Hawkwood. Vielleicht habe ich mir die doch nicht eingebildet. Aber es ist sinnlos, weiter zu spekulieren. Die Katze ist aus dem Sack, und ich muss die Konsequenzen tragen.

»Vergessen Sie eins nicht, Sir«, fuhr James Read fort und durchbohrte Hawkwood förmlich mit seinem Blick, »und denken Sie stets daran: Ich verfüge zwar über einen gewissen Einfluss auf bestimmte Kreise der Regierung, aber nur, solange ich mein Amt ausübe. Der Tag wird kommen, an dem ich meine Autorität nicht mehr einsetzen kann, um meine schützende Hand über Sie zu halten!

Ihr unkluges Verhalten hat mich in eine prekäre Lage versetzt, Hawkwood. Derartige Situationen missbillige ich. Sie können sich glücklich schätzen, dass ich John Rutherfords Vater davon überzeugen konnte, die für seinen Sohn demütigende Angelegenheit im Interesse der Familie auf sich beruhen zu lassen. Aber Vorsicht, Hawkwood. Sie bewegen sich auf sehr dünnem Eis. Ich habe Ihnen bisher eine Menge Freiheiten zugestanden, aber es wäre unklug von Ihnen, meine Nachsicht zu missbrauchen. Ich werde nicht zulassen, dass einer meiner Beamten durch sein eitles Fehlverhalten dem exzellenten Ruf dieser Behörde schadet. Sollten Sie jemals wieder einen persönlichen Rachefeldzug planen, rate ich Ihnen, sich einen anderen Arbeitsplatz zu suchen.« Die Hände hinter dem Rücken verschränkt und die Beine gespreizt, stand der Oberste Richter mitten im Raum. »Ich behalte mir vor, Sie zu entlassen, Hawkwood. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Ja, Sir«, sagte Hawkwood und atmete erleichtert auf. Denn der Richter hatte ihm noch eine Chance gegeben – ihm sozusagen eine Gnadenfrist eingeräumt.

James Read sah seinen Runner noch einmal durchdringend an und nickte dann. »Gut, dann belassen wir es einstweilen dabei. Wir sprechen noch einmal darüber, sobald dieser Fall aufgeklärt ist. Sie können jetzt gehen. Sprechen Sie mit Mr. Twigg über die Fälle, die Runner Warlock zuletzt bearbeitet hat.«

»Ja, Sir.«

»Ach, übrigens, Officer Hawkwood …«

Hawkwood drehte sich noch einmal um. »Ja, Sir?«

»Sie sehen erschöpft aus. Ich rate Ihnen, und sei es nur aus gesundheitlichen Gründen, Ihre nächtlichen Eskapaden auf ein Minimum zu beschränken«, ermahnte ihn der Richter spöttisch.


»Warum, zum Teufel, gibt es darüber keinen Bericht?«, fuhr Hawkwood Ezra Twigg an.

Der kleine Mann blinzelte hinter seiner Brille und rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. »Es tut mir Leid, Mr. Hawkwood. Officer Warlock konnte keinen vorläufigen Bericht schreiben, weil er nicht mehr ins Amt gekommen ist.«

»Gibt es darüber überhaupt irgendwelche Informationen? Wer hat diesen verdammten Uhrmacher als vermisst gemeldet?«

»Sein Diener.«

Hawkwood wartete, während Ezra Twigg in dem Bemühen, doch noch hilfreich zu sein, einen Stapel Akten auf seinem Schreibtisch durchblätterte, daraus schließlich mit einem zufriedenen Brummen ein einzelnes Blatt hervorzog und es unter die Lampe hielt. »Ja, hier haben wir’s … Luther Hobb, Diener. Das Hauspersonal hat sich Sorgen gemacht, als Master Woodburn nicht zum Abendessen nach Hause kam. Der Diener ist ins Amt gekommen und hat Anzeige erstattet. Officer Warlock wurde damit beauftragt, der Sache nachzugehen.«

»Und das war das letzte Mal, dass ihn jemand in diesem Büro lebend gesehen hat?«

Der Sekretär nickte betrübt.

Die Tatsache, dass niemand im Amt Henry Warlock ein paar Tage vermisst hatte, mochte für einen Außenseiter zwar nicht nachvollziehbar sein, aber eine längere Abwesenheit der Runner war im Verlauf einer Ermittlung oft unumgänglich und stellte keinen Grund zur Sorge dar – viel eher das Verschwinden des Uhrmachers Josiah Woodburn.

Wo soll ich nur ohne präzise Hinweise mit den Ermittlungen beginnen?, fragte sich Hawkwood verzweifelt.

»Also gut«, sagte er schließlich. »Was wissen wir über diesen Uhrmacher? Gibt es irgendwelche dunklen Punkte in seinem Leben, außer der Tatsache, dass er Mitglied der presbyterianischen Kirche ist?«

Ezra Twigg hatte zwar Erkundigungen eingezogen, aber nichts Ungewöhnliches entdecken können. Londons Uhrmacher genossen höchstes Ansehen und innerhalb dieser ehrenhaften Zunft war der Name Woodburn hoch geschätzt. Seit beinahe zweihundert Jahren hatte die Familie Uhren für Könige, Prinzen, Kaufleute und Maharadschas entworfen und angefertigt. Der Name Woodburn garantierte höchste Qualität. Über Josiah Woodburn war wenig bekannt, außer dass er achtundsechzig Jahre alt, seit zehn Jahren Witwer war und mit seiner Enkelin, die er nach dem Tod ihrer Eltern zu sich genommen hatte, in seinem Haus lebte. Er war ein ehrenwerter Mann und zählte zu den Säulen der Gesellschaft.

Da diese Informationen für Hawkwood wenig aufschlussreich waren, blieb ihm nur eins übrig: Er musste ganz von vorne beginnen und Warlocks Ermittlungen zurückverfolgen. Eine zeitaufwendige aber unumgängliche Prozedur.

»Darf ich annehmen, dass wir zumindest Woodburns Adresse haben?«, fragte Hawkwood. »Oder ist das zu viel verlangt?«

Der Sekretär tat beleidigt, seufzte resigniert und fragte: »Ist Sarkasmus nicht die unterste Stufe des Witzes, Mr. Hawkwood?«

»Ach, tatsächlich?«, entgegnete Hawkwood ungerührt.

Ezra Twigg kritzelte die Adresse auf einen Zettel, gab ihn Hawkwood und fügte hinzu: »Für Sie wurde eine Nachricht abgegeben.«

»Eine Nachricht?«, sagte Hawkwood erwartungsvoll, denn er hoffte auf ein Zeichen von Jago. Aber er wurde enttäuscht, denn Lomax, der Exmajor der Dragoner und jetzige Officer der Reiterpatrouille, bat ihn um ein Treffen im Four Swans in Bishopsgate zwischen fünf und sechs Uhr am selben Abend. Wahrscheinlich geht es um den Überfall auf die Kutsche, dachte Hawkwood.

Er steckte den Zettel mit der Adresse des Uhrmachers in seine Westentasche und griff nach seinem Rock. Da hörte er ein Murmeln hinter sich und drehte sich um. »Haben Sie etwas gesagt, Mr.Twigg?«, fragte er.

Der Sekretär kauerte mit gesenktem Kopf an seinem Schreibtisch. Erst als Hawkwood zur Tür ging, blickte Twigg auf. »Ich habe nur gesagt, Sie sollten vorsichtig sein, Mr. Hawkwood.«

Hawkwood blieb in der offenen Tür stehen und grinste.

»Aber, Ezra, Sie machen sich ja Sorgen um mein Wohlbefinden. Ich bin gerührt.«

Twigg verzog keine Miene, spähte über den Rand seiner Brille und sagte: »Wenn das so ist, darf ich Ihnen dann noch einen guten Rat mit auf den Weg geben, Mr. Hawkwood?«

»Natürlich, Mr.Twigg.«

Ezra Twigg Mundwinkel zuckten, als er sagte: »Ich an Ihrer Stelle, Mr. Hawkwood, würde keine fremden Frauen ansprechen.«

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