7

Der Austragungsort für das Duell war von den Kontrahenten sorgfältig gewählt worden. Die in einem Wäldchen versteckte Lichtung namens Dell lag am südlichen Rand des Hyde Parks, nahe am Ufer des Serpentine-Sees.

Auch an anderen, überall im Stadtgebiet verstreut liegenden Orten wurden private Ehrenhändel ausgetragen. Dazu gehörten im Norden die Ring Road, eine Grünfläche in Lincoln’s Inn Fields und am Bloomsbury Square.

Zur vereinbarten Zeit – eine Stunde nach Sonnenaufgang – lag die Lichtung im diesigen Schein der Morgenröte. Das noch vom Tau feuchte Gras glänzte silbern. Eine nur von Vogelgezwitscher unterbrochene Stille herrschte an diesem Ort, und viele Leute hätten ein Duell gerade hier als ein Sakrileg empfunden. Doch die Abgeschiedenheit und die frühe Stunde verringerten das Risiko, entdeckt zu werden.

Hawkwood und der Major wurden von ihren Kontrahenten bereits erwartet. James Neville und Giles Campbell nahmen das Eintreffen der beiden mit einem knappen Nicken zur Kenntnis. Auf John Rutherfords Gesicht glaubte Hawkwood einen flüchtigen Ausdruck der Überraschung wahrzunehmen, so als hätte er nicht erwartet, dass der Runner tatsächlich erscheinen werde. Dann warf ihm Rutherford einen finsteren Blick zu und drehte sich um. Etwas abseits stand eine jämmerlich aussehende Gestalt in einem dunklen Umhang und schniefte in ein zerknülltes Taschentuch.

»Herrgott!«, murmelte Major Lawrence erbost, »dieser Arzt pfeift ja aus dem letzten Loch. Ich frage mich, aus welcher Kneipe sie den gezerrt haben.«

Hawkwood enthielt sich eines Kommentars, denn von einem Arzt, der einem Duell beiwohnte, wurde nicht erwartet, dass er gesund und munter war, sondern nur diskret. Beide Parteien zahlten anteilig sein Honorar und erkauften sich damit nicht nur seine Dienste, sondern vor allem sein Schweigen. Allein der Arzt würde von dieser Auseinandersetzung profitieren.

Da trat James Neville vor. Er gab sich brüsk und dienstbeflissen, als er sie begrüßte: »Guten Morgen, Gentlemen. Ihr Einverständnis vorausgesetzt, übernehme ich die Leitung des Prozedere. Kommen wir gleich zur Sache. Nachdem beide Parteien Zeit hatten, über diese Forderung nachzudenken, frage ich Sie jetzt, ob einer der Kontrahenten seine Meinung geändert hat und von dem Duell Abstand nehmen will.«

Giles Campbell, der Bevollmächtigte John Rutherfords, schüttelte nur den Kopf. Nachdem Major Lawrence Hawkwood noch einmal bittend angesehen und keine Reaktion erhalten hatte, tat er dasselbe.

Worauf James Neville entschlossen nickte und konstatierte: »So soll es denn sein. Folgen Sie mir bitte.«

Er ging zum Rand der Lichtung voran, wo ein kleiner Klapptisch unter den Bäumen stand. Darauf lag ein schwarzes Samttuch, unter dem sich ein eckiger Gegenstand abzeichnete. James Neville schlug das Tuch zurück, öffnete wortlos den Deckel eines flachen Etuis aus Mahagoniholz, trat beiseite und sagte zu Hawkwood: »Ich gehe davon aus, dass Sie mit der Wahl der Waffen einverstanden sind.«

Hawkwood warf einen flüchtigen Blick in das Etui und nickte.

»Sehr gut. Dann darf ich die Sekundanten bitten, die Pistolen zu inspizieren.«

Die beiden identischen Mortimer-Pistolen hatten vierzig Zentimeter lange, achteckige Läufe und waren in ihrer schlichten Ausführung Musterbeispiele erlesener Waffenschmiedekunst. Nachdem sich beide Sekundanten nach gründlicher Inspektion der Waffen zufrieden zeigten, deutete Neville auf das Etui und verkündete: »Gentlemen, bitte treffen Sie Ihre Wahl.«

Hawkwood zog seinen Rock aus und reichte ihn Major Lawrence. Er griff ohne Zögern nach der zuvorderst im Etui liegenden Pistole, denn der Major hatte sich vergewissert, dass beide Waffen Kugeln von derselben Größe und dieselbe Menge Pulver enthielten.

Nachdem John Rutherford die zweite Pistole an sich genommen hatte, räusperte sich James Neville, ehe er weitere Anweisungen gab. »Stellen Sie sich jetzt Rücken an Rücken. Wenn ich zu zählen beginne, gehen Sie zwölf Schritte in die jeweils entgegengesetzte Richtung. Auf mein Signal hin drehen Sie sich um und schießen. Ist das klar?«

Beide Männer nickten. Hawkwood spürte, dass seine Kehle vollkommen ausgetrocknet war, und er fragte sich, ob sein Gegner unter ähnlichen Beschwerden und Magenschmerzen litt.

Mit denselben Gefühlen war er im Duell gegen Delancey angetreten. Ein kaltes Prickeln war ihm über den Rücken gelaufen, und seine Achselhöhlen waren schweißnass gewesen. Ein Zeichen lähmender, quälender Angst vor dem Tod. Oder noch schlimmer, derart schwer verletzt zu werden, dass er wie viele andere Krüppel ein Dasein als Bettler auf den Straßen fristen müsste.

Da ist mir der Tod lieber, dachte Hawkwood. Wenigstens werde ich nicht sterben, ohne den Namen dieser schönen Lady erfahren zu haben. Nur ihretwegen riskiere ich jetzt mein Leben.

Catherine de Varesne war nicht mehr unter den Gästen gewesen, als Hawkwood und Major Lawrence aus dem Garten ins Herrenhaus zurückgekehrt waren. Zweifelsohne hatte sie es vorgezogen, eine weitere Begegnung mit John Rutherford und dessen Freunden zu vermeiden. Der Major hatte es dann übernommen, sich diskret nach der jungen Lady zu erkundigen.

Sie war keine Französin, wie Hawkwood zunächst angenommen hatte, sondern die Tochter eines Franzosen und einer Portugiesin. Ihr Vater, der Marquis de Varesne, war Minister am Hofe Louis VIII. gewesen und war wie hunderte andere Aristokraten mit der Guillotine hingerichtet worden. Von größerer Bedeutung war jedoch die Tatsache, dass er ein enger Vertrauter des Comte d’Artois gewesen war. Da der Comte zurzeit im Exil in England lebte, erklärte das wohl Catherine de Varesnes Anwesenheit auf dem Ball.

»Ich muss schon sagen, mein Freund«, hatte der Major bemerkt. »Sie haben einen exzellenten Geschmack, was Frauen betrifft. Aber die Art, wie Sie ihre Bekanntschaft machen, lässt doch sehr zu wünschen übrig.«

In dem Moment riss Nevilles Stimme Hawkwood aus seinen Tagträumen.

»Auf die Plätze, Gentlemen«, rief er und dann: »Los!«

Hawkwood warf einen Blick nach rechts und sah, dass der Major die Lippen bewegte und lautlos zu Nevilles monotoner Stimme die Schritte mitzählte.

»Zwei … drei … vier …«

John Rutherford schritt auf dem weichen, feuchten Gras nach Norden, Hawkwood nach Süden. So hatte keiner der beiden Männer den Vorteil, die Sonne im Rücken zu haben.

»Fünf … sechs … sieben …«

Hawkwood umfasste den Pistolengriff fester und spürte, wie ihm Schweißtropfen in den Nacken rannen.

»Elf …« Dann eine Pause, die eine Ewigkeit zu dauern schien.

»Zwölf … Gentlemen, Sie dürfen sich umdrehen und schießen.«

Hawkwood wirbelte um die eigene Achse und sah einen grellen Blitz, als sich das Pulver in Rutherfords Pistole entzündete. Erstaunlich laut hallte der Schuss in der frischen Morgenluft über die Lichtung.

Hawkwood spürte einen heftigen Schmerz links im Brustkorb, als sich die Kugel wie ein brandheißer Schürhaken durch das Fleisch bohrte.

Als sich der Pulverdampf verzogen hatte, bemerkte Rutherford, starr vor Schreck, dass sein Gegner aufrecht dastand und seine Pistole noch nicht abgefeuert hatte. Eine Sekunde verging. Zwei, drei. Hawkwood sah, dass Rutherford aschfahl wurde. Ganz langsam hob er seinen rechten Arm und zuckte zusammen, als sein Hemd die Wunde berührte. Dann zielte er sorgfältig und schoss.

John Rutherford drehte sich ganz langsam um die eigene Achse, die Pistole fiel ihm aus der Hand, und er sank zu Boden. Jetzt totenblass umklammerte er mit der linken Hand die Wunde in seinem rechten Arm und starrte Hawkwood an, als könnte er nicht begreifen, dass er getroffen wurde. Hawkwood stand mit gespreizten Beinen da und blickte kurz zu seinem geschlagenen Gegner hinüber, ehe er langsam die Pistole sinken ließ. Geistesabwesend drückte er die Hand auf seinen Bauch und sah dann, dass sie blutverschmiert war.

Major Lawrence gewann als Erster die Fassung wieder und lief zu Hawkwood. Erschrocken rief er: »Großer Gott! Sie sind ja verletzt! Lassen Sie mich sehen!« Beim Anblick der Wunde schnappte er nach Luft und sah sich dann um. »Verdammt! Wo, zum Teufel, bleibt dieser Bauchaufschneider?«

Als Lawrence Hawkwoods Rippen betastete, stöhnte der Runner. »Ist schon gut, Major«, sagte er. »Es ist nur eine Fleischwunde. Ich werd’s überleben. Der Junge braucht den Arzt dringender als ich.«

Dann ging er langsam, den noch immer aufgeregten und besorgten Major an seiner Seite, zu Rutherford. Giles Campbell, sein Sekundant, stützte den Verwundeten, während der Arzt den Hemdsärmel wegriss und mit zitternden Händen die Wunde untersuchte. Mit zusammengebissenen Zähnen krümmte sich Rutherford bei dieser Berührung. Hawkwood konnte nicht sehen, ob die Kugel den Arm durchbohrt und dabei den Knochen zersplittert hatte. Er warf die Pistole ins Gras und sagte: »Damit ist unsere Angelegenheit wohl erledigt.«

John Rutherford blinzelte unter Tränen und sah zu ihm hoch. »Sie hätten mich töten können«, flüsterte er heiser. »Warum haben Sie’s nicht getan?«

Hawkwood zuckte mit den Schultern. »Dafür gibt es mehrere Gründe, suchen Sie sich einen aus: Es ist ein wunderschöner Morgen. Ich habe wichtigere Dinge zu tun. Ich muss ein Verbrechen aufklären, Orte besichtigen und Personen befragen. Aber lass dir eins gesagt sein, mein Junge: Solltest du je wieder in Versuchung kommen, einen Mann zum Duell herauszufordern, dann musst du dir verdammt sicher sein, als Sieger daraus hervorzugehen.«

Hawkwood ließ sich von Major Lawrence in seinen Rock helfen. »Hier sind wir fertig, Major«, sagte er. »Es wird höchste Zeit, dass wir verschwinden. Ich habe keine Lust, einer Patrouille meine Anwesenheit hier erklären zu müssen. Mir reicht der Ärger, den ich am Hals habe.« Er nickte James Neville und Giles Campbell, die ihn mit einem beinahe ehrfürchtigen Ausdruck in den Augen anstarrten, kurz zu. »Guten Tag, Gentlemen.«

»Wissen Sie, Hawkwood«, sagte der Major, als die beiden sich entfernten, »hätten Sie zuerst geschossen und danebengetroffen, wäre der Junge nicht so gnädig mit Ihnen gewesen.«

»Wahrscheinlich haben Sie Recht«, räumte Hawkwood ein. »Aber ich hätte nicht danebengetroffen.«

Der Major erkannte an Hawkwoods ernster Miene, dass diese Bemerkung weder spöttisch noch überheblich gemeint war. Er hatte einfach eine Tatsache konstatiert.

»Mein Gott!«, empörte sich Lawrence. »Sie wollten, dass der Junge zuerst schießt! Und Sie haben gehofft, dass er danebentrifft. Wie konnten Sie nur dieses Risiko eingehen?«

»Weil ich mir dachte, dass dieser Junge noch nie im Leben mit einer geladenen Pistole auf jemanden gezielt hat. Ich habe damit gerechnet, dass ihn seine Nerven im Stich lassen.«

»Oh, verdammt«, sagte Lawrence. »Und deswegen haben Sie ihn verschont?«

Die beiden traten jetzt unter den Bäumen hervor. Vor ihnen lag eine breite grüne Wiese.

»Für alles gibt es eine Zeit und einen Ort, Major. Keines von beiden traf hier zu. Vielleicht habe ich ja dem Jungen eine Lektion fürs Leben erteilt.«

Voller Zweifel meinte Lawrence: »John Rutherford wird Ihnen diese Niederlage nie verzeihen.«

»Damit kann ich leben«, sagte Hawkwood. »Schlimmer wäre es, seinen Tod auf dem Gewissen zu haben.«

Lawrence blinzelte ungläubig. »Aber Sie waren doch Soldat und haben getötet. Denken Sie an Delancey. Den haben Sie in einem Duell erschossen.«

Abrupt blieb Hawkwood stehen. »Delancey war Offizier und hat auch Männer im Duell getötet. Ich konnte es mir nicht leisten, diesem Bastard einen Vorteil zu gewähren. Wie bereits erwähnt, halte ich Rutherford für einen törichten, arroganten Jungen, der sich in etwas hineingesteigert hat. Und falls Sie es vergessen haben sollten, Major: Ich bin Polizist. Meine Aufgabe ist es, Duelle zu verhindern, und nicht, welche auszutragen!«

Lawrence schwieg kurz und grinste dann. »Hat Sie schon mal jemand darüber informiert, mein Freund, dass Sie dazu neigen, sich hart an der Grenze des Gesetzes zu bewegen?«

Da sah der Major zum ersten Mal, wie sich auf Hawkwoods Gesicht ein Ausdruck echter Belustigung ausbreitete. Wie dieses Lächeln ihn verändert, dachte Lawrence. Sogar die Narbe unter seinem Auge ist kaum noch zu sehen.

»Ja, das kommt öfter vor«, sagte Hawkwood lachend.

Vor ihnen lag jetzt Hyde Park Corner. Von dort führte eine Straße zum Piccadilly und der Fußweg gegenüber zur Knightsbridge.

»Na, wenigstens können wir für eins dankbar sein«, überlegte Lawrence laut. »Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Rutherford seine Niederlage ausposaunen wird, denn er hat sich mit einem Mann duelliert, der nicht einmal zum Adel gehört!« Ernst fügte er hinzu: »Und ich bezweifle, dass Neville und Campbell Klatschgeschichten verbreiten werden.«

Wahrscheinlich hat der Major Recht, dachte Hawkwood. Duelle werden als Privatsache betrachtet, und da weder ich noch Rutherford Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sind, wird diese Angelegenheit kein Aufsehen erregen. Der Major hat bereits mit ein paar Goldmünzen und entsprechenden Drohungen dafür gesorgt, dass Lord Mandrakes Dienstbote den Mund halten wird. Und die einzige andere Zeugin, die junge Lady, dürfte kein Interesse daran haben, dass dieser unerfreuliche Zwischenfall bekannt wird.

Hätte ich jedoch John Rutherford erschossen, wäre der Vorfall nicht zu vertuschen gewesen. Der Major hat sich darüber aufgeregt, dass Rutherford in seiner Dickköpfigkeit auf der Austragung des Duells bestanden hat. Aber bin ich denn besser? Mich hat meine Dummheit in Kombination mit meinen rigorosen Vorurteilen dazu verleitet, dass ich mich auf diese sinnlose Konfrontation eingelassen habe. Und dass ich überlebt habe, verdanke ich dem Zufall und der mangelnden Treffsicherheit meines Gegners. Kurz gesagt, ich habe Glück gehabt.

Dann dachte Hawkwood an James Read. Der Oberste Richter war ein strenger, aber gerechter Vorgesetzter. Bei aller Härte vergaß er nie, unter welch widrigen Umständen seine Beamten tätig waren, und gewährte ihnen ein hohes Maß an Bewegungsfreiheit. Dafür erwartete er jedoch absolute Hingabe an ihren Beruf und Loyalität. Ihre Zusammenarbeit basierte auf gegenseitigem Vertrauen. Und als Hawkwood den Köder geschluckt und Rutherfords Herausforderung angenommen hatte, hatte er dieses Vertrauen missbraucht. Und alles aufs Spiel gesetzt: nicht nur seine Karriere, sondern auch seine Beziehung zu einem Mann, dem er sehr viel zu verdanken hatte und den er bewunderte. Hätte er Rutherford getötet, so wäre die schlimmste Strafe für Hawkwood gewesen, den Ausdruck von Enttäuschung auf James Reads Gesicht erkennen zu müssen.

Hawkwood zuckte vor Schmerz zusammen. Ich hätte doch zulassen sollen, dass sich der Arzt die Wunde ansieht, überlegte er. Dann fielen ihm jedoch die zittrigen Hände des Mediziners ein. Nein, das konnte warten.

Auf den Straßen herrschte mittlerweile reges Treiben. Kutschen und Karren polterten über das Pflaster. Straßenhändler, Blumenverkäufer, Messerschleifer, Kaminkehrer, Kohlenschlepper und Lumpensammler begannen ihr frühes Tagewerk. Diese bunt zusammengewürfelte Menge erinnerte Hawkwood an das Gesindel im Gefolge von Wellingtons Armeen in Spanien. Ein Strom bemitleidenswerter Pilger auf der Suche nach dem Gelobten Land.

Der Major und Hawkwood wollten gerade eine Straße überqueren, als eine Kutsche herangeprescht kam. Dann zügelte der Kutscher die Pferde, die Kutsche hielt direkt vor ihnen und die Tür wurde aufgestoßen.

»Captain Hawkwood?«

Ihm stockte der Atem, denn er hatte die Stimme sofort erkannt. Sie saß allein darin, in ein dunkles Cape gehüllt. Sie beugte sich vor, neigte den Kopf und schenkte Lawrence ein verführerisches Lächeln. »Guten Morgen, Major.«

»Ja, es ist ein wunderschöner Morgen, Ma’am«, stimmte Lawrence zu, lüftete seinen Tschako und sah dann Hawkwood breit grinsend an. Diese etwas anzügliche Miene weckte in Hawkwood den Verdacht, dass den Major das plötzliche Auftauchen der jungen Frau keineswegs überraschte. Dieser Eindruck verstärkte sich, als Lawrence mit gespielter Spontaneität seine Taschenuhr hervorzog, einen flüchtigen Blick darauf warf, die Uhr dann an sein Ohr hielt und bedauernd verkündete: »Ähm … tja, bitte entschuldigen Sie mich. Ich habe mich bereits verspätet. Die Pflicht ruft. In einer Stunde bin ich mit Leutnant Fitzhugh verabredet. Ich hatte den Jungen für ein paar Tage zu seiner Familie geschickt. Man weiß ja nie, wann wir die Heimat wieder sehen. Uns bleibt nur verdammt wenig Zeit, die neuen Rekruten auf Vordermann zu bringen, ehe sie an Bord gehen, um unsere Truppen in Spanien zu verstärken.«

Ohne Hawkwood Zeit für eine Antwort zu lassen, streckte ihm der Major die Hand hin und sagte: »Auf Wiedersehen, mein lieber Freund. Es war mir eine Freude, unsere Bekanntschaft aufgefrischt zu haben. Hoffentlich kreuzen sich unsere Wege irgendwann mal wieder.« Dann verneigte er sich in Richtung Kutsche und verabschiedete sich: »Ihr Diener, Ma’am.«

Hawkwood kam nicht umhin zu bewundern, wie elegant sich der Major aus der Affäre gezogen hatte. Er blickte ihm nach, bis er in der Menge verschwand.

Dann hörte er das Rascheln schwerer Seide. Er drehte sich um und registrierte, dass Catherine de Varesne ihn verführerisch anlächelte. »Nun, Captain Hawkwood, möchten Sie mir nicht Gesellschaft leisten?«

Hawkwood blickte zu dem Kutscher hoch, der mit ausdrucksloser Miene und erhobener Peitsche dasaß und nach vorn starrte.

Nach kurzem Zögern stieg Hawkwood in die Kutsche, worauf der Mann auf dem Bock sofort mit der Peitsche knallte und sich das Gefährt in Bewegung setzte.

»Sind Sie überrascht, mich zu sehen?«, fragte Catherine de Varesne, ein amüsiertes Funkeln in den Augen.

Von ihrem Sinnenreiz wie betäubt, konnte Hawkwood die schöne junge Frau nur stumm anstarren.

»Oder enttäuscht Sie mein Anblick?«, provozierte sie ihn.

Da fand Hawkwood endlich seine Sprache wieder. »Woher wussten Sie, dass ich hier entlanggehen würde?«

Das Cape war ihr von den Schultern gerutscht, und obwohl sie ein hoch geschlossenes Kleid trug, ahnte er die Rundungen ihrer Brüste. Sie erwiderte seinen Blick und antwortete mit entwaffnender Offenheit: »Der Major hat mir eine Nachricht geschickt.«

Ich habe also Recht gehabt, dachte Hawkwood, der Major steckt hinter dieser Begegnung. Kein Wunder, dass er derart anzüglich gegrinst hat.

»Haben Sie etwa geglaubt, wir würden uns nie wieder begegnen?«, fragte sie mit einem bezaubernden Lächeln.

Sein Blick glitt über ihren anmutig geschwungenen Hals und die sanfte Wölbung ihres Busens. »Ich hielt es eher für unwahrscheinlich.«

»Aber Sie hatten es gehofft?«, fragte sie und betrachtete ihn forschend.

»Ja«, sagte Hawkwood und nickte. Es erstaunte ihn, wie bereitwillig er dies zugegeben hatte. Dann fiel ihm ein, dass Catherine de Varesne ihn als Captain angesprochen hatte, und er fragte sich, wie viele Informationen der Major noch preisgegeben hatte.

»Haben Sie ihn getötet?«, unterbrach Catherine de Varesne plötzlich seine Gedanken.

Hawkwood fasste sich wieder. »Wen? Rutherford? Nein, er wird’s überleben. Ich habe ihn zwar blamiert, aber davon stirbt man nicht.«

Ist sie erfreut oder enttäuscht, überlegte Hawkwood, als die junge Dame nachdenklich schwieg. »Also, warum haben Sie mich abgepasst?«, fragte er ebenso direkt.

Während sie ihn ansah, umspielte ein Lächeln ihre vollen Lippen. »Ist Ihnen eigentlich bewusst, Captain Hawkwood, dass wir einander noch nicht vorgestellt wurden. Ich heiße


Catherine …«

»Ich weiß, wer Sie sind«, platzte Hawkwood heraus.

»Und woher wissen Sie das, Captain?«, fragte sie mit großen Augen.

»Der Major hat mir eine Nachricht geschickt«, entgegnete Hawkwood grinsend.

Da lachte sie, und Lichtpunkte tanzten in ihren Augen. In diese Frau könnte ich mich verlieben, dachte Hawkwood und fragte sich, warum ihn dieser Gedanke trotz der unübersehbaren Reize der jungen Frau beunruhigte.

»Also«, wiederholte er. »Warum haben Sie mich abgepasst?«

Ihr Blick und ihre Antwort waren ebenso direkt wie zuvor.

»Ja, was vermuten Sie denn?«

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