8

Hawkwood lehnte in den Kissen, den Arm um Catherines Taille gelegt. Ihr Kopf ruhte mit geschlossenen Augen auf seiner Brust. Er hörte ihren leisen Atem. Sie lagen nackt unter den zerwühlten Laken.

Der Kutscher hatte sie zu einem vornehmen Haus an der Ecke des Portman Square gebracht. Ein Hausmädchen hatte ihnen die Tür geöffnet und sich dann auf Geheiß ihrer Herrin für den Rest des Tages zurückgezogen. Weitere Dienstboten waren nicht sichtbar gewesen.

Catherine de Varesne kümmerte sich als Erstes um seine Wunde. Als die Kutsche durch ein Schlagloch gepoltert war und Hawkwood beinahe von seinem Sitz geschleudert worden wäre, hatte er unwillkürlich vor Schmerz gestöhnt und sich die Hand auf den Bauch gepresst. Sie hatte unverzüglich darauf reagiert.

»Sie sind verwundet!«

»Es ist nur ein Kratzer. Nichts Schlimmes.«

»Lassen Sie mich sehen!«, hatte sie kurz angebunden gesagt und seinen Rock geöffnet. »O mein Gott! Überall ist Blut! Sie wurden schwer verletzt!«

»Nein. Es sieht schlimmer aus, als es ist.«

»Aber die Wunde muss versorgt werden. Sie brauchen einen Arzt.«

»Nein, zum Teufel! Ich lasse keinen verdammten Quacksalber an mir rumpfuschen. Bei diesen Scheißkerlen holt man sich nur Infektionen«, hatte Hawkwood geflucht und dabei eine Ausdrucksweise gebraucht, die wohl eher in eine Hafenkneipe gepasst hätte. Doch ihr amüsiertes Lächeln hatte ihm zu verstehen gegeben, dass sein Vokabular ihre geringste Sorge war.

»Dann werde ich mich darum kümmern. Nein, keine Widerrede, Captain«, hatte sie ihm den Mund verboten. »Ich bestehe darauf!«

Ihr strenger Blick hatte Hawkwood signalisiert, dass es wohl klüger war, ihr nicht zu widersprechen.

Im Haus hatte sie ihn sogleich zu einem Sofa im Wohnzimmer geführt. Dann war sie verschwunden und etwas später mit einer Schüssel heißen Wassers und Verbänden wieder aufgetaucht.

»Ziehen Sie Ihr Hemd aus!«, befahl sie. »Oder soll ich es für Sie tun?«, fragte sie mit funkelnden Augen. »Sollten Sie Angst haben, mich zu kompromittieren, so kann ich Sie beruhigen. Mein Hausmädchen ist verschwiegen. Niemand wird uns stören.« Lächelnd fügte sie dann hinzu: »Oder ist es Ihnen peinlich, sich vor mir zu entblößen? Wohl kaum, oder? Nicht mein tapferer Captain.«

Hawkwood seufzte. »Ich bin kein Captain. Nicht mehr.«

»Aber Sie sind trotzdem mein Held«, murmelte sie gefühlvoll. »Ziehen Sie jetzt Ihr Hemd aus.«

Catherine de Varesne wandte sich nicht ab, sondern ließ ihren Blick über seinen vernarbten Oberkörper schweifen. Die zackige Narbe unter seinem linken Arm stammt wohl von einer Klinge, dachte sie. Und die kreisförmige, verfärbte Einkerbung auf der rechten Schulter sieht nach einer Schusswunde aus, während die dünne Linie zwei Zentimeter unter seiner linken Brustwarze ein vernarbter Messerschnitt sein könnte. Ein vom Krieg und zwanzig Jahren Dienst in der Armee geschundener Körper. Dann musterte sie die blutverkrustete Wunde unterhalb der Rippen, die zwar stark blutete, aber nur oberflächlich war.

Obwohl Catherine behutsam die Kruste getrockneten Blutes entfernte, musste Hawkwood ein paar Mal die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu stöhnen. Sobald die Wunde gereinigt ist, dachte er, wird sie schnell verheilen und die Narbe nur noch eine weitere schmerzliche Erinnerung an einen meiner zahllosen Kämpfe sein.

Nachdem die Wunde gründlich gereinigt war, griff sie nach den Verbänden und befahl: »Setzen Sie sich auf!«

Genießerisch atmete er den Duft ihres Parfüms ein: Jasmin mit einer Spur Zitrone, dachte er. Er fühlte ihren federleichten Atem in seinem Nacken, als sie sich über ihn beugte und den Verband anlegte. Kurz begegneten sich ihre Blicke, und sie verharrte mitten in der Bewegung. Ihr Busen hob und senkte sich einladend vor ihm.

»Ich glaube, es ist Zeit«, flüsterte sie.

»Wofür?«, fragte Hawkwood und hob die Brauen.

Wie gebannt von ihrem Blick hörte er sie sagen: »Für Ihre Belohnung.«

Das Gesicht von ihrer glänzenden schwarzen Mähne umrahmt, blickte sie auf ihn hinunter. Ihre dunklen Brustwarzen streiften seine Haut. Mit der Hand griff sie nach unten und tastete nach ihm. Hawkwood spürte, wie er reagierte. Dann setzte sie sich mit gespreizten Beinen über ihn und stöhnte leise vor Lust. Dabei beobachtete sie ihn mit weit offenen Augen. Dann umfasste sie ihn und fing an, ihn sanft zu massieren.

»Ich will dich«, flüsterte sie, ließ ihn los, senkte den Kopf, küsste seinen Hals und knabberte spielerisch an seiner Haut. Ihre Zunge glitt über sein Schlüsselbein. Ihre warmen, feuchten Lippen liebkosten seine Brust, küssten seine Narben. Ihre Hände strichen über seine Hüften, streichelten seine Oberschenkel. Ihr Kopf sank tiefer, ihre Lippen umschlossen ihn, und Hawkwood gab sich dem Augenblick hin.

Als sie spürte, dass er sich nicht länger zurückhalten konnte, löste sie ihren Mund von ihm und senkte sich auf Knien behutsam auf ihn. Den Kopf in den Nacken geworfen, die Augen geschlossen, bewegte sie sich rhythmisch, bis sie vor Lust aufschrie und am ganzen Körper bebend auf ihn fiel.

Hawkwood war nicht auf die aggressive Art vorbereitet gewesen, mit der Catherine die Initiative übernommen hatte. Mit verführerischer Langsamkeit hatte sie sich bis auf ihre seidenen Strümpfe entkleidet und sich ihm mit gespreizten Beinen dargeboten. Auf seinen Schultern brannten noch die Striemen von ihren Fingernägeln, wo sie ihn gekratzt hatte, als er sie genommen hatte.

Ihre Körper glänzten vor Schweiß. Eine Brise wehte durch das offene Fenster und kräuselte die Vorhänge. Hawkwood zog das Laken über sie beide.

Als er die samtige Haut ihrer Pobacken streichelte, seufzte sie, presste sich an ihn, kreiste mit den Hüften und küsste sein Kinn. »Ist dir eigentlich klar«, murmelte sie, »wie du genannt wirst?«

»Von wem?«, fragte er.

»Na, von deinen Freunden, natürlich. Oder erwartest du, dass ich dich weiter mit Captain Hawkwood anrede?« Sie blickte zu ihm hoch und malte kleine Kreise auf seine Brust.

Hawkwood antwortete nicht gleich, denn ihm wurde bewusst, wie deprimierend klein die Zahl der Menschen war, die er als Freunde bezeichnen konnte. Im Lauf der Jahre hatte er viele Kameraden gewonnen. Manche waren tapfer, andere töricht und ein paar feige gewesen. Aber wahre Freunde? Männer, für die er bereitwillig in der Hitze des Gefechts sein Leben geopfert hätte? Da gab es nur wenige. Wahrscheinlich nicht mehr, als er an einer Hand abzählen konnte, und die meisten davon waren tot. Natürlich war da noch Jago. Alles in allem stand ihm der Exsergeant so nahe wie sonst niemand. Zumindest hatte das für die Zeit vor ihrer beider Rückkehr nach England gegolten. Jetzt war er sich dessen nicht mehr so sicher, denn Jago lief jetzt mit den Hasen, während er zu den Jagdhunden gehörte. Außerdem hatte Jago ihn in all den Jahren, die sie zusammen gewesen waren, nie mit Vornamen angesprochen. In der Armee hatte selbst unter Freunden der Dienstgrad Vorrang. Und was sein jetziges Leben betraf, so gab es im Kollegenkreis ein abgedroschenes Sprichwort: Ein Bow Street Runner macht sich keine Freunde – er kennt nur Informanten.

»Matthew«, sagte Hawkwood schließlich. »Ich heiße Matthew.«

»Also, mein Matthew«, sagte sie sanft. »Woher hast du diese Narben an deinem Hals?«

Es waren eigentlich keine Narben, sondern nur eine unregelmäßige Reihe verblasster Flecke, die von der rechten Unterseite des Kinns bis zu seinem rechten Ohr verlief. Normalerweise wurden diese Verfärbungen von seinem Kragen verdeckt, doch jetzt waren diese Male sichtbar geworden.

Hawkwood legte seine Hand über ihre forschenden Finger. Sie spürte den Stimmungswandel in ihm, runzelte die Stirn und fragte: »Hast du Angst, mir davon zu erzählen?« Dann stockte ihr kurz der Atem. »Warte, ich verstehe. C’est une …«

Mit zusammengezogenen Brauen suchte sie nach Worten.


»… ein Muttermal, nicht wahr?«

Hawkwood streichelte geistesabwesend die samtene Haut ihrer Hüfte. Es war nicht das erste Mal, dass ihn jemand nach diesen Malen an seinem Hals fragte, noch war es das erste Mal, dass er einer Antwort auswich. Es waren weder Muttermale noch Andenken an seine Soldatenlaufbahn oder seinen Beruf als Runner. Diese Male gehörten einer längst vergangenen Zeit an, einer dunklen Zeit in seinem Leben, an die er nicht zurückdenken wollte, denn sie waren Zeichen dafür, wie sich das Schicksal eines Mannes von einem Augenblick zum anderen für immer ändern konnte.

»Ach, mein armer Matthew«, sagte Catherine, denn sie spürte seine innere Unruhe. Dann legte sie ihm die Arme auf die Brust, verschränkte die Finger und blickte zu ihm hoch.

»Erzähl mir alles. Ich will alles über dich wissen.« Sie musterte ihn abwägend. »Ist es üblich, dass sich ein Gesetzeshüter duelliert? Wegen einer Frau?«

»Das kommt wohl auf die Frau an«, reagierte er auf ihre provozierende Frage.

Mit gespielter Verärgerung gab sie ihm einen Klaps auf den Arm, senkte den Kopf und küsste zärtlich die Stelle. Dann sah sie ihm in die Augen und fragte mit ernster Miene: »Also, erzähl mir, mein Captain, hast du als Soldat viele Männer getötet?«

»Ich habe sie nicht gezählt.«

Auf einen Ellbogen gestützt, strich sie mit der Fingerspitze über die Muskeln an seinem Unterarm. »Aber du hast gekämpft und getötet?«

»Ja.«

»Franzosen? Bonapartes Soldaten?«

»Größtenteils«, antwortete er widerstrebend.

»Du sprichst nicht gern darüber?«, fragte sie.

»Nein, nicht besonders.«

Jetzt zog sie wieder die Brauen zusammen. »Hat es dir etwas ausgemacht? Das Töten, meine ich?«

»Damals nicht.«

»Es hat dir also Spaß gemacht?«, fragte sie beinahe herausfordernd und reckte sich träge. Wie eine gesättigte Katze, die ein Schälchen Rahm getrunken hat, musste Hawkwood denken.

»Es war Krieg. Ich war Soldat und musste den Feind bekämpfen. Ich hatte keine andere Wahl.«

»Hast du deshalb diesen Rutherford verschont? Weil du eine Wahl hattest?«

»Formulieren wir es so: Ich habe es satt, Männer unnötigerweise sterben zu sehen.«

Catherine setzte sich abrupt auf. »Ich an deiner Stelle wäre nicht so nachsichtig gewesen. Ich hätte ihn getötet!«

Ihr vehementer Ausbruch erschreckte ihn.

»Zweifelst du daran?«, fragte sie, und ihr Blick warnte ihn, ihr zu widersprechen.

»Keine Sekunde«, sagte Hawkwood wahrheitsgemäß, stützte sich mit einer Hand ab und streifte dabei die Unterseite des Kissens.

»Verdammt!«

Der Schmerz war so heftig, als wäre die Spitze einer Klinge in ihn eingedrungen. Mit einem Ruck zog er die Hand unter dem Kissen hervor. Aus einem Finger quoll ein dunkelroter Blutstropfen. Der stammte gewiss nicht von einem Wespenoder Bienenstich.

Vorsichtig hob Hawkwood das Kissen hoch. Auf dem Laken darunter lag ein Stilett mit einer fünfzehn Zentimeter langen, schmalen, sehr scharfen spitzen Klinge. Der etwa gleich lange schwarze Griff war mit kunstvoll geschmiedeten goldenen Intarsien verziert. Eine Waffe von höchster Handwerkskunst, erkannte Hawkwood sofort. Ebenso erlesen wie tödlich.

Catherine hielt sich die Hand vor den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken. Ihre Augen funkelten fröhlich, als sie über ihn hinweggriff und das Stilett aus seinem Versteck nahm. »Oh, Schatz, verzeih mir! Ich hatte ganz vergessen, dass es unter dem Kissen lag.« Sie legte die Waffe beiseite und nahm seine Hand. »Lass mich mal sehen.«

Sie neigte den Kopf, als wollte sie die Wunde betrachten, doch ehe er sie daran hindern konnte, umschloss sie mit ihrem Mund seine Fingerspitze und liebkoste mit der Zunge seinen Finger. Mit geschlossenen Augen saugte sie das Blut aus der Wunde.

Dann hob sie den Kopf und fragte lächelnd: »Hast du mir verziehen?«

Als Catherine sah, dass er noch immer das Stilett anstarrte, erklärte sie: »Wir leben in gefährlichen Zeiten, Schatz. Eine Lady muss sich schützen.«

»Vor wem?«

»Vor Bonapartes Geheimagenten, natürlich. Der Kaiser macht Jagd auf uns.«

»Uns?«, fragte Hawkwood.

»Auf im Exil lebende Franzosen, die Bonaparte stürzen wollen. Allein in diesem Jahr hat der Kaiser zweimal Agenten geschickt, um den Comte d’Artois zu töten. Jeder, der die Bourbonen unterstützt, ist in Lebensgefahr. Wir müssen ständig auf der Hut sein, um uns selbst verteidigen zu können. Dieses Recht kannst du mir doch nicht absprechen, oder?«

Hawkwood wollte gerade vorschlagen, dass sie ihre Ehre besser mit ein paar Pistolen verteidigen könne, doch er schwieg, als sie sich vorbeugte und das Stilett vom Laken nahm. Fasziniert sah er zu, wie sie die Waffe an ihre Lippen hielt und die Klinge küsste, eine Geste vollendeter Erotik, wie das Gleiten ihrer Lippen über seine Fingerknöchel. Er sah, dass sich ihre Brustwarzen aufrichteten, und einen flüchtigen Augenblick lang schienen Catherine und der blitzende Stahl eins zu sein, vereint wie Liebende. Er spürte, wie ihn dieser Anblick erregte.

»Wärst du nicht zu meiner Rettung herbeigeeilt«, sagte sie mit funkelnden Augen. »Ich hätte diesem Schwein Rutherford das Stilett ohne zu zögern in den Leib gerammt.«

Dann legte sie das Stilett auf ihren Nachttisch, drehte sich zu ihm um und säuselte: »Genug davon! Was musst nur du von mir denken, wenn ich solche Sachen sage?« Über ihn gebeugt, fügte sie mit einem verführerischen Lächeln hinzu: »Wo wir uns doch auf viel angenehmere Art die Zeit vertreiben können!«


Es war später Vormittag, als Hawkwood zum Blackbird kam, dem Wirtshaus am unteren Ende der Water Lane, einer der vielen verschlungenen Gassen, die von der Südseite der Fleet Street zum Fluss führte. Versteckt in einem Labyrinth von Höfen und Durchgängen, weniger als einen Steinwurf vom Kings Bench Walk und dem Inner Tempel entfernt, war es unvermeidlich, dass zu den Stammgästen des Wirtshauses hauptsächlich Vertreter der Jurisprudenz gehörten. Die Nähe zur Temple Church und St. Dunstan’s lockte auch regelmäßig geistliche Würdenträger an, wie auch Schriftsteller, Schauspieler und Politiker, die gern durch die niedrige Tür auf der Suche nach einem späten Abendessen und einem entspannenden Drink traten.

Für Hawkwood war das Blackbird allerdings mehr als nur ein Gasthaus. Hier war er zu Hause. Er bewohnte zwei Zimmer unter dem schrägen Dach, die ihm Ruhe und Zuflucht boten, wenn er sich von dem hektischen Treiben auf den Straßen, einem wesentlichen Bestandteil seines Lebens, zurückzog.

Mehrere Nischen in der Schankstube waren besetzt. Der eine oder andere Stammgast blickte auf und nickte Hawkwood zu. An den Tischen wurde gegessen, getrunken, geredet, Schach und Whist gespielt, während andere Gäste das Alleinsein vorzogen, Kaffee tranken, Pfeife rauchten und die Morgenzeitung lasen.

»Na, so was. Sind Sie’s tatsächlich, Officer Hawkwood? Und wahrscheinlich wollen Sie frühstücken?«, sagte eine Frau mit melodischer Stimme hinter seinem Rücken.

Hawkwood drehte sich um und begrüßte sie lächelnd: »Guten Morgen, Maddie.«

Maddie Teague, groß und schlank, das Gesicht von kastanienbraunem Haar eingerahmt, war sich ihrer Schönheit bewusst, ohne dabei eitel zu sein. Vor allem ihre smaragdgrünen Augen hatten so manchen Mann in ihren Bann gezogen. Viele Gäste kamen allein wegen der bemerkenswert schönen Wirtin und nicht nur wegen der guten Küche in das gemütlich eingerichtete Gasthaus. Maddie Teague führte ihre Wirtschaft mit einer Mischung aus Strenge, Tüchtigkeit und Anmut. Nur sie hatte das Blackbird zu einem der angesehensten Gasthäuser des Viertels gemacht.

Beim Anblick der dampfenden duftenden Speisen, die Maddie und ihre Mädchen auftrugen, fiel Hawkwood ein, dass er schon eine ganze Weile nichts mehr gegessen hatte. Ein spätes Frühstück käme sehr gelegen. Er bestellte Eier mit Schinken und Käse.

»Und Kaffee dazu, Maddie, wenn’s nicht zu viel Mühe macht.«

Maddie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Für Sie doch gern, Officer Hawkwood. Nehmen Sie schon mal Platz.« Dann musterte sie Hawkwood von Kopf bis Fuß und sagte: »Sie sehen mir ganz so aus, als könnten Sie eine anständige Mahlzeit vertragen. War’s eine anstrengende Nacht?«

Hawkwood lächelte gezwungen. »Wie heißt es so schön, Maddie? Das Böse schläft nie.«

»Ach, tatsächlich?«, meinte Maddie ironisch. »Und deswegen soll ich Ihr Hemd wohl zur Näherin bringen lassen, wie? Nachdem das Blut herausgewaschen wurde, versteht sich«, setzte sie hinzu, machte auf dem Absatz kehrt und trat in die Küche.

Wohlgesättigt trank Hawkwood eine Stunde später seine zweite Tasse Kaffee und nahm den Chronicle vom Nebentisch. Berichte über den Krieg waren auf die zweite Seite verbannt worden, während das Titelblatt von zwei Schlagzeilen beherrscht wurde. Ein Artikel war der Revolte französischer Gefangener auf einem Schiff gewidmet, das in Woolwich vor Anker lag. In dem anderen Artikel ging es um den bevorstehenden Boxkampf im Five Courts, ein um Klassen besserer Kampf als die Prügelei im Hof des Blind Fiddler. Einer der Kämpfer stammte aus der Schule von Bill Richmond, einem Exsklaven und späteren Faustkämpfer. Im Dezember hatte er gegen Tom Cribb verloren, doch es hieß, Richmond trainiere einen neuen Boxer, der über das Potenzial verfüge, Cribb schlagen zu können. Der Kampf im Five Courts solle ein Test für die Qualitäten seines Schützlings sein. Hawkwood überflog den Artikel nur, denn er konnte sich nicht richtig konzentrieren. Ungeachtet des Stimmengewirrs um ihn herum kreisten seine Gedanken immer wieder um die ziemlich außergewöhnlichen Ereignisse am frühen Morgen.

Er hatte nicht nur das Duell überlebt, sondern die letzten drei Stunden mit einer der schönsten und verführerischsten Frauen verbracht, die er je kennen gelernt hatte. Wäre da nicht der bohrende Schmerz in seiner Wunde unterhalb der Rippen und das Brennen ihrer Kratzspuren auf seinen Schultern gewesen, hätte er fast geglaubt, sich die ganze Episode nur eingebildet zu haben.

Wieder kehrten seine Gedanken zu den Stunden zurück, nachdem sie ihr Verlangen gestillt hatten. Catherine de Varesne hatte mit gekreuzten Beinen, einen seidenen Morgenrock über den Schultern, auf dem Bett gesessen und ihm ihre Lebensgeschichte erzählt. »Ich war sechs, als mein Vater unter der Guillotine starb.«

Der Marquis de Varesne hatte geahnt, welches Schicksal ihn erwartete, und seiner Frau und seiner Tochter die Flucht aus Frankreich ermöglicht. Der Marquis war zunächst in der Absicht zurückgeblieben, keinen Verdacht zu wecken, und wollte später das Land verlassen. Das Komitee für Öffentliche Sicherheit hatte seinen Plan jedoch vereitelt und den Marquis verhaften und hinrichten lassen.

»Wir wurden über die Pyrenäen nach Spanien und dann nach Portugal zur Familie meiner Mutter gebracht«, hatte Catherine, die Fäuste geballt und mit Tränen in den Augen, erzählt. »Meine Mutter hat den Tod meines Vaters nie überwunden und ist ein Jahr später gestorben. Mir wurde gesagt, sie sei an gebrochenem Herzen gestorben. Was ich mir gut vorstellen kann, denn sie liebte meinen Vater über alles. Er war ein gütiger, sanfter Mann, der sein Land liebte. Ich bin zusammen mit meinen Cousins bei meiner Tante aufgewachsen. Eine englische Gouvernante hat sich um uns gekümmert, so habe ich Englisch gelernt. Ich hatte eine glückliche Kindheit«, hatte Catherine hinzugefügt, ehe die Erinnerung wie ein Schatten der Trauer über ihr Gesicht glitt. »Doch nicht einmal dort waren wir in Sicherheit.«

Weil Bonaparte auch die Pyrenäenhalbinsel besetzte, war die Familie wieder auseinander gerissen worden. Hawkwood erinnerte sich, dass beim ersten Donner französischer Kanonen das portugiesische Königspaar mit seiner aristokratischen Entourage nach Brasilien geflohen war. Dies hatte eine Reihe von Ereignissen ausgelöst, die schließlich zu Englands Beteiligung am Krieg in Spanien führten.

Trotzdem sei Catherine in England geblieben und lebe nun in ständiger Lebensgefahr. Warum?

Mit einem wehmütigen Seufzer hatte sie ihm erklärt: »Hier in England bin ich in der Nähe Frankreichs und bei Freunden, die meine Gefühle teilen und nicht ruhen werden, bis Napoleon besiegt ist und wir wieder in unser Heimatland zurückkehren können.«

Ihr Blick war zu dem Stilett auf dem Nachttisch gewandert. Ihr Vater habe es ihr vor der Flucht aus Frankreich gegeben und sie ermahnt, es ständig bei sich zu tragen. Tagsüber verborgen unter ihrem Kleid und nachts unter ihrem Kopfkissen. Denn die Gegner Napoleons seien nirgends in Sicherheit, und der Ärmelkanal biete keinen Schutz vor den Geheimagenten des Kaisers, deren einzige Aufgabe es sei, die Dynastie der Bourbonen und deren Anhänger zu ermorden.

»Meinen Vater haben sie getötet«, hatte Catherine Hawkwood erzählt. »Mich töten sie nicht!«

Das Schlagen der Wanduhr riss Hawkwood aus seinen Träumen und erinnerte ihn daran, dass seit seinem Treffen mit Jago inzwischen anderthalb Tage vergangen waren. Er hatte gehofft, von dem Exsergeanten irgendeinen Hinweis zu bekommen, der zur Identifizierung der Straßenräuber führen könnte. Doch bisher hatte sich Nathaniel nicht gemeldet. Aus Erfahrung wusste Hawkwood, dass Richter Read kein sehr geduldiger Mann war und bald einen Bericht von ihm über den Stand der Ermittlungen erwartete. Und es war nicht ratsam, den Obersten Richter zu enttäuschen.

Fairerweise muss ich jedoch einräumen, dachte Hawkwood, dass es wegen der teilweise nicht unangenehmen Umstände ziemlich schwierig für Jago gewesen sein muss, mich ausfindig zu machen. Jetzt muss ich Kontakt mit ihm aufnehmen. Zwar habe ich keine Lust, mich dort im Elendsviertel erneut Gefahren auszusetzen, aber mir bleibt nichts anderes übrig. Deshalb muss ich vorher noch einmal ein Wörtchen mit Billy Mipps, dem Blinden, reden.

Er schob seine leere Kaffeetasse beiseite und fragte sich, wann er Catherine de Varesne wiedersehen würde. Dann muss ich gut in Form sein, dachte er und musste lächeln, als er an ihre verlockenden Augen, ihre samtene Haut und ihren verführerischen Körper dachte.

Ein Blick auf die Wanduhr zeigte ihm, wie schnell die Stunden verstrichen waren. Der halbe Tag war schon vorbei. Es wird höchste Zeit, dass ich mit dem Blinden Billy Kontakt aufnehme, dachte er, legte ein paar Münzen für sein spätes Frühstück auf den Tisch und verließ das Gasthaus.

Als er eine Berührung an seinem Ärmel spürte, war sein erster Gedanke: Pech für den Jungen, dass er sich einen Bow Street Runner als Opfer ausgesucht hat. Blitzschnell packte er das schmale Handgelenk.

»Hab ich dich, du Bengel!«

Doch statt eines Protestgeschreis und Unschuldsbeteuerungen hörte er nur ein atemloses: »Lassen Sie mich los, Hawkey! Ich bin’s, Davey!«

Hawkwood blickte hinunter. Ein dreckverschmiertes Gesicht auf einem spindeldürren Körper sah zu ihm hoch. Unter einer schmutzigen Wollmütze schauten rötliche Haarsträhnen hervor.

Hawkwood ließ den Jungen los. »O Mann, Davey! Du solltest dich nicht so an mich ranschleichen … Und nenn mich nicht Hawkey. Wie oft habe ich dir das schon erklärt?«

»Ich habe mich nicht angeschlichen«, sagte der Junge schmollend. »Und hätte ich’s getan, hätten Sie’s nie gemerkt! Niemals nie!« Dann grinste er breit, entblößte seine Zahnlücken und fügte hinzu: »Mr. ’Awkwood.«

Hawkwood ließ sich von diesem entwaffnenden Grinsen anstecken. Er hätte es tatsächlich nicht gemerkt, wenn Davey es darauf angelegt hätte, ihn zu bestehlen. Der kleine Kerl wäre mit der Beute längst auf und davon.

Diebereien waren jedoch nicht Daveys einzige Einkommensquelle.

Wie viele der heimatlosen Kinder watete er bei Ebbe durch den stinkenden schwarzen Schlamm der Themse und sammelte alles Mögliche, das ans Ufer geschwemmt oder von einem Schiff, einem Boot oder einem Lastkahn ins Wasser gefallen war. Dinge, die die Streuner verkaufen konnten. Einzeln oder in Banden trieben sie sich wie Ratten im Dunkeln herum.

Davey hatte aber noch andere Talente. Er sperrte Augen und Ohren auf und war einer von Hawkwoods besten Informanten. Trotz der Bemühungen der Wachmann-Patrouillen und der in Wapping stationierten Fluss-Polizei blühte das Verbrechen an der Themse. Deshalb waren die Behörden auf jede mögliche Hilfe angewiesen.

Davey und seine Kumpane waren gewiss keine Engel, aber im Vergleich zu anderen Kriminellen nur ganz kleine Fische. Hawkwood und seine Kollegen drückten bei belanglosen Diebereien gern die Augen zu, wenn ihnen dadurch die großen Fische ins Netz gingen. Wie Mitglieder organisierter Banden von Dieben und Händlern, die im Auftrag Schiffsladungen stahlen oder Lagerhäuser entlang des Flussufers ausraubten.

»Na, was gibt’s, Davey? Hast du was für mich?«

Der Junge blickte sich vorsichtig um, so als fürchtete er, belauscht zu werden. Von seiner vorherigen Keckheit war nichts übrig geblieben, als er flüsterte: »Wir haben einen Toten gefunden, Mr. ’Awkwood.«

Der erste unbarmherzige Gedanke, der Hawkwood durch den Kopf schoss, war: Na, wenn der Junge heute Morgen nur einen Toten gesichtet hat, dann hat er wohl nicht richtig hingesehen.

Die Straßen der Hauptstadt waren zwar nicht mit Leichen übersät, aber Tote waren überall zu finden. Das Alter, Krankheiten und Gewalttaten forderten unter den Armen und Obdachlosen ihren Preis. In den dunklen Gassen der Elendsviertel war es nicht ungewöhnlich, dass täglich Leichen entdeckt wurden. Deshalb wunderte es Hawkwood, dass der Gassenjunge es für nötig hielt, ihm einen Toten zu melden. Denn er war ja an derartige Anblicke gewöhnt. Er wollte gerade etwas sagen, als ihn der Ausdruck in den Augen des Jungen daran hinderte.

»Aber, Mr. ’Awkwood, das ist kein gewöhnlicher Steifer. Der ist anders. Er ist einer von euch. Er ist ein Runner!«

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