16

Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Nathaniel«, sagte Hawkwood grinsend, als er merkte, wie unbehaglich sich der Exsergeant fühlte. »Solange ich bei dir bin, wird dir niemand etwas tun.«

»Wenn Sie das sagen«, entgegnete Nathaniel Jago skeptisch.

Ich an seiner Stelle wäre auch nervös, dachte Hawkwood amüsiert. Schließlich ist es für einen Bandenchef höchst ungewöhnlich, sich um zwei Uhr früh in den Amtszimmern des Obersten Richters in der Bow Street aufzuhalten.

Völlig verschlafen im Nachthemd mit Zipfelmütze hatte Ezra Twigg den Männern die Tür geöffnet und sie wortlos hereingelassen. Hawkwoods rußgeschwärzte Kleidung und sein übel zugerichtetes Gesicht waren ihm trotzdem nicht entgangen.

»Ich muss unbedingt mit dem Richter reden, Ezra«, sagte Hawkwood. »Ist er noch auf?«

»Natürlich ist er noch auf«, murrte der Sekretär. »Und auch angekleidet. Dieser Mann scheint keinen Schlaf zu brauchen. Nicht wie unsereins«, giftete Ezra.

Dann tappte Ezra Twigg Verwünschungen murmelnd davon. Hawkwood stieg, von Jago gefolgt, die Treppe hoch zum Amtszimmer des Richters.

James Read saß noch an seinem Schreibtisch und zeigte sich über den unerwarteten Besuch zu so später Stunde keineswegs überrascht. Er stand auf und kam seinen Besuchern entgegen.

»Guten Morgen, Hawkwood«, sagte der Oberste Richter und musterte die beiden, ehe er hinzufügte: »Und Sie sind der berühmt-berüchtigte Sergeant Jago, nehme ich an?«

Jago wart Hawkwood einen erschrockenen Blick zu.

»Na, na, Sergeant«, beruhigte ihn James Read. »Keine Angst. Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Ihr Ruf eilt Ihnen voraus.« Dann musterte der Oberste Richter Hawkwood von Kopf bis Fuß. »Darf ich fragen, warum Sie aussehen, als seien Sie unter die Hufe eines Schwadrons Dragonerpferde geraten?«

»Ich hatte eine Auseinandersetzung mit einem der Straßenräuber.«

»Ach, tatsächlich?«, freute sich James Read. »Dann haben Sie ihn also gefasst? Fantastisch.«

»Ja, schon …« Hawkwood stockte. »Aber er ist tot. Nathaniel musste ihn töten.«

Der Richter machte ein langes Gesicht. »Das ist sehr bedauerlich.« Er sah Jago an und fügte hinzu: »Ich nehme an, das war nicht zu vermeiden, oder?«

»Er hätte mich umgebracht, wenn Jago nicht dazwischengegangen wäre«, warf Hawkwood ein. »Er hat mir das Leben gerettet.«

»In dem Fall, Sergeant, sind wir Ihnen zu großem Dank verpflichtet.« Read ging zu seinem Schreibtisch zurück. »Also, wer war dieser Mörder?«

»Er hieß Scully und hat früher bei der Marine gedient. Das erklärt auch, warum er ein schlechter Reiter war. Scully hat Ramillies, unseren Agenten, erschossen. Er und sein Komplize haben im Auftrag William Lees gearbeitet.« Hawkwood legte eine bedeutungsvolle Pause ein, ehe er hinzufügte: »Mit diesem Schuft habe ich ebenfalls gesprochen.«

Es war beinahe grotesk: Der Oberste Richter blieb plötzlich wie erstarrt stehen. »Sie sind Lee begegnet? Er ist in England?«

Dann stutzte Read plötzlich, er sah zuerst Jago an, dann warf er Hawkwood einen warnenden Blick zu.

»Sergeant Jago ist über alles informiert, Sir. Ich habe ihm die ganze Geschichte erzählt.«

Der Oberste Richter sagte irritiert: »Ach, tatsächlich? Das war ziemlich vermessen von Ihnen.«

»Nathaniel hat mir das Leben gerettet.«

»Ja, das sagten Sie bereits«, entgegnete James Read ungehalten.

»Ich dachte, er müsse wissen, wo er da hineingeraten ist.«

»Ganz recht«, stimmte der Richter widerwillig zu und schwieg dann eine Weile, ehe er weitersprach. »Ihnen dürfte nicht entgangen sein, ähm … Sergeant, dass ich über Ihre … wie soll ich mich ausdrücken … gegenwärtigen Aktivitäten bestens informiert bin. Ich weiß über Ihre Vorgeschichte und Ihre freundschaftliche Beziehung zu Officer Hawkwood Bescheid. Aus diesem Grund und wegen Ihrer lobenswerten Tat heute Nacht bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als zu akzeptieren, dass Officer Hawkwood Sie ins Vertrauen gezogen hat. Da es sich dabei um Informationen handelt, die strengster Geheimhaltung unterliegen, bitte ich um Ihr Ehrenwort, dass nichts von dem, was hier gesprochen wird, nach draußen dringt.«

Jago blickte zuerst zu Hawkwood, dann zu dem Richter und nahm Haltung an. »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, Sir«, verkündete er feierlich.

Read nahm das Versprechen mit einem knappen Nicken zur Kenntnis. »Sehr gut«, sagte er und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. »So, und nun erzählen Sie mir von William Lee. Sind Sie sich seiner Identität absolut sicher?«

»Ja«, bestätigte Hawkwood. »Und ich bin ihm bereits einmal begegnet, obwohl ich damals nicht wusste, wer er war. Er gab sich als Gast von Lord Mandrake aus, um sich ein Bild von mir machen zu können, dieser aufgeblasene Bastard. Es war nicht Jago, der mich zu diesem Treffpunkt bestellt hat, sondern Scully hat mir im Auftrag von Lee durch Jenny die Nachricht zukommen lassen. Lee sagte, ich stelle eine Gefahr dar, und sie dürften nun kein Risiko mehr eingehen.« Hawkwood zögerte kurz, ehe er hinzufügte: »Scully hat auch Warlock ermordet.«

Ein Schatten glitt über das Gesicht des Obersten Richters. Schweigend folgte er dem minutiösen Bericht Hawkwoods. Dann stieß James Read einen Seufzer aus. »Mir scheint, wir stehen wirklich tief in Ihrer Schuld, Sergeant. Außerdem haben Sie uns die Kosten für eine Hinrichtung durch Hängen erspart.« Dann wandte er sich an Hawkwood: »Und Sie kennen noch immer nicht die Identität seines Komplizen?«

»Noch nicht, aber die finde ich noch heraus.«

James Read nickte. »Hoffentlich so bald wie möglich. Und was Lee betrifft, könnte es sein, dass er in den Flammen umgekommen ist?«

Hawkwood schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich.«

»Schade. Das hätte uns eine Menge Ärger erspart.« Jetzt wandte sich James Read an seinen Sekretär, der sich inzwischen schnell angezogen hatte und ins Büro des Richters gekommen war. »Mr.Twigg, sobald wir hier fertig sind, holen Sie bitte Officer Lightfoot. Die Bank von England hat ihn mittlerweile von seinem Auftrag entbunden. Er soll sofort nach Norden zum Landsitz von Lord Mandrake aufbrechen und Seine Lordschaft – wenn nötig, selbst unter Anwendung von Gewalt – festnehmen und hierher ins Amt bringen.«

»Sehr wohl, Sir«, sagte Ezra Twigg mit ausdrucksloser Miene. Im Laufe seiner langen Dienstzeit als Sekretär vieler Oberster Richter hatte er sich an solche Überraschungen gewöhnt. So zählte die Festnahme eines Peers für ihn ebenso zum Alltag wie die eines Taschendiebs oder der Schutz eines Goldtransports der Bank von England.

»Und was ist aus dem Uhrmacher geworden?«, fragte Read. »Lebt Master Woodburn noch, oder wurde auch er umgebracht?«

»Er lebt. Anscheinend wird er noch gebraucht. Aber Lee hat nicht verraten, wozu. Ich vermute, er soll irgendetwas an diesem Unterseeboot reparieren. Dabei muss es sich um ein sehr kompliziertes Gerät handeln, wofür die Fähigkeiten eines Uhrmachermeisters nötig sind.«

»Also bleibt uns immerhin die Hoffnung, wenigstens Woodburn retten zu können«, sagte James Read nachdenklich. »Immerhin etwas.«

Hawkwood zögerte: »Da gibt es noch etwas, das mich beunruhigt.«

James Read nickte. »Sie fragen sich, wie William Lee an all diese Informationen gekommen ist. Ich muss gestehen, dass auch mir diese Frage große Sorge bereitet.«

»Er muss Freunde an höchster Stelle haben.«

»Und worauf gründet sich Ihre Annahme?«

»Das ist keine Annahme, sondern eine Tatsache. Lee hat es mir bestätigt, als ich ihn fragte, woher er wisse, dass ich Captain gewesen sei.«

»Das hat er bestimmt von Lord Mandrake oder von diesem Scully erfahren«, sagte James Read.

»Vielleicht«, wandte Hawkwood ein. »Aber da bin ich mir nicht so sicher. Es war die Art, wie er das gesagt hat: ›Es gibt da gewisse höher gestellte Freunde.‹ Er hat mit seinen Beziehungen geprahlt und damit bestimmt weder Lord Mandrake noch diesen Scully gemeint. Wie hat Mandrake erfahren, dass wir ihn überprüfen wollten? Zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch nicht einmal vermutet, dass er ein Landesverräter ist, aber Mandrake wusste, dass wir gegen ihn ermitteln. Daher seine überstürzte Abreise. Auf welche Weise hat er davon Wind bekommen?«

»Und da ist noch etwas …« Hawkwood schwieg kurz. »Als ich Lee sagte, dass wir wissen, was sie mit der Thetis vorhaben, schien ihn das zu amüsieren. Er antwortete mir, wir glaubten nur, es zu wissen. Woher weiß er, was wir vermuten? Vielleicht hat ihm das jemand gesagt.«

James Read schloss die Augen und massierte sich den Nasenrücken. Plötzlich wirkte er erschöpft. Dann machte er die Augen wieder auf und sprach leise und zögerlich: »Ist Ihnen klar, was Sie da andeuten?«

»Ich könnte mich auch irren«, lenkte Hawkwood ein.

»Sie könnten aber auch Recht haben«, sagte der Oberste Richter mit finsterer Miene.

»Da gibt es noch etwas«, sagte Hawkwood.

»Was?«, fragte der Oberste Richter.

»Christopher Marlowe.«

»Wer, verdammt noch mal, ist Christoper Marlowe?«, mischte sich jetzt Jago in das Gespräch ein. »Etwa noch ein Kumpel von Scully?«

»Nicht ist, sondern war, Sergeant«, erklärte James Read geduldig. »Er war ein Dichter und schrieb Theaterstücke und starb vor über zweihundert Jahren. Entschuldigen Sie, Hawkwood, aber ich kann den Zusammenhang nicht erkennen.«

»Da sind Sie nicht der Einzige«, sagte Jago. »Was hat dieser Schreiberling damit zu tun?«

Im Gegensatz zu William Lee hatte sich der Oberste Richter nicht überrascht gezeigt, dass Hawkwood mit den Werken des Dramatikers vertraut war. Zu den vielfältigen Pflichten eines Bow Street Runners gehörte auch der Personenschutz.

Und einer von Hawkwoods berühmt-berüchtigten Schützlingen war der Schauspieler Edmund Kean gewesen. Dieser Edmund Kean, ein kleiner, unattraktiver, mürrischer Mann, war im Jahr davor im Theater von Covent Garden bei Vorstellungen von Christopher Marlowes Werken aufgetreten. Hawkwood hatte während seines Dienstes die meiste Zeit hinter den Kulissen verbracht und miterlebt, wie sich dieser im Leben so ungehobelte und arrogante Mann auf der Bühne in einen brillanten Schauspieler verwandelte. Er riss seine Zuschauer mit unkonventionellen Darstellungen zu Begeisterungsstürmen hin. Seitdem hatte Hawkwood größten Respekt vor der Schauspielkunst und eine Vorliebe für Christoper Marlowes Werke.

»Lee hat aus dem Dr. Faustus zitiert«, sagte Hawkwood.

Als Nathaniel Jago ihn verständnislos anstarrte, kam der Oberste Richter dem Sergeant zu Hilfe: »Doktor Faustus ist die Titelrolle in einem gleichnamigen Theaterstück von Christopher Marlowe. Er verspricht dem Teufel seine Seele und bekommt dafür Macht und Reichtum.« Dann verzog James Read das Gesicht. »In der Quintessenz des Dramas hat Lee offensichtlich eine Ähnlichkeit mit seinen aktuellen Verbündeten entdeckt.«

»Lee hat mich auch daran erinnert, wo Marlowe gestorben ist«, sagte Hawkwood.

Der Oberste Richter wandte ihm langsam das Gesicht zu.

»Er hat gesagt: Selbst Marlowes Tod habe Deptford keine größere Bedeutung verliehen. Und dass die Geschichte manchmal sonderbare Wege gehe.«

Als James Read die Bedeutung dieser Worte begriff, stöhnte er: »Oh, mein Gott!«

»Würde mir vielleicht jemand verraten, worum es hier geht, verdammt noch mal?«, fragte Jago empört.

»Das bedeutet, Sergeant«, sagte James Read und schüttelte den Kopf, »dass wir unseren amerikanischen Freund ganz gewaltig unterschätzt haben. Mein Gott, Hawkwood, hoffentlich haben Sie sich geirrt. Wenn nicht, ist unser William Lee nicht nur ein arroganter Schurke, sondern er besitzt auch noch einen ziemlich makabren Sinn für Humor.«

Jago blickte ratlos von einem zum anderen.

»Das Schiff, Nathaniel«, half ihm Hawkwood auf die Sprünge. »Er meint das Schiff.«

»Ja, das Schiff, Sergeant«, fuhr James Read fort. »Wir dachten, Lees Aufgabe sei, die HMS Thetis zu zerstören. Sie liegt momentan in der Werft Deptford vor Anker. Wir sind bisher davon ausgegangen, dass der Angriff auf offener See oder zumindest erst in der Themsemündung stattfinden würde. Wir haben uns geirrt. Lees Anwesenheit in London und seine Andeutungen Hawkwood gegenüber, belegen das. Er wird nicht warten, bis die Thetis ausläuft, sondern will hier, mitten in London, das Schiff zerstören. Der Feind ist unter uns, Sergeant!«

Jetzt begriff Jago. »Oh, verdammt!«, fluchte er leise.

»Laut Admiral Dalryde läuft die Thetis am siebenundzwanzigsten aus«, ergänzte Hawkwood.

James Read nickte. »Das ist heute, Hawkwood. Und mit dem Prinzregenten an Bord!«

Hawkwood wollte widersprechen und sagen, das sei unmöglich. Doch je mehr er darüber nachdachte, umso mehr Sinn bekam das Ganze. Lees großspuriges Auftreten, seine spöttische Antwort, als Hawkwood ihm gesagt hatte, sie wüssten, was er mit der Thetis vorhabe, und seine letzte abschließende Bemerkung ließen nur eine Schlussfolgerung zu: Sie waren dem Amerikaner nicht einen Schritt voraus, sondern hinkten zwei Schritte hinterher.

»Und es bedeutet, das Unterseeboot ist hier, mitten in London.«

Schweigen senkte sich über den Raum.

»Wo, verdammt noch mal, steckt dieses verfluchte Ding?«

Der Oberste Richter stützte die Hände auf den Schreibtisch und stand auf. »Das, Hawkwood, müssen wir so schnell wie möglich herausfinden.«

»Wo sollen wir denn mit der Suche beginnen? Dieses Teufelsding kann doch überall sein.«

»Wir müssen genau überlegen und logisch vorgehen.«

»Logisch?«

»Ja, das Suchgebiet eingrenzen«, erklärte James Read. »Mr. Twigg, wir brauchen Stadtpläne. Holen Sie bitte Master Horwoods Pläne von der unmittelbaren Umgebung der Themse. Und zwar schnell!«

»Der ist doch verrückt, wenn er glaubt, damit durchzukommen«, sagte Jago, als der Sekretär aus dem Büro eilte.

»Er ist nicht verrückt, Sergeant«, widersprach James Read. »Stellen Sie sich die umgekehrte Situation vor und einer unserer Kapitäne hätte es geschafft, mit einem Schiff voller Sprengstoff die Seine hochzusegeln. Für uns wäre der Mann nicht verrückt, sondern ein Held!«

Ich fände das nicht heldenhaft, sondern verdammt idiotisch, dachte Hawkwood. Es sei denn, er wäre erfolgreich.

Welche Konsequenzen wird es haben, sollte Lee seinen teuflischen Plan realisieren?, überlegte er weiter. Wenn es ihm gelingt, mit seiner französischen Geheimwaffe ein britisches Kriegsschiff, das keinen Steinwurf vom Regierungssitz entfernt liegt, in die Luft zu sprengen, wird auf den Straßen Panik ausbrechen. Und aus Angst vor einem ähnlichen Angriff wird kein Schiff mehr den Hafen verlassen. Wie soll England die Meere beherrschen, wenn das Land nicht einmal in der Lage ist, seine eigenen Häfen und Flüsse zu schützen? Die Auswirkungen auf den Handel wären katastrophal. Und wenn die Franzosen eine ganze Flotte dieser Unterseeboote bauen, was dann? Wie kann sich England gegen diese tödliche Bedrohung wehren? Wie können wir unsere im Ausland stationierten Armeen dagegen aufrüsten?

Napoleon hatte schon vor Jahren versucht, England zu besiegen, als er im Jahre 1806 eine Kontinentalsperre gegen das Land verhängte. In allen Häfen des Kontinents sollten die Einfuhren britischer Waren vereitelt werden. Darauf hatte England in Kopenhagen die Auslieferung der dänischen Flotte erzwungen und somit die Abriegelung der Ostsee verhindert. Nur solange England Herrscherin über die Meere blieb, würde Napoleons Plan fehlschlagen. Sollte es jedoch einem einzigen Unterseeboot gelingen, die gesamte britische Marine lahm zu legen, würde der Kaiser von Frankreich wieder aufatmen können. Das Gleichgewicht der militärischen Kräfte stand auf dem Spiel, und mit ihm die ganze Nation.

In diesem Moment betrat Ezra Twigg mit mehreren Stadtplänen unter dem Arm das Amtszimmer. Da auf dem Schreibtisch nicht genug Platz war, breitete er die Pläne auf dem Boden aus. Aus der Vogelperspektive bot sich so den Männern ein Blick auf die Themse und die angrenzenden Gebiete.

Hawkwood verzweifelte beim Anblick dieser riesigen Fläche: Fast achtzehn Kilometer Schifffahrtswege, ganz zu schweigen von den Nebenflüssen, Kanälen und Docks. Wie sollten sie da ein kleines, zwanzig Meter langes Unterseeboot ausfindig machen?

»Durch Eliminierung«, sagte James Read. »Zum Beispiel: Ein Versteck oberhalb der Londoner Docks ist unwahrscheinlich, sonst müsste das Unterseeboot eine zu große Entfernung zurücklegen und an zu vielen Schiffen vorbeinavigieren.«

»Ich an Lees Stelle«, sagte Hawkwood, »würde auch nicht von flussabwärts aus angreifen, weil es sinnvoller wäre, mit dem Strom zu schwimmen. Und nach der Zerstörung des Schiffs würde ich so schnell wie möglich das Weite suchen.«

Nachdenklich betrachtete der Oberste Richter das Mosaik auf dem Boden. »Da stimme ich Ihnen zu. Aber welcher Flussabschnitt bleibt uns dann? Vielleicht die Strecke zwischen Bermondsey und der Isle of Dogs? Das sind knapp fünf Kilometer. Wo könnte man da ein Unterseeboot verstecken?«

Hawkwood versuchte sich daran zu erinnern, was Colonel Congreve über die Fortbewegungsgeschwindigkeit eines Unterseeboots gesagt hatte. Wahrscheinlich würde Lee weder zu viel Energie noch Zeit vergeuden wollen, um das Boot in Stellung zu bringen. Und fünf Kilometer waren eine weite Strecke. Aber der Colonel hatte auch erwähnt, nicht die Geschwindigkeit, sondern die Unsichtbarkeit sei relevant.

Den Blick noch immer auf die Stadtpläne geheftet, überlegte Hawkwood laut: »An dem Boot musste etwas repariert werden. Deshalb haben sie den Uhrmacher entführt. Im Freien kann diese Reparatur nicht durchgeführt werden, das würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Also müssen wir nach einer Art Unterstand suchen, einem Bootshaus vielleicht oder einem Lagerhaus direkt an der Themse. Lee arbeitet nicht allein, das wissen wir. Er hat Kontakte. Welcher dieser Männer hat am ehesten Zugang zu einem Lagerhaus? Jemand, der Frachten transportiert? Ein Großhändler? Ein Kaufmann?«

Hawkwood sah den Obersten Richter eindringlich an.

James Read schlug mit der Hand auf den Schreibtisch.

»Natürlich! Wir hatten es die ganze Zeit vor Augen!«

»Was?«, fragte Jago.

Der Oberste Richter packte seinen Sekretär am Arm. »Holen Sie mir die Mandrake-Akte, Mr.Twigg. Darin ist vermerkt, welche Liegenschaften Seine Lordschaft direkt an der Themse besitzt oder gemietet hat.«

»Sehr wohl, Sir.«

Jago fing Hawkwoods Blick auf und grinste: »Jetzt verstehe ich, warum Sie zum Offizier befördert wurden.«

Ezra Twigg eilte wieder aus dem Amtszimmer. Keine zwei Minuten später kam er mit einem verschnürten Bündel Dokumente zurück. Sogar Hawkwood, der das phänomenale Gedächtnis des kleinen Mannes kannte, war beeindruckt. Der Oberste Richter hingegen betrachtete die Effizienz seines Sekretärs als Selbstverständlichkeit.

»Sehr gut, Mr.Twigg«, sagte er nur. »Lesen Sie mir bitte das Verzeichnis der Liegenschaften vor.«

Während der Sekretär die Namen herunterleierte, schwand Hawkwoods Hoffnung. Alle von Lord Mandrakes Handelsfirmen genutzten Lagerhäuser lagen im neuen Hafenviertel.

London war der größte Hafen der Welt. Frachtschiffe konnten jedoch wegen ihrer Größe nur bis zur London Bridge segeln, sodass das Entladen auf die Nord- und Südufer unterhalb der Brücke beschränkt war. Daher breiteten sich die Lagerhäuser mit zunehmendem Handelsvolumen flussabwärts aus. Je größer die Schiffe wurden, umso stärker wurde der Andrang im Hafengebiet, und es herrschten teilweise chaotische Verhältnisse. Schiffe mussten manchmal wochenlang warten, bis ihre Fracht überprüft worden war und die entsprechenden Zollgebühren bezahlt werden konnten. Hinzu kam das Problem mit der Flusspiraterie und Schiffsplünderung.

Private Handelshäuser begannen, erste Handelsdocks zu bauen, um Wartezeiten zu verkürzen und ihre wertvollen Frachten zu schützen.

Bei Flut konnten die Schiffe jetzt flussaufwärts segeln und in den Hafenbecken ankern. Dort wurde die Fracht entweder in Lagerhäuser oder von kleineren, wendigeren Booten direkt zu anderen Liegeplätzen gebracht.

Mandrakes Lagerhäuser lagen verstreut zwischen dem London Dock in Wapping, den West India Docks, nördlich der Isle of Dogs und den Grand Surrey Docks in Rotherhithe.

»Sieht aus, als hätten wir uns geirrt«, sagte Hawkwood enttäuscht. »Lee würde auf keinen Fall das Risiko eingehen, sein Unterseeboot in einem dieser Docks zu verstecken. Da herrscht zu viel Verkehr.«

James Read nickte bedrückt. »Ich fürchte, Sie haben Recht. Nicht einmal unser Mr. Lee wäre derart dreist. Obwohl wir die Gebäude trotzdem durchsuchen lassen sollten. Ich veranlasse die Flusspolizei, diskret Nachforschungen anzustellen.«

Noch immer ziemlich niedergeschlagen, sagte der Richter zu seinem Sekretär: »Danke, Mr.Twigg. Ihre Akten waren wie immer äußerst aufschlussreich. Aber mir scheint, wir müssen woanders nach Hinweisen suchen.«

Es irritierte ihn, als Ezra Twigg nicht reagierte, sondern fasziniert auf ein Dokument starrte. Sobald der Sekretär merkte, dass er beobachtet wurde, blickte er auf und sagte: »Verzeihen Sie, Sir.«

»Mr. Twigg, was ist mit Ihnen?«, fragte James Read besorgt.

Der kleine Mann blinzelte wie eine Eule. »Ähm … ich glaube, ich habe etwas entdeckt, Sir.«

»Und was könnte das sein, Mr. Twigg?«

Der Sekretär schwenkte triumphierend das Dokument in der Luft. »Da ist noch ein Lagerhaus, Sir.«

Der Oberste Richter packte Twigg derart hart am Arm, dass sein Sekretär zusammenzuckte.

»Es ist allein meine Schuld, Sir. Als ich eben noch einmal das Verzeichnis der Liegenschaften Seiner Lordschaft durchging, ist mir aufgefallen, dass der Holzplatz nicht aufgeführt ist.«

»Welcher Holzplatz?«

»Nun, Sir, als Lord Mandrake seine Geschäfte in die neuen Docks verlagerte, hat er andere Liegenschaften verkauft. Dazu gehörten …« Twigg las vom Dokument ab: »… Lagerhäuser am Griffin’s Kai, an der Battle Bridge, am Brewers Quay und am New Bear Quay. Und noch zwei Lagerhäuser am Phoenis Kai, in Wapping und an der Trinity Street in Rotherhithe. Alle verkauft, Sir, alles aufgeführt, bis auf eins. Seine Lordschaft hat auch Holz aus dem Osten importiert. Seine Gesellschaft hatte dafür ein separates Lagerhaus mit dazugehörigem Holzplatz. Ich kann keinen Eintrag für den Verkauf dieser Liegenschaft finden.«

»Und wo liegt dieses Lagerhaus, Mr.Twigg?«

Pause.

»In Limehouse, Sir.«

Einen Kilometer flussaufwärts von Deptford.

Der Oberste Richter las Hawkwoods Gedanken. »Nehmen Sie Sergeant Jago mit!«, befahl er.

»Wollen Sie nicht den Kapitän der Thetis warnen?«, erkundigte sich Hawkwood.

James Read dachte kurz nach. »Das könnte problematisch werden. Sollte Lee tatsächlich Freunde in höher gestellten Positionen haben, wäre Lee gewarnt, dass wir ihm auf die Schliche gekommen sind. Und wir wollen auch keine unnötige Panik auslösen. Außerdem glaubt Lee, Sie seien tot. Das könnte für uns von Vorteil sein. Nein, Gentlemen, solange wir nicht wissen, wer Freund oder Feind ist, sind wir auf uns allein gestellt. Das heißt, Hawkwood, Sie müssen Lee und sein Unterseeboot finden und ihn daran hindern, seinen teuflischen Plan auszuführen. Unter allen Umständen. Es gibt kein Pardon. Haben Sie mich verstanden, Hawkwood? Sie haben völlig freie Hand!«

»Na, denn mal los«, sagte Hawkwood. »Komm, Nathaniel. Es gibt Arbeit.« Er drehte sich noch einmal zu dem Obersten Richter um und fragte: »Wo können wir Sie kontaktieren?«

James Read überlegte kurz. »Ich fahre nach Deptford. Dort können Sie mich erreichen.«

»Werden Sie den Prinzregenten warnen?«

»Ich werde mit seinen Beratern sprechen und ihnen vorschlagen, Seine Königliche Hoheit möge seinen Besuch auf der Thetis bis zum nächsten Auslaufen verschieben. Und jetzt machen Sie sich auf den Weg.«

Nachdem Hawkwood und Jago das Amtszimmer verlassen hatten, sahen sich der Oberste Richter und sein Sekretär nachdenklich an.

»Ich fürchte, Mr. Twigg«, flüsterte James Read, »uns stehen schwere Zeiten bevor.«

Twigg nickte nur. Seine Augen hinter den dicken Brillengläsern funkelten. Die Jagd war eröffnet, da roch der kleine Mann Blut.

»Und das bedeutet«, fuhr James Read fort, »wir müssen alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen. Gehen Sie noch einmal in Ihr Archiv, und bringen Sie mir alle Unterlagen, die wir über Sir Charles Yorke, Admiral Bartholomew Dalryde, Generalinspekteur Thomas Blomefield und Colonel Congreve haben. Hier ist Verrat im Spiel, Mr. Twigg. Und Verrat ist eine Seuche, die ich auszurotten gedenke!«


William Lee neigte den Kopf über die Blechschüssel, tauchte beide Hände in das Wasser und besprühte sein Gesicht mehrmals. Dann fuhr er sich durch das kurz geschnittene Haar. Tropfen kullerten über seine Wangen und sein Kinn. Er griff nach dem Handtuch.

Im Spiegel musterte er sein Gesicht, sah die ihm vertrauten Linien, die grauen Schläfen, den Stoppelbart auf Wangen und Kinn. Während er seine Haut trockentupfte, schweifte sein Blick durch das Fenster zu dem breiten grauen Strom.

Unwillkürlich stiegen Erinnerungen an seine Kindheit in ihm auf. Er war auf der Farm seiner Familie an den Ufern eines anderen großen Flusses, dem Delaware, in der kleinen hübschen Stadt Fort Penn, nur einen Tagesritt von Wilmington entfernt, aufgewachsen. Dort hatte er zusammen mit seinen Freunden die Bäche, Buchten und Deiche erforscht – zu Fuß oder in einem Kanu aus Birkenrinde.

Bis zu jenem entsetzlichen Tag.

Früh am Morgen war ein Reiterschwadron der Rotröcke über die Farm hergefallen, hatte die Familie aus den Betten getrieben, ihnen kaum Zeit zum Ankleiden gelassen und dann seinen Vater Samuel und seinen ältesten Bruder Robert durch die eingeschlagene Tür nach draußen und zu der niedrigen Hofmauer gezerrt.

Ein Lieutenant hatte den Schuldspruch verlesen: Widerstand gegen die Krone, Unterstützung der Rebellenarmee durch Proviant und Unterkunft. Sofortige Bestrafung. Noch ehe die Familienangehörigen das wahre Ausmaß des Urteils hatten begreifen können, war der knappe Befehl des Lieutenants an das Schießkommando zu hören gewesen und nur einen Herzschlag später das Krachen der Musketen.

Die Rotröcke hatten die Leichen an der Mauer liegen lassen. In Lees Gedächtnis hatten sich zwei Geräusche für immer eingegraben: die Marschschritte der abziehenden Soldaten und die schrillen Klageschreie seiner Mutter.

Anfangs war Lee von einem verzehrenden Rachedurst beherrscht worden. Sein Hass auf die britische Krone hatte wie Feuer in seiner Brust gelodert und sein Verlangen nach Rache nie nachgelassen. Im Verlauf der Jahre, als er reifer wurde, war aus dieser glühenden Wut eine schwelende Glut geworden, und er hatte gelernt, den richtigen Augenblick abzuwarten. Nie hatte er einen Plan geschmiedet, wann und wie er den Schwur, seine Angehörigen zu rächen, in die Tat umsetzen würde. Es war nur ein stummes Versprechen, dass irgendjemand irgendwo dafür werde büßen müssen.

Und eines Tages war Robert Fulton, der Künstler, Erfinder, Ingenieur, Selbstdarsteller, Philosoph und Revolutionär, in sein Leben getreten. Erst von da an hatte, in der wechselseitigen Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Freiheit und angefeuert von Fultons Genialität, in ihm allmählich ein Plan Gestalt angenommen, wie er seinen Rachedurst befriedigen konnte.

Das entfernte Läuten einer Schiffsglocke riss William Lee aus seinen unangenehmen Erinnerungen. Er betrachtete seine Hände und dachte an das Zittern, das ihn erfasste, als er die Nachricht aus dem winzigen Zylinder am Bein der Brieftaube genommen hatte. Der Kaiser hatte ihm die Mitteilung überbringen lassen, dass die Zeit des Wartens vorbei sei.

Obwohl seit seiner Begegnung mit Napoleon Bonaparte mittlerweile vier Wochen vergangen waren, schien ihm, sie habe erst gestern stattgefunden.

An jenem frühen Morgen hingen Nebelschleier über der Seinemündung und hatten dem Ort ein tristes Aussehen verliehen. Eine seltsame Stille hatte auf ihm gelastet, nur vom schrillen Schreien der Wasservögel unterbrochen – perfekt für den Probelauf: heiß und schwül im Sommer, windgepeitscht und eisig im Winter, vom Festland durch schlammige Wassergräben und tückisches Sumpfland getrennt. Allein ein Gewirr behelfsmäßiger Pfade aus verrottenden Bohlen führte durch dieses Gebiet.

Das Zielobjekt, eine Barke, lag mitten in der Seinemündung, solide verankert. Schwer wie ein eben aus der Tiefe aufgetauchtes schuppiges Ungeheuer, dümpelte sie auf dem Wasser.

In einer schwarzen, unauffälligen Kutsche, begleitet von seiner Eskorte, war der Kaiser mit seinem dunkelhäutigen Mameluck-Leibwächter und dem Marineminister, Admiral Denis Decres, vorgefahren. Decres hatte dem Kaiser geraten, Fultons Erfindung, dem Unterseeboot, noch einmal eine Chance zu geben. Kaiser Napoleon interessierte sich nicht sonderlich für die Marine. Aber Decres war Kommandeur aller nautischen Operationen gegen Britannien. Und der Kaiser schätzte den Admiral als Ratgeber.

Das Sperrgebiet wurde zusätzlich von einer Abordnung der Kaiserlichen Garde unter dem Kommando des einäugigen Veterans aus Bonapartes Italien- und Ägyptenfeldzügen, Major Jean Daubert, bewacht.

Während der Kaiser mit seiner Entourage zu dem Beobachtungsposten in einer verfallenen Scheune in Ufernähe gegangen war, hatte Lee mit zwei Mann Besatzung das Unterseeboot dreihundert Meter flussaufwärts manövriert.

An der Seite des ungeduldigen Kaisers, der in einem langen grauen Militärmantel wartete, hatte Admiral Decres schließlich das Zeichen zum Abtauchen gegeben.

Kurz darauf hatte eine Explosion den Fluss aufgewühlt und die Barke war sofort gesunken. Wie ein Donnerschlag war der Knall über das Sumpfland gehallt und hatte Wasservögel im Umkreis von einem Kilometer aufgescheucht. Wrackteile trieben ans Ufer, und die zersplitterten Planken des Boots steckten im Schlamm. Der Kaiser hatte sich sehr beeindruckt gezeigt und Lee zu einem Spaziergang eingeladen. Es galt wichtige Fragen zu erörtern.

Dieser Spaziergang aber hatte erst nach der Entdeckung des Spions stattgefunden.

Ausgerechnet der einäugige Major Daubert hatte das im Sonnenlicht aufblitzende Fernrohr entdeckt und sofort den Verdacht geschöpft, dass ein Agent heimlich Zeuge dieser Operation geworden war.

Sofort hatte der Major mit seinen Leuten die Verfolgung der Gestalt aufgenommen, die hinter einer Sanddüne aufgetaucht und dann sofort geflohen war. Auch Napoleons Eskorte war losgeprescht, um dem Flüchtenden den Weg abzuschneiden. Es war vorauszusehen, dass die Grenadiere und die Reiter den Mann stellen würden. Ein Entkommen war unmöglich.

Erst als zwei Grenadiere, der erste von einer Pistolenkugel niedergestreckt, der zweite mit dem Schwert erschlagen, tot im Sand gefunden worden waren, kam der Major zu dem Schluss, dass es sich bei dem Flüchtenden weder um einen Bauern noch um einen Wilderer handelte und es klüger wäre, den Mann gefangen zu nehmen, damit er verhört werden konnte.

Doch ehe der Major seinen Männern einen entsprechenden Befehl erteilen konnte, war der mittlerweile im seichten Gewässer watende Flüchtende von einem Gewehrschuss getroffen worden, hatte es jedoch noch geschafft, bis zur Mitte des Flusses zu schwimmen. Der Major hatte seinen Männern gerade befohlen, nicht zu schießen, als der Mann im Wasser versank und nicht wieder auftauchte. Die Strömung musste die Leiche mit sich fortgerissen haben.

Das hatte der Major vermutet.

Neben dem toten Grenadier hatte man eine Pistole gefunden und sie William Lee gezeigt. Lee hatte sofort der Annahme des Majors widersprochen, bei dem Flüchtenden könne es sich um einen neugierigen Bauern gehandelt haben. Auch die Spekulation des Admirals, bei dem Mann habe es sich eventuell um einen Attentäter gehandelt, der von den im Exil lebenden Gegnern des Kaisers beauftragt worden war, erwies sich als haltlos.

William Lee hatte die Pistole sofort als englisches Fabrikat erkannt und auf den eingravierten Namen der Stadt York im Kolben hingewiesen und erklärt, dass diese Waffe hauptsächlich von Marineoffizieren getragen werde.

Was hatte das zu bedeuten?

Lee hatte den Kaiser darüber aufgeklärt, dass die Briten von der Existenz dieser neuen Waffe wüssten. Fulton habe sie ihnen vor sieben Jahre angeboten, aber die Engländer hätten das Projekt verworfen. Es sei jedoch vorstellbar, dass Informationen über die Weiterentwicklung des Unterseeboots nach England gedrungen seien und der Geheimdienst Spione nach Frankreich geschickt habe, um Nachforschungen anzustellen.

Jedenfalls hätte ich das getan, hatte Lee noch hinzugefügt.

Auf dem folgenden gemeinsamen Spaziergang von Lee und dem Kaiser hatten die beiden den Plan zur Versenkung eines britischen Kriegsschiffs entwickelt.

Lee war erstaunt gewesen, mit welcher Offenheit der Kaiser über den Verlauf der Kriege gesprochen hatte.

Wellingtons Siege in Spanien würden dazu führen, dass Frankreichs Verbündete die Seiten wechselten. Und nicht nur die südlichen Grenzen des Reichs seien bedroht, sondern auch mit der Unterstützung Zar Alexanders könne der Kaiser nicht mehr rechnen. Wahrscheinlich müssten diesbezüglich Maßnahmen ergriffen werden.

Da hatte Lee das Undenkbare ausgesprochen. »Euer Majestät würden Russland angreifen?«

Der Kaiser hatte nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Vielleicht.«

Und das würde bedeuten, dass Napoleons Armeen an zwei Fronten kämpfen müssten und dadurch erheblich an Schlagkraft verlören.

»Deshalb muss dringend ein Wunder her«, hatte der Kaiser finster lächelnd verkündet. »Ein kleines würde schon reichen.«

Und dieser Schlüssel zum Erfolg könnte Fultons Kriegsgerät sein. Dadurch könnte Britanniens Nachschub an Truppen und Material nach Spanien behindert werden, was wiederum den Franzosen ermöglichen würde, sich neu zu formieren und Wellingtons Flotte aufs Meer hinauszutreiben. Was zweifelsohne Zar Alexander dazu bewegen würde, seine Verpflichtungen neu zu überdenken.

»Alles ist möglich, Eure Majestät«, hatte Lee taktvoll geantwortet.

Der Kaiser hatte Lee einen Monat Zeit für die Ausführung des Plans zugebilligt, ihm volle Unterstützung zugesagt und befohlen, ausschließlich Admiral Decres Bericht zu erstatten.

Doch niemand hatte damit gerechnet, dass der heimliche Beobachter, Harry St. John Ramillies, mit dem Leben davongekommen sein könnte.

Napoleons Agenten hatten das im Verlauf ihrer Ermittlungen gegen die in England lebenden Sympathisanten der Bourbonen herausgefunden. Der britische Spion lebe noch. Er erhole sich von seiner Verwundung und sei mit Hilfe royalistischer Widerständler auf der Flucht. Schlimmer noch, man vermute, dass er Kopien der Konstruktionspläne für das Unterseeboot bei sich habe.

Eine wagemutige Flucht, die auf einer einsamen, vom Unwetter gepeitschten Straße im Heideland von Kent ihr abruptes und blutiges Ende gefunden hatte. Da es jedoch gelungen war, wieder in den Besitz der Skizzen zu kommen, konnte die Mission wie geplant vorbereitet werden.

Bis zwei neugierige, lästige Runner, Henry Warlock und Matthew Hawkwood, in Lord Mandrakes Stadtpalais aufgetaucht waren und unangenehme Fragen gestellt hatten. Das spurlose Verschwinden einer so angesehenen Person wie Master Woodburn hatte natürlich Nachforschungen der Behörden zur Folge gehabt.

Womit nicht zu rechnen gewesen war, war die Kompetenz und Hartnäckigkeit, mit der die beiden Männer die Spur verfolgt hatten. Denn das Amt in der Bow Street hatte nicht irgendeinen Constable mit den Nachforschungen beauftragt, sondern zwei ihrer besten Polizisten.

Aber Scully hatte dafür gesorgt, dass auch von dieser Seite keine Gefahr mehr drohte. Er hatte beide Männer umgebracht und Lee damit ermöglicht, ungestört seinen Plan in die Tat umsetzen zu können. Die Zerstörung des Schiffs war jetzt nur noch eine Frage von ein paar Stunden.

Wieder schweifte Lees Blick zum Fenster. Die Themse war die Lebensader der Stadt. Eine Ader, die sich bald eine ernste Wunde zuziehen würde. Keine tödliche Wunde, nein. Doch der Anschlag würde die Nation lähmen und die Kriegsvorbereitungen der Briten erheblich stören, sodass Napoleon Gelegenheit bekäme, seine Truppen neu aufzustellen, um in die Offensive gehen zu können.

Bald würde ein Schiff explodieren, ein Prinzregent sterben und die Briten vor Angst erzittern.

Und dann endlich würden Vater und Bruder gerächt sein.

Rache, dachte Lee, als er sich anzog, kann tatsächlich nur kaltblütig verübt werden.


Hawkwood saß, die Ellbogen auf das Ruder gestützt, im Bug des Boots und versuchte, seinen klebrigen Schweiß im Nacken und unter den Achseln zu ignorieren. Seine Jacke hatte er ausgezogen und neben sich gelegt. Jago, ebenfalls auf sein Ruder gestützt, amüsierte sich über Hawkwoods Unbehagen.

Um möglichst unauffällig in das Lagerhaus eindringen zu können, hatten die beiden beschlossen, über den Fluss zu rudern. Sechs Penny und Hawkwoods Ausweis hatten einen Fährmann an der Anlegestelle Ratcliff Cross davon überzeugt, ihnen sein Boot zu überlassen.

Jetzt ließen sie sich etwa fünfzig Meter von den Limehouse Docks entfernt treiben. Hawkwood blickte über seine linke Schulter in Richtung der westlichen Zufahrten zu den Kanälen und Buchten der ausgedehnten West India Docks. Dahinter wurde die Themse noch breiter und floss dann nach Süden in Richtung Deptford und Isle of Dogs.

Kurz nach Sonnenaufgang herrschte bereits reges Treiben auf der Themse. Leichter, Barken, Bumboote, Kutter und Kohlenschiffe dümpelten dicht gedrängt im Wasser und warteten auf eine Gelegenheit, ihre Ladung zu löschen und neue Fracht an Bord zu holen. Weiter unten ragten die hohen Masten der großen Handels- und Kriegsschiffe in den Himmel.

Am Ufer herrschte ebenso dichtes Gedränge. Landungsstege bogen sich unter dem Gewicht von Kohlensäcken, Tabakballen, Holzbalken und von Kisten mit gackerndem und blökendem Vieh. Die Gerüche spiegelten die Vielfalt der Handelsgüter wider und vermengten sich mit den scharfen, ätzenden Schwaden der Kalkbrennereien und Teeröfen.

Plötzlich richtete sich Jago auf und deutete mit dem Kopf zum Ufer. »Land in Sicht, Cap’n.«

Hawkwood drehte sich und folgte Jagos Blick.

Das Lagerhaus unterschied sich nur durch ein Brett mit verblasstem Namen, das über dem Kai angenagelt war, von den Nachbargebäuden. Es lag direkt neben der Zufahrt zum Limekiln Dock mit seinen Kornspeichern und Lagern, wie sie überall entlang des Flusses vom Tower bis Tilbury zu sehen waren.

Beide Männer griffen gleichzeitig nach den Rudern. »Na, so was«, murmelte Jago leise, als sie sich der Böschung näherten. »Schauen Sie mal da rüber.«

Ein schmaler Kanal und ein Ladekai trennten das zweistöckige Gebäude von dem angrenzenden Lagerhaus. Am Ende der Fahrrinne, unter einem niedrigen Steinbogen, direkt in Wasserhöhe war das Lagerhaus mit einem robusten Tor versehen.

Jago grinste. »Ist doch praktisch, oder? Denken Sie dasselbe wie ich?«

Hawkwood ruderte wortlos weiter zu einer verwitterten Treppe, die zum Kai hinaufführte. Als der Bug des Boots gegen die unterste Stufe stieß, zog er sein Ruder ein und griff nach seiner Jacke. Jago stand auf.

»Du bleibst hier, Nathaniel!«, befahl Hawkwood.

»Sagen Sie das noch mal«, murrte Jago.

Hawkwood drehte sich um, einen Fuß auf dem Dollbord.

»Ich gehe allein da rein.«

»Von wegen!«, wehrte sich Jago.

Als Hawkwood die Treppe betrat, schaukelte das Ruderboot gefährlich. Jago hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten, und fluchte: »Herrgott noch mal!«

»Du musst hier Stellung halten«, sagte Hawkwood.

»Und wenn Sie Ärger kriegen?«, fragte Jago wütend. »So, wie letzte Nacht, als Sie sich allein in diesem Rattennest rumgetrieben haben?«

»Gib mir eine Stunde. Sollte ich bis dahin nicht zurück sein, dann benachrichtige Richter Read.«

»Und was passiert dann?«

»Er weiß, was zu tun ist.«

»Verdammt noch mal«, fluchte Jago wieder. »Sieht so Ihr großartiger Plan aus?«

»Ja. Es sei denn, du hast einen besseren.«

Jago starrte den Excaptain noch immer wütend an und schüttelte dann den Kopf. »Im Moment fällt mir keiner ein.«

Hawkwood griff unter seine Jacke, holte seinen Schlagstock hervor und gab ihn Jago. »Da, nimm den.«

»Was soll ich denn damit?«

»Vielleicht brauchst du ihn. Sollte mir etwas passieren, musst du den Richter benachrichtigen. Da könnte er dir ein paar Türen öffnen.«

Nur widerstrebend nahm Jago den Schlagstock.

»Verlier ihn nicht«, ermahnte Hawkwood ihn. »Ich habe nur den einen.«

»Ich steck ihn mir in den Arsch. Da findet ihn keiner.«

Hawkwood grinste und stieg die Treppe zum Kai hoch. Der Exsergeant sah, wie der Runner sich entfernte, und brummte: »Hoffentlich weißt du, was du tust, du verrückter Hund!«

Hawkwood hatte zwar kein gutes Gefühl, Jago zurückgelassen zu haben, aber es wäre dumm gewesen, zu zweit in die Höhle des Löwen zu marschieren.

Weil er keine Zeit gehabt hatte, sich nach dem Treffen mit James Read umzuziehen, fiel er wenigstens in dieser Umgebung nicht auf. Jeder Dockarbeiter würde ihn in diesem Aufzug für einen Veteran halten. Also warf ihm niemand neugierige Blicke zu.

Nicht viele Männer fanden geregelte Arbeit am Fluss. Die meisten waren Hilfsarbeiter oder Schauerleute, die in den überfüllten, zum Ufer hinunterführenden Gassen wohnten und völlig vom Schiffsverkehr abhängig waren. Das Be- und Entladen der Schiffe war harte Arbeit und erforderte mehr Muskelkraft als Hirn. Doch keiner der Männer beklagte sich, solange er sich damit ein Dach über dem Kopf und das Essen auf dem Tisch leisten konnte.

Jetzt kam Hawkwood zu einem hohen Stapel Zuckersäcke. Er hievte sich einen davon auf die Schulter und ging einfach weiter. Niemand protestierte. Der Sack eignete sich ausgezeichnet, sein Gesicht dahinter zu verbergen.

Noch immer hatte er keine Ahnung, wie er sich Zugang zu dem Lagerhaus verschaffen sollte. Er hoffte auf eine günstige Gelegenheit, um sich da irgendwie reinschleichen zu können. In dem Moment entdeckte er ein paar Männer, die vor einer Kneipe herumlungerten. Überall an den Kais gab es vor den Lagerhäusern solche Schnapsbuden. Die Wirte besorgten den Männern nicht nur Alkohol in jeder Form, sondern auch Arbeit auf den Docks. Doch nicht diese Kneipe hatte Hawkwoods Aufmerksamkeit erregt, sondern ein Mann, der eben mit einem Rucksack über der Schulter aus der Tür trat. Das Gesicht kam ihm vage bekannt vor, aber er konnte es nicht einordnen. Dann fiel es ihm wieder ein: Dieser Kerl hatte zusammen mit Scully am Tisch in der Arche Noah gesessen.

Das kann doch kein Zufall sein, dachte Hawkwood. Es blieb keine Zeit, sich weiter Gedanken darüber zu machen, denn der Mann ging in Richtung Holzplatz. Hawkwood folgte ihm vorsichtig, den Zuckersack noch immer auf der Schulter.

Einen nervenaufreibenden Augenblick lang glaubte er, der Kerl hätte gemerkt, dass er verfolgt wurde, denn am Ende des Ladekais blieb er abrupt stehen und sah sich um. Hawkwood wandte sich schnell ab und beobachtete dann, dass der Mann weiterging. Er ist vorsichtig, dachte Hawkwood. Er vergewissert sich, dass ihm niemand folgt, und das ist suspekt.

Die beiden näherten sich dem Ende des Kais. Das Lagerhaus und der Holzplatz lagen direkt dahinter. Hier hielten sich nicht viele Menschen auf. Plötzlich bog der Mann zwanzig Schritte vor Hawkwood in einen Durchgang ein. Hawkwood blieb kurz stehen, rückte den Sack auf seiner Schulter zurecht und bog um die Ecke. Dort führte eine Holztreppe nach unten zu einer Tür. Der Mann stand davor, den Rucksack zu seinen Füßen, und steckte einen Schlüssel ins Schloss. Als Hawkwood mit der Stiefelspitze gegen die oberste Stufe stieß, blickte der Mann auf. Hawkwood konnte sein Gesicht nicht mehr abwenden. Die aufgerissenen Augen und der erschrockene Ausdruck des Kerls verrieten ihm sofort, dass er erkannt worden war.

Sofort schleuderte Hawkwood den Zuckersack nach unten. Er prallte gegen die Brust des Mannes und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Das Messer, das er aus dem Gürtel gezogen hatte, schlidderte über den Boden. Hawkwood kletterte schnell hinunter und trat ihm kräftig zwischen die Beine. Er stieß einen gurgelnden Laut aus, sank in sich zusammen und presste die Hände auf seinen Unterleib. Hawkwood hob das Messer auf und drückte ihm die Spitze unter das unrasierte Kinn.

»Na, Kumpel, ist das eine Begrüßung für einen Gesetzeshüter?«

Anstelle einer Antwort kam nur ein leises Wimmern.

Hawkwood bückte sich. »Was hast du gesagt? Ich habe es nicht verstanden.«

Noch ein schmerzvolles Stöhnen.

Hawkwood seufzte. »Also gut. Fangen wir mit deinem Namen an.«

»S … Sparrow«, wisperte der Mann. »W … Will Sparrow.«

»Du bist ein Kumpel von Ahle«, sagte Hawkwood.

Sparrow starrte zu ihm hoch. »A … Ahle ist tot.«

»Das weiß ich«, knurrte Hawkwood. »Ich war dabei, als er starb.«

Sparrow wurde vor Angst aschfahl.

»Also«, sagte Hawkwood, »was hast du hier in dieser Gegend zu suchen? Machst du Botengänge für William Lee? Überbringst du ihm die Nachricht, dass Ahle tot ist, wie? Ist es so, Sparrow? Ist Lee da drin?« Hawkwood zog den Rucksack zu sich heran und steckte eine Hand hinein. Er ertastete ein paar Flaschen, einen Laib Brot und etwas, das sich wie ein Stück Käse anfühlte. »Ist das etwa das Frühstück für eure Bande?«

Hawkwood drückte Sparrow die Messerspitze so fest an den Hals, dass ein Tropfen Blut herausquoll. »Ich glaube, wir sollten uns mal unterhalten, Kumpel. Unter vier Augen, wo uns niemand hört. Was hältst du davon?«

Sparrow blinzelte ängstlich, rollte die Augen und stieß einen leisen Zischlaut aus. Da merkte Hawkwood, dass Sparrow an ihm vorbei zur Tür starrte. Der Runner drehte sich zu spät um. Er ahnte einen Schatten über seinem Kopf, hörte ein leises Geräusch und dann traf ihn hinter dem rechten Ohr ein Schlag, der seinen Schädel explodieren ließ.

Noch im Fallen dachte er: Seltsam, dass ich mich zum zweiten Mal innerhalb nur weniger Stunden überrumpeln lasse. Das wird allmählich zu einer hässlichen Angewohnheit. Oder werde ich für diese Art Spielchen zu alt? Und sein zweiter Gedanke war: Hat der Schlag etwa auch meinem Geruchssinn geschadet? Er hätte schwören können, dass er einen schwachen, aber unverkennbaren Zitronenduft gerochen hatte.

Dann verlor er das Bewusstsein.

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