12

Mit geschlossenen Augen überlegte Hawkwood, wie hoch die Strafe für das Erwürgen eines Adjutanten der Admiralität wohl wäre. Das unentwegte Kratzen der Schreibfeder über Papier war ihm zur Qual geworden. Es zerrte an seinen Nerven wie das Brummen eines ständig gegen eine Fensterscheibe fliegenden Insekts.

Der Grund für Hawkwoods Verärgerung, ein Leutnant, den er auf höchstens sechzehn schätzte, war sich der Wirkung seines Tuns nicht bewusst. Doch jedes Mal, wenn der Leutnant in den vergangenen zehn Minuten den Kopf gehoben und gewagt hatte, den großen Mann mit den finsteren Gesichtszügen auf der gegenüberliegenden Bank zu betrachten, hatte ihn ein derart böser Blick getroffen, dass er schnell wieder die Augen gesenkt hatte.

Deshalb reagierte der Leutnant mit sichtlicher Erleichterung, als die Glocke des Admirals klingelte. Er blickte kurz auf und sagte: »Sie dürfen jetzt eintreten.«

Hawkwood stand auf und lockerte seine verkrampften Muskeln. Er hatte sich schon gefragt, ob der Oberste Richter ihn vergessen habe. Seit ihrer Ankunft im Ministerium und Reads Verschwinden im Sitzungssaal – Hawkwood war befohlen worden, im Vorzimmer zu warten – hatte ihn nur ein undeutliches Gemurmel hinter geschlossenen Türen davon überzeugt, dass seine Anwesenheit vielleicht doch noch erforderlich sein könnte.

Hawkwood wappnete sich innerlich und öffnete die Tür.

Außer dem Obersten Richter befanden sich noch drei ihm unbekannte Männer im Raum. James Read bedeutete ihm mit einer Geste näher zu treten. »Kommen Sie, Hawkwood. Diese Gentlemen sind begierig darauf, Ihre Bekanntschaft zu machen. Darf ich vorstellen: Sir Charles Yorke, Erster Seelord, Chef des britischen Admiralstabs. Admiral Dalryde, Berater des Ersten Seelords, und Generalinspekteur Blomefield. Gentlemen, das ist Officer Hawkwood.«

Die Herren möchten vielleicht meine Bekanntschaft machen, sie wirken aber ziemlich niedergeschlagen, dachte Hawkwood.

Das Gesicht des Ersten Seelords war finster wie eine Gewitterwolke, möglicherweise lag das aber an der gedämpften Beleuchtung. Der Admiral – er saß hinter dem langen Tisch – musterte Hawkwood wie ein Stück Dreck, das er sich von der Stiefelsohle gekratzt hatte. Von den dreien zeigte nur Generalinspekteur Blomefield echtes Interesse. In den Augen des Mannes lag noch ein anderer Ausdruck, den Hawkwood allerdings nicht als Belustigung zu deuten wagte.

Dann schweifte Hawkwoods Blick zu dem langen Tisch, auf dem die beiden Skizzen lagen.

Der Erste Seelord sah James Read an und fragte: »Weiß er Bescheid?«

Read schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«

»Vielleicht wird es Zeit, dass mich jemand in das Geheimnis einweiht«, mischte sich Hawkwood ungehalten ein. Er hatte es satt, der einzige nicht informierte Mann in dieser Runde zu sein.

Admiral Dalryde hob ruckartig den Kopf. Charles Yorke hingegen meinte abfällig: »Du meine Güte, Read. Sie züchten aber unverschämte Welpen heran.«

Noch ehe James Read auf diese Bemerkung reagieren konnte, erklärte Generalinspekteur Blomefield gelassen: »Ich würde sagen, der Mann hat unter den gegebenen Umständen durchaus Recht. Nicht wahr, Sir Charles?«

Kurz herrschte beklommenes Schweigen.

Widerwillig nickte der Erste Seelord schließlich. »Also gut, Read. Klären Sie Ihren Mann auf.« Er konnte es nicht verwinden, dass Hawkwood ihm nicht den nötigen Respekt gezollt hatte.

Doch ehe der Oberste Richter dazu kam, klopfte es und der junge Leutnant aus dem Vorzimmer öffnete die Tür. Er wollte etwas sagen, doch da drängte sich schon ein Mann in Uniform an ihm vorbei.

»Entschuldigen Sie, Gentlemen. Ich bin so schnell wie möglich gekommen.«

Blomefield grinste. »Besser spät als nie, Colonel. So, wie Ihre verdammten Raketen, was? Ha! Ha!«

Colonel? Raketen?, wunderte sich Hawkwood und musste feststellen, dass ihn der Neuankömmling mit scharfem Blick musterte.

»Officer Hawkwood, Colonel«, sagte James Read. »Hawkwood, das ist Colonel Congreve.«

Irgendetwas an dem Auftreten und der rastlosen Energie dieses Mannes kam Hawkwood bekannt vor. Und dann fiel es ihm ein. Colonel William Congreve, ältester Sohn des Leiters des Königlichen Labors in Woolwich, Offizier der Königlichen Artillerie und Erfinder der Schiffsrakete.

Congreves Raketen waren zum ersten Mal gegen die Franzosen im Golf von Biskaya eingesetzt worden. Doch die Zielgenauigkeit war derart mangelhaft gewesen, dass sie für die britischen Schiffe eine ebenso große Gefahr dargestellt hatten wie für die feindliche Flotte. Drei Jahre später waren die Raketen jedoch so weit verbessert worden, dass die Armee zwei Raketentrupps aufgestellt hatte. Hawkwood hatte Congreves Raketen in Aktion gesehen und sich eingestanden, dass sie ihn zu Tode erschreckt hatten. Glücklicherweise hatten die Franzosen noch mehr Angst davor. Doch das stand jetzt nicht zur Debatte. Wichtig war allein die Frage: Warum war der Colonel zu dieser Besprechung hinzugezogen worden?

»Hawkwood? Ach ja, natürlich«, sagte Congreve und streckte ihm zu seiner Überraschung die Hand hin. »Es ist mir eine Ehre, Captain.«

Captain? Hawkwood hörte, wie sich hinter seinem Rücken der Erste Seelord missbilligend räusperte.

Der Colonel achtete nicht auf die unausgesprochene Rüge von Charles Yorke, sondern kam sofort zur Sache: »Nun, Gentlemen, wie darf ich diese Aufforderung verstehen, sofort im Ministerium zu erscheinen? Was hat es damit auf sich? Da Ihr Bote derart heftig an meine Haustür geklopft hat, gehe ich davon aus, dass es um etwas sehr Wichtiges geht, Richter Read.«

Der Colonel trat an den Tisch. Beim Anblick der darauf liegenden Skizzen weiteten sich seine Augen vor Erstaunen und er rief: »Allmächtiger Gott!«

»Nun?«, wollte der Erste Seelord wissen. »Was meinen Sie, Colonel? Handelt es sich um dieselbe Konstruktion?«

Der Colonel beugte sich über die Zeichnungen und prüfte sie genau. Schließlich richtete er sich wieder auf und sagte ernst: »Anhand dieser Skizzen ist das schwer zu beurteilen. Es gibt zwar gewisse Ähnlichkeiten, aber ich wage zu behaupten, dass es sich hierbei um ein weiterentwickeltes Modell handelt.« An James Read gewandt, fügte der Colonel hinzu: »Wie, zum Teufel, sind Sie an diese Skizzen gekommen?«

Nachdem der Oberste Richter Colonel Congreve die Geschichte erzählt hatte, sagte der Colonel: »Ein Runner, der ermordet wurde, hatte sie bei sich? Verdammt merkwürdig! Was denken Sie, Hawkwood? Wie sind die Dokumente Ihrer Meinung nach in den Besitz Ihres ermordeten Kollegen gekommen?«

Ungehalten stieß Hawkwood hervor: »Colonel, ich weiß noch nicht einmal, worum es hier, zum Teufel noch mal, eigentlich geht.«

Congreve starrte zunächst den Runner und dann die anwesenden Herren des Ministeriums irritiert an.

Admiral Dalryde seufzte. »Der Richter wollte Hawkwood gerade den Zusammenhang erklären, als Sie reingeplatzt kamen, Colonel. Vielleicht hätten Sie die Güte, das zu übernehmen, da Sie ja unser Wissenschaftsexperte sind.«

Lag in der Stimme des Admirals ein ironischer Unterton? Wenn ja, so schien der Colonel ihn überhört zu haben, oder er zog es vor, dem keine Beachtung zu schenken. Nachdenklich betrachtete er noch einmal die Skizzen auf dem Tisch, fixierte dann Hawkwood streng und sagte: »Kein Wort von dem, was ich Ihnen sage, darf nach außen dringen. Haben Sie mich verstanden?«

Hawkwood nickte bedächtig.

»Bei diesen Zeichnungen handelt es sich womöglich um die Pläne für die teuflischste Waffe, die je erfunden wurde«, sagte der Colonel.

Eine Waffe? Der Zündmechanismus hatte also doch etwas zu bedeuten!

»Handelt es sich dabei um eine Art Bombe?«, fragte Hawkwood.

»Nein, obwohl Sie mit Ihrer Annahme nicht weit danebenliegen«, erwiderte Congreve mit einem dünnen Lächeln. »Sagen Sie, Captain Hawkwood, wie gut ist Ihr Französisch?«

»Sir?«

»Le bateau poisson haben die Froschfresser es getauft, einige zumindest. Andere nennen es le bateau plongeur.«

Fischboot? Tauchboot?, übersetzte Hawkwood verwirrt. »Tut mir Leid, Colonel, aber das verstehe ich nicht. Wo soll das Ding tauchen?«

Congreve sah Hawkwood an, als würde er an dessen Verstand zweifeln. »Was glauben Sie denn, Mann? Unter Wasser, natürlich! Das ist verdammt noch mal ein Unterseeboot.«

»Ein was?«, staunte Hawkwood und sah den Colonel ratlos an.

Jetzt kam der Richter Hawkwood zu Hilfe. »Ein Boot, das unter Wasser schwimmen kann.«

Trotz dieser Erklärung glaubte Hawkwood, es müsse sich um einen Irrtum handeln. Völlig entgeistert blickte er zum Tisch hinüber. Ein Boot? Noch nie hatte er einen so komischen Apparat gesehen. Das war doch kein Boot. Und warum hatten die Baupläne für ein Unterseeboot in Warlocks Schlagstock gesteckt?

»Ich weiß, was Ihnen durch den Kopf geht«, deutete der Colonel Hawkwoods Verwirrung falsch. »Aber es ist möglich, so ein Boot zu bauen, glauben Sie mir. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«

»Der Erfinder ist ein Amerikaner namens Robert Fulton«, warf James Read ein.

»Und dieser Scheißkerl arbeitet für Napoleon«, knurrte Charles Yorke.

Hawkwood kam sich vor, als würde er durch knietiefen zähen Schlamm waten. Sosehr er sich auch bemühte, für ihn hatte diese Zeichnung nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Boot. Wenn es schon keine Uhr war, so hätte er auf eine Spieldose getippt.

»Kommen Sie«, sagte der Colonel. Er konnte Hawkwoods Verwirrung und Ratlosigkeit nicht mehr mit ansehen. »Ich erkläre es Ihnen.«

Hawkwood ging mit Colonel Congreve zum Tisch. Als Congreve die Zeichnung umdrehte, merkte Hawkwood, dass er die Skizze verkehrt herum gehalten hatte, mit dem Zylinder vertikal anstatt horizontal.

Der Colonel nahm einen Stift von dem Tablett auf dem Tisch. »Ich will versuchen, das Modell anschaulicher darzustellen.« Er zeichnete einen Umriss. »Das ist der Rumpf mit Bug, Kiel, Heck und Deck. Wenn ich noch Mast und Baum hinzufüge, ist das doch ein Boot, oder? Da, sehen Sie.«

Noch immer fassungslos fragte Hawkwood: »Und was ist das?« Er deutete auf einen Abschnitt des Decks, der höher zu liegen schien, direkt vor dem Mast.

»Das ist eine Metallhaube, der Kommandoturm sozusagen. Stellen Sie sich ein umgedrehtes Fass über einer Luke im Deck vor. Darin kann der Kommandant aufrecht stehen.«

»Und wie sieht er, wohin er fährt?«, fragte Hawkwood.

»Der Turm hat kleine Bullaugen mit sehr dicken Scheiben. Ich würde sagen, man sieht da durch wie durch den Boden einer Brandy-Karaffe.«

Hawkwood hätte am liebsten gesagt, dass er eine Menge Offiziere kenne, die während ihrer ganzen Laufbahn nur einen solchen Durchblick gehabt hatten. Aber er wollte es nicht schon wieder an Respekt mangeln lassen. Stattdessen nickte er und fragte: »Und wie wird dieses Ding angetrieben?«

»Mit Muskelkraft. Ein Bootsmann dreht eine Kurbel, die einen Propeller im Heck in Bewegung setzt. So wird das Gefährt durchs Wasser getrieben. Schauen Sie hier!« Der Colonel deutete auf die Skizze.

Hawkwood wirkte noch immer skeptisch.

»Oh, das funktioniert gut, Captain. Auf dem Wasser, mit zwei Männern an der Kurbel, fährt es so schnell, als würden zwei Männer rudern. Unter Wasser geht’s zwar etwas langsamer, aber es funktioniert. Nicht die Geschwindigkeit ist das Wesentliche, sondern die Unsichtbarkeit des Boots.«

»Und welches Material wird verwendet?«

»Der Rumpf ist aus mit eisernen Bändern verstärktem Holz und wird mit Kupfer verschalt.«

Während Hawkwood dem Colonel zuhörte und zusah, nahm das Bild allmählich Gestalt an. Das verwirrende Durcheinander aus Kurbeln, Zahnrädern, Spulen und Spindeln erhielt nun eine völlig neue Bedeutung.

»Und wie taucht das Boot unter und wieder auf?«, fragte er.

»Durch Pumpen. Zum Gewichtsausgleich dienen Wassertanks im Kiel. Zum Untertauchen wird Wasser hinein-, zum Auftauchen herausgepumpt. Einfach genial!«, sagte der Colonel und schüttelte bewundernd den Kopf. »Gesteuert wird es wie ein normales Boot mit dem Ruder hier, das über ein Getriebe kontrolliert wird. Es gibt noch ein zweites, horizontales Ruder, das über eine Achse mit dem Hauptruder verbunden ist. Damit steuert man den Tiefgang. Der Kiel ist aus Metall, damit das Boot durch sein Gewicht in der Waagerechten bleibt. Er kann im Notfall entfernt werden, um ein schnelles Auftauchen zu ermöglichen.«

Hawkwood drehte sich der Kopf. »Und wie groß wird das Boot?«

Der Colonel zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Das erste war sechs Meter dreißig lang und hatte einen Durchmesser von zwei Metern.«

»Das erste?«, fragte Hawkwood erstaunt.

»Ach, habe ich vergessen, das zu erwähnen?«, sagte der Colonel. »Dieses Kriegsgerät ist nicht neu. Es wurde uns bereits vor sieben Jahren angeboten.«

Da mischte sich James Read ein und sagte leise: »Vielleicht sollten wir die Geschichte von Anfang an erzählen. Was meinen Sie, Colonel?«


»Wir haben seinen beruflichen Werdegang schon seit längerem verfolgt«, sagte der Colonel. »Unser Mr. Fulton ist ein sehr fleißiger Mann, ein Künstler, Ingenieur und Kanalbauer …«

»Kanalbauer?«, wiederholte Hawkwood, als wäre er schwer von Begriff.

Congreve nickte. »Er kam im Jahr 1787 aus Philadelphia nach Europa. Angeblich aus gesundheitlichen Gründen. Eine Zeit lang hat er für Bridgewater und Brindley gearbeitet.«

Hawkwoods Miene drückte völlige Unwissenheit aus.

»Lord Bridgewater hatte den Plan, Manchester durch eine Wasserstraße mit dem Meer zu verbinden. Können Sie sich nicht daran erinnern?«

In Hawkwood regte sich eine vage Erinnerung an einen diesbezüglichen Plan.

Congreve fuhr unbeirrt fort: »Und Fulton hatte die Idee, flache Flussboote mit Winden über Hügel zu hieven. Dieser vielseitig begabte Mistkerl hat sogar ein Buch über die Schifffahrt auf Kanälen geschrieben. Damit ist er 1797 nach Frankreich gegangen, weil er hoffte, bei den Franzosen diesbezüglich auf Interesse zu stoßen. Dort hat er sich für die Revolution begeistern lassen, ist geblieben und hat als Ingenieur für das Direktorium gearbeitet.«

»Und … dieses Unterseeboot?«

Jetzt ergriff Generalinspekteur Blomefield das Wort. »Die Idee dafür hat er aufgrund seiner Hypothese entwickelt, Nationen könnten nur im Frieden miteinander leben, wenn die Freiheit der Meere gesichert werde. Mit anderen Worten: Wenn alle Kriegsflotten zerstört und der globale Freihandel eingeführt werde, gebe es nur noch glückliche Menschen auf der Welt. Was natürlich völliger Unsinn ist. Entschuldigen Sie, Colonel. Ich wollte Sie nicht unterbrechen. Fahren Sie bitte fort.«

»Ich wollte gerade ergänzen, dass Fulton zur Hälfte Ire ist«, sagte Congreve ohne Groll. »Dreimal dürfen Sie also raten, wessen Marine er zuerst zerstören wollte.«

Der Erste Seelord, offensichtlich nicht daran gewöhnt, jemandem länger als unbedingt nötig das Wort zu überlassen, schnaubte verächtlich. Congreve ließ sich davon jedoch nicht beirren, sondern sprach weiter.

»Fulton griff diese Idee von einem amerikanischen Revolutionär namens Bushnell auf, der ein Unterseeboot gebaut hatte. Er nannte es Turtle. Mit Hilfe dieses Boots sollte am Kiel von Earl Howes Flaggschiff im Hafen von New York eine Bombe angebracht werden. Zum Glück für den Admiral ist dieser Plan fehlgeschlagen, denn das Boot ließ sich unter Wasser nicht richtig steuern. Aber Fulton glaubte an das Boot, an die Idee als solche, wenn man die Konstruktion verbessere. Wie sich herausstellte, teilte Napoleon diese Ansicht, denn er beauftragte Fulton damit. Die Probeläufe fanden dann in der Seine statt. Er hat diesem Ding sogar einen Namen gegeben: Nautilus.«

»Ein Begriff aus dem Lateinischen«, warf Blomefield ein. »Er bedeutet Seefahrer und bezeichnet eine Spezies aus der Gattung der Mollusken.«

»Stimmt«, bestätigte Congreve und fuhr fort: »Unsere Spione in Frankreich haben uns berichtet, dass Napoleons Ingenieure sogar Experimente mit Unterwasserexplosionen durchführten. Damals hat uns das nicht weiter beunruhigt, doch Gerüchten zufolge entwickelten die Froschfresser eine Geheimwaffe. Dabei fiel Fultons Name immer häufiger.

Zuerst vermuteten wir, es handele sich um eine Art Seemine, denn unsere Spione berichteten von in die Luft gesprengten Flusskähnen. Und dann tauchte das Gerücht von einem Unterseeboot auf. Wir hielten das für ein Hirngespinst, aber das Gerücht hielt sich hartnäckig. Und dann landeten wir einen Glückstreffer.

Wir erfuhren, dass dieses Wassergefährt im Meer getestet worden war, was jedoch erst etwa einen Monat später bestätigt wurde. Nämlich als der Kapitän eines Zollkutters mit dem Kapitän einer Handelsbrigg, die zu der Zeit der Probeläufe vor der Insel St. Marcouf ankerte, ins Gespräch kam.

Der Briggkapitän schilderte dem Zollbeamten eine merkwürdige Geschichte: Er sei von einem Wal gejagt worden! Nun, Hawkwood, wie viele Wale gibt es Ihrer Meinung nach im Ärmelkanal, hm?«

Hawkwood kam diese Assoziation ziemlich fadenscheinig vor, aber der Colonel versicherte, es habe noch mehr Hinweise gegeben.

Zwei Tage zuvor hatte ein Matrose der Brigg ein kleines Segelboot mit gebrochenem Mast in Seenot gesichtet. Durch ein Leck im Rumpf sei Wasser eingedrungen. Die Brigg habe ihren Kurs geändert, um die Mannschaft aufzunehmen. Doch inzwischen sei das Segelboot einfach verschwunden. Weder ein Wrack noch Leichen seien entdeckt worden. Nichts. Der Kapitän habe die Gegend noch eine Weile erfolglos absuchen lassen, die Brigg jedoch dann wieder auf Kurs gebracht.

»Und dann ist etwas Seltsames passiert«, fuhr der Colonel mit gesenkter Stimme fort, als habe er Angst, belauscht zu werden. »Der Ausguck im Heck entdeckte wieder ein Segelboot in Seenot! Dieses Mal jedoch näher an der Küste. Durch sein Fernglas konnte der Kapitän erkennen, dass es sich um dasselbe Boot handelte. Und jetzt kommt das Entscheidende: Der Kapitän hat erzählt, dieses Mal sei das Segelboot nicht untergegangen, sondern aus dem Wasser aufgetaucht!

Es war eindeutig dasselbe Boot«, fuhr Congreve fort. »Er habe es an der Takelage erkannt, sagte der Kapitän. So etwas sei ihm noch nie unter die Augen gekommen. Es habe ausgesehen wie ein halb geöffneter Regenschirm.«

»Weiter«, drängte Blomefield. »Erzählen Sie Hawkwood den Rest der Geschichte.«

»Ja, ja«, winkte der Colonel ungehalten ab. »Dazu komme ich gleich. Sehen Sie, Hawkwood, der Briggkapitän hat die Entfernung zwischen dem Punkt, an dem er das angeblich in Seenot geratene Segelboot gesichtet hatte, und dem zweiten Punkt auf ungefähr eine Meile geschätzt. Eine Meile! Und das war der Beweis: Die Froschfresser haben ein Boot, das unter Wasser schwimmen kann!«

Der Colonel konnte sich vor Aufregung kaum noch beherrschen. »Was war zu tun? Wie können wir uns vor einem derart heimtückischen Kriegsgerät schützen?«

Die einfachste Lösung schien zu sein, einen Agenten nach Paris zu schicken, um Fulton abzuwerben. Was die britische Regierung auch tat.

Jetzt erzählte Generalinspekteur Blomefield weiter. »Fulton hatte zu jener Zeit Ärger mit seinen französischen Verbündeten. Denn ein Wechsel an der Spitze des Marineministeriums hatte bewirkt, dass Fultons Projekt auf Widerstand stieß. Was Fulton natürlich auf die Palme brachte, wie Sie sich vorstellen können. Glücklicherweise machten wir ihm ausgerechnet zu jenem Zeitpunkt das Angebot, die Seiten zu wechseln. Er hat allerdings unverschämte Forderungen gestellt. Die Franzosen hatten ihm eine Prämie für jedes versenkte Schiff zugesagt. Dieselbe Vereinbarung wollte er mit uns treffen. Außerdem sollten wir ihm die Konstruktionspläne für sein Unterwasserboot und seine Unterwasserbomben für hunderttausend Pfund abkaufen. Was eine verdammte Frechheit war!«

Hawkwood traute seinen Ohren nicht. Das Gehalt eines Runners betrug fünfundzwanzig Schilling pro Woche, plus vierzehn Schilling für Spesen. Das ergab im Jahr etwas über hundert Pfund. Tausendmal so viel war für ihn eine unvorstellbare Summe. War die Erfindung des Amerikaners derart wertvoll, dass er dafür diese horrende Summe verlangen konnte?

»Wie auch immer«, warf Generalinspekteur Blomefield ein. »Wir haben uns natürlich geweigert, irgendeine Summe vertraglich festzulegen. Zuerst wollten wir seine Erfindung in heimischen Gewässern auf ihre Tauglichkeit prüfen.«

»Mit anderen Worten«, warf Colonel Congreve ein, »es war weitaus besser, wenn er aus unserem Zelt nach draußen pisste.«

Sir Charles Yorke, der Erste Seelord, und Admiral Dalryde verkneiften sich das Lachen. James Reads Miene blieb ausdruckslos, obwohl Hawkwood glaubte, ein Zucken in den Mundwinkeln des Obersten Richters bemerkt zu haben.

Fulton hatte ein weiteres Zugeständnis verlangt. Er hatte mit Dampf als Antriebskraft experimentiert und während seines Aufenthalts in Paris an Boulton &Watt, eine Firma in Birmingham, geschrieben und darum gebeten, eine Maschine für ein Dampfschiff in den Vereinigten Staaten bauen zu dürfen. Womit die britische Regierung natürlich nicht einverstanden war und ein Exportverbot aussprach. Sollte Mr. Fulton jedoch nach England kommen … nun, dann sei alles möglich.

»Ich war damals Mitglied der Kommission«, sagte Colonel Congreve lächelnd und fügte hinzu: »Und der Kerl war mir recht sympathisch.«

Sofort nach Fultons Ankunft im April 1804 in England hatte Premierminister Pitt eine Sonderkommission mit der Überprüfung der Erfindungen des Amerikaners beauftragt.

Mitglieder dieser Kommission waren unter anderem der angesehene Wissenschaftler Henry Cavendish, Admiral Sir Hope Popham und Sir Joseph Banks, der Präsident der Königlichen Akademie der Naturwissenschaften.

»Die ersten Ergebnisse der Prüfungen hat Fulton nicht gut aufgenommen«, sprach der Colonel weiter. »Die Konstruktionspläne eigneten sich zwar für den Bau eines Unterseebootes, aber ein Kampfeinsatz wäre undenkbar gewesen. Der Meinung waren wir jedenfalls damals«, gestand der Colonel mit einem gequälten Lächeln. »Die Kommission interessierte sich weitaus mehr für Fultons Unterwasserbombe – seinen Torpedo, wie er es nannte.«

»Seinen was?«, fragte Hawkwood.

»Torpedo, die lateinische Bezeichnung für Zitterrochen. Das ist ein Fisch, der bei Berührung Beute oder Feinde durch elektrische Schläge lähmt. Da ich kein Zoologe bin und mich in der Ichthyologie nicht auskenne, weiß ich nicht genau, wie das funktioniert. Jedenfalls gab er seinem Wassergeschoss diesen Namen«, erklärte Congreve.

Trotz der Ausführungen war Hawkwood kein bisschen klüger. Genauso gut hätte der Colonel chinesisch sprechen können.

»Aber Premierminister Pitt war derart beeindruckt, dass er einen Vertrag unterschrieb, der Fulton vierzigtausend Pfund für die Konstruktion eines funktionstüchtigen Unterseeboots samt aller Rechte an seinen Erfindungen garantierte. Hinzu kamen zweihundert Pfund Gehalt im Monat, ein Kreditlimit von siebentausend Pfund und weitere vierzigtausend Pfund Prämie für die Zerstörung des ersten französischen Schiffs. Die Admiralität wurde angewiesen, Marinewerften und Material zur Verfügung zu stellen.

Vor Boulogne-sur-Mer haben wir später in jenem Jahr diese Torpedos zum ersten Mal versuchsweise eingesetzt«, sagte Congreve. »Allerdings ohne großen Erfolg. Das Potenzial dieser Waffe aber haben wir sofort erkannt. Allein die Gerüchte, die sich um diese neue Geheimwaffe rankten, hat den Froschfressern einen heiligen Schrecken eingejagt. Das System musste noch weiterentwickelt, ausgefeilt und getestet werden. Erst ein Jahr später konnten wir einen zweiten Versuch wagen. Können Sie sich an die Dorothea erinnern, Blomefield?«

»Bei Gott, ja!«

Die Dorothea, erklärte der Colonel, sei eine alte dänische Brigg gewesen, die vor der Küste von Dover ankerte. Und Fultons Unterwassergeschosse hatten aus dem Boot Kleinholz gemacht.

»Auf diesen Erfolg hatten wir gewartet. Jetzt waren wir gerüstet. Wir planten, Fultons Torpedos und meine Raketen gegen die französische Flotte vor Cadiz einzusetzen. Wir hätten das großartigste Feuerwerk in Europa veranstaltet«, sagte Colonel Congreve und schüttelte bedauernd den Kopf.

»Unser einäugiger Admiral ist uns leider zuvorgekommen«, ergänzte Thomas Blomefield.

Gemeint war Lord Nelsons Sieg über die französisch-spanische Flotte bei Trafalgar.

»Nach diesem vernichtenden Schlag brauchten wir Fultons neumodische Waffe nicht mehr. Denn es gab nichts mehr in die Luft zu sprengen.«

»Fulton hat trotzdem darauf bestanden, dass wir ihm die vertraglich vereinbarte Summe zahlen!«, empörte sich der Erste Seelord.

Schließlich hatte Fulton einen Vergleich vorgeschlagen und für den Wechsel seiner Staatszugehörigkeit zehntausend Pfund verlangt, hunderttausend Pfund für den Beweis, dass Kriegsschiffe mit seiner Erfindung zerstört werden konnten, eine lebenslange jährliche Pension von zweitausend Pfund und sechzigtausend Pfund für die Zusage, seine Erfindung niemals gegen die britische Flotte einzusetzen.

Die Verhandlung vor dem Schiedsgericht endete mit der Feststellung, dass Fulton die ursprünglichen Vertragsbedingungen nicht erfüllt habe und deshalb kein Anspruch auf die Zahlung seiner überhöhten Forderungen bestehe. Das Gericht hatte ihm schließlich vierzehntausend Pfund plus Gehalt und Nebenkosten in einer weitaus geringeren Höhe als die zunächst fürstliche Entlohnung von eintausendsechshundertvierzig Pfund zugestanden.

»Daraufhin hat der Mistkerl alle Geräte abmontiert und hat das Land verlassen«, sagte Generalinspekteur Blomefield. »Mit Sack und Pack.«

»Fulton ist ziemlich verrückt, ich halte ihn sogar für unberechenbar«, sagte Colonel Congreve.

»Der Mann hegt also einen Groll gegen uns?«, folgerte Hawkwood.

»Einen verdammt großen, vermute ich«, bestätigte Congreve.

»Was glauben Sie? Ist er nach Frankreich zurückgekehrt?«

Congreve schüttelte den Kopf. »Nein, nicht Fulton. Mit seiner Gesundheit steht es nicht zum Besten. Er hat einen Stellvertreter geschickt.«

»William Lee«, sagte James Read, »ein alter Freund Fultons. Er hat während der letzten fünf Jahre mit ihm zusammengearbeitet. Von unseren Kontaktleuten in Frankreich haben wir erfahren, dass er Anfang dieses Jahres in Paris eingetroffen ist.«

»Warum interessieren sich die Franzosen plötzlich wieder für dieses Projekt?«, fragte Hawkwood verwirrt. »Haben sie ihre Meinung geändert?«

»Weil Napoleon den Krieg verliert«, mischte sich Admiral Dalryde jetzt zum ersten Mal in das Gespräch ein. »Unser kleiner Korse hat sich übernommen!«

Colonel Congreve nickte. »Und das gibt Fulton die Möglichkeit, sich an uns zu rächen. Schließlich ist es kein Geheimnis, dass die Beziehungen zwischen uns und den Amerikanern angespannt sind. Es gab mehrere Zwischenfälle auf See. Unsere Kriegsmarine hat amerikanische Schiffe gestoppt und nach Deserteuren durchsucht. Worauf uns die Amerikaner der Piraterie bezichtigt haben. Ich wäre nicht überrascht, wenn sich die Situation zuspitzen würde.«

»Sprechen Sie etwa von Krieg?«, fragte Hawkwood ungläubig.

In diesem Augenblick räusperte sich der Erste Seelord. Eine Warnung.

Worauf Congreve nur mit den Schultern zuckte und sagte: »Wer weiß?«

Während Hawkwood diese kryptische Antwort zu deuten versuchte, richtete der Colonel das Wort an Admiral Dalryde. »Möchten Sie jetzt fortfahren, Sir?«

Der Admiral räusperte sich ebenfalls, bevor er weitersprach. »Wir hielten es für lohnenswert, Lee im Auge zu behalten, da wir davon ausgingen, Fulton habe sein Projekt weiter verbessert. Letztes Jahr hat er ein Buch veröffentlicht: Torpedo War and Submarine Explosions. Wir haben uns ein Exemplar besorgt. Der Inhalt war derart besorgniserregend, dass wir einen unserer Agenten nach Frankreich geschickt haben, um Nachforschungen anzustellen. Ramillies war einer unserer besten Männer, der schon öfter zu unserer vollsten Zufriedenheit gearbeitet hat.«

An der Stelle bedeutete der Admiral dem Colonel mit einem Blick, in der Geschichte fortzufahren.

»Leutnant Ramillies ist auf Beweise gestoßen, dass Lee tatsächlich ein deutlich weiterentwickeltes Unterseeboot baut. Seine Kontakte zur Widerstandsbewegung der Bourbonen haben ihm geholfen, auf der Werft, in der das Unterseeboot hergestellt wird, zu arbeiten. Und dort ist es ihm tatsächlich geglückt, sich Zugang zu Lees Werkstatt zu verschaffen. Unter größtem Risiko konnte er Kopien der Konstruktionspläne anfertigen.« Der Colonel deutete auf die Skizzen auf dem Tisch. »Das sind zwar keine exakten Konstruktionszeichnungen, aber mehr als ausreichend für unseren Bedarf. Kurze Zeit darauf hat Ramillies erfahren, dass weitere Probeläufe in der Seine bevorstehen. Er schaffte es sogar, in das Sperrgebiet vorzudringen und den Probelauf zu beobachten.«

»Leider wurde er entdeckt«, unterbrach Admiral Dalryde die Ausführungen des Colonels. »Er konnte nur mit knapper Not entkommen, wurde jedoch auf der Flucht schwer verletzt. Die Kopien der Konstruktionspläne für das Unterseeboot trug er bei sich. Royalisten haben ihn bis zu seiner Genesung versteckt und dann die Überfahrt nach England für ihn arrangiert. In Dover ist er an Land gegangen und war auf dem Weg nach London, als seine Kutsche auf der Kent Road überfallen wurde. Der Räuber hat ihn ermordet und die Pläne für das Unterseeboot


gestohlen …« Nach einer Pause fügte der Admiral hinzu: »Den Rest kennen Sie.«

Colonel Congreve hob eine der Skizzen auf und betrachtete sie noch einmal ganz genau. »Wir vermuten, dass das Unterseeboot bereits funktionstüchtig ist und gegen unsere Konvois eingesetzt werden kann. Wir vermuten ebenfalls, dass Napoleon Lee beauftragt hat, ein ganz bestimmtes Ziel unter Beschuss zu nehmen. Leider wissen wir nicht, um welches Ziel es sich handelt.«

Hawkwood hatte noch immer Probleme mit der Logistik.

»Aber wie funktioniert dieses Unterseeboot? Wie finden diese Bomben ihr Ziel?«

»Was?«, fragte Colonel Congreve etwas geistesabwesend.

»Ach, die Torpedos! Das System ist eigentlich verblüffend einfach.« Er lächelte plötzlich. »Aber das wird ja von den besten Erfindungen immer behauptet.«

Hawkwood überlegte sich, ob der Colonel auf sein Experiment mit den Raketen anspielte, deren mangelhafte Treffsicherheit fast zu einem Fiasko geführt hätte.

Jetzt griff der Colonel wieder zum Bleistift und deutete auf die Skizze des Unterseeboots. »Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, beim Turm. An der Spitze befindet sich ein Stachel mit Widerhaken, Fulton nannte es das Horn. Sobald das Unterseeboot unter dem angepeilten Schiff positioniert ist, wird der Stachel von innen mit einem Schlag in den Rumpf getrieben. Können Sie mir folgen?«

Hawkwood nickte.

»Sobald der Stachel fest verankert ist, löst sich das Unterseeboot, und der Stachel bleibt im Rumpf stecken. Am Bug des Boots befindet sich eine von innen handbetriebene Winde. Von dort führt eine Leine nach achtern und durch einen Ring in den Stachel.« Der Colonel folgte dem Verlauf mit dem Bleistift.

»Dort ist sie an einem Kupferfass befestigt, das mit Schießpulver gefüllt und einem Zünder versehen ist. Beim Wegfahren des Boots wird die Leine bis zum Ende abgerollt. Dann löst die im Stachel befestigte Leine durch den Vorwärtszug das Fass vom Boot und zieht es an den Rumpf des Schiffs. Der Aufprall aktiviert den Zünder, und das Fass explodiert.« Grinsend fügte der Colonel hinzu: »Den Rest überlasse ich Ihrer Fantasie.«

Genial ist eher untertrieben, dachte Hawkwood und starrte noch auf die Skizze. »Wie viel Pulver muss in dem Fass sein?«, fragte er.

Colonel Congreve zuckte mit den Schultern. »Keine allzu große Ladung. Etwa zwanzig Pfund reichen. Unter Wasser richtet das Pulver mehr Schaden an als an Land. Denn die Wucht der Detonation ist aufgrund der Dichte des Wassers größer als in der Luft, deren Dichte geringer ist.«

Erstaunlich, dachte Hawkwood. Und man erfährt nichts, bis es zu spät ist. »Und was stellt diese Skizze dar? Ist das der Zündmechanismus einer Waffe, die als Regler dient?«

Der Colonel nickte. »Vermutlich.«

»Und die Schrift?«, fragte Hawkwood.

»Welche Schrift?«, wollte der Colonel wissen.

»Da, sehen Sie«, sagte Hawkwood und deutete auf die verblassten Buchstaben.

Der Colonel drehte das Papier um und hielt es sich dicht vor die Augen.

»Das ergibt keinen Sinn«, sagte Hawkwood. »The t-i-s … Die restlichen Buchstaben fehlen.«

James Read trat hinter Hawkwood und schaute über dessen Schulter.

»Damit kann ich nichts anfangen«, sagte der Colonel und schüttelte den Kopf. »Wie ist es mit Ihnen, Gentlemen? Sir Charles? Admiral?«

Als der Erste Seelord angestrengt auf die Skizze starrte, weiteten sich seine Augen plötzlich. »Großer Gott!«, rief er und blickte entsetzt zu Admiral Dalryde. Er schien kurz vor einem Schlaganfall zu stehen. »Thetis!«, stieß er dann hervor.

Der Admiral wurde blass.

Es war nur ein Wort, nicht zwei. Trotzdem war Hawkwood nicht klüger. Er sah James Read hilfesuchend an, doch zu seiner Bestürzung schien auch der Oberste Richter weder die Bedeutung des Wortes noch die Reaktion der beiden Männer darauf zu verstehen.

»Ich glaube, der Name stammt aus der griechischen Mythologie«, sagte er schließlich. »Thetis war die bekannteste der Nereiden, eine Meeresnymphe.« James Read zog die Augenbrauen zusammen, als er bemerkte, wie Admiral Dalryde und Charles Yorke vielsagende Blicke wechselten. »Allerdings kann das Wort auch eine ganz andere Bedeutung haben«, fügte er leise hinzu.

Der Erste Seelord fixierte den Admiral noch einmal und verkündete: »Die Thetis ist ein Kriegsschiff.«

»Ein Kriegsschiff?«, wiederholte Read ungläubig. Dann dämmerte es ihm: Das Wort Thetis bezog sich auf die HMS Thetis, einen nagelneuen Zweidecker der Surveyors-Klasse, mit vierundsiebzig Kanonen bestückt, der gegenwärtig in der Marinewerft in Deptford vor Anker lag und für den bevorstehenden Probelauf auf hoher See gerüstet wurde. Danach sollte das Schiff der Royal Navy’s Channel Fleet zugeteilt werden.

James Read musterte den Admiral. »Wann?«

Dalryde blinzelte. »Am 27. – in zwei Tagen. In Woolwich wird sie aufgetakelt und dann in Sheerness mit Kanonen bestückt. Dort geht auch die Mannschaft an Bord. Eine Woche wird sie auf See kreuzen und dann in Portsmouth zum Flottengeschwader stoßen.«

In dem anschließenden Schweigen wirkte der Erste Seelord sehr nachdenklich.

»Beunruhigt Sie noch etwas, Sir Charles?«, fragte James Read.

Yorke nickte zögernd. »Ja. Der Prinzregent.«

»Ist das auch ein Schiff?«, fragte der Oberste Richter verblüfft.

Der Erste Seelord schüttelte bekümmert den Kopf. »Nein. Damit meine ich Prinzregent Georg. Seine Königliche Hoheit, den Prinzen von Wales.«

Read starrte Sir Charles Yorke verständnislos an. »Und was ist mit ihm?«

»Seine Königliche Hoheit wird beim Auslaufen der Thetis an Bord sein.«

»Während der ganzen Fahrt?« James Read konnte es nicht glauben.

Wieder schüttelte der Erste Seelord den Kopf. »Nein, nur bis Woolwich.«

Diese kurze Strecke eignet sich kaum als Kulisse für eine heroische Entdeckungsreise, dachte Hawkwood. Prinz Georg will sich wohl wieder einen seiner fantastischen Träume erfüllen.

Es war allgemein bekannt, dass Prinz Georg trotz seines Amts als Regent gewissen Wahnvorstellungen frönte. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich der Prinz als einer der Heroen der Antike, als mittelalterlicher Monarch und sogar als chinesischer Mandarin verkleidete – und sich an der Szenerie einer blutrünstigen und gloriosen Schlacht ergötzte. Obwohl dem Hofstaat diese Schauspiele äußerst peinlich waren, wagte es niemand, dem Prinzen die Wahrheit zu sagen: dass seine Heldentaten rein fiktiver Natur waren und nur in seiner Vorstellung existierten.

Der kalte Blick des Obersten Richters durchbohrte Sir Charles. »Und warum wurde meine Behörde davon nicht in Kenntnis gesetzt?«

Charles Yorke zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wollte Seine Königliche Hoheit Sie nicht mit Nebensächlichkeiten belasten.«

»Nebensächlichkeiten?«, konterte Read scharf. »Den Schutz des Prinzregenten würde ich wohl kaum als eine Nebensächlichkeit bezeichnen.«

Sir Charles seufzte. »Hierbei handelt es sich nicht um eine zivile Angelegenheit, Read. Seine Königliche Hoheit bedarf Ihres Schutzes nicht, denn ein Truppenkontingent der Marine wurde bereits nach Deptford abkommandiert und wird den Prinzen nach Woolwich begleiten. Es gibt also keinen Grund zur Sorge.«

»Es gab keinen Grund zur Sorge«, korrigierte Read giftig.

»Immerhin haben sich die Umstände durch die hier gewonnenen neuen Erkenntnisse drastisch geändert, nicht wahr?«

Sir Charles straffte die Schultern. »O Mann! Die Sicherheit des Prinzregenten ist nicht gefährdet. Schließlich segelt er nur nach Woolwich und nicht in die Ostsee.«

»Dann haben Sie also nicht die Absicht, den Besuch des Prinzen auf der Thetis abzusagen?«, fragte Read.

Der Erste Seelord lächelte verkniffen. »Es erfordert sehr viel Mut – den ich nicht habe –, seiner Königlichen Hoheit einen Wunsch abzuschlagen. Schweitzer und Davidson hat ihm bereits eine neue Uniform geliefert. Hoffentlich taucht er nicht als Sultan von Ranipur verkleidet auf«, fügte Sir Charles abfällig hinzu. »Nichts für ungut, Colonel. Ich weiß, dass Sie Seine Hoheit als Ihren Freund betrachten, aber manchmal …«

Colonel Congreve schüttelte amüsiert den Kopf und wedelte mit der Hand. »Sie müssen sich vor mir nicht rechtfertigen, Sir Charles.«

Der Erste Seelord ist erstaunlich indiskret, dachte Hawkwood. Aber ich verstehe seine Befürchtungen. Der Prinz ist für seine extravaganten Kostüme bekannt. Er entwirft sie oft selbst und krönt sie mit Geschmacklosigkeiten, wie Säbelscheiden aus Leopardenfell und goldenen Epauletten.

»Außerdem ist er mitten in London nicht in Gefahr«, fuhr der Erste Seelord fort. »Sobald das Schiff die Themsemündung erreicht, sieht die Lage jedoch anders aus. Ich möchte den Kapitän der Thetis sprechen. Und verständigen Sie den Kommandanten der Marinewerft in Sheerness. Nein, es wäre noch besser, Sie würden alle Kommandanten der Schiffe in der Themsemündung zu besonderer Wachsamkeit auffordern. Sicher ist sicher.«

Während Sir Charles seine Anweisungen gab, schritt er zu der Wand über dem Kamin. Dort hing ein Dutzend zusammengerollte Seekarten. Er wählte eine aus, nahm sie herunter und breitete sie auf dem Tisch aus. Hawkwood sah, dass die Karte den Bereich der Themsemündung von Tilbury nach Harwich und Margate umfasste. Ihm kam das Gebiet riesengroß vor. Wie konnte man ein Schiff vor einer unsichtbaren Waffe unter Wasser schützen?

»Wir können die Patrouillen verstärken«, sagte Yorke, als hätte er Hawkwoods Gedanken gelesen. »Tarnnetze versenken, Schiffe sich zu einem Verteidigungsring formieren lassen und zusätzliche Wachen aufstellen.«

»Warum beordern Sie die Schiffe nicht in ihre Heimathäfen zurück?«, fragte Hawkwood.

»Kommt nicht in Frage!«, schnaubte der Erste Seelord wütend. »Schiffe der Königlichen Marine flüchten nicht wie aufgescheuchte Hasen! Nein! Bei Gott, wir stellen uns dieser Bedrohung mutig und entschlossen. Wir zeigen Napoleon, dass England noch immer die Meere beherrscht und nicht irgendein hergelaufener Emporkömmling in einem umgedrehten Rumfass!«

Während sich Charles Yorke, Admiral Dalryde, Generalinspekteur Blomefield und Colonel Congreve über die Seekarte beugten, nahm James Read seinen Runner beiseite. »Verstehen Sie jetzt«, flüsterte er, »warum wir diese Straßenräuber unbedingt fassen müssen? Damit wir herausfinden, für wen diese Verbrecher arbeiten.«

»Denken Sie etwa, es sind französische Agenten?«, fragte Hawkwood.

»Durchaus möglich. Napoleons Spione sind auch in England aktiv. Wahrscheinlich haben Ramillies Verfolger in Frankreich die hiesigen Agenten darüber informiert, welche Kutsche Ramillies nach London nahm. Außerdem müssen wir herausfinden, welche Rolle Runner Warlock in dieser Geschichte gespielt hat. Wie sind diese Pläne in seinen Besitz gelangt? Und mich beunruhigt die Verbindung zu Lord Mandrake. Ich schlage vor, Sie ermitteln zunächst in dieser Richtung, da sich Ihr Freund aus der Unterwelt noch nicht gemeldet hat.«

»Ich kenne jemanden, der uns vielleicht dabei behilflich sein könnte«, schlug Hawkwood vor.

»Gut!« Read warf einen ausdruckslosen Blick auf Charles Yorkes breiten Rücken. Als er sich wieder zu Hawkwood umdrehte, fügte er leise hinzu: »Tun Sie, was getan werden muss. Wohin es auch führen mag.«

Загрузка...