XII

HUGH DE MONTHERMER und Lucy de Ashby vernahmen in ihrem vertrauten Zwiegespräch kaum den Schritt auf der Treppe. Erst das Pochen an der Tür brachte sie in die Wirklichkeit zurück, und es lag nicht wenig Verdruß in dem Ton, mit dem Hugh »Herein!« rief.

Die Tür ging langsam auf, aber statt eines Mädchens von Lucy erschien die affenähnliche Gestalt des Knaben Tangel, der mit einer seiner seltsamen Gebärden Hugh zum Zimmer hinauswinkte.

»Was wollt Ihr?« fragte Hugh, ohne von seinem Sitz aufzustehen.

»Ich möchte, daß Ihr Euch auf Eure Gehstecken stellt«, versetzte Tangel, »und mit mir kommt.«

»Ich muß zuerst wissen, warum«, antwortete Hugh de Monthermer. »Geht schon immer, guter Tangel. Ich werde gleich kommen.«

»Nein, Ihr müßt sofort kommen«, sagte der Zwerg. »Robin wartet auf keinen Menschen. Er und der andere Geselle schickten mich, um den mit dem gestickten Wams zu holen. Robin hat Gegenstände der Beratung für Euer Ohr, obgleich ich wohl ahne, daß es rein nichts anderes ist, als wenn man eine Blume in den Schwanz eines Hahnes steckt.«

»Ich finde die Ähnlichkeit nicht, guter Tangel«, antwortete Hugh, die Augenbrauen hochziehend, indem er langsam aufstand.

»Beide fallen bald wieder aus«, sagte Tangel grinsend. »Der Rat, meine ich, und auch die Blume, mein Herr Gewappneter. Was hat es für einen Sinn, einem Mann in einem gestickten Wams Rat zu geben? Aber kommen müßt Ihr und ihn annehmen, Ihr mögt wollen oder nicht.«

»So muß es denn wohl sein, denke ich«, antwortete Hugh. Aber Lucy hielt ihn am Ärmel zurück und fragte ängstlich: »Ihr kommt doch zurück, Hugh?«

»Glaubt Ihr, ich könnte Euch jetzt hier allein lassen, Lucy?« entgegnete er mit einem Lächeln. »Nein! Wie ich zuvor gesagt: Wenn ich Euch nicht mit mir nehmen kann, will ich bleiben und mein Leben mit Euch im Walde hinbringen.«

»Hoho!« rief der Zwerg, als hätte er eine Entdeckung gemacht. »Mich dünkt, ich wäre besser weg!«

Hugh mußte lachen. »Wir haben Euer auch wirklich nicht begehrt, Tangel. Aber jetzt geht nur voran. Wo ist Robin Hood?«

Der Zwerg schwenkte einen seiner langen Arme nach der Treppe, und Hugh de Monthermer folgte dem Knaben hinunter in dasselbe Gemach, in das ihn der Geächtete unmittelbar nach ihrer Ankunft geführt hatte. Es waren jetzt zwei Männer darin: der kühne Geächtete und ein zweiter, der mit dem Rücken zur Tür stand. Als jedoch der junge Lord eintrat, wandte sich der letztere um. Es war der Freisasse Ralph Harland.

Hugh de Monthermer fuhr überrascht zurück; denn seit er ihn zuletzt auf dem Rasenplatz von Barnesdale gesehen hatte, war sein Gesicht blaß geworden und eingefallen.

Er ergriff ihn augenblicklich bei der Hand und rief: »Ralph, was fehlt dir? Du scheinst krank, mein Freund!«

»Krank am Gemüt, mein Lord Monthermer«, versetzte Ralph Harland düster, »sonst nicht.«

»Nein, nein, Ralph!« rief Hugh. »Ihr müßt nicht so förmlich sprechen. Wir haben als Knaben miteinander gerungen, sind miteinander durch den Wald galoppiert. Ich habe Eures Vaters Brot gegessen und seinen Wein getrunken - deshalb muß Hugh de Monthermer eine brüderliche Antwort haben von Ralph Harland. Was fehlt dir denn? Bei meiner Ehre, wenn mein Schwert oder meine Stimme dir einen Dienst leisten kann... Aber ich weiß, was es ist«, fuhr er fort, sich plötzlich der Vorfälle am Maientag erinnernd. »Ich weiß, Ralph, was für eine Schlange dich gestochen hat. Aber das ist eine Wunde, die zu heilen mir der Balsam fehlt!«

»Dafür gibt es keinen auf Erden«, versetzte Ralph Harland.

»Ja«, sagte nun Robin Hood, der bisher stillschweigend den Wortwechsel verfolgt hatte, »aber wenn es auch keinen Balsam gibt, sie zu heilen, so gibt es doch wohl einen zur Linderung, mein Lord, und Eure Hand muß es sein, die ihn reicht. Ich will die Wahrheit entdecken. Wir halten hier eine gewisse junge Dame gefangen, die wir, wie Ihr seht, mit aller Achtung behandeln; denn wir suchen keine Rache. Was wir begehren, ist eine geringe Genugtuung: Man sende Katy Greenly zurück in ihre Heimat, man gebe sie ihrem Vater wieder. Und Ihr, mein Lord, müßt dies von dem Grafen von Ashby verlangen - er allein kann es tun. Euch vertrauen wir, daß Ihr den Lord Ashby veranlassen werdet, uns Landleuten Gerechtigkeit zu verschaffen.«

Hugh de Monthermer wußte zunächst nicht, was er sagen sollte. Daß Robin Hood, der nicht nur durch seine Kühnheit, sondern auch durch seinen Sinn für Gerechtigkeit bekannt war, Lucy hier gefangen hielt, um die doch offenkundig freiwillig entlaufene Kate Greenly von Richard de Ashby zurückfordern zu können, machte ihn betroffen. Schließlich sagte er zögernd: »Ich kann an den Grafen keine mit Drohungen verbundene Forderung bestellen, mein guter Freund.

Ihr habt hier eine wilde Art von Gerechtigkeit geübt; denn weder das Fräulein Lucy de Ashby noch ihr Vater haben Euch beleidigt. Ihr reißt sie gegen ihren Willen von ihrer Familie weg als Geisel für die Rückkehr einer andern, die aus freien Stücken dahin ging, wo sie jetzt ist. Wenn sie dort bleiben will, wer kann sie zurückschicken? Ich kann in dieser Sache nichts tun, solange Ihr Lucy hier zurückhaltet. Ich erkläre Euch offen, daß auch ich hier bleiben werde; denn als Ritter und Edelmann muß ich versuchen, sie in Freiheit zu setzen.«

»Und als Liebhaber obendrein«, fügte Robin Hood lächelnd hinzu. »Aber, mein Lord, wir wollen Euch nutzlose Mühe ersparen. Alle Männer des Hauses Monthermer und die des Hauses Ashby dazu vermögen das Fräulein nicht zu befreien, wenn ich sie gefangenhalten will. Es liegt jedoch etwas Wahres in Euren Worten, und diese Wahrheit hat sich mir aufgedrängt, noch ehe Ihr sie ausspracht. Deshalb habe ich Euch vorhin verlassen und diesen schwer gekränkten jungen Mann aufgesucht, um ihm zu gestehen - was ich mich niemals schäme zu gestehen, wenn es so ist -, daß ich zu rasch gehandelt habe, daß ich nicht das Recht hatte, ein schuldloses Fräulein den Frevel eines Verräters entgelten zu lassen. Aus diesem Grunde soll sie schon morgen früh unter Eurem Schutz zurückkehren. Dennoch, mein Lord, erwarte ich von Euch, daß Ihr den Grafen von Ashby auffordert, seinen Vetter zu veranlassen, die leichtfertige Kate Greenly in ihres Vaters Haus zurückzuschicken. Ich erwarte, daß er durch eine Mitgift für ein Kloster eine - allerdings armselige - Vergütung leistet, die wenigstens den bettelhaften Schurken Richard de Ashby einigermaßen den von ihm begangenen Frevel büßen macht. Ihr seid als Ritter und Edelmann verpflichtet, mein Lord, dies zu tun.«

»Ich will es tun«, antwortete Hugh de Monthermer, »weil mein Herz mir sagt, daß es recht ist, und mein Rittereid mich dazu verpflichtet.«

»Ach, mein Lord!« sagte Robin Hood. »Wollten nur die Edelleute von England immer das Gebot ihres Herzens zu Rate ziehen und dies Herz sich unverhärtet bewahren, wollten sie nur immer ihres Rittereides eingedenk bleiben und handeln, wie dieser Eid erheischt - es gäbe weniger Trauer im Land, es wäre mehr Glück in den Hütten, und mehr Achtung herrschte gegen Männer von hohem Stande!«

»Ihr habt unrecht«, sagte Hugh de Monthermer, seine Hand auf den Arm Robin Hoods legend. »Ihr habt unrecht und gebt Euch mehr dem gewöhnlichen Vorurteil hin, als ich gehofft und erwartet hatte. Es gibt gewiß unter uns Männer, die den Namen des Edelmanns schänden, deren schnöde Taten, wie die des Richard de Ashby, Elend in andere Stände und Schmach über ihren eigenen bringen. Aber in einem Punkt laßt uns Gerechtigkeit widerfahren. In diesem Jahrhundert sind die Edelleute von England der Tyrannei kühn entgegengetreten. Haben sie etwa nicht ihr Blut zur Verteidigung der Rechte des Volks vergossen? Ist es nicht mit ihr Verdienst, daß auf unserer Insel die Leibeigenschaft mehr und mehr verschwindet? Wir haben wohl Anhänger, Gesinde und Männer, die verpflichtet sind, uns im Fall der Not Dienste zu leisten, aber wir haben keine Leibeigenen mehr. Selbst in der gegenwärtig sehr unruhigen Zeit werden Abgeordnete aus den Reihen des Volks zu dem hohen Parlament der Nation berufen, um die Rechte und Interessen derjenigen Stände zu vertreten, die bisher keine Stimme bei der Gesetzgebung für das Land hatten. Dafür stehen die Edelleute von England ein, und ich müßte mich sehr irren, wenn nicht auch in kommenden Zeiten der englische Adel - obwohl darunter Schlimme sein mögen und immer sein werden - sich zwischen das Volk und die Tyrannei des Köngis stellen wird, unsere Verfassung zu schützen.«

»Vielleicht ist es so«, sagte Robin Hood nachdenklich. »Aber dennoch denken Leute von hohem Rang nicht immer daran, daß sie bei ihren Privilegien auch Pflichten und Obliegenheiten haben. Es wäre recht gut, wenn der Adel bedenken wollte, daß jeder, der sich selbst entehrt, auch seinen ganzen Stand entehrt. Wenn aber die ehrlichen, aufrichtigen Edelleute Gemeinschaft halten mit den lasterhaften, so machen sie deren Sünden zu den ihrigen.«

»Ich kann nicht umhin, Euch beizustimmen«, sagte Hugh de Monthermer zögernd. »Aber...«

»Ja, mein Lord, da gibt es manches Aber«, erwiderte der kühne Geächtete, nachdem er aus Höflichkeit einen Augenblick gewartet hatte, um den Schluß des Satzes des jungen Lords zu vernehmen. »Es wird immer ein Aber geben, solange es Menschen gibt mit menschlichen Leidenschaften und menschlichen Torheiten.«

Hugh de Monthermer fühlte keine Neigung, das Gespräch fortzusetzen. Er wandte sich daher an den jungen Freisassen und sagte:

»Ich fürchte, Ralph, daß Ihr nach all dem Leid, das Ihr von einem meines Standes erduldet habt, nicht sehr geneigt sein werdet, uns noch ein Verdienst in irgendeiner Hinsicht zuzugestehen. Wollt Ihr mich dennoch in den Westen begleiten und teilnehmen an dem Kampf, den ich herannahen sehe? Wir haben unruhige Zeiten vor uns, Ralph, Zeiten, wo Gefahren für unsere Freiheiten und Rechte wohl mit persönlichen Kümmernissen sich in das Herz von Männern teilen dürfen.«

»Ich will Euch gern folgen, Hugh«, erwiderte Ralph Harland. »Aber ich darf nicht vergessen, daß ich einen Vater habe. Ich muß mit ihm sprechen, ehe ich mit Euch gehe. Er wird mich nicht zurückzuhalten suchen, und ich will Euch bald folgen, aber dann nicht allein. Ich kann Euch manchen Mann mitbringen, der bereit ist, unter einem Banner mit Euch zu fechten. Wo werde ich Euch finden, mein Lord?«

»Sobald ich Lucy de Ashbys Befehle empfangen«, sagte Hugh de Monthermer, »und sie dahin geleitet haben werde, wohin sie zu gehen wünscht, werde ich den Weg direkt nach Hereford nehmen, und zwar über Gloucester, wo ich meinen Oheim und den Grafen von Ashby einzuholen hoffe. Sollte ich bei dem letzteren seinen Vetter Richard treffen, so soll er mir Rechenschaft ablegen für mehr als eine niederträchtige Handlung.«

»Nein, mein Lord«, versetzte der junge Freisasse beschwörend. »Ich bitte Euch dringend, fangt keinen Streit an um meinetwillen. Ich weiß, welche Herzenswünsche Ihr aufs Spiel setzen müßtet. Außerdem aber glaube ich, daß noch die Zeit kommt, wo ich diesen Schurken allein treffe und er mir Rede stehen muß, obgleich ich weder Ritter noch Edelmann bin. Aber um eines bitte ich Euch: Sagt Lucy de Ashby, warum sie hierhergebracht wurde.«

»Ja, sagt es ihr«, fügte Robin Hood hinzu. »Sagt es ihr um ihrer selbst willen; denn ich fürchte, der Tag wird kommen, wo die Kenntnis dieser Umstände ihr ein Schutz sein dürfte gegen Richard de Ashby, der jetzt machtlos scheint. Spottet nicht darüber, mein Lord, glaubt nicht, er wäre zu jämmerlich und gering, um Anlaß zur Besorgnis zu geben. Der Skorpion ist ein kleines Tier, und doch wohnt der Tod in seinem Stachel. - Und jetzt: Gute Nacht! Morgen früh sollt Ihr jemand haben, der Euch auf Eurem Wege als Führer dient.«

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