VI

AN DER GRENZE des Sherwood, nicht weit von dem kleinen Fluß Lind und eingeschlossen von Wäldern, erhob sich in jenen Zeiten das normannische Schloß Lindwell, ein Kastell von beträchtlicher Größe. Es war in der Regierungszeit des William Rufus erbaut, auf Befehl Heinrichs II. zum Teil seiner Befestigungen beraubt und unter der Herrschaft des schwachen Tyrannen Johann wiederhergestellt worden. Da es nicht weit von Nottingham entfernt lag, wurde es häufig besucht von Edelleuten und Angehörigen der königlichen Familie und war oft der Schauplatz der glänzenden und prunksüchtigen Gastlichkeit der alten Baronenschaft Englands.

Das Schloß, das auf einer sanften Erhöhung lag, war nun im Besitz des Grafen von Ashby. Das Gebiet gehörte eigentlich noch zum Sherwood, aber damals besaßen häufig gewisse Ritter Privatwaldungen im königlichen Forst, und dies war auch der Fall bei dem Grafen von Ashby auf seiner Besitzung Lindwell. Mochte er nun ursprünglich ein begründetes Recht auf die Jagd daselbst haben oder nicht, so war doch ein solches Privileg während der Regierung Johanns erteilt worden, und die Sage ging, es sei zwischen ihm und dem König zu manchen Streitigkeiten gekommen, weil er die Ausübung dieser Rechte über die gebührenden Grenzen ausgedehnt habe.

Am Tage nach den soeben beschriebenen Vorfällen zog eine heitere Gesellschaft auf frischen, feurigen Pferden aus den Toren des Schlosses und schlug den Weg in Richtung Nottingham ein. An der Spitze ritt des Grafen Tochter, Lucy de Ashby, mit ihren zwei Dienerinnen. Die drei jungen Frauen, die alle kaum zwanzig Jahre zählten, waren reich und farbenprächtig gekleidet. Außer einem Pagen folgten ihnen vier Yeomen.

Lucy de Ashby sah nicht älter aus, als sie den Jahren nach war; denn sie war klein von Gestalt und zart, doch offenbarte sich schon in jeder Linie die weibliche Fülle. Ihr Angesicht hatte eine warme und gesunde Farbe. Stirn, Nase, Mund und Kinn waren insgesamt schön geschnitten, die Augen groß und von schwarzen Wimpern beschattet. Ihr Mund war voll schalkhafter Heiterkeit; denn der Kummer hatte hier nur einmal, beim Tode ihrer Mutter, gewohnt, und Tränen waren sehr seltene Gäste in diesen dunklen, glänzenden Augen.

Die Dienerinnen plauderten mit ihr in einer artigen Vertraulichkeit über den gewöhnlichen Gegenstand der weiblichen Gedanken in allen Zeitaltern: über die Mode.

»Nein, teure Herrin«, sagte eine von ihnen, »ich hätte den Wappenrock angezogen, um darin dem Vater nach Nottingham entgegenzureiten. Er sieht so prächtig aus mit dem silbernen Feld auf der einen, dem azurblauen auf der andern Seite und den schönen fliegenden Eidechsen darin!«

»Ich kann das Wappen nicht ausstehen«, entgegnete Lucy lächelnd. »Wenn ich bloß schon höre, ich solle die Felder an mir tragen! Man sollte ja glauben, ich sei ein Stück pflügbares Land, und was die Wappenröcke betrifft, Judith, so gefällt mir dieser neue Brauch überhaupt nicht. Frauen haben nichts mit Wappenröcken zu tun.«

»Dennoch kommt er mir viel schöner vor als das gold und azurblaue Kleid, das Ihr so gern tragt. Ich würde es jedenfalls nie tragen.«

»Warum nicht?« fragte Lucy de Ashby überrascht. »Azur ist die Farbe des Himmels, Gold die der Erde. Warum wolltet Ihr sie nie tragen?«

»Weil es die Farben der Monthermer sind«, antwortete das Mädchen, »und die sind alte Feinde Eures Hauses.«

»Aber jetzt sind sie Freunde«, entgegnete Lucy, der das Blut heiß in die Wangen stieg.

In diesem Augenblick rief einer von den Yeomen: »Hölle und Teufel! Da wirft jemand ein Netz am Fluß aus! Schnell, Jakob, schnell ihnen nach! Ihr, Bill, reitet um den Wald herum und packt sie von der andern Seite! Seht, sie wollen fortlaufen!« Ihren Pferden die Sporen einsetzend, galoppierten die männlichen Begleiter Lucys, mit Ausnahme des Pagen, so schnell sie nur konnten, den Flüchtigen nach, laut schreiend, als verfolgten sie ein jagdbares Tier.

Lucy de Ashby zügelte ihr Pferd und rief dem Pagen, der sie jetzt auch verlassen wollte, zu, dazubleiben. Aber der Knabe schien von einer plötzlichen Taubheit befallen und hatte schon seinem Pferde die Sporen gegeben. Lucy schaute ihm zuerst mit erzürnter Miene nach; dann lachte sie und sagte: »Das ist eine drollige Neigung von den Männern, allem nachzurennen, was sie flieht!«

Mit diesen Worten schüttelte sie die Zügel, hielt ihr Pferd im Schritt und ritt die Straße in den dichteren Wald hinein, es ihren Dienern überlassend, nachzukommen.

Nach etwa einer Viertelstunde erschien der erste der Männer wieder an der Stelle, wo sie ihre Herrin verlassen hatten, aber er war zu Fuß und befand sich nicht mehr in dem glänzenden Aufzug wie zuvor. Seine Kleider wie auch seine Haare waren klatschnaß, im Gesicht trug er die Spuren von tüchtigen Stockhieben. Er war entwaffnet und sah völlig einem Manne gleich, der herzhaft durchgeschlagen und durch eine Pferdeschwemme gezogen worden. Ein lautes Echo, das vom Fluß her an sein Ohr drang, schien ihn mit nicht sehr angenehmen Empfindungen zu erfüllen; denn er stürzte sieh mit einemmal in die Büsche hinein und versteckte sich darin.

Nun erschienen zwei seiner Kameraden; aber sie sahen nicht viel besser aus als er. Obgleich sie ihre Pferde behalten hatten, kehrten sie doch beide in entsetzlich zerschlagenem Zustand aus dem Kampf zurück.

»Wo ist Bill geblieben?« sagte einer zu dem andern. »Ich habe ihn hierherlaufen sehen.«

»Der arme Teufel! Er hat sein Teil!« versetzte sein Kamerad.

»Und Ihr habt auch Euer Teil, denke ich!« schrie nun derjenige, der zuerst erschienen war, aus dem Gebüsch hervorkriechend. »Haha! Ich habe nie so einen Streich gesehen und gehört wie den mit dem Knüttel über Eure Schultern, Jakob! Ihr ertöntet wie ein leeres Faß unter dem Hammer des Küfers!«

»Ja, Bill«, sagte der Mann, zu dem er sprach, grimmig, »und als der Mann Euch den Faustschlag aufs Auge versetzte - was war das für ein Fall! Ja, es war geradeso, als wenn der Küchenjunge den Apfelpudding fallen ließe und er auf dem Boden zerplatzte!«

»Ich will es ihm schon wettmachen«, knurrte der Mann, den sie Bill nannten. »Aber wo sind der Page und Walther?«

»Sie sind davongaloppiert, dem Schloß zu«, antwortete der dritte, »und Euer Pferd mit ihnen. So müßt Ihr eben zu Fuß zum Schloß zurückkehren. Wir müssen nun aber rasch dem Fräulein nach!«

»Ihr werdet eine schöne Figur machen, wenn Ihr so hinter ihr in Nottingham einreitet«, versetzte Bill. »Was wird aber mein Lord sagen, wenn er erfährt, daß wir vier und der Page von fünf Männern zu Fuß geschlagen wurden?«

»Es waren weit mehr als fünf!«

»Ich meine, einige im Gebüsch gesehen zu haben«, fügte der dritte hinzu.

»Kommt, kommt!« rief Bill. »Es waren nur fünf! Ich ward kampfuntüchtig dadurch, daß ich ins Wasser gestürzt wurde, sonst hätte ich ihnen etwas anderes gezeigt.«

»Ich glaube fast, Ihr hättet Wunder getan«, erwiderte der andere höhnisch. »Aber wir müssen endlich weiter, und Ihr kehrt, so schnell Ihr könnt, ins Schloß zurück.«

In raschem Galopp ritten nun die beiden Yeomen voran, in der Hoffnung, ihre junge Gebieterin einzuholen, bevor sie Nottingham erreichten.

Als sie jedoch nach ein paar Meilen noch immer nichts von Lucy de Ashby und ihren Dienerinnen erblickten, sah Jakob seinen Kameraden bedenklich an und sagte: »Es ist doch seltsam, daß wir sie noch nicht eingeholt haben - sie muß schnell geritten sein.«

»Das sieht ihr ganz ähnlich«, erwiderte der andere sorglos. »Sie ist drauflos galoppiert, um uns dafür zu strafen, daß wir sie im Walde verlassen haben. Ich wollte ein schönes Stück Geld wetten, sie zieht keinen Zügel an bis Nottingham.«



Aber Jakob war nicht so leicht ums Herz. Er heftete im Weiterreiten die Augen beständig auf den weichen Boden und spähte nach Spuren von Pferdehufen, doch konnte er keine entdecken. So erreichten sie schließlich die Tore von Nottingham und begaben sich sofort nach dem Quartier des Lords Ashby. Die Tore des großen Hauses standen offen, Diener eilten hin und her, Pferdebuben und Reitknechte schnallten Gurte los, nahmen Sättel ab, Küchenknechte und Brotmeister packten Körbe und Säcke aus, und Knaben und Bettler sahen zu.

»Was, ist mein Lord schon angekommen?« schrie Jakob und sprang vom Pferde. »Wir erwarteten ihn erst heute nacht oder morgen früh.«

»Er wird in einer halben Stunde hier sein«, versetzte der Pferdejunge, an den er sich gewandt hatte. »Wir sind vorausgeritten.«

»Wo ist unser junges Fräulein?« fragte ein Diener. »Wir glaubten, wir würden sie hier finden, den Grafen erwartend.«

»Ist sie nicht hier?« rief bestürzt der Yeoman, der auf seinem Pferde sitzen gebheben war. »Sie ritt uns voraus!«

Jakob sprang, nicht weniger erschrocken als sein Kamerad, wieder in den Sattel und rief: »Das ist ein höllisches Komplott!«

Die Geschichte ward bald erzählt und versetzte die Dienerschaft des Lords von Ashby in unbeschreibliche Verwirrung. Zehn, zwölf Männer bestiegen ihre Pferde, obgleich die Tiere von einem langen Tagesritt ermüdet waren, und brachen auf, um das Fräulein zu suchen, wobei sie die Waldwege nach allen Richtungen durchforschten. Aber sie konnten nicht die geringste Spur von ihr entdecken. Nach zweistündigem Suchen kamen die Männer mit dem Trupp des Grafen, der ihnen begegnet war, wieder zurück.

Der alte Lord Ashby war begleitet von nur vier oder fünf Dienern, hatte aber seinen Sohn Alured und Hugh de Monthermer bei sich. Lord Alured tobte wie ein zorniger Tiger, und der alte Lord schwur jede Art von Rache, als sie die Nachricht vom Verschwinden Lucys vernahmen. Hugh de Monthermers Lippe bebte, aber alles, was er sagte, war: »Das ist in Wahrheit entsetzlich, mein Lord, daß Euer Lordschaft Tochter nicht ungefährdet von Lindwell nach Nottingham reisen kann! Was können wir tun?«

»Wir!« rief Alured de Ashby. »Hugh von Monthermer, Ihr habt sehr wenig dabei zu tun, dünkt mich! Was ich tun werde, wird nur sein, daß ich den Schurken die Ohren abschneide, die ihr Fräulein aus irgendeinem Grunde verließen, als sie sie nach Nottingham geleiten sollten!«

»Mein Lord von Ashby«, sagte Hugh de Monthermer, sich zu dem Vater Alureds wendend, »ich bediente mich des Wortes ,wir' nur, weil ich als Euer Freund so innigen Anteil an der Angelegenheit nehme. Ich und meine Leute stehen zu Eurem Befehl, und wir wollen uns bemühen, Euch bei den Nachforschungen so gute Dienste zu leisten wie Eure besten eignen Leute, wenn Ihr es uns erlauben wollt.«

»Aber gewiß«, erwiderte der Graf. »Alured ist zu unbesonnen! -Vor drei Stunden, sagt man, sei dies vorgefallen? Sollten sie sich in den Wald gewandt haben, so können sie noch nicht weit gekommen sein. Wenn einer von uns zurückginge bis zu der zweiten Biegung der Straße, so muß er, wenn er den Reitpfad einschlägt, entweder dem Trupp selbst begegnen oder die Pferde finden, falls sie diese haben laufen lassen, um sich zu Fuß weiterzubegeben.«

»Sie sind nicht in den Wald hinein«, schrie Alured de Ashby aufgebracht. »Verlaßt Euch darauf, es sind Leute des Königs oder des Bischofs! Es ist weit besser, wir durchstreifen das offene Land, den Ufern des Trent entlang. Ihr werdet bald an den Brücken erfahren, ob jemand diesen Weg gekommen ist.«

»Tretet vor, Jakob«, sagte der Graf. »Ihr seid einer von den Toren, die sich irreführen ließen. Was für Menschen waren es, die Euch von Eurem Fräulein weglockten?«

»Ich glaube, es waren verkleidete Waffenleute«, antwortete der Diener bekümmert. »Sie waren so geübt in der Handhabung ihrer Waffen, daß sie uns alle zusammenschlugen. Zudem hörte ich, als ich einem von ihnen einen Streich versetzte, etwas klirren wie eine Rüstung.«

»Es scheint, daß Ihr recht habt, Alured«, sagte der Graf nachdenklich. »Aber doch tun wir am besten, die ganze Gegend zu durchstreifen. Ihr übernehmt mit einem Teil der Männer die Ufer des Trent - ich mit den andern will den Saum des Waldes von Nottingham bis Lindwell durchstöbern. Und unser junger Freund Hugh de Monthermer mit seinen zwei Dienern und zwei von den unsrigen wird vielleicht den Wald selbst, von der zweiten Biegung der Straße gegen Southwell zu, durchforschen.«

Alured de Ashby schien nicht sehr zufrieden mit der getroffenen Anordnung, denn seine Stirn blieb noch immer umdüstert. Aber er machte keine Einwendimg, und nach wenigen weiteren Worten trennte sich die Gesellschaft.

Es ist ein merkwürdiger Umstand und zugleich ein auffallender Beweis von der Gesetzlosigkeit jener Zeiten, daß keiner der Beteiligten annahm, das Verschwinden von Lucy de Ashby könne ganz gewöhnlicher Zufall sein.

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