XV

IN DEM ALTEN KASTELL von Hereford, das eines der größten Kriegsbauwerke der Feudalzeit war, befanden sich zahlreiche Höfe und verschiedene Nebengebäude, die eine ungeheure Anzahl von Personen aufnehmen konnten. An dem Abend von Hughs Besuch wimmelten der Haupthof, die Hallen und deren Korridore von nicht weniger als sieben- bis achthundert Menschen, während sich in den andern Teilen des Gebäudes nur wenige Personen aufhielten.

In dem dunkelsten Winkel eines langen Ganges, der in den Hof mündete, wo Prinz Edwards Quartier lag, standen, gerade um die Zeit, als Hugh de Monthermer den Grafen von Leicester verließ, zwei Männer in eine ernste Besprechung vertieft. Beide waren in große, weite Mäntel gehüllt und hatten ihre Kapuzen tief in das Gesicht gezogen, so daß sie kaum zu erkennen waren. Dennoch schienen sie sich nicht völlig sicher zu fühlen. In dem Augenblick nämlich, wo sie einen Menschen von der Richtung des Haupthofes her kommen hörten, machten sie ein paar Schritte vorwärts und traten in einen der Seitengänge. Dort blieben sie stehen und setzten ihre Unterredung im Flüsterton fort. Sie waren so vertieft in den Gegenstand ihres Gesprächs, daß Hugh de Monthermers große schlanke Gestalt keine Aufmerksamkeit bei ihnen erregte, als er an ihnen vorbeiging. Er schaute scharf auf sie hin, ohne seinen raschen Schritt zu mäßigen.

»Es müssen Mittel gefunden werden, und zwar sehr bald, oder unsere letzte Aussicht ist verloren.«

»Ihr müßt einen Eurer verwünschten Streiche gespielt haben, Richard, sonst hätte de Montfort nimmermehr einen solchen Schritt unternommen. Das Haus Ashby ist von zu hoher Wichtigkeit für jede Sache, als daß auch nur der geringste Angehörige desselben ohne Grund unwürdig behandelt wird.«

»Unsinn, Alured, ich habe nichts getan! Ich sage Euch, es geschah einzig auf die Beschuldigung des alten Monthermer hin.«

»Bei Eurer Ehre?«

»Bei meinem Leben und meiner Ehre!«

»Gut denn«, sagte nach einigem Besinnen der Größere. »Ich bin froh, daß es so gegangen ist, und fürs erste will ich Sorge tragen, daß es meines Vaters Zorn gegen de Montfort rege macht. Zweitens soll es ihn aber auch in Harnisch bringen gegen diese Monthermers und ihn veranlassen, mit beiden zu brechen. Auf alle Fälle wird es ihn geneigt machen, meinen Ubertritt zu Gloucester zu verzeihen. Ja, ich bin froh, daß es so gegangen ist.«

»Ich kann das nicht von mir sagen«, versetzte Richard de Ashby. »Dennoch bin ich nie in Sorge um eine Entschuldigung. Es hat manchen Vorteil, einen schlechten Ruf zu haben. Die Leute erwarten nicht zuviel von einem. Um aber auf die Sache zu kommen: Wie können wir ihm Nachricht geben von dem Plan?«

»Könntet Ihr nicht ein Weib bestechen? Ein Weib würde man nicht abweisen, denke ich.«

»Richtig!« rief Richard. »Ihr habt mich auf die rechte Fährte geführt, und ich werde das Wild nicht verfehlen.«

»Aber wißt Ihr ein Weib, dem Ihr auch trauen könnt?«

»Uberlaßt das mir! Ich kann das machen, ehe noch eine Stunde vorüber ist. Lebt wohl für den Augenblick, es ist keine Zeit zu verlieren. Heute nacht muß ich Hereford verlassen, und wenn Ihr, Alured, einen Hader mit dem edlen Lord Hugh anzuspinnen beabsichtigt, so tut es schleunig; denn ich denke, es werden nicht vierundzwanzig Stunden verstreichen, bis ich ihm einige Kleinigkeiten heimgezahlt habe.« Damit trennten sie sich.

Mittlerweile war Hugh de Monthermer weitergeeilt, ohne von der Unterhaltung etwas zu ahnen. Nachdem er den anderen Hof durchschritten hatte, näherte er sich einer Tür, vor der zwei von de Montforts Offizieren standen, scharf, aber mit dem Anschein tiefster Ehrerbietung Wache haltend vor dem einzigen Zugang zu den Gemächern des Prinzen Edward.

Die Zimmer waren so anständig und behaglich, wie ein Quartier nur immer sein kann, zu dem der freie Aus- und Eingang verwehrt ist. Das Hauptzimmer war größ und hoch, mit zwei breiten Fenstern, die einen Ausblick auf die schöne Landschaft gewährten.

In einem großen Sessel, die Füße auf einem Schemel ruhend, saß der gefangene Prinz an einem der geöffneten Fenster. Er stützte das Haupt auf seine Hand und starrte hinaus, während etwas entfernt von ihm ein jüngerer Gentleman saß, der ihn von Zeit zu Zeit voller Teilnahme ansah, aber aus ehrerbietiger Rücksicht für die nachdenkliche Stimmung des Prinzen schwieg.


Die milde Sommerluft mit dem Wohlgeruch der Blüten von den Feldern strömte in das Zimmer; von den Straßen und Häusern von Hereford stiegen die vielfachen verworrenen Töne des geschäftigen Lebens empor. Die Glocken der Kathedrale läuteten, und Edward dachte daran, wie oft er früher diese Töne am Abend gehört hatte, wenn er von der Jagd zurückkam. Alles erinnerte ihn an die Freiheit, und sein Herz fühlte sich beklommen.

Schließlich erhob er sich von seinem Sitz und sagte mit einem schmerzlichen Lächeln: »Ich will in meinem Zimmer auf und ab wandern, de Clare, und mir einbilden, ich sei frei!«

»Ich hoffe, Ihr fühlt Euch heute abend wohler, mein Prinz«, sagte der junge Thomas de Clare, der Bruder des Grafen von Gloucester.

»Ja, es geht mir schon besser«, versetzte der Prinz. »Das Fieber hat mich verlassen, aber nichts wird mich wirklich gesund machen als frische Luft und freie, kräftige Bewegung. Ich danke Euch sehr; denn ich glaube, Ihr mögt mich, de Clare, obgleich Ihr Euch zu einer Art von freiwilligem Kerkermeister für mich hergebt.«

Der junge Gentleman senkte sein Haupt ohne eine Antwort, obwohl ein leises Lächeln um seinen Mund schwebte, das Edward stutzig gemacht haben würde, wenn er es gesehen hätte. Dann sagte er etwas unvermittelt: »Jetzt wollte ich aber wetten, Euer Gnaden ist kräftig genug, um zwanzig, dreißig Meilen weit zu reiten, wenn es Euch freistände!«

»Hundert!« antwortete Edward rasch und setzte dann langsamer hinzu: »Wenn ich frei wäre.« In diesem Augenblick pochte jemand an die Tür, und auf die Aufforderung, hereinzukommen, trat Hugh de Monthermer ins Zimmer.

Das Gesicht des Prinzen heiterte sich auf. »Ha, Monthermer!« rief er. »Recht erfreut bin ich, Euch zu sehen, mein Freund! - Ja, ich sage: mein Freund! Denn diese parteisüchtigen Zeiten sollen uns nie zu Feinden machen, wenn wir auch auf entgegengesetzten Seiten das Schwert zücken. Dies ist mein Staatsgemach, Hugh, und die Treppe, auf welcher Ihr hierhergekommen, bildet die äußerste Grenze meines Fürstentums. Ich wundere mich, daß de Montfort Euch gestattet hat, mich zu besuchen.«

»Ich selbst wunderte mich, mein Lord«, sagte Hugh de Monthermer, »denn meine Bitte war verbunden mit Einwendungen gegen Eure Gefangenhaltung.«

»Und doch«, sagte der Prinz bitter, »werdet Ihr nur Einwendungen machen, aber nicht dabei helfen, mich zu befreien!«

»Mein Lord, das kann ich nicht ohne Verrat«, versetzte Hugh de Monthermer bestimmt.

»Verrat an wem?« fragte Edward etwas scharf.

»Verrat an Eurem Land«, antwortete Hugh de Monthermer, »und an den Rechten des Volkes, die Ihr selbst, wie ich wohl weiß, willig achten werdet, sobald Ihr König seid. Ich bitte Euch sehr, drängt mich nicht in einer Sache, wo ich nur eine Antwort zu geben habe.«

»Aber ich glaube, wenn es nach Euch ginge, würde ich bald in Freiheit sein.«

»Bei meinem Leben!« versetzte der junge Edelmann. »Ihr solltet sie dann nie verloren haben; denn ich hätte mich mit Eurem Ehrenwort begnügt, die Rechte der Engländer aufrechtzuerhalten und zu keiner ihnen zuwiderlaufenden Handlung zu helfen.«

»Nun, es ist jetzt einerlei«, antwortete der Prinz. »Vielleicht ist es besser so. Ich weiß nicht, was ich versprochen haben würde, um meine Freiheit zu erkaufen. So aber bin ich doch frei dem Geiste nach, obwohl leiblich gefesselt, und Ereignisse können eintreten, die selbst stärkere Türen als diese hier öffnen. - Wie geht es Eurem guten Oheim?« fuhr er lebhafter fort. »Er ist etwas rasch und ungestüm mit seinem König verfahren, aber dennoch bleibt er ein edler Gentleman, auf den England stolz sein darf.«

Hugh de Monthermer gab nach einigen allgemeinen Worten dem Gespräch eine Wendung und sprach von ihren glücklichen Knabentagen mit den Jagdbelustigungen und den harmlosen Scherzen der Jugend. Edwards Antlitz entwölkte sich, seine Augen funkelten, sein Mund lächelte, das Gefängnis mit seinen Sorgen war vergessen.

Das Gespräch wurde fast ausschließlich von dem Prinzen und Hugh de Monthermer geführt; Thomas de Clare flocht nur dann und wann ein paar Worte ein.

Nachdem sie etwa eine halbe Stunde geplaudert hatten, sah plötzlich Hugh, der mit dem Gesicht der Tür zugekehrt saß, ein schönes Mädchen zögernd eintreten. Sie war in eine, selbst für jene, das Bunte und Lebhafte liebenden Zeiten, zu grellfarbige Tracht gekleidet und trug in der Linken ein kleines Körbchen.

Der Ausdruck der Überraschung, den diese Erscheinung im Gesicht des jungen Lords hervorrief, veranlaßte Edward, sich umzudrehen. Er schien noch erstaunter als Hugh de Monthermer, stand jedoch augenblicklich auf und sagte: »Was ist Euer Begehren, mein schönes Fräulein?«

»Nichts, als Euer Gnaden dies kleine Körbchen mit frühen Erdbeeren zu bringen«, antwortete das Mädchen. »Ihr werdet den Geschmack angenehm finden, zumal unten, wo sie nicht so von der Sonne erwärmt sind.«

Mit diesen Worten setzte sie das Körbchen auf den Tisch und wollte sich schnell wieder entfernen, aber Edward rief: »Halt, hübsches Mädchen! Sagt mir, wer Ihr seid.«

»Das ist gleichgültig«, antwortete das Mädchen, sich an der Tür noch einmal tief verneigend. »Ich versprach, keinen Augenblick zu verweilen, sondern nur die Erdbeeren abzugeben. Möge Euer Gnaden einen glücklichen Abend verleben und einen angenehmen Morgen dazu!« Sorgfältig schloß sie die Tür hinter sich.

»Das ist seltsam«, sagte der Prinz, das Körbchen aufhebend.

Hugh de Monthermer, an den er sich gewandt hatte, war in tiefes Nachsinnen versunken.

»Ihr scheint erstaunt, Monthermer«, fuhr der Prinz fort. »Glaubt mir, ich bin es auch. Ich habe das Mädchen nie in meinem Leben gesehen. - Ihr vielleicht, de Clare?«

»Nie!« antwortete der junge Edelmann.

»Aber ich, wie mich dünkt«, bemerkte Hugh de Monthermer ernst, »und das viele Meilen von hier. Doch will ich Euch jetzt verlassen, mein Lord. Die Tore werden bald geschlossen werden.«

»Ich bitte Euch, bleibt und genießt etwas von dieser süßen Speise«, sagte Edward.

»Nein, Sir«, versetzte Hugh, des Prinzen Hand zurückhaltend, der im Begriff stand, das Körbchen auf den Tisch auszuleeren. »Mögen diese Früchte glückbringend für Euch und für England sein! - Adieu, mein Lord!«

Hugh verließ rasch das Zimmer.

»Er hat recht!« rief Thomas de Clare. »In diesem Körbchen ist etwas mehr als nur Obst, oder ich müßte mich sehr irren!«

Edward legte fest seine Hand darauf, heftete einen prüfenden Blick auf den jungen Edelmann und sagte: »Was auch darin sein mag, es ist nur für mich allein bestimmt, Thomas de Clare!«

Aber sein Gesellschafter kam um den Tisch herum, beugte ein Knie vor ihm, küßte ihm unterwürfig die Hand und sagte: »Mein edler Prinz und künftiger König, es ist jetzt Zeit, Euch zu sagen, daß ich kein Kerkermeister bin. Wenn ich mich nicht irre, so sind in diesem Körbchen Nachrichten, die Euch bald frei machen werden. Ich habe schon von dem strengen de Montfort die Erlaubnis für Euch ausgewirkt, begleitet von sechs Gentlemen, die er auswählt, und gefolgt von einem Zuge Gewaffneter auszureiten. Ich sagte, es sei das einzige Mittel, Euch wieder zur Gesundheit zu verhelfen. Ich hätte hinzufügen können: und zur Freiheit. Jetzt, mein Lord, seht, was das Körbchen enthält, und glaubt mir, daß ich Euer Geheimnis wahre.«

»Dank, de Clare!« versetzte Edward. »Ich habe längst so etwas vermutet. - Aber wie, wenn sich jetzt unsere Hoffnung als falsch erwiese?« Rasch schüttete er die Früchte auf den Tisch und untersuchte das Körbchen. Auf dem Boden fand er, mit einem Stückdien Wachs befestigt, ein kleines Billett. Hastig entfaltete er es, doch die ersten Worte machten ihn nicht wenig stutzen. Die Mitteilung lautete:


Mein Lord,

eines Eurer Pferde ist aus Eurem Stall gestohlen worden, nämlich das prächtige normannische Streitroß, der Rotschimmel. Als Ersatz ist dafür ein starkknochiger, langbeiniger Grauschimmel eingestellt worden. Er ist nicht schön anzusehen, aber er ist stark und ausdauernd, und kein Pferd in ganz England tut es ihm gleich an Schnelligkeit. Ihr mögt ihn probieren, gegen welches Pferd Ihr wollt, Ihr werdet gewiß das Rennen gewinnen. Solltet Ihr Lust haben, morgen den Versuch zu machen, so werdet Ihr Zuschauer treffen im Monington-Wald, die Euch am Ziel als Sieger begrüßen. Beachtet dies wohl, denn es kommt von


einem Freunde


»Daß ich doch seinen Namen wüßte!« rief Edward, nachdem er den Brief gelesen.

»Ich kann ihn Euch sagen, mein Lord«, versetzte Thomas de Clare. »Es ist Richard de Ashby.«

»Ha!«, sagte Edward mit nicht sehr heiterer Miene. »Richard de Ashby! Er ist ein treuer Untertan meines Vaters, glaube ich, aber das ist alles Gute, was ich von ihm weiß. Indessen - ich darf nicht undankbar sein. Horch! Da kommen Tritte die Treppe herauf! Füllt die Früchte in den Korb - schnell!« Und das Billett versteckend, warf sich Edward in den Sessel, den er zuvor eingenommen hatte.

De Clare hatte kaum die Erdbeeren wieder eingefüllt und das Körbchen hingestellt, als ein schwerfälliger, finster aussehender Mann, einer von den vornehmeren Dienern, die der Graf von Leicester dem Prinzen zur Verfügimg gestellt hatte, in das Zimmer trat, mit einer silbernen Schüssel in der Hand.

»Da ein hübsches Fräulein Euch einige Erdbeeren gebracht hat, mein Lord«, sagte er, »so habe ich Euch ein Gefäß gebracht, sie hineinzutun.« Und das Körbchen nehmend, leerte er es langsam in das silberne Geschirr.

»Dank, Ingelby, Dank«, versetzte der Prinz mit gleichgültiger Miene. »Wenn Ihr mir auch etwas Rahm gebracht hättet, so wäre es nicht übel gewesen.«

»Ihr sollt ohne Verzug welchen haben«, antwortete der Mann. »Es sind schöne Beeren, und so früh im Jahre!«

»Sie werden mich recht laben nach dem Fieber«, sagte Edward; »denn ich fühle noch eine Trockenheit im Munde.«

»Ihr sollt den Rahm sogleich haben, mein Lord«, wiederholte der Mann und verließ das Zimmer.

Edward und de Clare sahen einander mit einem Lächeln an und lasen dann den Brief noch einmal, bevor sie ihn vernichteten.

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