IM FRÜHLING DES JAHRES 1269

EINMAL IN DEM VERGANGENEN WINTER HATTE der Wind dicke Schneeflocken auf Dächer, Brücken und Purpurmäntel geweht, und die fünf Kuppeln der Kirche von San Marco waren einen halben Tag lang mit weißem Schnee bedeckt gewesen.

Das Holzgeschäft der Obsthändler, die auf Anordnung der Proveditori für den Holzhandel Büschel und anderes kleines Holz in ihren Schuppen lagerten, hatte wie in jedem Jahr einen guten Nebenverdienst gebracht. Selbst die Bettler und Obdachlosen hatten für ihre Bettlerpfennige dürre Zweige gekauft, um auf freien Plätzen, neben Brücken, hinter den Kirchen und auf den Steinen der Anlegekais Feuer anmachen zu können. Holzbarken waren aus Istrien und Dalmatien gekommen, hatten bei den Proveditori die Ladung abschätzen lassen und die Zollgebühren entrichtet.

Auch Messer Pietro Bocco hatte sich am Holzhandel mit gutem Erfolg beteiligt.

Die Wintermonate, angefüllt mit den Festlichkeiten des Karnevals, waren schnell vorübergegangen.

Nun trat der Frühling seine Herrschaft an, säumte die Kanäle und Wasserläufe mit zartem Grün, ließ die Blätter und Blüten an Bäumen und Sträuchern hervorbrechen und fegte die Wolken von dem hochgespannten Himmelsgewölbe.

Am Rialto hatte das geschäftige Leben auch im Winter keinen Augenblick geruht, jetzt aber begann die Zeit der Vorbereitungen für die großen Reisen.

Die Schiffsbauer im Arsenal und auf den privaten Werften legten die letzte Hand an die im vergangenen Jahr begonnenen Kauffahrteischiffe, die mit den Geschwadern der Republik im Frühjahr oder Sommer zum ersten Male auslaufen sollten. In jedem Jahr mehrte sich die Zahl der venezianischen Schiffe, die die Hagge mit dem goldenen Löwen in alle Himmelsrichtungen trugen und den Einfluß Genuas, der gefährlichsten Nebenbuhlerin, immer mehr zurückdrängten.

Jeder Kaufherr, der ein starkes Kauffahrteischiff bauen wollte, erhielt, wenn er für würdig befunden wurde, vom Senat eine Anleihe von dreißig goldenen Pfund. Außerdem rüstete die Republik vier Geschwader aus, auf deren Schiffe die Kaufleute ihre Waren laden konnten. Die Schiffe wurden vor der Fahrt durch die Beamten der Ufficiale sopra Rialto öffentlich versteigert. Der Kaufherr, der ein Schiff für eine Summe, die bis zu dreitausend Dukaten betragen konnte, zugesprochen erhielt, war der Patrone und verfügte über den Laderaum. Meist taten sich vier oder fünf Kaufleute zusammen. Das Schiff wurde von den Söhnen vornehmer Familien begleitet, die für seinen Schutz verantwortlich waren und nicht versäumten, in den fremden Häfen Nebengeschäfte zu tätigen.

Das erste Geschwader, bestehend aus fünf oder sechs Galeeren, war für die Fahrt nach Alexandria, dem bedeutendsten Hafen im Orienthandel, vorgesehen; das zweite Geschwader reiste nach Beirut in Syrien, nach Damaskus, Palästina, berührte Famagosta und andere cyprische Häfen; das dritte Geschwader ging in Byzanz vor Anker, kreuzte durch das Schwarze Meer und drang bis zu der Mündung des Don-Flusses vor; das vierte Geschwader endlich, das man die «Reisegaleeren von Flandern» nannte, bestrich die nördliche Küste des schwarzen Erdteils, segelte durch die Meerenge von Gibraltar nach England und Handern, lief auf der Rückreise die spanischen und französischen Küsten an und kehrte über Sizilien nach Venedig zurück. Die Reise des vierten Geschwaders dauerte ein Jahr und brachte den höchsten Gewinn, war allerdings auch mit dem größten Risiko verbunden. Seeräuber machten die sizilischen, spanischen und portugiesischen Gewässer unsicher, wenn sie auch selten wagten, die venezianischen Galeeren, die sich ihrer Haut zu wehren wußten, anzügreifen.

Die vier Geschwader brachten die Waren Indiens, Griechenlands, Palästinas, Syriens, Ägyptens, Afrikas und der Länder um das Schwarze Meer nach Venedig, die von hier aus über ganz Europa verteilt wurden.

Messer Pietro Bocco ließ sich mit seinem Secretario zum Alten Rialto bringen. Er war gut gelaunt, hatte er doch von drei Geschäftsfreunden den Auftrag bekommen, auf der Versteigerung ein Schiff des zweiten Geschwaders für das Höchstgebot von zweitausendfünfhundert Dukaten zu erwerben. Er zweifelte nicht daran, daß er mit dieser Summe alle anderen Bewerber aus dem Felde schlagen würde. In der Mitte des Monats April sollte das Geschwader auslaufen.

Pietro Bocco war während der Wintermonate nicht müßig gewesen. In dem Lager seines Hauses und in einem gemieteten Gewölbe am Ufer des Canal Grande lagen die Waren bereit, die er für den Austausch vorgesehen hatte: Gläser, Spiegel, Waagen, Beile, Waffen, elfenbeinerne Kämme und andere Gegenstände, die im Orient gern gegen Gewürze, Goldstaub, Seide, kostbare Steine, Perlen und Tapeten getauscht wurden.

Er glaubte auch allen Grund zu haben, mit seinem Neffen zufrieden zu sein. Seit der letzten Auseinandersetzung hatte dieser keine Aufsässigkeit mehr gezeigt und regelmäßig den Unterricht bei Bruder Lorenzo besucht. Er schien sich damit abgefunden zu haben, im April in die Schule des Benediktinerklosters zu San Nicolo einzutreten. War er erst hinter den dicken Mauern in der Obhut der Mönche, würde sich das Weitere schon finden. Der Prokurator, der diesseits des Canal Grande für die Betreuung der Waisen verantwortlich war, ein ehrwürdiger Greis aus der vornehmsten Familie der Stadt, hatte Pietro Boccos Vorschlag wohlwollend zugestimmt.

So wendete sich unter den Händen des ehrgeizigen Kaufmanns alles zu seinem Besten.

Er ahnte nicht, wie falsch er seinen Neffen beurteilte. Wohl verstand er es, sein Geld so gewinnbringend wie möglich anzulegen und sich durch ein freundliches Wesen bei den Senatoren und Prokuratoren in Gunst zu bringen. In den Seelen der Menschen kannte er sich weniger gut aus, ein Fehler, der ihm noch manche Überraschung bereiten sollte.

Selbst Kapitän Matteo hatte ihm vor einiger Zeit eine Abfuhr erteilt, als er ihn mit einer neuen Schmuggelfahrt beauftragen wollte. Nicht alles ließ sich mit Geld erreichen. Pietro Bocco aber glaubte an die Allmacht des Geldes. Die Fähigkeit, sich in das Wesen anderer hineinzuversetzen, ihre Gedanken und Gefühle nachzuempfinden und in das Gespinst der eigenen Pläne einzubeziehen, war ihm fremd. Er war aus gröberem Holz geschnitzt: «Hier hast du hundert Dukaten, bring mit deiner Barke das Getreide an den und den Ort. - Hundert Dukaten sind dir zuwenig? Gut, du sollst hundertfünfzig Dukaten haben, aber keinen Soldo mehr.» Kapitän Matteo aber hatte sich schweigend umgedreht und war hinausgegangen.

Pietro Bocco dachte nicht gern an diese ihm unverständliche Niederlage, die er erlitten hatte. Er zog es vor, sich im Schein seiner geschäftlichen Erfolge zu sonnen.

An der Ponte della moneta stieg er mit seinem Secretario aus der Barke und ging durch die Gassen der Goldschmiede, Edelsteinschneider und Geldwechsler zum Alten Rialto, auf dem sich schon viele Kaufleute eingefunden hatten. Er begrüßte Bekannte, wandelte durch die Bogengänge, die zum Schutz gegen den Regen und zur Förderung des geschäftlichen Verkehrs von der Regierung erbaut worden waren, führte Gespräche, die der Vorbereitung neuer Geschäfte dienten, gab seinem Secretario, der ihm auf dem Fuß folgte, die Anweisung, auf der nahen Riva di ferro Eisenwaren einzukaufen und begab sich zu einem kühlen Trunk in das Gasthaus neben der Kirche San Giacomo, dem Treffpunkt der Kaufleute.

Er hielt sich hier nicht lange auf. Diener brachten bereits Stühle und einen Tisch für die Beamten der Ufficiale sopra Rialto, welche die Versteigerung leiteten, und stellten sie unter dem Feigenbaum vor der Kirche auf. Nach und nach kamen auch die Kaufleute, fanden sich in Gruppen zusammen und tauschten Bemerkungen über den voraussichtlichen Verlauf der Versteigerung aus. Dabei versuchten sie, einander vorsichtig über die Höhe der Angebote auszuhorchen.

Es gab den Ausspruch eines witzigen Kaufmannes, der jedes Jahr von neuem in den Gesprächen auftauchte: Bei uns in Venedig werden die Schiffe erworben wie anderswo ein Sack Biscotto.

Die Kaufleute Venedigs waren stolz darauf, durch ein einfaches «Ja» für die Dauer einer weiten Seereise in den Besitz eines Schiffes der Republik kommen zu können.

Die Versteigerung begann in der althergebrachten Weise mit der Ausbietung der Schiffe, die zum ersten Geschwader gehörten. Die Gespräche der Kaufleute verstummten. Jeder war auf die ersten Angebote gespannt. Interessiert lauschten sie der Beschreibung des Schiffes: Masten, Segelzeug, Anzahl der Ruder, Länge, Breite und — was das Wichtigste war — Fassungsvermögen des Laderaumes.

Der Beamte forderte die Kaufleute auf, ein Angebot zu machen. Erwartungsvolles Schweigen. So war es jedes Jahr, man scheute sich, als erster zu bieten. Der Beamte runzelte die Stirn. Endlich nannte einer eine niedrige Summe, wurde aber gleich darauf von einem anderen überboten.

Der Schreiber notierte, und der hinter dem Tisch stehende Beamte wiederholte laut das letzte Angebot. Erregtes Gemurmel erhob sich, als einer von fünfhundert auf tausend Dukaten erhöhte.

In den Zweigen des Feigenbaumes, der bereits seine Blüten öffnete, lärmten die Spatzen, unberührt von dem Treiben der Menschen. Das Kreuz auf dem Turm der alten strohgedeckten Kirche hob sich scharf vom blauen Himmel ab. Ein frischer Frühlingswind strich über die Häuserdächer.

Die Versteigerung am Rande des wogenden Verkehrs des Alten Rialto nahm ihren Fortgang. Gegen Mittag waren die fünf Galeeren des ersten Geschwaders für die Reise nach Alexandria versteigert. Nach dem Mittagessen sollten die Schiffe des zweiten Geschwaders an die Reihe kommen. Die Kaufleute waren über den bisherigen Verlauf der Versteigerung zufrieden. Die Preise, die geboten worden waren, schienen ihnen nicht zu hoch gewesen zu sein. Auch der Beamte der Republik war zufrieden. So trennte man sich mit frohen Zurufen und beglückwünschte die fünf neuen Patroni der Schiffe.

Messer Pietro Bocco hegte keinen Zweifel mehr, daß es ihm gelingen würde, für zweitausend Dukaten in den Besitz des seetüchtigsten Schiffes des zweiten Geschwaders zu kommen. Er hätte dann für sich und seine Geschäftspartner fünfhundert Dukaten gespart. Vielleicht würde er sogar mit fünfzehnhundert Dukaten auskommen. Auch das Glück spielte bei der Versteigerung eine Rolle.

Er ließ sich das Mittagessen gut schmecken, zumal ihm sein Secretario berichten konnte, daß er auf der Riva di ferro gut eingekauft hatte.

Eine Stunde nach dem Essen kamen die Beamten der Ufficiale sopra Rialto; die Kaufleute versammelten sich im Halbkreis um den Tisch; der Schreiber legte Papier, Tintenbehälter und Federkiel zurecht, und die Versteigerung der Schiffe des zweiten Geschwaders begann.

Die Sonne stand im Mittag, der Wind hatte sich gelegt. Es war so warm geworden, daß die Kaufleute ihren Dienern winkten und ihnen die Mäntel zur Aufbewahrung gaben. Der kurze Schatten des Feigenbaumes war nicht viel größer als der Umfang der mächtigen Baumkrone, in deren Zweigen Spatzen und Singvögel saßen und müde blinzelnd in die sich unter den Sonnenstrahlen öffnenden Blüten schauten.

Zwei deutsche Kaufleute mit ihrem Dolmetscher, die gerade vorbeigingen, blieben einen Augenblick stehen und ließen sich erklären, was hier geschah. Lastträger, begleitet von einem aufgeregt sie dirigierenden Schreiber, trugen Tuchballen vorbei. Im Turm von San Giacomo läutete die Glocke.

Der Alte Rialto war erfüllt von dem Geräusch langsamer und eiliger Schritte, dem Klang der Stimmen, die würdevoll, beschwörend, überredend, spöttisch, hitzig oder mit gelassener Ruhe Worte formten, um den Gesprächspartner von der Güte einer Ware und ihren wunderbaren Aussichten auf gewinnbringenden Absatz zu überzeugen. Namen ferner Länder und Meeresküsten wurden genannt, die Basare des Orients und die Karawanen auf der Seidenstraße durch die Wüsten Asiens bis nach dem sagenhaften China, Elefantenjagden in den Dschungeln Indiens und der Verkauf schwarzer und weißer Sklaven auf den Märkten Kairos lebten in den Gesprächen der venezianischen und fremden Kaufleute auf dem Alten Rialto.

Der Beamte, unberührt von dem, was um ihn geschah, rief das letzte Angebot aus und wartete, ob einer mehr böte. Zwei Schiffe waren zu für beide Teile annehmbaren Preisen versteigert worden. Messer Pietro Bocco wußte, daß die dritte Galeere, die jetzt aufgeboten wurde, am seetüchtigsten war und den größten Laderaum hatte. Aber auch die anderen Kaufleute wußten es, so daß eine stärkere Beteiligung als bei den ersten beiden Schiffen zu erwarten war. Der Beamte pries mit heiserer Stimme die Vorzüge der Galeere und forderte die Herren auf, zu bieten.

Messer Pietro Bocco hielt sich noch zurück; erst als er sah, daß der Beamte sich vorbereitete, das Zeichen zur Bestätigung des letzten Angebotes von zwölfhundert Dukaten zu geben, mischte er sich ein.

«Fünfzehnhundert Dukaten!» rief er, bemüht, die fiebernde Erwartung zu verbergen. «Sechzehnhundert!» sagte eine Stimme im Hintergrund. Ein großer, schlanker Kaufherr war es. Er hatte sich bisher an der Versteigerung noch nicht beteiligt.

Pietro Bocco merkte, daß er einen ernsthaften Mitbewerber bekommen hatte. «Achtzehnhundert!» sagte er laut.

Der Beamte sah fragend in die Runde.

«Zweitausend!» überbot der andere gleichgültig. Die Kaufleute wurden auf das Duell, das zwischen den beiden begonnen hatte, aufmerksam. Zweitausend Dukaten waren eine hohe Summe. Das Höchstgebot für die beiden ersten Schiffe war fünfzehnhundert gewesen.

Pietro Bocco sah die vielen Blicke, die auf ihn gerichtet waren. Zeit zu langem Überlegen blieb ihm nicht.

«Zweitausendzweihundert!» rief er.

«Zweitausendfünfhundert!» sagte der andere. Kein Zug in seinem Gesicht veränderte sich.

Pietro Bocco verbarg seine Enttäuschung hinter einem spöttischen Lächeln. Mehr als zweitausendfünfhundert Dukaten durfte er nach der Vereinbarung, die er mit seinen Geschäftsfreunden getroffen hatte, nicht bieten. Es sei denn, daß er aus seiner eigenen Tasche eine Summe dazulegte und dafür dann mehr Laderaum beanspruchte. Und er hatte gehofft, mit zweitausend oder gar fünfzehnhundert Dukaten auszukommen. Er kannte den anderen Kaufherrn nicht; eines war ihm jedoch klar: Der Schlanke mit dem gleichmütigen Gesicht mußte über ein großes Kapital verfügen. In diesen Zeiten konnte ein unbekannter Kaufmann über Nacht ein Vermögen verdienen, wenn ein Unternehmen glückte, ebenso konnte er auch über Nacht ein Vermögen verlieren.

«Zweitausendsiebenhundert!» sagte Pietro Bocco. Es war dies, wie er sich vornahm, sein letztes Angebot für die beste Galeere des zweiten Geschwaders.

«Dreitausend!» überbot der andere ohne Zögern. Ein unwilliges Gemurmel ließ sich hören. Die Kaufleute waren mit der hohen Summe nicht einverstanden, mußten sie doch fürchten, daß dadurch die Preise für die anderen Galeeren in die Höhe getrieben würden. Der Kaufherr kümmerte sich nicht um die Erregung, die er verursachte. Er sagte seinem Diener einige leise Worte ins Ohr und sah dann fordernd auf den Beamten.

Pietro Bocco kniff die Lippen zusammen, als die Galeere dem anderen zugesprochen wurde.

Die Versteigerung dauerte bis in die Abendstunden hinein. Wer ein Schiff erworben hatte, ging zufrieden davon. Die anderen blieben, bis die letzte Galeere versteigert war.

Messer Pietro Bocco hatte die vierte Galeere des zweiten Geschwaders, ein kleineres, aber gutes, seetüchtiges Schiff für zweitausend Dukaten zugesprochen erhalten und war mit gemischten Gefühlen nach Hause gegangen. Die Geschäftsfreunde, die fest mit der Erwerbung des größeren Schiffes rechneten, würden ihm kein großes Lob ausstellen. Aber sie würden schließlich einsehen müssen, daß es nicht seine Schuld war. Und wenn das Glück sie begünstigte, war auch mit diesem Schiff ein großer Verdienst zu erzielen. Vielleicht war es eine Fügung des Schicksals, daß sie gerade diese Galeere bekommen hatten. Wer konnte das wissen?

Die nächsten Tage und Wochen waren angefüllt mit Arbeit. Matrosen mußten angeworben, die Ware verstaut und viele Formalitäten auf der Ufficiale sopra Rialto erledigt werden.

Messer Pietro Bocco würde selbst nicht mitfahren, die vier Kaufherren hatten den Jüngsten unter ihnen, einen unternehmungslustigen vierzigjährigen Mann, zum Patrone des Schiffes für die Fahrt nach Beirut, Damaskus und Cypern bestimmt.

Einer der Matrosen, die sich für die Reise anwerben ließen, hieß Marino. Er tat es Marco zuliebe und weil es ihm eigentlich gleichgültig war, ob er nach Alexandria, Massilia, Amsterdam, Byzanz oder irgendeinem anderen Hafen ging. Er kannte sie alle, jede Stadt hatte ihren besonderen Reiz. Im Gasthaus «Venezia» in Amsterdam saß es sich ebensogut wie in der kleinen Hafenschenke in der Rue de la Mure von Massilia.

Er hatte sich in den vergangenen Monaten mehrmals mit Marco getroffen, von dessen Auseinandersetzungen mit seinem Oheim erfahren und sich gesagt: Gut, soll er sich die Welt ansehen. Dümmer wird er nicht davon. Warum soll er sich in ein Kloster sperren lassen, wenn er keine Lust dazu hat?

Eine Woche, nachdem Pietro Bocco das Schiff erworben hatte, kamen Marco und Marino wieder im Gasthaus Zur Glocke zusammen. Vor Marco stand ein Glas, das mehr Wasser als Wein enthielt. Seit der ersten Begegnung mit Marino hatte er keinen unverdünnten Wein mehr getrunken.

Marino berichtete, daß das Geschwader in drei Wochen auslaufen werde. Marco atmete auf. Endlich hatte er Gewißheit. Der Termin lag noch vor seinem geplanten Eintritt in die Klosterschule. Es erfüllte ihn mit Genugtuung, daß er ausgerechnet auf Pietro Boccos Schiff die Reise in die Welt antreten würde.

Marino saß vor ihm und schwieg, aber dieses Schweigen störte Marco nicht. Er wußte ja, daß der Matrose nicht viel Worte machte; versprach er aber etwas, konnte man sich fest auf ihn verlassen. Marco entdeckte an dem Matrosen manche Züge, die ihn an Paolo erinnerten. So hatte sich zwischen ihnen eine stille Kameradschaft gebildet, die beide zu schätzen wußten. Von Paolo hatte der Knabe nie wieder etwas gehört, obwohl er in seinen Bemühungen, etwas zu erfahren, nicht nachgelassen hatte. Er war noch zweimal bei Kapitän Matteo gewesen, aber auch dieser hatte ihm keine gute und keine schlechte Kunde geben können, so daß alles in ein geheimnisvolles Dunkel gehüllt blieb, das, je nach der Stimmung, die verschiedenartigsten Deutungen, einmal traurig, einmal voll Hoffnung, hervorrief.

Marco hatte auch, so schwer es ihm fiel, sein Verhalten Pietro Bocco gegenüber geändert, so daß dieser den Diener, den er als Aufpasser in Marcos Haus geschickt hatte, nach einiger Zeit wieder zurückrief.

Marino trank aus seinem Glas und setzte es auf die Tischplatte. «Noch drei Wochen», sagte er.

Ein Schwärm Gäste kam zur Tür herein und setzte sich an die leeren Tische. Es ging auf die Mittagszeit zu.

Noch drei Wochen, dachte Marco. Wie war das eigentlich mit Giovanni? Er hatte ihn nicht wieder gesehen. Oft hatte er an ihn gedacht. Eine echte Freundschaft, wie sie zwischen ihnen bestanden hatte, konnte man nicht einfach mit einer Handbewegung beiseiteschieben. Eigentlich war es doch eine unbedeutende Sache gewesen, über die er sich so aufgeregt hatte. Ein zurückgeschicktes Kleiderbündel! Deshalb hatte er Giannina und Giovanni beschuldigt, mit seinem Oheim unter einer Decke zu stecken. Aber es war damals so vieles zusammengetroffen: das Verschwinden Paolos, die Drohungen des Oheims und einiges andere, über das es sich nicht mehr lohnte, nachzudenken.

Die Rufe und Gespräche, die in der Gaststube laut wurden, das ruhige, von der Seereise und den fremden Häfen träumende Gesicht Marinos, die Gewißheit, daß die Reise in drei Wochen beginnen würde, und die Ungewißheit, ob auch alles gut gehen werde, weckten in Marco den Wunsch, mit einem vertrauten Menschen über das zu reden, was ihn bewegte. Es war leichter, den kommenden Ereignissen in die Augen zu schauen, wenn jemand da war, der einen verstand, dem man ohne Scheu von seinen Vorstellungen und Wünschen erzählen konnte, der einfach neben einem saß und zuhörte, mit dem Kopf nickte oder hier und da einen Satz einwarf, der half, die ferne Welt mit den bunten Farben der Erwartung und Sehnsucht auszuschmücken.

An einem Vormittag ging Giovanni zu Meister Benedetto und bat ihn um Urlaub.

«Ich möchte gern einmal nach Venedig fahren, Meister», sagte er, «habe da etwas Wichtiges zu erledigen.»

Meister Benedetto legte die Axt aus der Hand und sah ihn prüfend an. «Du hast da etwas Wichtiges zu erledigen? Willstwohl wieder Kapitän Matteo besuchen? Dann geh nur, er freut sich immer, wenn du kommst.» Nach einer Pause setzte er hinzu: «Hast du die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben?»

«Ich glaube nicht, daß Paolo tot ist», erwiderte Giovanni. Er wurde verlegen und zögerte eine Weile, bevor er weitersprach: «Ich will aber nicht zu Kapitän Matteo, es ist etwas anderes…»

«So, so, eine geheimnisvolle Sache also…» Meister Benedetto zog drohend die weißen Brauen zusammen, doch Giovanni kannte ihn, er sah an seinen Augen, daß es nicht böse gemeint war.

«Geh!» befahl Meister Benedetto. «Mach schnell, daß du mir aus den Augen kommst!»

«Ich hole alles nach, Meister», sagte Giovanni.

Er legte seine Schürze ab, packte sein Handwerkszeug zusammen, brachte seinen Arbeitsplatz in Ordnung und eilte nach Hause. Er zog seine neuen Kleider an und machte sich auf den Weg zur Landestelle. Die Lagune lag ruhig, nur von einem leisen Luftzug bewegt, der die Oberfläche kräuselte und in die Segel der Barken und Schiffe griff. Ein Boot brachte Giovanni in zwanzig Minuten nach der Piazzetta. Er achtete nicht auf die vielen Menschen, die den Platz belebten, auch die Bauart der Schiffe, die im Kanal San Marco lagen, interessierten ihn heute nicht. Seine Schritte führten ihn den bekannten Weg. Vor Marcos Hause blieb er stehen.

Was er sich vorgenommen hatte, war nicht so leicht auszuführen. Giannina wußte nichts von seinem Kommen. Lange, lange hatte er nachgedacht und auch mit seinem Vater darüber gesprochen. «Geh nur zu ihm», hatte der Vater gesagt, «wirst ja sehen, wie es mit euch steht, wenn du mit ihm sprichst.»

Es war, als hätte der Frühling die guten Erinnerungen an die gemeinsamen Erlebnisse geweckt. Wenn Giovanni von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte er oft an den Freund gedacht und sich gewünscht, daß sie wieder wie früher zusammenkommen und alles Böse vergessen würden. Der letzte Anstoß zu seinem Besuch aber war Gianninas Mitteilung gewesen, daß Messer Pietro Bocco den Freund in eine Klosterschule stecken wollte. Giovanni konnte sich vorstellen, wie es Marco zumute war.

Da stand er also vor dem Haus und überwand das letzte Zagen. Maria empfing ihn. Giannina sei gerade zum Kräutermarkt gegangen, sagte sie, aber der junge Herr sei da, er würde sich bestimmt sehr freuen, Giovanni solle nur auf sein Zimmer gehen, er wisse ja den Weg. Giovanni war es recht, daß Giannina nicht im Hause war. Er meinte, es sei besser, wenn er sich mit dem Freund zuerst allein ausspräche. Er klopfte an die Tür und ging ohne Zögern hinein. «Buon giorno, Marco», sagte er munter, «ich bin einmal zu dir gekommen.»

Marco sah überrascht auf. Giovanni stand vor ihm. Im ersten Augenblick schien ihm das so selbstverständlich, daß ihm nichts anderes einfiel, als ohne Scheu und Verlegenheit zu sagen: «Du bist es, Giovanni. Setz dich nur hin.» Er schob ihm einen Stuhl zu, auf dem der Freund Platz nahm.

Sie vermieden es, sich anzusehen. Eine Pause entstand; sie spürten beide ehrliche Freude über das Zusammentreffen und gleichzeitig Beschämung, weil sie so lange Zeit nebeneinander gelebt hatten, als hätte es nie eine Freundschaft zwischen ihnen gegeben. Es war notwendig, einige Worte zu sagen, damit das alte, gute Verhältnis wiederhergestellt wurde.

«Wie geht es dir denn, Giovanni?» unterbrach Marco das Schweigen. «Du siehst gut aus, bist ordentlich breit geworden.»

«Das macht die Arbeit. Sieh dir zum Beispiel meine Hände an!» Er streckte Marco seine geöffneten Hände hin. Dieser betrachtete sie fachmännisch, strich mit zwei Fingern über die Hornhaut auf dem Handteller und zog anerkennend die Augenbrauen hoch. Dann sahen sie sich an und lachten befreit auf.

«Da stehen wir nun und sehen uns meine Hände an», sagte Giovanni froh.

«Ich freue mich wirklich, daß du gekommen bist», erwiderte Marco. Sie verbargen ihre Bewegung und ihre tiefe innere Freude hinter alltäglichen Worten.

«Immer wollte ich schon zu dir kommen», begann Giovanni zu erzählen, «ich habe ja zuerst gar nicht gewußt, daß du mir die Kleider geschickt hast. Das war gut von dir gemeint, Marco. Ich verstehe schon, daß du dich geärgert hast, als Giannina sie zurückbrachte. Aber du kennst doch meinen Vater… Heute sagte er zu mir: Geh zu ihm und sprich mit ihm. Da bin ich also hier… Ich habe auch meine Sorgen gehabt. Mein Vater mit seinem einen Bein — jetzt will er fischen gehen…»

«Hat dir Giannina erzählt, was ich in meiner Wut gesagt habe?» fragte Marco. «Sie wird es dir sicher erzählt haben», beantwortete er seine Frage selbst. «Sie war sehr böse darüber… Ich habe das natürlich nicht so gemeint.»

«Giannina hat mir nichts davon erzählt», erwiderte Giovanni, «in seiner Wut sagt man manchmal etwas. Ich kenne das.»

So sprachen sie miteinander und redeten sich vom Herzen herunter, was ihre Freundschaft getrübt hatte. Sie erinnerten sich an die schönen Tage des vergangenen Sommers, als sie im Schilf auf dem Boden des alten Fischerkahns gesessen hatten, als Marco die Geschichte von den kostbaren Diamanten und der schönen, hartherzigen Julia erzählte und Giannina in ihrer schnellen Begeisterung am liebsten auf einem Seeräuberschiff mitgefahren wäre. Sie dachten auch an die sorgenvollen Stunden: wie Marco in der engen Gasse überfallen worden war und Giovanni ihm durch sein mutiges Dazwischentreten das Leben gerettet hatte, wie sie Giannina auf der Landstraße nach Aquileja gesucht hatten… Die gemeinsamen Erlebnisse waren für immer in ihre Herzen geschrieben, und beinahe hätte ein einziger böser Satz, in der Wut gesprochen, die Freundschaft zerstört.

Die Freundschaft war ein kostbarer Schatz, den man hüten und pflegen mußte, damit er seinen Glanz und seine Schönheit nicht verlor.

«Giannina wird sich freuen, wenn sie hört, daß alles wieder wie früher zwischen uns ist», sagte Giovanni.

Marcos Gesicht aber wurde sehr ernst nach diesen Worten. Der Freund bemerkte es. In seiner Freude hätte er beinahe vergessen, daß Messer Pietro Bocco den Neffen in eine Klosterschule bringen wollte.

Der Kastanienbaum im Hof steckte schon seine rötlichen Kerzen an, in den Vorgärten grünte die Erde und bedeckte sich mit den weißen und farbigen Blütenblättern, die von den Bäumen fielen. Selbst durch die Ritzen der Steine sproß das frische Frühlingsgrün. Venedig war wie neugeboren. Mit Grausen dachte Marco an die weltentfernte Stille inmitten des Klosters von San Nicolo. Nackte, tote Steine, Mönche im Kreuzgang, Gebete murmelnd… Und vor den grauen Mauern atmete das Meer, lagen Schiffe im Hafen, handelte Umberto mit antiken Köpfen und kupfernen Schalen, rührte der Nudelmacher im Teig herum, spielten Kinder… Ein junger Mönch wandert einsam über den gelben Sand, entfernt sich immer weiter vom Kloster, bis er kaum noch zu erkennen ist. Neben ihm das Meer, gewaltig und schön. Giovanni saß schweigend auf seinem Stuhl. Die Augen des Freundes waren dunkel geworden, ernst und grüblerisch stand eine Falte über der Nasenwurzel.

«Es ist gut, daß du gekommen bist, Giovanni», sagte Marco. «Schwöre mir, daß du niemandem sagen wirst, was ich dir jetzt erzählen werde.»

«Ich schwöre es!» sagte Giovanni feierlich. «Bei der Heiligen Mutter Gottes.»

Marco ging auf die Truhe zu und öffnete den Deckel. «Komm her!» Er schlug die oben liegenden Kleider zurück. Vor Giovannis erstaunten Blicken lagen zwei Dolche, der kleine Elefant aus Elfenbein, der sonst auf dem Tisch gestanden hatte, ein breites goldenes Armband, eine gefüllte Geldbörse und zwei Säckchen mit Biscotto.

«Ihr müßt dann allein fertig werden, wenn ich nicht mehr da bin», sagte Marco geheimnisvoll. «Es geht nicht anders…»

Giovanni sah ihn fragend an. «Ich verstehe dich nicht. Was hast du vor, Marco?»

«Auch Giannina darf vorher nichts erfahren. Niemand! Nur dir sage ich es. Ich fahre mit einem Schiff nach Damaskus. Wie du siehst, ist alles schon vorbereitet. Das Armband hat der Mutter gehört, auch der kleine Elefant. Ich nehme beides mit. Vielleicht treffe ich meinen Vater. Dann zeige ich es ihm… Du weißt doch, daß ich in eine Klosterschule kommen soll! Daraus wird nun nichts…» Marco nahm einen Dolch heraus und gab ihn dem Freund. «Dieser Dolch ist für dich bestimmt, Giovanni. Nimm ihn. Du hast deinen Dolch Paolo geschenkt, damit er mich beschützen soll; er hat es mir erzählt… Nimm diesen dafür.»

Marco legte vorsichtig die Kleider wieder über die kostbaren Gegenstände und klappte die Truhe zu. Sein ernstes Gesicht hatte sich aufgehellt. Wie erlöst war er, weil er dem Freund sein streng gehütetes Geheimnis mitgeteilt hatte.

«Du willst also weg», sagte Giovanni, den Dolch in der Hand haltend. Er rang mit einem schweren Entschluß. Nach all dem, was zwischen ihnen gewesen war, glaubte er, dem Freund beweisen zu müssen, daß er ganz auf seiner Seite stehe in diesen schweren Stunden.

«Wenn du willst, Marco, gehe ich mit dir!»

Nun hatte er den folgenschweren Satz gesagt, und er ließ sich nicht mehr zurücknehmen. Er wollte ihn ja auch nicht zurücknehmen. Wie konnte er den Freund im Stich lassen? Aber der Vater und Giannina, die Arbeit bei Meister Benedetto? Mit dem Schiffsbau war es dann vorbei. Wir machen Venedig zur Königin, hatte Meister Benedetto gesagt. Was wäre Venedig ohne unsere Schiffe? — Hölzerne Perlen sind sie, merke es dir, sonst wirst du nie ein richtiger Bootsbauer werden. Diese Gedanken gingen Giovanni durch den Kopf.

Marco sah die hellen Augen des Freundes fragend auf sich gerichtet. Er ahnte, daß ihm sein Entschluß nicht leichtgefallen war.

«Du kannst nicht mitfahren, Giovanni», sagte er. «Denke doch an Giannina. Du mußt dich um sie kümmern… Es geht nicht, daß du mitkommst. Marino, der Matrose, hat Mühe, einen auf das Schiff zu schmuggeln…»

Giovanni versuchte ihn zu überreden, nach Murano zu kommen und sich bei ihm einige Zeit verborgen zu halten, aber Marco antwortete, daß Messer Pietro Bocco ihn dort zuerst suchen werde. Nein, es bliebe ihm nichts anderes übrig, als Venedig zu verlassen. Giovanni wisse doch, wenn er sich einmal etwas vorgenommen habe, dann führe er es auch durch.

Marco schilderte die Seereise und die Abenteuer, die er in Damaskus erleben werde, mit glühenden Worten. Und Giovanni hörte ihm zu. Es war wie früher, als sie auf den Steinstufen gesessen und im Angesicht der Lagune geträumt hatten: Nur Giannina war nicht bei ihnen.

Marco schüttelte verneinend den Kopf, als Giovanni fragte, ob sie die Freundin nicht einweihen sollten. «Du mußt das verstehen», sagte er, «einem einzigen Menschen habe ich es erzählt, und das bist du, Giovanni.»

Giovanni verstand den Freund und war so glücklich über das große Vertrauen und den Dolch, daß der Abschiedsschmerz gemildert wurde.

Erst wenn Marco mit dem Schiff auf dem weiten Meer schwamm, sollte Giovanni der Freundin von der Flucht Nachricht geben.

So wollte es Marco.

An dem Tage, da das zweite Geschwader zu seiner Reise aufbrechen sollte, regnete es. Die Lastträger verstauten, schimpfend über das schlechte Wetter, die letzten Waren. Messer Pietro Bocco stand mit dem Patrone des Schiffes am Kai und gab ihm Ratschläge. Dieser wehrte gelangweilt ab. Hundertmal schon hatte er die Ermahnungen gehört.

Der Kapitän des Schiffes stand mißmutig an Deck und trieb die Matrosen zu irgendwelchen unnötigen Arbeiten an, nur damit sie in den letzten Augenblicken nicht müßig herumstanden. Am liebsten hätte er gewartet, bis der Regen vorbei war, aber die Schiffe des zweiten Geschwaders mußten den Hafen verlassen, andere warteten schon darauf, abgefertigt zu werden.

Der Beamte der Ufficiale sopra Rialto, stolz den Degen tragend, ging an Bord, nachdem alles verladen war. Der Schreiber folgte ihm mit der Warenliste. Ein letztes Mal wurde überprüft, ob die Zollgebühren entrichtet, ob sich keine verbotene Ware an Bord befand, ob alle Vorschriften befolgt worden waren.

Marino sah die Beamten mit gemischten Gefühlen in den Laderaum steigen. Er hatte den Jungen unter großen Schwierigkeiten ungesehen auf das Schiff gebracht. Es würde ihm sehr leid tun, wenn sie ihn im letzten Augenblick noch erwischten.

Messer Pietro Bocco, der wenig Zeit hatte und auch nicht länger im Regen stehen wollte, ging zum Alten Rialto, wo ihn sein Secretario erwartete. Er war keinen Augenblick müßig und betrieb mehrere Geschäfte zur gleichen Zeit. In diesem Jahr hoffte er, ein tüchtiges Stück voranzukommen.

Marco saß mit seinen zwei Säckchen Biscotto in einer dunklen Ecke und wartete mit fieberhafter Ungeduld auf die Abfahrt des Schiffes. Er hatte tausend Ängste ausgestanden, als die Lastträger und Matrosen die letzten Waren verstauten. Die Holzkisten standen so dicht aneinander, daß keine Handbreit Zwischenraum war. Marco hatte sich am Ende des schmalen Mittelganges niedergelassen und hoffte, daß die Dunkelheit ihn verbergen würde.

Der Beamte, der das Schiff abfertigte, war stolz auf seine Stellung und sehr gewissenhaft, wenn der Patrone vergaß, ihm einige Dukaten zuzustecken. Mit klopfendem Herzen hörte Marco die Männer in den Laderaum herabsteigen. Ein Matrose leuchtete mit der Öllampe. Der Patrone erklärte auf Befragen, was sich in den einzelnen Kisten befand.

Sie kamen jetzt durch den engen Gang gerade auf Marco zu, blieben hier und dort stehen, sprachen einige Sätze und gingen dann weiter. In seiner Aufregung hörte Marco das Gemurmel der Worte, ohne ihren Sinn zu verstehen. Wenn sie nicht bald umkehrten, würden sie ihn entdecken. Er preßte sich an die Planken und hielt den Atem an. Am liebsten hätte er geschrien: «Nun kommt doch schon und holt mich heraus», nur damit das quälende Warten ein Ende hatte.

Der Beamte stieß mit dem Fuß an die Biscottosäckchen, die Marco vor sich liegengelassen hatte. «Was ist denn das?» fragte er verwundert. «Matrose, gib mal die Lampe her.» Im trüben Lampenschein entdeckte er den Jungen, der ihn mit finsterem Gesicht anstarrte.

«Patrone!» rief er. «Seht, was ich da gefunden habe! Und Ihr sagtet, alles sei in Ordnung bei Euch.» Er lachte gemütlich auf. «Wolltest wohl eine Seereise machen?» sagte er zu Marco. «Komm nur hervor aus deiner Ecke. Du bist noch ein bißchen zu jung dazu. Sieh mich nicht so finster an, du kannst froh sein, daß ich dich gefunden habe.»

Der Patrone zwängte sich ärgerlich nach vorn. Als er das Gesicht des Jungen sah, unterdrückte er die zornigen Worte, die ihm auf der Zunge lagen. «Du bist es?» fragte er erstaunt. Und zum Beamten: «Es ist der Neffe Pietro Boccos. Ich lasse ihn zu seinem Oheim bringen.»

Er nahm dem Matrosen die Lampe aus der Hand und befahl ihm, den Jungen bei Messer Pietro Bocco mit einigen erklärenden Worten abzuliefern.

«Da seht Ihr, was für eine Spürnase der Ufficiale sopra Rialto hat», hörte Marco die selbstgefällige Stimme des Beamten, als er an Deck stieg.

Willenlos folgte er dem Matrosen. Seine Enttäuschung war so groß, daß er nichts von dem fiebernden Leben sah und hörte. Der Regen sprühte vom Himmel herab. Marco schritt mit gesenktem Kopf durch Schlamm und Pfützen zum Campo di Rialto.

Der Matrose sagte einige tröstende Worte. Marco erwiderte nichts.

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