GIOVANNI SINGT

DER SOMMER DES JAHRES 1268 WAR HEISS, UND der Wind, der vom Meere kam und sacht über die Lagune wehte, brachte wenig Kühlung. Das Wasser rings um die Insel Murano fing die Farben des Himmels und spiegelte sie wider. Giovanni, der dreizehnjährige Sohn des Steinbauers Ernesto, saß auf den Stufen der verfallenen römischen Villa und sah dem Schiffe nach, das, kaum merkbar, mit schlaffen grauen Segeln dem Hafen von San Nicolo zuglitt.

Die Villa mit den steinernen Stufen und den Säulen aus Marmor hatte vor Jahrhunderten ein reicher Römer bauen lassen. Sie war ein letzter Zeuge der kalten Pracht des römischen Imperiums, das einst eine Welt beherrschte, die von der Nordküste des schwarzen Erdteils bis nach Kleinasien reichte. Bald würden die Lastträger und Steinbauer kommen, um den kostbaren Marmor und die Ziegel für neue Bauten an den Flüssen und Kanälen von Venedig zu bergen.

Giovanni stand auf. Er legte sich in den Schatten des nahen Feigenbaumes und hörte, wie die Vögel sangen. In solchen Minuten träumte er und vergaß den geheimen Schmerz über seine bucklige Gestalt. Er glaubte, das Meer am Strande des Lido rauschen zu hören; der Himmel und die weite unbewegte Lagune waren von einem feinen Klingen erfüllt, das nur Giovannis Ohr vernahm. Die Schreie der Maultiertreiber störten ihn nicht.

An Giovanni hatte die Natur ein kleines Wunder vollbracht. Er hatte schwarze Haare und helle blaue Augen, in denen Schmerz und Sehnsucht schimmerten. Aber das Schönste war seine Stimme. Die lauten Gespräche der Schiffer und Glasmacher, der Lastfräger und Arsenalarbeiter, der Seiler und Schiffsbauer, die demütigen, zudringlichen Bitten der Bettler verstummten, wenn Giovanni sang. Dann blieben die Bauern und Maultiertreiber, die gerade in der Nähe waren, stehen und lauschten, dann war es, als wehe der Wind sanfter über die Lagune.

Aber Giovanni, der alles Schöne liebte, war oft traurig. Besonders wenn er Giannina, die Nachbarstochter, sah.

Da lag nun Giovanni im Gras und wußte nicht, ob er froh oder traurig sein sollte. Er summte für sich ein Lied, das er oft im Weinhaus «La Malvagia» gehört hatte:

«O Theresina! Die Mutter fragt dich!

Was fragt die Mutter, o Theresina?

Sie will dir einen Schloßherrn geben,

der dir jeden Tag Krebse schenkt.

Aber du willst ihn nicht, Theresina,

willst nicht jeden Tag Krebse essen…»

Die flachen, breiten Fischerboote ruhten auf dem Lagunensee. Von San Michele nahte ein Ruderboot; der Junge im Bug zeigte auf die Marmorsäulen der Villa. Mit kräftigen Schlägen steuerte der Mann auf der Ruderbank darauf zu. Giovannis Freund Marco Polo kam. «He, Giovanni!» rief er über das Wasser, «bist du da, Giovanni?»

Giovanni lächelte und preßte seinen Körper an die Erde. Marco sprang vom Kahn auf die Steinstufen und sagte, nach allen Seiten spähend, zum Diener: «Hol mich nachmittags ab, Paolo; aber zu keinem ein Wort, hörst du? Die Mutter darf nichts erfahren.» «Ja, Herr!»

Der Ruderer entfernte sich. «Giovanni, wo bist du denn?»

Da konnte der Freund nicht länger schweigen. «Hier bin ich, Marco!» Sie begrüßten sich, als hätten sie sich seit Jahren nicht gesehen. Dabei besuchte ihn Marco jede Woche. Eigentlich sollte er an diesem Tage zum Bruder Lorenzo gehen, der ihn in der Religion, im Schreiben, Lesen und Rechnen unterrichtete. Aber einmal mußte er doch nach Murano, zu Giovanni und Giannina!

Sie hatten sich vor zwei Jahren auf dem Fest der Fischer kennengelernt. Giovanni hatte ein altes italienisches Volkslied gesungen, und Marco, der Sohn eines vornehmen Patriziers und Kaufmanns, erhielt von seiner Mutter die Einwilligung, den Jungen mit der herrlichen Stimme in ihr Haus einzuladen.

So hatte die Freundschaft zwischen Marco und Giovanni, dem Sohn des Steinbauers Ernesto, begonnen. Marcos Mutter war mit dem häufigen Zusammensein der Freunde nicht recht einverstanden. Aber ihre Sorge um den Gatten, der vor dreizehn Jahren mit seinem Bruder Maffio Polo auf eine weite, abenteuerliche Reise gegangen war und seitdem kein Lebenszeichen gegeben hatte, machte sie müde und teilnahmslos. Sie ließ es an der strengen Aufsicht fehlen, und Marco fand öfter Gelegenheit, Giovanni und Giannina aufzusuchen. Paolo, ein Diener des Hauses, half ihm dabei.

Marco war größer als Giovanni und von schöner Gestalt. Seine Stirn verriet Abenteuerlust; wenn er erregt war, funkelten die Augen, und sein Kinn schob sich angriffslustig vor. Zuweilen war er hochfahrend und wollte seinen Willen durchsetzen, auch wenn das, was er vorhatte, unvernünftig war. Er ließ nicht gern von einem Unternehmen, das er sich in den Kopf gesetzt hatte. Doch wenn er bei Giovanni war, bezähmte er seinen eigenwilligen Sinn und hörte auf das, was der Freund ihm sagte.

Giovanni und Marco standen eine Weile nebeneinander und schauten auf das Wasser, das jetzt unter der Berührung einer leichten Brise wie ein lebendiges Wesen atmete.

«Ich war auf der Piazzetta, bevor ich zu dir kam», sagte Marco, «und habe einem Geschichtenerzähler zugehört. Er war zerlumpt wie ein Bettler und barfüßig. Aber erzählen konnte er wie ein König.»

Giovanni sah an sich herunter. Barfüßig war der Geschichtenerzähler auf der Piazzetta gewesen? Er blickte auf den Freund, der Kleider aus feinem florentinischen Tuch und teure Schnallenschuhe trug, dann sah er wieder an sich herunter. Ein Hemd trug er und eine derbe Hose. Und barfüßig war er wie der Geschichtenerzähler auf der Piazzetta!

«Was ist denn, Giovanni?» fragte Marco, der die hellen Augen des Freundes auf sich gerichtet sah.

«Nichts», antwortete Giovanni. «Die Blumen blühen. Sieh! Gelbe und rote und weiße. Und draußen das Schiff, nur die Masten siehst du noch!»

«Es fährt nach Byzanz. Ganz sicher fährt es nach Byzanz», sagte Marco versonnen. Der Name dieser Stadt, der Hauptstadt des Oströmischen Kaiserreiches, übte einen eigentümlichen Reiz auf ihn aus. Byzanz war das Tor zu der märchenhaften Welt des Ostens, in der die mächtigen Mongolenkaiser herrschten. Nach Byzanz war Nicolo Polo, der Vater, und Maffio Polo, der Onkel, im Jahre 1250 gereist und fünf Jahre später, wie ein Freund des Hauses berichtete, zu einer abenteuerlichen Fahrt nach dem Mongolenreich aufgebrochen. Wenn der Name dieser Stadt genannt wurde, senkte die Mutter den Kopf, um die Tränen in ihren Augen zu verbergen.

Marco liebte seine Mutter mit scheuer Verehrung. Sie war für ihn die schönste Frau von Venedig. Einmal hatte er zu ihr davon gesprochen, mit einem Schiff aufs Meer hinauszufahren, nach Byzanz, dann weiter nach Osten, um nach dem Vater und dem Onkel zu forschen und die geheimnisvollen Länder kennenzulernen, aus denen Seide und Edelsteine, farbenprächtige Teppiche und teure Gewürze und viele andere Waren nach Venedig gebracht wurden. Aber die Mutter war zornig geworden und hatte ihm befohlen, drei Tage das Haus nicht zu verlassen. Maria, die Magd, sagte ihm, daß die Mutter den ganzen Tag geweint hätte. Marco hatte seitdem nicht mehr von seinen abenteuerlichen Gedanken zu ihr gesprochen.

Aber wenn er bei Giovanni war, konnte er von seiner Sehnsucht nach den fernen Ländern reden. Wie war es auch möglich, in Venedig zu leben, in dieser Lagunenstadt, wo sich Kaufleute und Seefahrer aus allen Herren Länder trafen, ohne von diesem Drang nach weiten Reisen und einträglichen Geschäften ergriffen zu werden? «Woran denkst du wieder?» fragte Giovanni den Freund. «An das, was ich auf der Piazzetta gehört habe. Ich werde es dir später erzählen. Eine Geschichte von einem Diamanten, der so groß wie ein Taubenei ist. Komm, Giovanni, gehen wir zum Fischteich des Messer Celsi.» Die Bauern arbeiteten auf den Feldern. Ein Senator, von den beiden Jungen ehrerbietig gegrüßt, sprengte auf seinem Rappen vorüber.

«Ija, iiija», trieb ein Maultiertreiber seine Tiere an, die hochbeladen mit Heu gemächlich ihres Weges gingen.

Die beiden Jungen kamen an einer Glashütte vorbei, aus deren Kamin dunkler Rauch zum hellen Sommerhimmel stieg. Das Holztor war weit geöffnet. Die Glasmacher, ausgemergelt von der glühenden Hitze der Öfen, arbeiteten mit nacktem Oberkörper.

In der Nähe des Nonnenklosters, das auf der anderen Seite der Insel hart am Wasser lag, trafen sie Giannina. Sie wußte, daß Marco heute nach Murano kommen und mit Giovanni zum Fischteich gehen würde. Darum hatte sie an dieser Stelle gewartet. Aber sie tat so, als käme sie zufällig des Weges daher.

«Ach, da seid ihr beide?» sagte sie. «Beinahe wäre ich an euch vorbeigegangen. Guten Tag, Messer Marco, guten Tag, Messer Giovanni.»

Sie verbeugte sich und breitete die Arme aus wie eine Dame am Hofe des französischen Königs. «Es ist mir eine hohe Ehre, euch begrüßen zu dürfen, hochedle Herren.» Diese Anrede hatte sie von ihrer Mutter gelernt, die in der Küche des Nonnenklosters beschäftigt war und des öfteren mündliche und schriftliche geheime Botschaften der Nonnen nach der Stadt bringen mußte.

«Fein seht Ihr wieder aus, Messer Marco», sagte sie und lehnte sich an den Stamm einer dunklen, schlanken Zypresse. «Immer mußt du spotten», sagte Giovanni verlegen. «Laß sie, Giovanni. Sie wird bald wieder vernünftig.» Auf Marcos Stirn zeigten sich ärgerliche Falten.

Da fegte das Mädchen mit einem hellen Lachen die Mißstimmung hinweg und tanzte übermütig um die Jungen herum. «Nehmt mich mit», rief sie. «Wenn ihr mir abends helft, Wasser aus der Zisterne zu holen, kann ich mitkommen.»

«Gut, gut!» brummte Marco zufrieden. «Komm nur mit, ich habe eine schöne Geschichte zu erzählen.»

«Und Giovanni wird singen», sagte Giannina und legte den Arm um die Schulter des Freundes. «Ja, Giovanni? Wirst du singen?» Sie sah ihn bittend an.

Giovanni nickte. Aus seinem Gesicht war alle Wehmut verschwunden. Barfüßig ging er neben seinem Freund her, der staubige Pfad stieg leicht an und führte zu einer aus rohen Balken gefügten Brücke, die sich über einen schmalen Kanal spannte, der links und rechts mit Stämmen und Faschinen befestigt war.

«Geht nur», sagte Marco. «Ich komme gleich nach.» Er setzte sich nieder, zog Schuhe und Strümpfe aus und versteckte sie im Gebüsch. Dann lief er leichtfüßig und froh über die Brücke, bis er wieder neben Giovanni und dem Mädchen war.

Früher war es gefährlich gewesen, in die Nähe des Fischteiches, der dem reichen Landmann Celsi gehörte, zu kommen. Zwei Wächter, mit dicken Knüppeln bewaffnet, hatten darauf geachtet, daß keiner fischte oder sich am Ufer herumtrieb. Der Große Rat von Venedig aber hatte eine Verordnung erlassen, daß die Fischteiche der Inselstadt zugeschüttet werden müßten. Messer Celsi widersetzte sich anfänglich dieser Verordnung. Der Fischteich gehörte seit alters her zu den Gerechtsamen seiner Familie, hatte er dem Großen Rat in einem umfangreichen Schriftstück bewiesen, und die Regierung der Stadt habe kein Recht, ihm sein Eigentum zu nehmen. Die Proveditori seiner Pfarrschaft aber hatten ihm mit einer hohen Strafe gedroht, wenn er dem Befehl der Regierung nicht nachkommen werde. So war dem Messer Celsi nichts übriggeblieben, als nachzugeben.

Seit dieser Zeit gab es keine Wächter mehr. Ein Teil des Teiches war schon angefüllt worden, aber noch schimmerte eine ovale, an den Rändern mit Schilf bewachsene Wasserfläche und zog die Kinder zu Spiel und Fischfang an. Allerdings gab es nicht mehr viele Fische im Teich, Messer Celsi hatte ihn mit großen Netzen ausfischen lassen, und nur wenige große und zahlreichere kleine Fische waren dem Raubzug entgangen.

Der Teich lag unbewegt im Licht der Sonne, die hoch im Mittag stand. Keiner schien in der Nähe zu sein. Wer sollte auch zu dieser Stunde an den einsamen Ort kommen? Die Glasmacher standen bis in den Abend hinein vor den glühenden Öfen, die Bootsbauer setzten kunstfertig die Planken und Bretter zusammen, die Bauern und Tagelöhner arbeiteten auf den Feldern, die Maurer und Steinbauer bauten an den Palästen der Grafen, Herzöge und reichen Kaufleute, und die Bettler und Gaukler und Händler trieben sich vor den Kirchen und auf den Plätzen herum oder gingen von Haus zu Haus ihren verschiedenen Geschäften nach.

Im Schilf versteckt lag das Boot, das vor Wochen noch, halb mit Wasser gefüllt, neben dem brüchigen Holzsteg gelegen hatte. Giovannis Vater, der gute Ernesto, wie er von den Arbeitern genannt wurde, hatte es wieder flottgemacht. Er konnte Giovanni nichts abschlagen.

Die beiden Jungen und Giannina sprangen den sandigen Abhang hinunter, wateten durch brusthohes Schilf zum Boot und kletterten hinein.

Giovanni setzte sich auf die Steuerbank. Giannina und Marco ließen sich in der Mitte des Bootes auf die Planken nieder. Es war so seltsam still, daß man annahm, jeden Augenblick müsse etwas Besonderes geschehen. Die Blätter der beiden Birken auf dem Steilufer zitterten, eine Wildentenfamilie raschelte im Schilf, und hier und da plumpste etwas ins Wasser, als fiele ein Stein hinein.

«Frösche», sagte Marco.

Giovanni hatte sich so gesetzt, daß Giannina seinen Rücken nicht sehen konnte. Immer, wenn das Mädchen in der Nähe war, litt er unter seiner verwachsenen Gestalt. Manchmal glaubte er, ein böser Geist habe ihm den Höcker angehext. Einmal war er in seiner Verzweiflung zum alten Francesco gelaufen, von dem man sagte, daß er aus heilkräftigen Pflanzen Zaubertränke herstellen könne, und hatte ihn um ein Mittel zur Entfernung des Höckers gebeten. Francesco aber hatte ihm nicht helfen können. «Mach dir nichts daraus, mein Sohn», hatte er gesagt. «Du hast doch kräftige Arme und einen Brustkorb wie ein griechischer Athlet. Was macht schon der kleine Höcker? Gott hat dir gute Augen und eine herrliche Stimme gegeben. Geh, mein Sohn, sei nicht traurig!» Diese Worte hatte sich Giovanni tausendmal wiederholt, aber die Schwermut in seinem Wesen wollte nicht weichen.

Giannina las die Gedanken des Freundes in den feinen Linien seines Gesichtes. Und sie wollte, daß er froh sei. Aber es war nicht leicht, die richtigen Worte zu finden. So redete sie alles durcheinander, was ihr gerade einfiel. «Hört, wie die Vögel singen! Dort am Himmel eine weiße Wolke! Wie ein Schiff! Ein Krebs, sieh, Giovanni, ein Krebs!» Jeden Augenblick entdeckte sie etwas Neues.

Giovannis Gesicht hellte sich auf.

Sie sagt das alles nur, um Giovanni aufzuheitern, dachte Marco. «Soll ich euch nun die Geschichte von dem Edelstein erzählen?» fragte er laut. «Oder wollen wir erst hinausrudern?»

«Im Schilf ist es kühler. Und keiner kann uns entdecken. Erzähle, Marco!» bat Giovanni. Er zog die Knie an, umspannte sie mit den Armen und legte den Kopf lauschend zur Seite.

Marco begann: «Ich werde es so erzählen, wie ich es auf der Piazzetta gehört habe. Und der Geschichtenerzähler hat geschworen, daß jedes Wort wahr sei. Hört also: In Toulouse wohnte ein Graf, der eine schöne Tochter besaß. Er lebte mit seinem Nachbarn Don Fernando, Graf von Barcelona, seit langen Jahren in Fehde. Eines Tages aber, müde des ewigen Kriegführens, das wechselseitig beide Länder verwüstete, schlössen sie Frieden und kamen zu einem Gastmahl zusammen, auf dem sie sich mit größter Ehrerbietung begrüßten. Um den Friedensbund zu festigen, beschlossen sie, den Sohn des Don Fernando mit der schönen Julia, der Tochter des Grafen von Toulouse, zu vermählen. Nun hatte der Graf von Toulouse seiner Tochter versprochen, ihr einen Gatten nur mit ihrer Zustimmung zu wählen. Aber er hatte keine Sorge, denn der Jüngling war von edler Gesinnung und bewegte sich mit feinem Anstand, wie es die französische Höflichkeit verlangte. Die Eltern richteten es so ein, daß sich die beiden in Toulouse im Hause der Braut trafen. Julia und der Jüngling verliebten sich gleich beim ersten Zusammentreffen. Uber die Mitgift wurden sich die Eltern bald einig. Julias Vater hielt sie in guten Goldstücken bereit, die ihm der reiche Graf von Provence auf die Güter von Arles und Tarascon geliehen hatte.

Nun besaß die schöne Julia einen Diamanten von seltener Kostbarkeit. Er war so groß wie ein Taubenei und funkelte im Sonnenlicht, daß man die Augen von ihm abwenden mußte. Er strahlte wie eine kleine Sonne und tauchte die Umgebung in gleißendes Licht. Diesen Diamanten, den sie zur Hochzeit in Barcelona tragen wollte, vertraute Julia ihrem Verlobten an, damit er ihn wohlbehalten in sein Haus bringe.

Der Jüngling ritt nach herzlichem Abschied wohlgemut mit seinem Gefolge zur Küste, wo sie ein Schiff zur Weiterfahrt erwartete. Ein böses Schicksal wollte es, daß sie unterwegs von normannischen Seeräubern, die sich bis in die katalonischen Gewässer gewagt hatten, angegriffen und nach kurzem, heftigem Kampf besiegt wurden. Die meisten aus dem Gefolge des jungen Grafen waren im Kampf gefallen, er selbst aber war wie durch ein Wunder unverletzt geblieben. Die Räuber plünderten das Schiff und schleppten die Gefangenen, von denen sie sich ein Lösegeld erhofften, nach ihrem Schlupfwinkel auf der Insel Madeira. So fiel der kostbare Diamant, den die schöne Julia zu ihrer Hochzeit tragen wollte, in die Hände der Seeräuber und ist bis heute nicht wieder aufgetaucht.»

Marco, der während seiher Erzählung aufs Wasser geblickt hatte, sah nun erwartungsvoll auf Giannina und Giovanni.

«Und was ist mit dem Jüngling geschehen?» fragte Giannina. «Erzähl doch weiter!»

«Und Julia, die Braut?» fügte Giovanni hinzu.

«Der junge Graf ist freigelassen worden, nachdem die Seeräuber das hohe Lösegeld in Gold erhalten harten. Aber Julia war über den Verlust des kostbaren Diamanten so erbost, daß sie ihrem Verlobten heftige Vorwürfe machte. Sie sagte, sie würde ihn erst dann heiraten, wenn er den Diamanten wieder herbeigeschafft hätte.»

«Eine schlechte Braut», sagte Giannina empört. «Ich hätte ihn geheiratet, und wenn er bettelarm geworden wäre. Er kann nur froh sein, daß die Seeräuber den Diamanten geraubt haben. Wenigstens hat er den schlechten Charakter seiner Braut kennengelernt.»

Giovanni nickte zu Gianninas Worten. Aber Marco fuhr fort: «Der Geschichtenerzähler hat weiter berichtet, daß der Jüngling untröstlich über Julias Worte gewesen ist und nun schon seit Jahren mit drei Schiffen nach den Seeräubern sucht, die den Diamanten erbeutet haben.»

«Ein Esel ist er», sagte Giannina und zog verächtlich die Augenbrauen hoch. «Er wird den Diamanten nie finden.»

«Das Meer ist weit», meinte Giovanni. «Wenn du am Strand des Lido stehst und aufs Meer hinausschaust, dann siehst du nur Wasser und Himmel. Und die großen Schiffe sind in der Ferne winzig kleine Punkte.»

«Ich glaube, daß der Jüngling den Diamanten finden wird», sagte Marco erregt. «Wenn man sich etwas fest vorgenommen hat, erreicht man es auch.»

Die drei im Boot hingen noch eine Weile ihren Gedanken nadi. Giannina meinte dann, daß sie sich das Leben auf einem Seeräuberschiff gut vorstellen könne. Sie hätte nichts dagegen, an einem Streifzug der Seeräuber teilzunehmen.

«Mädchen kann man da nicht gebrauchen», sagte Marco.

«So? Meinst du, der Anführer der Seeräuber hätte keine Braut?» fragte Giannina zornig. «Wenn wir drei auf einem Seeräuberschiff wären, würde ich Giovannis Braut sein.» Marco wollte spöttisch auflachen. Aber als er Giovannis frohes Gesicht sah, unterdrückte er es.

Sie ruderten auf das Wasser hinaus und blieben mitten auf dem Teich liegen. Marco genoß die Stille der Natur. In Venedigs Straßen, auf den Kanälen und Plätzen, an den Kais, wo die Schiffe anlegten, war es laut und erregend, so daß die Tage bis zu der Fahrt nach Murano wie ein Vogelschwarm eilig vorbeirauschten. In Venedig war sein Herz immer in Aufruhr. Hier bei den Freunden fühlte er, wie die innere Unruhe wich. Er konnte ihnen alles sagen, was ihn bewegte. Sie hörten ihm gespannt zu, wenn er davon sprach, daß er eines Tages mit einem Schiff über das Meer fahren werde, um in den fernen Ländern seinen Vater und seinen Onkel zu suchen; und sie glaubten fest daran, daß er seinen Vorsatz ausführen werde. Dieser Glaube half ihm über viele Zweifel hinweg, die ihn quälten. Ja, so war es: Hier auf Murano dachte keiner daran, ihn drei Tage einzusperren, wenn er von seiner Lieblingsidee sprach. Er war nun schon vierzehn Jahre alt, konnte lesen und schreiben und hatte von Bruder Lorenzo viel Interessantes von fremden Ländern und Städten erfahren. Auch aus den Gesprächen der weitgereisten Kaufleute, der Seefahrer und Kreuzritter hatte er hier und da einige Worte aufgefangen, die seine Vorstellung von den fremden Völkern erweiterten.

«Marco, wo bist du wieder mit deinen Gedanken?» rief Giannina und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. «Jagst du noch dem Diamanten nach? Stumm wie die Fische seid ihr heute. Laßt uns ans Ufer fahren und Krebse fangen!» «Giannina hat recht», sagte Giovanni. «Rudere ans Ufer, Marco.» Aber der Krebsfang wollte nicht glücken. Vergebens wateten sie im Wasser umher, kein Krebs war heute zu sehen. Da legten sich die beiden Jungen am Ufer in die Sonne, und Giannina lief, um Essen zu besorgen. Bald kam sie mit zwei Melonen und einem Kanten Weißbrot zurück. Marco zog seinen Dolch, den er immer bei sich trug, heraus und zerschnitt die Früchte. Das gelbe, saftige Fleisch schmeckte süß und duftete.

Nachdem sie gegessen hatten, ruderten sie den Kahn wieder ins Schilf und machten sich auf den Weg nach der verfallenen Villa. Sie wollten sich auf die Steinstufen setzen und warten, bis Paolo käme. Marco holte seine Schuhe und Strümpfe aus dem Versteck neben der Holzbrücke und trug sie unter dem Arm. Es war angenehm, barfüßig über die sonnenwarme Erde zu gehen. Auf der Wiese rechts neben dem Pfad weidete eine Kuhherde.

Sie gehörte dem Messer Celsi, der auch ohne Rschteich reich genug war, um seine beiden Töchter wie die Damen der Patrizier und Edelleute in Brokat und Seide zu kleiden.

Noch immer lag die Lagune unbewegt, nur hier und da, wenn ein flüchtiger Windhauch darüber hinweghuschte, kräuselte sich die Oberfläche des Wassers. Die Sonne neigte sich langsam und stetig dem Abend zu. Der Gesang der Vögel klang müde, und die Heckenrosen hinter dem Zaun senkten die Köpfe.

Giovanni hatte sich auf die Steine gesetzt und summte leise eine Melodie. «Sing, Giovanni», bat Giannina.

Und Giovanni sang das alte Lied von den zwei Fischern, die auf das Meer hinausfuhren, mit den Wellen um ihr Leben kämpften und am Abend mit reichem Fang zurückkehrten.

Seine Stimme klang so strahlend hell über die Lagune, daß alles ringsumher versank. Die Melodie wehte bis zu den Fischern hinaus. Sie vergaßen die Netze und wandten die Köpfe dem Sänger zu, der jetzt auf den weißen Stufen stand und die Arme ausgebreitet hielt. Paolo, der sich mit schnellen Ruderschlägen näherte, ließ die Ruder sinken und blieb unbeweglich auf der Lagune liegen. Der Himmel und das Wasser umfingen die Insel wie gläserne Mauern, die die Töne zurückzuwerfen schienen.

Giannina saß zu Füßen des Freundes und sah unverwandt zu ihm hinauf. Sein Gesicht hatte sich verändert, die Augen leuchteten noch heller als sonst, und um den Mund und die Augen lag das stolze, trotzige Lachen der Fischer, die mit ihrem Boot das Wasser bezwangen und im Toben des Sturms ihren Mut und ihre Kraft erprobten.

«Giovanni singt!» Ganz leise formten Gianninas Lippen diese Worte. Und der Gesang war für sie wie ein Wunder.

Marco stand am nahen Zaun und spürte nicht den betäubenden Duft der Rosen. Er sah, wie der Schatten des Feigenbaumes auf die Steine fiel, er sah Giannina und Giovanni, er nahm die Marmorsäulen und den sonnenglänzenden, silbernen Wasserspiegel wahr. Das alles gehörte zu der Melodie und den Worten, die der Freund in der weichen venezianischen Mundart sang. Marco fühlte seine Kräfte wachsen. Er war bereit, eine Heldentat zu vollbringen. Der Gesang gab ihm große und kühne Gedanken ein.

Als Giovanni geendet hatte, sagten sie eine ganze Weile kein Wort. Sie lauschten nach dem Wasser, auf dem das Lied noch nachzuklingen schien.

«Sdiön hast du gesungen, Giovanni», sagte Giannina dann.

Paolo, Marcos Diener, nahm die Ruder in die Hände und steuerte auf die Villa zu. Die Fischer achteten wieder auf ihre Netze, kleine Wellen spülten um die Eichenstämme, die in den Grund des Wassers gerammt waren, um den Schiffen der Kauffahrer den Weg zu weisen.

Marco zog sich Strümpfe und Schuhe an. Er gab Giannina die Hand und umarmte den Freund. «Wunderbar kannst du singen, Giovanni! Bald komme ich wieder!» Dann sprang er behende ins Boot. Paolo lächelte den Kindern freundlich zu und stieß das Boot ab.

«Addio Giannina! Addio Giovanni!» rief Marco und winkte noch lange den Freunden.

Über den Palästen, Kirchen und Hütten von Venedig stand der Sonnenball, das helle Blau des Himmels ging in ein zartes Rosa über. Marcos Boot verschwand im sommerlichen Dunst. «Komm, Giannina», sagte Giovanni. «Ich helfe dir Wasser tragen.»

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