DER VATER

DIE GESCHÄFTE MESSER PIETRO BOCCOS LIESSEN sich gut an. Von dem zweiten Geschwader der venezianischen Schiffe war befriedigende Nachricht gekommen. Weniger erfreulich stand es mit seinem Vorhaben, den Neffen in das Kloster von San Nicolo zu schaffen. Der greise Prokurator, der diesseits des Canal Grande die Vormundschaften der Waisen und die Verteidigung ihrer Güter besorgte, hatte eines Tages Marco Polo besucht und mit Erstaunen seine Abneigung gegen den Eintritt in das Kloster festgestellt. Von Pietro Bocco war ihm etwas ganz anderes berichtet worden. Allerdings stimmte es, daß der Zögling einen Fluchtversuch unternommen hatte, aber der Prokurator meinte, dieser Jungenstreich sei kein Grund, Marco gegen seinen Willen in ein Kloster zu sperren. Er weigerte sich, seine Unterschrift zu geben, und hatte Messer Pietro Bocco in einem ernsten Gespräch darauf hingewiesen, daß er ihn zur Rechenschaft ziehen werde, wenn er Unregelmäßigkeiten bei der Verwaltung des Vermögens der Poli entdecke; denn er ahnte jetzt wohl, warum der Kaufherr den Erben hinter die Mauern des Klosters haben wollte.

Messer Pietro Bocco war nach dieser Unterredung, in der er dem Prokurator sein freundlichstes Gesicht und große Bereitwilligkeit gezeigt hatte, wütend nach Hause gegangen. Er dachte nicht daran, seinen Plan aufzugeben, war aber zu klug, sofort etwas zu unternehmen. Der Prokurator war zweiundachtzig Jahre alt, und man sprach davon, daß er sein Amt noch in diesem Jahre aufgeben werde. Es hieß also: abwarten.

Der Monat April ging zu Ende. Nach dem Besuch des Prokürators war Marcos Gefangenschaft gemildert worden. Zwar bewachte ihn noch ein Diener, der den Befehl hatte, keinen Fremden an ihn heranzulassen, und es bestand auch nicht die Möglichkeit, wie früher, draußen frei herumzustreifen; aber schon das Gefühl, dem Oheim nicht mehr schutzlos ausgeliefert zu sein, verschaffte ihm innere Befriedigung. Stärker noch als das Gespräch mit dem greisen Prokurator hatte ihn die Nachricht Giovannis bewegt, daß der getreue Paolo zurückgekehrt sei und jetzt als Fischer in einer Siedlung auf dem Lido lebe. Tag für Tag grübelte er darüber nach, wie er eine Zusammenkunft mit Paolo ermöglichen könne. Er wollte ihn sehen, sein leises, gutmütiges Lachen hören und wie früher mit ihm auf die Lagune hinausrudern. Aber er durfte gerade in diesen Tagen dem Messer Pietro Bocco keine Veranlassung zu Klagen über ungehorsames Verhalten geben. Die Drohungen des Oheims hatten ihn vorsichtig gemacht.

Der Kastanienbaum auf dem Hof stand in der vollen Pracht seiner Blüte. Marco saß über ein Buch gebeugt am Fenster. Er befand sich bei Bruder Lorenzo wieder in gutem Ansehen, ganz zu schweigen von Tiberius, der vor lauter Begeisterung im Kreise herumlief, wenn Marco auftauchte und die Knochen aus der Tasche zog. Seitdem er dem Unterricht wieder mit Interesse folgte, besorgte Bruder Lorenzo ihm Bücher, die der Zögling mit nach Hause nehmen durfte. Und es waren nicht nur geistliche Schriften.

Wenn er seinen Blick hob, sah er die Sonnenstrahlen auf den Dächern liegen. Die Frühlingstage waren mild und hell, und die Dämmerung brauchte lange, um die vielen Farben in ihren grauen Mantel zu hüllen. Die Stunde zwischen Tag und Abend war angefüllt mit suchenden Gedanken. Lange Jahre würden noch vergehen, bis er über sich selbst bestimmen konnte. Wo aber lag das Ziel? Keiner war da, der ihm den rechten Weg wies. Und er selbst fand ihn nicht. Marco hatte schon erkannt, daß man nicht einfach seiner Sehnsucht, seinen Wünschen folgen konnte wie die Bienen, die im Garten herumsummten und den Honig aus den Blüten saugen. Die Morgennebel der Kindheit lagen über seiner Phantasie, und bisweilen schien die Sonne hindurch und tauchte sie in schimmerndes, unruhiges Gold.

Eine Katze schlich über den Hof. Es war dunkel geworden. Giannina kam herein, zündete die Kerzen an und ging, das Abendessen zu holen. Es war gut, sie in der Nähe zu wissen. Sie hatte ihm oft geholfen, über die einsamen Stunden hinwegzukommen, und war die Mittlerin der freundschaftlichen Anteilnahme Giovannis gewesen.

Er saß mit dem Buch auf den Knien und wartete, daß Giannina zurückkäme, um ein kleines Gespräch im Schein der Kerzen zu führen. Da hörte er schwere Schritte im Hof und den Klang zweier Männerstimmen. Die Männer standen vor der Haustür und waren sich nicht schlüssig, ob sie eintreten sollten oder nicht.

Marco, plötzlich aufmerksam geworden, hörte, wie die Tür geöffnet wurde, wie Schritte sich entfernten. Einer war eingetreten, der andere ging davon. Marco stand auf und fühlte nach seinem Dolch. Wer besuchte ihn so spät? Eine Hoffnung regte sich. Vielleicht war es Paolo? Dem schweren Schritt nach zu urteilen, konnte es Paolo sein. Froh rannte er zur Tür und riß sie auf. Schon wollte er «Paolo» rufen, da erstarb ihm das Wort auf den Lippen.

Ein fremder hochgewachsener Mann mit sonnenverbranntem Gesicht trat ein. Er sah sich im Zimmer um, als suche er etwas, heftete dann seinen Blick auf Marco, sah ihn lange an. Ein Erstaunen zeigte sich in seinen Zügen wie bei einem Menschen, der etwas Unbegreifliches und doch zutiefst Ersehntes vor seinen Augen sieht und sich nicht darüber klarwerden kann, ob es Traum oder Wirklichkeit ist.

Giannina kam mit dem Abendessen, stellte es auf den Tisch und ging wieder hinaus. Marco bemerkte sie nicht. Da war etwas Sonderbares geschehen. Ein fremder Mann stand im Zimmer mit einem ungepflegten schwarzen Bart und staubbedeckten Reisekleidern. Aber die großen Augen und die Form der Stirn, die Falten, die von den Wangenknochen zu den Mundwinkeln liefen?

Die Kerzen flackerten. Ich muß die Dochte kürzen, dachte Marco und ging durch das Zimmer, als wäre der andere nicht da.

Der Fremde verfolgte jede Bewegung des Jungen. Er war es, der zuerst sprach: «Wie heißt du?» fragte er.

Die Worte zerstörten den traumhaften Zustand. Der Fremde sprach nicht wie ein Venezianer.

«Sagt mir erst, wer Ihr seid!» erwiderte Marco kampfbereit. «Was wollt Ihr von mir?»

«Ich bin Nicolo Polo!» sagte der Fremde, und eine Spur von Ungeduld zeigte sich im Gesicht und in seiner Körperhaltung. Marco sah es wohl, er nahm überhaupt jede Äußerlichkeit wahr, nur in seinem Gedankengewirr konnte er sich nicht zurechtfinden. «Ich habe gerade gelesen!» sagte er. «Marco heiße ich.» «Marco Polo», sagte der Fremde für sich. Dann lauter: «Freust du dich denn nicht, daß dein Vater zurückgekommen ist?» Nicolo Polo empfand ein beklemmendes Gefühl, dessen Ursprung er sich nicht erklären konnte. Er ahnte, daß sich irgend etwas verändert hatte, wollte nach der Gattin fragen, drängte die Frage zurück. Sein Sohn stand vor ihm, ein junger Mensch mit des Vaters Gesichtszügen, schlank, gut gewachsen, ein wenig finster aussehend vom Grübeln, Nicolo Polo nahm den Jungen in seine Arme. «Ich bin dein Vater», sagte er, «sieh mich doch an!»

Marco drückte sein Gesicht an die staubigen Kleider und sagte, für den Vater unverständlich, Worte, die Erstaunen, Freude, Ungeduld, Befriedigung, Stolz und alles miteinander ausdrückten. Dann löste er sich plötzlich von seinem Vater und sagte:

«Jetzt kann Pietro Bocco nicht mehr machen, was er will. Ich wußte es, daß Ihr einmal wiederkommt, Vater.»

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, dachte er daran, daß die Mutter auf San Michele ruhte. Und die Vertrautheit mit dem Fremden, der sein Vater war, machte einer inneren Leere Platz, die alle Gefühle auslöschte.

«Mama ist gestorben», sagte er. «Vater», wollte er hinzufügen, damit der unerwartete Schmerz nicht so groß sei, aber er konnte es nicht. Er dachte an die stillen Vorwürfe, die in den Gesprächen der Mutter gewesen waren, wenn sie vom Meer, von den Schiffen und den lockenden fernen Küsten gesprochen hatte, und er verstand in diesem Augenblick, daß die stummen Vorwürfe auch dem Fremden gegolten hatten, der vor ihm stand — seinem Vater.

«Lionora ist tot», sagte Nicolo Polo tonlos.

«Auf San Michele liegt sie begraben… Vater!»

«Ich gehe jetzt auf mein Zimmer… Schicke das Mädchen zu mir, ich bin sehr müde… Wenn man vierzehn Jahre reist, wird man müde… Auf San Michele liegt sie? Ja, ich gehe jetzt…»

Marco sah den Schmerz im Gesicht des Vaters. Keiner hätte ihn gesehen. Er sah ihn. Aber es war gerade, als hätte einer die Tür zu seinem Herzen zugeschlagen.

Der Vater ging hinaus, ungebeugt. Marco legte das Buch an seinen Platz. Die Luft im Zimmer roch nach dem verbrannten Docht. Es waren Kerzen wie Linnen so weiß. Nirgendwo gab es weißere Kerzen als in Venedig.

Marco ging in die Küche und sagte zu Giannina: «Mein Vater ist heimgekehrt… Er ist müde… Du mußt das verstehen: Vierzehn Jahre ist er gereist, durch die ganze Welt. Morgen gehst du zu Giovanni und sagst ihm, daß mein Vater zurückgekommen ist. Nun ist alles gut.»

Marco schlief kaum in dieser Nacht. Als er sich am andern Morgen angezogen hatte und auf der Treppe dem Aufpasser begegnete, sagte er: «Ich will Euch hier nicht mehr sehen. Geht zu meinem Oheim und sagt ihm das!»

Der Vater war noch nicht erwacht. Marco schlich mehrmals an seiner Tür vorbei in der Hoffnung, irgendein Geräusch zu hören. Endlich regte sich etwas. Er wagte jedoch nicht, hineinzugehen. Vielleicht hätte er die Tür geöffnet, wenn er gewußt hätte, daß das Bett unberührt war und der Vater mit aufgestütztem Ellenbogen am Tisch saß.

Messer Pietro Boccos Diener hatte es indes sehr eilig, zu seinem Herrn zu kommen, um ihm die Worte seines Neffen zu übermitteln, hatte er doch den Auftrag erhalten, jede Unbotmäßigkeit des Knaben sofort zu melden. Messer Pietro Bocco verschloß sofort die Tür seines Warenlagers und begab sich zu Marco. Unterwegs überlegte er, wie er den Neffen zu weiteren Unbesonnenheiten reizen könne.

Merkwürdigerweise empfing Marco ihn mit kühler Freundschaft. Und bevor der Oheim seinen eingeübten Worten freien Lauf lassen konnte, sagte der Knabe etwas, das im ersten Augenblick unwahrscheinlich klang, ihn aber dann zu schnellem, wachem Denken zwang.

«Gestern Abend ist mein Vater zurückgekommen, Oheim. Er wird sich freuen, Euch begrüßen zu können.»

Das sagte Marco. Und Messer Pietro Bocco wußte, kaum hatte er die Sätze gehört, daß sie keine Erfindung der regen Phantasie seines Neffen waren.

«Wo ist er?» fragte er und konnte die Bestürzung nur schwer verbergen.

Marco wies auf den Flur hinaus und sagte sich im gleichen Moment, daß es nicht gut sei, wenn der Oheim zuerst mit dem Vater spräche. Aber er konnte es nicht mehr ändern; denn Pietro Bocco verließ sofort das Zimmer, ohne seinen Neffen eines weiteren Blickes zu würdigen.

Die Unterredung zwischen Nicolo Polo und seinem Schwager dauerte sehr lange. Marco ging aufgeregt in seinem Zimmer auf und ab und war mehr als einmal versucht, auf den Flur hinauszugehen, um zu lauschen, was im Zimmer des Vaters gesprochen wurde.

Giannina brachte ihm das Frühstück. «Geh doch hinein!» riet sie ihm mit Zorn in der Stimme. «Er erzählt sicher nur Schlechtes von dir.»

Aber Marco zuckte mit den Schultern. «Denkst du, der Vater glaubt es?» fragte er und lachte spöttisch auf. «Und wenn er ihm mehr glaubt als mir — nun gut, ich kann es nicht ändern…» Dabei lauschten seine Ohren auf jedes Geräusch im Flur.

Erst gegen Mittag verließ Pietro Bocco das Haus.

Marco wartete, was nun geschehen würde. Die gewohnte Stille im Haus war beinahe unerträglich. Nicolo Polo ließ sich das Essen auf sein Zimmer bringen. Mit keinem Wort war davon die Rede, daß er seinen Sohn zu sehen wünsche. «Er hat einen Haufen funkelnder Steine auf dem Tisch ausgeschüttet», berichtete Giannina. «Und er steht davor, als träume er.»

«Du brauchst Giovanni noch nicht zu sagen, daß er zurückgekommen ist», sagte Marco.

Giannina schüttelte den Kopf und versicherte, daß sie nicht im Traum daran denke, heute nach Murano zu fahren.

Maria ging auf Zehenspitzen durch das Haus. Marco konnte ihr frohes Gesicht nicht ertragen und ging ihr aus dem Wege.

Der Wind wehte und trieb winzige Regentropfen gegen die Scheibe. Dann wieder schien die Sonne, ließ die Tröpfchen wie Diamanten schimmern, saugte sie auf.

Marco ging mehrmals über den Flur. Er hatte in den anderen Zimmern zu tun. Es könnte ja sein, daß der Vater plötzlich aus seiner Stube trat, um nach einem gewissen Marco Polo zu rufen. Er würde es dann nicht so eilig haben, dem Rufe zu folgen.

Die Tür blieb verschlossen. Nicolo Polo saß am Tisch, hatte den Kopf auf die Arme gelegt und war vor Müdigkeit fest eingeschlafen, so daß keiner der schweren Gedanken ihn im Traum verfolgen konnte.

Marco war mehrere Male versucht, einen Blick durch das Schlüsselloch zu werfen, ging aber immer wieder hüstelnd und mit schweren Schritten vorbei.

Er saß also in seinem Zimmer und betrachtete einen Berg funkelnder Steine. Messer Pietro Bocco war den ganzen Vormittag bei ihm gewesen. Für den Sohn hatte er keine Zeit mehr übrig.

Die Bitterkeit in Marco vermochte aber nicht, die immer wieder durchklingende Freude und ein Gefühl der Sicherheit zu übertönen. Es geschah sogar, daß er in seiner heimlichen Zwiesprache, öfter als es notwendig gewesen wäre, das Wort «Vater» mit besonderer Betonung aussprach. Gestern war er noch eine Waise gewesen mit unruhigen, sehnsüchtigen Träumen, zwischen Himmel und Erde schwebend, dem greisen Prokurator und dem hartherzigen Oheim über jeden seiner Schritte Rechenschaft schuldig, nun gab es einen Menschen, der den Arm um ihn legte, ihm sagte: «Hier darfst du nicht gehen, dort ist der richtige Weg», und mit ihm gemeinsam weiterging. So würde es sein. «Dein Vater verlangt nach dir», sagte Giannina.

Marcos Gesicht färbte sich rot. Er machte sich noch ein wenig im Zimmer zu schaffen. Es schien, als fände der Satz ein Echo in seinem Herzen: Dein Vater verlangt nach dir. Marco hatte keine Vorstellung mehr, welche Zeit es sei. Es konnte Morgen oder später Nachmittag sein. Jetzt hatte also der Vater nach ihm verlangt. Er rückte das Buch auf dem Regal zurecht. «So, nun ist hier alles in Ordnung», sagte er.

Nicolo Polo saß am Tisch. Sie sahen sich an.

Er sieht mir ähnlich, dachte der Vater, genauso muß ich in meiner Jugend ausgesehen haben.

Wie ein Seeräuber sieht er aus, dachte der Sohn, so möchte ich später einmal aussehen. Und er versuchte, durch fest zusammengepreßte Lippen und eine düster gerunzelte Stirn dem Wunsche sogleich Ausdruck zu geben.

In Nicolo Polos Zügen deutete sich ein Lächeln an. «Ich bin so fest eingeschlafen nach Pietro Boccos Besuch, daß ich nichts mehr gehört habe. Nun wollen wir miteinander sprechen.» Er wollte sich selbst nicht eingestehen, daß er vor den klaren prüfenden Augen des Sohnes eine gewisse Scheu empfand. «Der Oheim hat mir erzählt, daß du zuzeiten wie ein Vagabund gelebt hättest», sagte er schärfer, als er beabsichtigt hatte.

Marco erwiderte nichts.

«Du hast den Unterricht versäumt, bist tagelang mit Handwerkerkindern herumgestreift. Er sagte auch, du hättest deiner Mutter viel Kummer bereitet… Stimmt das?»

«Ja», sagte Marco, dem es war, als sei alles Hoffen vergeblich gewesen. «Es stimmt… Er wollte mich in ein Kloster sperren.» Finster sah er vor sich hin.

«Er wußte sich keinen Rat mehr, sagte er mir…»

«Seine Augen sind nicht gut», erwiderte Marco. «Er hat mich wie einen Gefangenen gehalten…» Der Haß löste Marcos Zunge. «Fragt nur Paolo oder Kapitän Matteo oder Giovanni!» Sein Gesicht glühte vor Erregung, und die Worte kamen in schneller Folge über seine Lippen. Alles, was ihm einfiel, redete er sich vom Herzen herunter. Endlich konnte er reden. Er hatte auch keine Furcht mehr, daß er mißverstanden werde. Sein Vater saß vor ihm, und Marco spürte aus seinem schweigenden Ernst und einem kaum merkbaren Lächeln die Anteilnahme und Wärme.

Nicolo Polo, klug und lebenserfahren, vertraut mit fremden Sitten und begabt mit einem Blick, der das Echte und Unechte voneinander unterscheiden gelernt hatte, stand bewegt auf, legte den Arm um die Schultern seines Sohnes und trat mit ihm an das Fenster. Er war nun wieder daheim. Neben ihm stand sein Junge, der ohne rechte Fürsorge aufgewachsen war. Er besaß, das hatte der Vater in dem erregten Bericht gespürt, eine üppig wuchernde Phantasie, gleichzeitig aber den gesunden Sinn, um sie im Zaum zu halten.

Er blickte auf den Hof und die gegenüberliegenden Häuser. Eine graue Regenwolke segelte am Himmel dahin, wurde vom spielenden Wind ergriffen und über eine breite Fläche verteilt, bis das Grau verblaßte und die Färbung des Himmels annahm. Nichts hatte sich verändert, nur der Kastanienbaum war größer und stärker geworden.

«Du wolltest nach Damaskus?» fragte der Vater. «War das nur, um dem Kloster zu entgehen?»

Marco dachte nach. Er suchte nach einer vollständigen Antwort.

«Immer schon wollte ich weg, in fremde Länder, weit weg. Die Mama war traurig darüber, und sie wurde böse, wenn ich davon sprach…» Marco sah, wie sich die Zweige im Winde wiegten, wie Blütenblätter durch das Grün der Blätter taumelten, kleinen Schmetterlingen gleich.

«Ich hoffte auch, Euch irgendwo zu treffen», sagte Marco.

Nicolo Polo fuhr noch am selben Tage mit seinem Jungen nach San Michele und besuchte das Grab Lionoras. Erst am späten Abend kamen sie zurück, der Vater schweigsam und in sich gekehrt. Maffio Polo wartete auf sie. Mit seiner kräftigen Gestalt und dem lauten, gutmütig polternden Wesen schien er das ganze Zimmer auszufüllen. Er hatte erfahren, welcher Verlust seinen Bruder getroffen hatte, und wußte, daß man ihn jetzt mit seinem Grübeln nicht allein lassen durfte.

Maffio Polo hatte seine Frau schon in jungen Jahren verloren, er stand allein in der Welt und hatte sich nach der Heimkehr gesehnt, um das Farbenspiel von Sonne, Steinen und Wasser, die Piazzetta und den Marcusplatz, den Canal Grande und die schmalen, von Mauerwerk und grünen Sträuchern eingefaßten Kanäle zu sehen, um das tausendstimmige Summen auf dem Alten Rialto, die Schreie der Fischhändler, Kastanienbrater, Teigmacher, Trödler, den weichen Gesang der venezianischen Sprache zu hören. Er hatte sich am gestrigen Abend von seinem Bruder vor ihrem Hause verabschiedet und war zu Freunden gegangen. Nicolo Polo sollte den ersten Abend zu Hause allein verbringen. Erst heute Mittag hatte Maffio erfahren, daß seine Schwägerin gestorben war.

Marco fühlte sich zu dem Oheim sofort hingezogen, zumal dieser, um seinen Bruder abzulenken, bereitwillig die Fragen seines Neffen beantwortete und in lustiger Weise Erlebnisse von ihrem Aufenthalt am Hofe des Großkhans zum besten gab. Marco hätte den Erzählungen des Oheims bis zum nächsten Morgen lauschen können, ohne zu ermüden. Spät erst ging er schlafen.

Maffio und Nicolo Polo aber berieten, was sie in der kommenden Zeit zu tun beabsichtigten. Sie hatten sich bereits auf der Reise vom Wohnsitz des Gesandten nach Venedig vorgenommen, nur wenigen vertrauten Freunden von ihren abenteuerlichen Erlebnissen zu erzählen. Teobaldi di Visconti hatte ihnen angedeutet, daß er bald Nachricht geben würde, ob er dem Ersuchen des Großkhans, gelehrte Männer zu entsenden, entsprechen wolle. Sicher würde er die beiden Brüder dann bitten, die Führung auf dieser beschwerlichen Reise zu übernehmen.

Maffio Polo, schon fünfundvierzig Jahre alt, aber von unverwüstlicher Gesundheit, war bereit, die Reise zum zweiten Male zu unternehmen. Ihm genügte ein kurzer Aufenthalt in Venedig, um wieder mit frischer Kraft in die Welt hinauszugehen.

Wie aber sah es mit dem Bruder aus? Nicolo dachte an die Unterhaltung mit seinem Sohn. Marco hatte das unruhige Blut des Vaters und des Oheims. Für ihn würde es die Erfüllung seiner Wünsche bedeuten, wenn er mit ihnen gehen könnte. Aber war er nicht zu jung für die gefahrenreiche Reise? Er dachte an den Offizier, den der Großkhan ihnen mitgegeben hatte und der schon nach der zweiten Tagesreise schwer erkrankt war, er dachte an die glühende Hitze, an die Kamele, die gleichmütig an den weißen Skeletten im gelben Wüstensand vorbeitrotteten, an den Überfall in den Bergen, der ihnen und ihrer Begleitmannschaft beinahe das Leben gekostet hatte, an die hundert Gefahren, die im Hintergrund gelauert hatten. «Er ist noch ein wenig zu jung», sagte er zu seinem Bruder.

Und während sie sich schweigend und nach dem richtigen Entschluß suchend gegenübersaßen, wurde leise die Tür geöffnet. Marco, im Nachtgewand, kam herein. «Verzeiht, Vater», sagte er, «ich muß den Oheim noch etwas fragen.»

Belustigt sahen die Brüder auf. Aber Marco fragte mit ernster Miene: «Ihr sagtet, Oheim, daß jeder, der sich dem Großkhan nähert, die Erde küsse.»

Maffio nickte.

«Habt Ihr das auch getan?»

Maffio lachte auf. «Natürlich», sagte er, «wir konnten doch nicht unhöflich sein.» Marco runzelte die Stirn und ging wieder hinaus.

«Er ist noch ein wenig jung», sagte Maffio lachend, «aber er ist aus dem rechten Holz geschnitzt.»

Der Sommer kam. Marco genoß seine Freiheit in vollen Zügen. Der Vater konnte ihm keine Bitte abschlagen, und mit dem Oheim unterhielt er sich wie mit dem besten Freund. Eines Tages nahm er sich vor, Paolo zu besuchen. Giovanni hatte ihm genau beschrieben, wo sich die Fischersiedlung befand. Der Freund konnte nicht mitkommen, weil es bei Meister Benedetto in dieser Zeit viel zu tun gab.

Ein Barcarole, jung, mit schnellen, kräftigen Bewegungen, fuhr Marco über die silberglänzende Lagune, an kleinen Inseln und an Fischern vorbei, die ihre Kähne an zwei Pfählen festgelegt hatten, mit ruhigen Handgriffen die Angeln auslegten und die Netze auf den Grund senkten.

Schon lange war Marco nicht draußen auf dem freien Wasser gewesen. Es war noch früh, frische Morgenluft wehte um die Stirn, die Sonne stieg langsam höher. Sie fuhren an der Küste des Lido entlang, die Ferne war dunstig, so daß vom Festland nur unbestimmte Umrisse zu sehen waren.

Hinter den Sanddünen des Lido lag das Meer, nicht weiter als fünfhundert Schritte entfernt. Wenn der Barcarole das Ruder einen Augenblick ruhen ließ und das Boot mit leisem Plätschern durch das Wasser glitt, glaubte Marco den Gesang der Wellen zu hören.

Nach einer Stunde hatten sie die Siedlung erreicht. Die kleinen Häuser, von grünen Gärten umgeben, standen hinter dem gelben Sand. Auf einer sanft ansteigenden Wiese hütete ein kleines Mädchen die Ziegen, trieb sie mit leichten Stockschlägen von einem Zaun weg und regte sich dabei sehr auf, weil sie merkte, daß sie beobachtet wurde. Denn sieh nur, das Ziegenhüten ist eine schwere, verantwortungsvolle Beschäftigung!

Pfirsichbäume mit großen grünen Früchten standen im Garten.

Ein uralter Fischer flickte Netze am Strand. Kein Fischerkahn war an diesem Tage zu Hause geblieben, ein einziges kleines Boot lag wie ein schlanker Fisch am Lagunenufer.

Der Barcarole zog seinen Kahn auf den Sand und ging in das Innere der Insel Marco hatte ihm gesagt, daß er erst am Nachmittag zurückfahren werde.

Der alte Dimitro ließ sich in seiner Beschäftigung nicht stören, griff mit seinen knorrigen braunen Fingern geschickt in das Netzgewirr, hob die zerrissenen Fäden an, knüpfte sie zusammen und zog neue ein. «Buon giorno», sagte Marco.

«Buon giorno», erwiderte der Hundertjährige mit seiner jungen Stimme, die schon Paolo in Verwunderung gesetzt hatte.

«Ich suche Paolo. Er soll bei Euch leben, hat man mir gesagt.» Dimitro knüpfte die Fäden. Das Meer rauschte. Die Netze rochen nach Fisch, die Sonne schien heiß, kleine Wellen hüpften spielerisch über den Sand, vor und zurück, immer wieder, glasklar, mit weißen Schaumkrönchen. Dimitros Augen umfaßten mit einem unbemerkten Blick die Gestalt und das Gesicht des Knaben. Marco wurde nicht ungeduldig.

«Wer bist du, Söhnchen?» fragte der Alte.

«Ich heiße Marco Polo», antwortete Marco bereitwillig. «Gern hätte ich Paolo gesprochen. Ich habe ihm etwas Wichtiges mitzuteilen.»

Der alte Dimitro hängte das Netz über das Holzgestell und winkte dem Knaben mitzukommen. Sie gingen in die zunächst stehende Fischerhütte. Giulia, die am Fenster saß und eine Jacke ausbesserte, sah auf.

«Besuch für Paolo», sagte Dimitro und verließ die Hütte wieder, um zu seinen Netzen zurückzugehen.

Warum sieht sie mich so böse an? fragte sich Marco.

«Paolo ist nicht da», sagte Giulia abweisend. Insgeheim befürchtete sie schon lange, daß er einmal käme, um Paolo wegzuholen. Und nun stand der vornehm gekleidete Knabe vor ihr. Sie konnte sich wohl denken, wer er war; denn Paolo hatte ihr von seinem jungen Dienstherrn erzählt und gesagt, daß er vielleicht eines Tages auftauchen werde, um ihn aufzufordern, nach Venedig zurückzukehren. Sie wollte aber, daß Paolo hier blieb.

«Ich werde Euch nicht sagen, wo Paolo ist», sagte sie. «Er bleibt bei uns.»

«Aber ich muß ihn doch sprechen», sagte Marco. «Er wird schimpfen, wenn er erfährt, daß Ihr mir keine Auskunft gegeben habt. Ist er zum Fischen hinausgefahren? Sagt es mir nur, ich bin doch Marco, sein Freund. Mein Vater ist zurückgekommen.»

Giulia bekam nun doch Angst, daß sie etwas Verkehrtes gemacht habe. Sogleich wurde sie freundlich und lebhaft, warf die Jacke hin und sagte: «Nun ja, wenn Ihr sein Freund seid. Er ist wirklich zum Fischen gefahren, nicht weit von hier liegt er mit seinem Kahn. Wenn Ihr wollt, begleite ich Euch zu ihm. Draußen liegt ein Boot.»

Marco meinte, daß es genüge, wenn sie ihm den Weg weise.

Giulia setzte sich wieder und beschäftigte sich eingehend mit der Jacke. Sie sprach nicht mehr mit Marco. Es war auch nicht notwendig; denn der Ärger stand ihr so deutlich auf dem Gesicht gesehrieben, daß es keiner weiteren Worte bedurfte. Marco blieb nichts anderes übrig, als sie aufzufordern, mit ihm zu kommen. Seine Stimme klang ein wenig ärgerlich; Giulia jedoch kehrte sich nicht daran, warf ihre Arbeit schnell zur Seite und sagte zu Marco, er solle vorausgehen, sie käme sogleich nach.

Als sie nach einer Weile die Hütte verließ, hatte sie ein neues Kleid und Schuhe angezogen. Die blonden Haare umrahmten ihr Gesicht, daß es eine Freude war, sie anzusehen. Um das Handgelenk trug sie ein breites goldenes Armband.

«Ich fahre mit ihm zu Paolo hinaus, Großväterchen», rief Giulia. «Wir sind gleich wieder zurück…»

Der alte Dimitro murmelte einige unwillige Worte.

Das kleine Mädchen hinter dem Haus hatte wieder schrecklichen Ärger mit den ungehorsamen Ziegen. Und keiner beachtete ihre aufgeregten Rufe und heftigen Bewegungen. Noch nicht einmal die Ziegen.

Paolo lag mit seinem Kahn in einer kleinen Bucht, etwa fünfzig Schritte vom Schilf entfernt. Er saß mit braungebranntem Gesicht und der gelassenen Ruhe eines Fischers, der sein Leben lang nichts anderes getan hat, als geduldig den Fischen nachzustellen, auf der Ruderbank und beobachtete sein Angelgerät.

Er hatte sich schnell eingewöhnt. Das Leben der Fischer gefiel ihm, und er verspürte nicht den Wunsch, nach Venedig zurückzukehren. Schon oft hatte er sich vorgenommen, Marco zu besuchen, um mit ihm darüber zu sprechen. Aber wenn er abends in Dimitros Hütte saß, wenn die Fischsuppe in einem Kessel auf dem offenen Feuer gekocht wurde, wenn in den Nächten die Wellen gegen den Strand schlugen und irgendwo ein junger Bursche ein sehnsüchtiges Lied sang, oder wenn er mit Giulia am Sonntag spazierenging, dann schob er den Besuch Venedigs immer wieder auf.

Das Wasser in der Bucht war glatt und glänzend, im Schilf rumorte eine Wildentenfamilie. Die Sonne bräunte Paolos Gesicht, so daß die Haut wie gegerbtes Leder aussah. Nichts blieb in der windlosen Stummheit verborgen. Paolo drehte sich um, als er das Plätschern der Ruder hörte, und sah Marco und Giulia kommen, bevor sie ihn riefen.

Er hörte die Freude in dem Klang der Stimmen-die helle, jauchzende Giulias und die etwas dunkler getönte Marcos.

Marco zog das Ruder ein und steuerte das Boot vorsichtig neben den Fischerkahn. «Schön siehst du heute aus», sagte Paolo in seiner ersten Verlegenheit zu dem Mädchen.

Giulia errötete. «Und er wollte mich gar nicht mitnehmen», erwiderte sie, auf Marco deutend. «Seht Ihr, wie falsch es gewesen wäre?»

Paolo und Marco sahen sich an, beide erregt von der Zusammenkunft. Giulia spürte auf einmal, daß sie nicht mehr im Mittelpunkt stand, und das tat ein bißchen weh, weil auf dem Grund ihrer Gedanken eine heimliche Furcht lauerte. Sie ließ die Hand über den Bootsrand hängen und bewegte sie spielerisch im kühlen Wasser.

Marco drückte sein Gesicht an die staubigen Kleider und sagte, für den Vater unverständlich, Worte, die Erstaunen, Freude, Ungeduld, Befriedigung, Stolz und alles miteinander ausdrückten. Dann löste er sich plötzlich von seinem Vater und sagte:

«Jetzt kann Pietro Bocco nicht mehr machen, was er will. Ich wußte es, daß Ihr einmal wiederkommt, Vater.»

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, dachte er daran, daß die Mutter auf San Michele ruhte. Und die Vertrautheit mit dem Fremden, der sein Vater war, machte einer inneren Leere Platz, die alle Gefühle auslöschte.

«Mama ist gestorben», sagte er. «Vater», wollte er hinzufügen, damit der unerwartete Schmerz nicht so groß sei, aber er konnte es nicht. Er dachte an die stillen Vorwürfe, die in den Gesprächen der Mutter gewesen waren, wenn sie vom Meer, von den Schiffen und den lockenden fernen Küsten gesprochen hatte, und er verstand in diesem Augenblick, daß die stummen Vorwürfe auch dem Fremden gegolten hatten, der vor ihm stand — seinem Vater.

«Lionora ist tot», sagte Nicolo Polo tonlos.

«Auf San Michele liegt sie begraben… Vater!»

«Ich gehe jetzt auf mein Zimmer… Schicke das Mädchen zu mir, ich bin sehr müde… Wenn man vierzehn Jahre reist, wird man müde… Auf San Michele liegt sie? Ja, ich gehe jetzt…»

Marco sah den Schmerz im Gesicht des Vaters. Keiner hätte ihn gesehen. Er sah ihn. Aber es war gerade, als hätte einer die Tür zu seinem Herzen zugeschlagen.

Der Vater ging hinaus, ungebeugt. Marco legte das Buch an seinen Platz. Die Luft im Zimmer roch nach dem verbrannten Docht. Es waren Kerzen wie Linnen so weiß. Nirgendwo gab es weißere Kerzen als in Venedig.

Marco ging in die Küche und sagte zu Giannina: «Mein Vater ist heimgekehrt… Er ist müde… Du mußt das verstehen: Vierzehn Jahre ist er gereist, durch die ganze Welt. Morgen gehst du zu Giovanni und sagst ihm, daß mein Vater zurückgekommen ist. Nun ist alles gut.»

Marco schlief kaum in dieser Nacht. Als er sich am andern Morgen angezogen hatte und auf der Treppe dem Aufpasser begegnete, sagte er: «Ich will Euch hier nicht mehr sehen. Geht zu meinem Oheim und sagt ihm das!»

Der Vater war noch nicht erwacht. Marco schlich mehrmals an seiner Tür vorbei in der Hoffnung, irgendein Geräusch zu hören. Endlich regte sich etwas. Er wagte jedoch nicht, hineinzugehen. Vielleicht hätte er die Tür geöffnet, wenn er gewußt hätte, daß das Bett unberührt war und der Vater mit aufgestütztem Ellenbogen am Tisch saß.

Messer Pietro Boccos Diener hatte es indes sehr eilig, zu seinem Herrn zu kommen, um ihm die Worte seines Neffen zu übermitteln, hatte er doch den Auftrag erhalten, jede Unbotmäßigkeit des Knaben sofort zu melden. Messer Pietro Bocco verschloß sofort die Tür seines Warenlagers und begab sich zu Marco. Unterwegs überlegte er, wie er den Neffen zu weiteren Unbesonnenheiten reizen könne.

Merkwürdigerweise empfing Marco ihn mit kühler Freundschaft. Und bevor der Oheim seinen eingeübten Worten freien Lauf lassen konnte, sagte der Knabe etwas, das im ersten Augenblick unwahrscheinlich klang, ihn aber dann zu schnellem, wachem Denken zwang.

«Gestern Abend ist mein Vater zurückgekommen, Oheim. Er wird sich freuen, Euch begrüßen zu können.»

Das sagte Marco. Und Messer Pietro Bocco wußte, kaum hatte er die Sätze gehört, daß sie keine Erfindung der regen Phantasie seines Neffen waren.

«Wo ist er?» fragte er und konnte die Bestürzung nur schwer verbergen.

Marco wies auf den Flur hinaus und sagte sich im gleichen Moment, daß es nicht gut sei, wenn der Oheim zuerst mit dem Vater spräche. Aber er konnte es nicht mehr ändern; denn Pietro Bocco verließ sofort das Zimmer, ohne seinen Neffen eines weiteren Blickes zu würdigen.

Die Unterredung zwischen Nicolo Polo und seinem Schwager dauerte sehr lange. Marco ging aufgeregt in seinem Zimmer auf und ab und war mehr als einmal versucht, auf den Flur hinauszugehen, um zu lauschen, was im Zimmer des Vaters gesprochen wurde.

Giannina brachte ihm das Frühstück. «Geh doch hinein!» riet sie ihm mit Zorn in der Stimme. «Er erzählt sicher nur Schlechtes von dir.»

Aber Marco zuckte mit den Schultern. «Denkst du, der Vater glaubt es?» fragte er und lachte spöttisch auf. «Und wenn er ihm mehr glaubt als mir — nun gut, ich kann es nicht ändern…» Dabei lauschten seine Ohren auf jedes Geräusch im Flur.

Erst gegen Mittag verließ Pietro Bocco das Haus.

Marco wartete, was nun geschehen würde. Die gewohnte Stille im Haus war beinahe unerträglich. Nicolo Polo ließ sich das Essen auf sein Zimmer bringen. Mit keinem Wort war davon die Rede, daß er seinen Sohn zu sehen wünsche. «Er hat einen Haufen funkelnder Steine auf dem Tisch ausgeschüttet», berichtete Giannina. «Und er steht davor, als träume er.»

«Du brauchst Giovanni noch nicht zu sagen, daß er zurückgekommen ist», sagte Marco.

Giannina schüttelte den Kopf und versicherte, daß sie nicht im Traum daran denke, heute nach Murano zu fahren.

Maria ging auf Zehenspitzen durch das Haus. Marco konnte ihr frohes Gesicht nicht ertragen und ging ihr aus dem Wege.

Der Wind wehte und trieb winzige Regentropfen gegen die Scheibe. Dann wieder schien die Sonne, ließ die Tröpfchen wie Diamanten schimmern, saugte sie auf.

Marco ging mehrmals über den Flur. Er hatte in den anderen Zimmern zu tun. Es könnte ja sein, daß der Vater plötzlich aus seiner Stube trat, um nach einem gewissen Marco Polo zu rufen. Er würde es dann nicht so eilig haben, dem Rufe zu folgen.

Die Tür blieb verschlossen. Nicolo Polo saß am Tisch, hatte den Kopf auf die Arme gelegt und war vor Müdigkeit fest eingeschlafen, so daß keiner der schweren Gedanken ihn im Traum verfolgen konnte.

Marco war mehrere Male versucht, einen Blick durch das Schlüsselloch zu werfen, ging aber immer wieder hüstelnd und mit schweren Schritten vorbei.

Er saß also in seinem Zimmer und betrachtete einen Berg funkelnder Steine. Messer Pietro Bocco war den ganzen Vormittag bei ihm gewesen. Für den Sohn hatte er keine Zeit mehr übrig.

Die Bitterkeit in Marco vermochte aber nicht, die immer wieder durchklingende Freude und ein Gefühl der Sicherheit zu übertönen. Es geschah sogar, daß er in seiner heimlichen Zwiesprache, öfter als es notwendig gewesen wäre, das Wort «Vater» mit besonderer Betonung aussprach. Gestern war er noch eine Waise gewesen mit unruhigen, sehnsüchtigen Träumen, zwischen Himmel und Erde schwebend, dem greisen Prokurator und dem hartherzigen Oheim über jeden seiner Schritte Rechenschaft schuldig, nun gab es einen Menschen, der den Arm um ihn legte, ihm sagte: «Hier darfst du nicht gehen, dort ist der richtige Weg», und mit ihm gemeinsam weiterging. So würde es sein. «Dein Vater verlangt nach dir», sagte Giannina.

Marcos Gesicht färbte sich rot. Er machte sich noch ein wenig im Zimmer zu schaffen. Es schien, als fände der Satz ein Echo in seinem Herzen: Dein Vater verlangt nach dir. Marco hatte keine Vorstellung mehr, welche Zeit es sei. Es konnte Morgen oder später Nachmittag sein. Jetzt hatte also der Vater nach ihm verlangt. Er rückte das Buch auf dem Regal zurecht. «So, nun ist hier alles in Ordnung», sagte er.

Nicolo Polo saß am Tisch. Sie sahen sich an.

Er sieht mir ähnlich, dachte der Vater, genauso muß ich in meiner Jugend ausgesehen haben.

Wie ein Seeräuber sieht er aus, dachte der Sohn, so möchte ich später einmal aussehen. Und er versuchte, durch fest zusammengepreßte Lippen und eine düster gerunzelte Stirn dem Wunsche sogleich Ausdruck zu geben.

In Nicolo Polos Zügen deutete sich ein Lächeln an. «Ich bin so fest eingeschlafen nach Pietro Boccos Besuch, daß ich nichts mehr gehört habe. Nun wollen wir miteinander sprechen.» Er wollte sich selbst nicht eingestehen, daß er vor den klaren prüfenden Augen des Sohnes eine gewisse Scheu empfand. «Der Oheim hat mir erzählt, daß du zuzeiten wie ein Vagabund gelebt hättest», sagte er schärfer, als er beabsichtigt hatte.

Marco erwiderte nichts.

«Du hast den Unterricht versäumt, bist tagelang mit Handwerkerkindern herumgestreift. Er sagte auch, du hättest deiner Mutter viel Kummer bereitet… Stimmt das?»

«Ja», sagte Marco, dem es war, als sei alles Hoffen vergeblich gewesen. «Es stimmt… Er wollte mich in ein Kloster sperren.» Finster sah er vor sich hin.

«Er wußte sich keinen Rat mehr, sagte er mir…»

«Seine Augen sind nicht gut», erwiderte Marco. «Er hat mich wie einen Gefangenen gehalten…» Der Haß löste Marcos Zunge. «Fragt nur Paolo oder Kapitän Matteo oder Giovanni!» Sein Gesicht glühte vor Erregung, und die Worte kamen in schneller Folge über seine Lippen. Alles, was ihm einfiel, redete er sich vom Herzen herunter. Endlich konnte er reden. Er hatte auch keine Furcht mehr, daß er mißverstanden werde. Sein Vater saß vor ihm, und Marco spürte aus seinem schweigenden Ernst und einem kaum merkbaren Lächeln die Anteilnahme und Wärme.

Nicolo Polo, klug und lebenserfahren, vertraut mit fremden Sitten und begabt mit einem Blick, der das Echte und Unechte voneinander unterscheiden gelernt hatte, stand bewegt auf, legte den Arm um die Schultern seines Sohnes und trat mit ihm an das Fenster. Er war nun wieder daheim. Neben ihm stand sein Junge, der ohne rechte Fürsorge aufgewachsen war. Er besaß, das hatte der Vater in dem erregten Bericht gespürt, eine üppig wuchernde Phantasie, gleichzeitig aber den gesunden Sinn, um sie im Zaum zu halten.

Er blickte auf den Hof und die gegenüberliegenden Häuser. Eine graue Regenwolke segelte am Himmel dahin, wurde vom spielenden Wind ergriffen und über eine breite Fläche verteilt, bis das Grau verblaßte und die Färbung des Himmels annahm. Nichts hatte sich verändert, nur der Kastanienbaum war größer und stärker geworden.

«Du wolltest nach Damaskus?» fragte der Vater. «War das nur, um dem Kloster zu entgehen?»

Marco dachte nach. Er suchte nach einer vollständigen Antwort.

«Immer schon wollte ich weg, in fremde Länder, weit weg. Die Mama war traurig darüber, und sie wurde böse, wenn ich davon sprach…» Marco sah, wie sich die Zweige im Winde wiegten, wie Blütenblätter durch das Grün der Blätter taumelten, kleinen Schmetterlingen gleich.

«Ich hoffte auch, Euch irgendwo zu treffen», sagte Marco.

Nicolo Polo fuhr noch am selben Tage mit seinem Jungen nach San Michele und besuchte das Grab Lionoras. Erst am späten Abend kamen sie zurück, der Vater schweigsam und in sich gekehrt. Maffio Polo wartete auf sie. Mit seiner kräftigen Gestalt und dem lauten, gutmütig polternden Wesen schien er das ganze Zimmer auszufüllen. Er hatte erfahren, welcher Verlust seinen Bruder getroffen hatte, und wußte, daß man ihn jetzt mit seinem Grübeln nicht allein lassen durfte.

Maffio Polo hatte seine Frau schon in jungen Jahren verloren, er stand allein in der Welt und hatte sich nach der Heimkehr gesehnt, um das Farbenspiel von Sonne, Steinen und Wasser, die Piazzetta und den Marcusplatz, den Canal Grande und die schmalen, von Mauerwerk und grünen Sträuchern eingefaßten Kanäle zu sehen, um das tausendstimmige Summen auf dem Alten Rialto, die Schreie der Fischhändler, Kastanienbrater, Teigmacher, Trödler, den weichen Gesang der venezianischen Sprache zu hören. Er hatte sich am gestrigen Abend von seinem Bruder vor ihrem Hause verabschiedet und war zu Freunden gegangen. Nicolo Polo sollte den ersten Abend zu Hause allein verbringen. Erst heute Mittag hatte Maffio erfahren, daß seine Schwägerin gestorben war.

Marco fühlte sich zu dem Oheim sofort hingezogen, zumal dieser, um seinen Bruder abzulenken, bereitwillig die Fragen seines Neffen beantwortete und in lustiger Weise Erlebnisse von ihrem Aufenthalt am Hofe des Großkhans zum besten gab. Marco hätte den Erzählungen des Oheims bis zum nächsten Morgen lauschen können, ohne zu ermüden. Spät erst ging er schlafen.

Maffio und Nicolo Polo aber berieten, was sie in der kommenden Zeit zu tun beabsichtigten. Sie hatten sich bereits auf der Reise vom Wohnsitz des Gesandten nach Venedig vorgenommen, nur wenigen vertrauten Freunden von ihren abenteuerlichen Erlebnissen zu erzählen. Teobaldi di Visconti hatte ihnen angedeutet, daß er bald Nachricht geben würde, ob er dem Ersuchen des Großkhans, gelehrte Männer zu entsenden, entsprechen wolle. Sicher würde er die beiden Brüder dann bitten, die Führung auf dieser beschwerlichen Reise zu übernehmen.

Maffio Polo, schon fünfundvierzig Jahre alt, aber von unverwüstlicher Gesundheit, war bereit, die Reise zum zweiten Male zu unternehmen. Ihm genügte ein kurzer Aufenthalt in Venedig, um wieder mit frischer Kraft in die Welt hinauszugehen.

Wie aber sah es mit dem Bruder aus? Nicolo dachte an die Unterhaltung mit seinem Sohn. Marco hatte das unruhige Blut des Vaters und des Oheims. Für ihn würde es die Erfüllung seiner Wünsche bedeuten, wenn er mit ihnen gehen könnte. Aber war er nicht zu jung für die gefahrenreiche Reise? Er dachte an den Offizier, den der Großkhan ihnen mitgegeben hatte und der schon nach der zweiten Tagesreise schwer erkrankt war, er dachte an die glühende Hitze, an die Kamele, die gleichmütig an den weißen Skeletten im gelben Wüstensand vorbeitrotteten, an den Überfall in den Bergen, der ihnen und ihrer Begleitmannschaft beinahe das Leben gekostet hatte, an die hundert Gefahren, die im Hintergrund gelauert hatten. «Er ist noch ein wenig zu jung», sagte er zu seinem Bruder.

Und während sie sich schweigend und nach dem richtigen Entschluß suchend gegenübersaßen, wurde leise die Tür geöffnet. Marco, im Nachtgewand, kam herein. «Verzeiht, Vater», sagte er, «ich muß den Oheim noch etwas fragen.»

Belustigt sahen die Brüder auf. Aber Marco fragte mit ernster Miene: «Ihr sagtet, Oheim, daß jeder, der sich dem Großkhan nähert, die Erde küsse.»

Maffio nickte.

«Habt Ihr das auch getan?»

Maffio lachte auf. «Natürlich», sagte er, «wir konnten doch nicht unhöflich sein.» Marco runzelte die Stirn und ging wieder hinaus.

«Er ist noch ein wenig jung», sagte Maffio lachend, «aber er ist aus dem rechten Holz geschnitzt.»

Der Sommer kam. Marco genoß seine Freiheit in vollen Zügen. Der Vater konnte ihm keine Bitte abschlagen, und mit dem Oheim unterhielt er sich wie mit dem besten Freund. Eines Tages nahm er sich vor, Paolo zu besuchen. Giovanni hatte ihm genau beschrieben, wo sich die Fischersiedlung befand. Der Freund konnte nicht mitkommen, weil es bei Meister Benedetto in dieser Zeit viel zu tun gab.

Ein Barcarole, jung, mit schnellen, kräftigen Bewegungen, fuhr Marco über die silberglänzende Lagune, an kleinen Inseln und an Fischern vorbei, die ihre Kähne an zwei Pfählen festgelegt hatten, mit ruhigen Handgriffen die Angeln auslegten und die Netze auf den Grund senkten.

Schon lange war Marco nicht draußen auf dem freien Wasser gewesen. Es war noch früh, frische Morgenluft wehte um die Stirn, die Sonne stieg langsam höher. Sie fuhren an der Küste des Lido entlang, die Ferne war dunstig, so daß vom Festland nur unbestimmte Umrisse zu sehen waren.

Hinter den Sanddünen des Lido lag das Meer, nicht weiter als fünfhundert Schritte entfernt. Wenn der Barcarole das Ruder einen Augenblick ruhen ließ und das Boot mit leisem Plätschern durch das Wasser glitt, glaubte Marco den Gesang der Wellen zu hören.

Nach einer Stunde hatten sie die Siedlung erreicht. Die kleinen Häuser, von grünen Gärten umgeben, standen hinter dem gelben Sand. Auf einer sanft ansteigenden Wiese hütete ein kleines Mädchen die Ziegen, trieb sie mit leichten Stockschlägen von einem Zaun weg und regte sich dabei sehr auf, weil sie merkte, daß sie beobachtet wurde. Denn sieh nur, das Ziegenhüten ist eine schwere, verantwortungsvolle Beschäftigung!

Pfirsichbäume mit großen grünen Früchten standen im Garten.

Ein uralter Fischer flickte Netze am Strand. Kein Fischerkahn war an diesem Tage zu Hause geblieben, ein einziges kleines Boot lag wie ein schlanker Fisch am Lagunenufer.

Der Barcarole zog seinen Kahn auf den Sand und ging in das Innere der Insel Marco hatte ihm gesagt, daß er erst am Nachmittag zurückfahren werde.

Der alte Dimitro ließ sich in seiner Beschäftigung nicht stören, griff mit seinen knorrigen braunen Fingern geschickt in das Netzgewirr, hob die zerrissenen Fäden an, knüpfte sie zusammen und zog neue ein. «Buon giorno», sagte Marco.

«Buon giorno», erwiderte der Hundertjährige mit seiner jungen Stimme, die schon Paolo in Verwunderung gesetzt hatte.

«Ich suche Paolo. Er soll bei Euch leben, hat man mir gesagt.» Dimitro knüpfte die Fäden. Das Meer rauschte. Die Netze rochen nach Fisch, die Sonne schien heiß, kleine Wellen hüpften spielerisch über den Sand, vor und zurück, immer wieder, glasklar, mit weißen Schaumkrönchen. Dimitros Augen umfaßten mit einem unbemerkten Blick die Gestalt und das Gesicht des Knaben. Marco wurde nicht ungeduldig.

«Wer bist du, Söhnchen?» fragte der Alte.

«Ich heiße Marco Polo», antwortete Marco bereitwillig. «Gern hätte ich Paolo gesprochen. Ich habe ihm etwas Wichtiges mitzuteilen.»

Der alte Dimitro hängte das Netz über das Holzgestell und winkte dem Knaben mitzukommen. Sie gingen in die zunächst stehende Fischerhütte. Giulia, die am Fenster saß und eine Jacke ausbesserte, sah auf.

«Besuch für Paolo», sagte Dimitro und verließ die Hütte wieder, um zu seinen Netzen zurückzugehen.

Warum sieht sie mich so böse an? fragte sich Marco.

«Paolo ist nicht da», sagte Giulia abweisend. Insgeheim befürchtete sie schon lange, daß er einmal käme, um Paolo wegzuholen. Und nun stand der vornehm gekleidete Knabe vor ihr. Sie konnte sich wohl denken, wer er war; denn Paolo hatte ihr von seinem jungen Dienstherrn erzählt und gesagt, daß er vielleicht eines Tages auftauchen werde, um ihn aufzufordern, nach Venedig zurückzukehren. Sie wollte aber, daß Paolo hier blieb.

«Ich werde Euch nicht sagen, wo Paolo ist», sagte sie. «Er bleibt bei uns.»

«Aber ich muß ihn doch sprechen», sagte Marco. «Er wird schimpfen, wenn er erfährt, daß Ihr mir keine Auskunft gegeben habt. Ist er zum Fischen hinausgefahren? Sagt es mir nur, ich bin doch Marco, sein Freund. Mein Vater ist zurückgekommen.»

Giulia bekam nun doch Angst, daß sie etwas Verkehrtes gemacht habe. Sogleich wurde sie freundlich und lebhaft, warf die Jacke hin und sagte: «Nun ja, wenn Ihr sein Freund seid. Er ist wirklich zum Fischen gefahren, nicht weit von hier liegt er mit seinem Kahn. Wenn Ihr wollt, begleite ich Euch zu ihm. Draußen liegt ein Boot.»

Marco meinte, daß es genüge, wenn sie ihm den Weg weise.

Giulia setzte sich wieder und beschäftigte sich eingehend mit der Jacke. Sie sprach nicht mehr mit Marco. Es war auch nicht notwendig; denn der Ärger stand ihr so deutlich auf dem Gesicht gesehrieben, daß es keiner weiteren Worte bedurfte. Marco blieb nichts anderes übrig, als sie aufzufordern, mit ihm zu kommen. Seine Stimme klang ein wenig ärgerlich; Giulia jedoch kehrte sich nicht daran, warf ihre Arbeit schnell zur Seite und sagte zu Marco, er solle vorausgehen, sie käme sogleich nach.

Als sie nach einer Weile die Hütte verließ, hatte sie ein neues Kleid und Schuhe angezogen. Die blonden Haare umrahmten ihr Gesicht, daß es eine Freude war, sie anzusehen. Um das Handgelenk trug sie ein breites goldenes Armband.

«Ich fahre mit ihm zu Paolo hinaus, Großväterchen», rief Giulia. «Wir sind gleich wieder zurück…»

Der alte Dimitro murmelte einige unwillige Worte.

Das kleine Mädchen hinter dem Haus hatte wieder schrecklichen Ärger mit den ungehorsamen Ziegen. Und keiner beachtete ihre aufgeregten Rufe und heftigen Bewegungen. Noch nicht einmal die Ziegen.

Paolo lag mit seinem Kahn in einer kleinen Bucht, etwa fünfzig Schritte vom Schilf entfernt. Er saß mit braungebranntem Gesicht und der gelassenen Ruhe eines Fischers, der sein Leben lang nichts anderes getan hat, als geduldig den Fischen nachzustellen, auf der Ruderbank und beobachtete sein Angelgerät.

Er hatte sich schnell eingewöhnt. Das Leben der Fischer gefiel ihm, und er verspürte nicht den Wunsch, nach Venedig zurückzukehren. Schon oft hatte er sich vorgenommen, Marco zu besuchen, um mit ihm darüber zu sprechen. Aber wenn er abends in Dimitros Hütte saß, wenn die Fischsuppe in einem Kessel auf dem offenen Feuer gekocht wurde, wenn in den Nächten die Wellen gegen den Strand schlugen und irgendwo ein junger Bursche ein sehnsüchtiges Lied sang, oder wenn er mit Giulia am Sonntag spazierenging, dann schob er den Besuch Venedigs immer wieder auf.

Das Wasser in der Bucht war glatt und glänzend, im Schilf rumorte eine Wildentenfamilie. Die Sonne bräunte Paolos Gesicht, so daß die Haut wie gegerbtes Leder aussah. Nichts blieb in der windlosen Stummheit verborgen. Paolo drehte sich um, als er das Plätschern der Ruder hörte, und sah Marco und Giulia kommen, bevor sie ihn riefen.

Er hörte die Freude in dem Klang der Stimmen-die helle, jauchzende Giulias und die etwas dunkler getönte Marcos.

Marco zog das Ruder ein und steuerte das Boot vorsichtig neben den Fischerkahn. «Schön siehst du heute aus», sagte Paolo in seiner ersten Verlegenheit zu dem Mädchen.

Giulia errötete. «Und er wollte mich gar nicht mitnehmen», erwiderte sie, auf Marco deutend. «Seht Ihr, wie falsch es gewesen wäre?»

Paolo und Marco sahen sich an, beide erregt von der Zusammenkunft. Giulia spürte auf einmal, daß sie nicht mehr im Mittelpunkt stand, und das tat ein bißchen weh, weil auf dem Grund ihrer Gedanken eine heimliche Furcht lauerte. Sie ließ die Hand über den Bootsrand hängen und bewegte sie spielerisch im kühlen Wasser.










«Ihr habt Euch von der Aufsicht Messer Boccos befreien können?» fragte Paolo. Die Worte klangen fremd in seinem Munde; plötzlich änderte er die Anrede, wählte die vertraute, mit der man einen nahen Freund anspricht: «Wie geht es dir, Marco, ich befürchtete, du wärest schon im Kloster von San Nicolo.»

Marco aber konnte die große, herzbewegende Neuigkeit nicht länger zurückhalten. «Weißt du es noch nicht, Paolo? — Mein Vater ist doch zurückgekommen. Ich kann jetzt tun, was mir beliebt. Messer Pietro Bocco hat ausgespielt. Auch mein Oheim Maffio ist wieder zu Hause. Bald werden wir drei auf eine große Reise gehen… Der Vater weiß, daß ich heute zu dir gefahren bin, und er hat mir gesagt, ich solle dich grüßen…» Marco sah aus den Augenwinkeln zu Giulia. Sie beugte sich über den Bootsrand und war darin vertieft, ihr Gesicht in dem Wasserspiegel zu betrachten, aber ihre kleinen Ohren lauschten hellwach.

Marco senkte die Stimme. Flüsternd sagte er: «Reise mit uns, Paolo!» Paolo strich sich mit einer bedachtsamen Bewegung das Haar zurück.

«So! Deshalb seid Ihr gekommen», sagte Giulia empört und sah Marco mit funkelnden Augen an. «Nie hätte ich Euch verraten sollen, wo Paolo ist!» Sie schlug mit der Handfläche auf das Wasser, daß es in ihr Gesicht spritzte.

Marco fühlte sich wie ein ertappter Sünder.

Paolo lächelte und sagte beruhigend: «Es war ja nur ein Vorschlag, Giulia, man kann doch darüber sprechen.»

«Sprecht nur darüber», rief sie, «ich jedenfalls fahre weg. Steigt in den anderen Kahn, junger Herr.»

Es gelang den beiden allerdings ohne große Mühe, die zornige Giulia mit versöhnlichen Worten zum Bleiben zu veranlassen.

Marco bemerkte, daß der gutmütige Paolo nicht mehr Herr seiner Entschlüsse war, sich aber ganz wohl dabei fühlte. Einen flüchtigen Augenblick dachte er an Giannina, die ähnlich leicht erregbar war, und er sagte sich, daß er Paolo jetzt beistehen müsse. Er sagte, er hätte nur Spaß gemacht; so schnell gelang es ihm aber nicht, die mißtrauische Giulia zu beruhigen. Es bedurfte noch einiger Worte von Paolo, die ihr versicherten, wie wohl er sich bei den Fischern fühle, bis sich die von der Sonne durchglühte Stille mit dem leise raunenden Wasser wieder den drei Menschen in der Lagunenbucht mitteilte.

Paolo und Marco dachten an die vergangenen Zeiten; es brauchte nicht vieler Worte, am die gemeinsamen Erlebnisse lebendig zu machen. Und sie spürten zwischen ihren Worten und Blicken, daß sie in einem anderen Verhältnis zueinander standen als früher. Marco war nicht mehr der «junge Herr» und Paolo war nicht mehr der Diener, sondern ein freier Fischer, Herr über seine Entschlüsse, soweit Giulia nicht hie und da ein Wörtchen mitredete.

Marco konnte allerdings nicht ganz verstehen, wie Paolo das Angebot, mit ihm die große, herrliche Reise zu unternehmen, so schnell abtun konnte. Würde beispielsweise Giannina ihn, Marco, bitten, nicht wegzureisen, so könnte das an seinem Entschluß nicht das geringste ändern.

Für Giulia war das Gespräch der beiden ein wenig langweilig, so daß sie bald anregte, zurückzufahren, zumal sie befürchtete, den Zorn des Großvaters hervorzurufen, wenn sie ihre Arbeit nicht schaffte. Paolo und Marco empfahlen ihr, allein nach Hause zu rudern. Doch dazu hatte sie auch keine Lust.

Am Nachmittag erst verabschiedete sich Marco. Paolo, sehr froh darüber, daß nun alles klar in seinem Leben war, versprach, Messer Nicolo Polo bald zu besuchen.

Der Barcarole saß geduldig wartend am Strand. Das kleine Mädchen mit den Ziegen war verschwunden; Marco sprang in das seichte Wasser und zog das Boot auf den Strand. Der Sand brannte unter seinen nackten Fußsohlen; in hellem Blau strahlte der hohe wolkenlose Sonnenhimmel. Großväterchen Dimitro schimpfte laut auf Giulia, weil sie mitten in der Woche ihren Sonntagsstaat angelegt und die Arbeit vernachlässigt hatte. Giulia verabschiedete sich eilig von Marco, lief in die Hütte und legte das goldene Armband behutsam an seinen Platz.

Marco nahm seine Schuhe und stieg in das Boot. Der Barcarole, ausgeruht vom Mittagsschlaf im Schatten eines Dattelbaumes, ruderte nach Venedig zurück.

In den Monaten, da Marco der Willkür Pietro Boccos ausgesetzt gewesen war, schien sich die Zeit mit müden Greisenschritten dahinzuschleppen, jetzt aber war sie wie ein silberheller Bach, der an den Schönheiten einer abwechslungsreichen Landschaft vorbeifließt. Marco, Giannina und Giovanni streiften wie früher an den Sonntagen durch die Insel. Sie sprachen nur selten über das Vergangene, ihre Gespräche beschäftigten sich meistens mit Marcos bevorstehender großer Reise. Das war nun kein unerfüllbarer Traum mehr. Nicolo Polo hatte dem Sohn erklärt, er werde ihn mitnehmen, wenn Maffio, der Oheim, einverstanden sei. Marco war selbstverständlich im gleichen Augenblick zu seinem Oheim gestürmt, und es hatte nur weniger Worte bedurft, um Maffio Polo davon zu überzeugen, daß man auf eine so wertvolle Kraft nicht verzichten könne.

So gab es jetzt auf dem Lebensweg des Marco Polo ein klares Ziel. Sommer und Herbst vergingen. Ein neues Jahr begann. Marco begleitete den Vater und den Oheim bei ihren Geschäften und bekam Einblick in die Kunst des Handels und des Gelderwerbs. Er besuchte auf Wunsch des Vaters an zwei Tagen in der Woche eine Schule; Gelehrte und Senatoren unterrichteten hier die Schüler, die aus vornehmen Häusern stammten, in den weltlichen Wissenschaften wie Mathematik, Astronomie, Geographie, Staatskunde und fremde Sprachen. Marco lernte gut; denn er sagte sich, daß er diese Kenntnisse auf ihrer Reise gut gebrauchen könne.

Eines Abends ließ Nicolo Polo seinen Sohn rufen. Das war nichts Ungewöhnliches; denn oft hatten sie in den vergangenen Monaten in des Vaters Zimmer gesessen. Nicolo Polo und der Oheim berichteten dann von ihren erstaunlichen Erlebnissen im Reich der Mongolenkaiser, und Marco erzählte von seiner Mutter und von all den kleinen Begebenheiten, die für ihn wichtig gewesen waren. Die beiden Männer wußten also, wie ihr Schwager Pietro Bocco den Jungen behandelt hatte und wiesen dessen Annäherungsversuche zurück. Nur eines hatte Marco verschwiegen: den Mordanschlag, der im Sommer des Jahres 1268 auf ihn verübt worden war. Er wußte selbst nicht genau, warum er dem Vater nichts davon erzählt hatte. An diesem Abend nun sollte auch diese Begebenheit zu Ohren der beiden Männer kommen.

Nicolo und Maffio Polo waren in keiner frohen Stimmung, als sie Maria den Auftrag gaben, Marco zu rufen. Sie waren nämlich nach einem ernsten Gespräch zu der Ansicht gekommen, daß die Erziehung, die sie dem Knaben angedeihen ließen, nicht besonders klug war. Sie ließen ihm jeden Willen und tanzten, um es geradeheraus zu sagen, nach seiner Pfeife. Sagte der junge Herr beispielsweise: «Vater, morgen gehe ich nach San Nicolo zur Balestra, Ihr begleitet mich doch?», so gab der Vater, obwohl er das saure Gesicht Maffios sah, der an die dringenden Geschäfte des morgigen Tages dachte, natürlich ohne Überlegen seine Zustimmung. Und siehe, am anderen Morgen verließen alle drei, festlich gekleidet, das Haus. Links Nicolo Polo, in der Mitte der Knabe, rechts Maffio Polo, stolz darüber, daß Marco ihm die Armbrust zum Tragen überlassen hatte.

Oder Marco sagte: «Vater, heute fahre ich mit Giannina nach Murano. Wir wollen Giovanni besuchen und kommen erst am Abend zurück.»

Gerade diese Besuche und die enge Vertrautheit Marcos mit den Handwerkerkindern gefielen den Kaufherren nicht. Und sie waren der Meinung, daß es höchste Zeit sei, die Zügel etwas straffer zu ziehen.

Marco trat fröhlich in das Zimmer, wunderte sich ein wenig über die ernsten Gesichter der Männer, ließ sich aber in seiner guten Laune nicht stören.

«Da bin ich», sagte er und machte eine artige Verbeugung. Maffio und Nicolo sagten sich, daß er ja eigentlich ein höflicher Jüngling sei, dem man nicht böse sein könne. Ihre Mienen hellten sich etwas auf. Maffio sah Nicolo an, und Nicolo sah Maffio an. Da hatten sie doch vergessen zu vereinbaren, wer das erste Wort an den Knaben richten solle.

Der Oheim räusperte sich — und schwieg. Sollte er zuerst reden? Nicolo war schließlich der Vater.

«Was habt ihr nur, Vater, und Ihr, Oheim? Ihr seht so komisch aus», sagte Marco.

Nicolo dachte an eine stürmische Fahrt auf hoher See; er hatte als einziger Reisender an Deck gestanden und sich nicht um die hochgehenden Wogen gekümmert.

«Wir müssen ernsthaft mit dir reden!» sagte er. «So geht es nicht mehr weiter, mein Sohn.» Auf seiner Stirn vertieften sich die Falten.

Marco sah die beiden Männer überrascht an. Was war denn geschehen? Hatten sie eine schlechte Nachricht bekommen? Sofort verschwand die Fröhlichkeit aus seinem Gesicht. Vielleicht hing es gar mit ihrer Reise zusammen? Bald erfuhr er den wirklichen Grund.

Nicolo sprach sehr vernünftig mit Marco, so wie man mit einem jüngeren Freund spricht, sagte ihm dann aber mit großer Deutlichkeit, daß sie, der Bruder und er, den häufigen, vertrauten Umgang mit den Handwerkerkindern nicht mehr dulden würden. Es sei doch besser, wenn er sich seinen Verkehr unter den Kindern aus vornehmem Hause suche.

Marco sah den Oheim an. Maffio Polo bestätigte durch ein bekräftigendes Nicken, daß er der gleichen Meinung sei. Der Vater hatte gesagt, er, Marco, sei schon fast erwachsen und müsse einsehen, daß Giannina und Giovanni nicht der richtige Umgang für ihn seien. Marco war noch nie auf diesen Gedanken gekommen. Wer hätte ihn auch darauf aufmerksam machen sollen? Die Mutter war ja damit einverstanden gewesen, wenn sie es auch nicht gern gesehen hatte, daß er allzuoft nach Murano gefahren war. Und dem Oheim Pietro Bocco hatte er seine Ausflüge wohlweislich verschwiegen.

Marco dachte lange nach. Der Vater und der Oheim waren ihm in der kurzen Zeit sehr an das Herz gewachsen, und er wollte ihnen gern gehorsam sein. Aber was sie jetzt von ihm verlangten, konnte er nicht erfüllen. Er mußte sie davon überzeugen, daß sie in diesem Falle unrecht hatten. Solange er in Venedig weilte, würde er mit Giannina und Giovanni gut Freund sein, zu viele gemeinsame Erlebnisse verbanden sie miteinander.

Plötzlich erinnerte er sich an den Überfall in der schmalen Gasse hinter dem Kräutermarkt. War es nicht Giovanni gewesen, der ihm durch sein mutiges Dazwischentreten das Leben gerettet hatte? Jetzt wußte er, was er den beiden Männern antworten würde.

«Wißt Ihr nicht, Vater, daß mir Giovanni das Leben gerettet hat?» fragte Marco und bemerkte mit Genugtuung die bestürzten Gesichter von Nicolo und Maffio Polo.

«Ein Verbrecher wollte mich mit einem Dolche ermorden. Giovanni ist ihm wie eine Katze auf den Rücken gesprungen, sonst würde ich nicht mehr am Leben sein. So war das damals, Vater. Und nun soll ich nicht mehr mit ihm zusammenkommen?»

«Was erzählst du uns da?» fragte Nicolo Polo scharf. «Sag die Wahrheit, Marco!»

Marco mußte sich sehr zusammennehmen, um nicht in der ersten Erregung falsche Worte zu sagen. Wie konnte der Vater nur an der Wahrheit seiner Worte zweifeln? Er berichtete, was sich damals ereignet hatte, sprach von dem Brief, den ihm ein Bettler überreicht hatte, schilderte den Überfall und erzählte auch von Paolos Vermutung, daß Pietro Bocco der Urheber gewesen sei.

Die beiden Männer stellten Fragen, die Marco eingehend beantwortete. Nicolo Polo war aufgesprungen und ging im Zimmer hin und her. Maffio saß mit geballten Fäusten am Tisch. «Du hättest uns das schon früher sagen sollen», sagte der Oheim. «Geh nun ins Bett, mein Sohn», sagte Nicolo Polo, sich zur Ruhe zwingend. «Mit Messer Pietro Bocco werden wir ein Wörtchen reden, das er sein Leben lang nicht vergessen wird.»

Von dem Verbot, nach Murano zu Giovanni zu fahren, war nicht mehr die Rede. Marco, der die Erregung in den Gesichtern der beiden Männer sah, ging mit einer Unruhe schlafen, spürte aber trotzdem Genugtuung, weil er sich für seine Freunde eingesetzt hatte. Nicolo und Maffio saßen an diesem Abend noch lange im Gespräch zusammen.

In den nächsten Tagen ließen sie Paolo, der sie vor Monaten schon einmal besucht und ein Bündel Fische gebracht hatte, kommen und fragten ihn aus, was er von dem Überfall wußte. Und Paolo wiederholte im wesentlichen das, was sie schon von Marco erfahren hatten. Es gab leider keine festen Anhaltspunkte, die Messer Pietro Bocco als den Anstifter des Überfalls entlarvten. Die beiden Brüder waren aber nach allem, was sie über ihn gehört hatten, überzeugt, daß er seine Hand im Spiele gehabt hatte, und beschlossen, ihm bei einer passenden Gelegenheit merken zu lassen, daß sie ihn durchschauten.

Marco brauchte sich keine Sorge mehr zu machen, der Vater gestattete auch weiterhin die Ausflüge nach Murano und ließ in einer gelegentlichen Bemerkung durchblicken, daß er den Freund seines Sohnes gem einmal kennenlernen würde. Schon am nächsten Sonntag überredete Marco den Freund, mit ihm nach Venedig zu kommen.

Der Vater war gerade von einem Gang nach der Piazzetta zurückgekehrt und befand sich allein in seinem Zimmer, als Marco klopfte und um die Erlaubnis bat, den Freund vorzustellen.

«Bring ihn nur herein, wenn er schon hier ist», sagte Nicolo Polo, belustigt über den Eifer seines Jungen.

Marco schob Giovanni, der verlegen und mit klopfendem Herzen hinter der Tür stand, in des Vaters Stube. «Das ist Giovanni, Vater», sagte er.

Giovanni verbeugte sich und sah Messer Polo frei an. Die Verlegenheit fiel von ihm ab. Er war ein Bootsbauer, und Meister Benedetto hatte ihn gelehrt, daß die Bootsbauer die wichtigsten Menschen in ganz Venedig seien und sogar im Paradiese den besten Platz zugewiesen bekämen. Noch nie sei, Meister Benedettos Wissen nach, ein Bootsbauer in die Hölle gekommen, selbst die Faulpelze Aurelio, Filiberto und Alberto brauchten keine Angst zu haben, einmal am Bratspieß eines Teufels zu schmoren. Giovanni machte sich selber Mut, indem er an die lustigen Reden Meister Benedettos dachte.

Nicolo Polo betrachtete den Knaben mit den hellen Augen und dem feinen Gesicht mit großem Wohlwollen, und er wußte mit einem Male, daß sein Junge durch den Umgang mit den Handwerkerkindern auf einem guten Boden aufgewachsen war. Diese plötzliche Einsicht verstärkte sich noch in dem folgenden Gespräch:

«Ihr müßtet ihn einmal singen hören, Vater», sagte Marco, dem das Schweigen peinlich wurde.

«So, singen kannst du auch?» fragte Nicolo Polo. «Marco hat mir erzählt, daß du bei Meister Benedetto in der Lehre bist.»

«Wir bauen jetzt ein großes Schiff», sagte Giovanni, «ich helfe schon hier und da ein bißchen mit.»

Es ergab sich zwischen Nicolo Polo, dem Weitgereisten, und Giovanni, der vom Mittelpunkt der Erde kam, ein fachmännisches Gespräch über arabische, indische, normannische und venezianische Schiffstypen, in dem Giovanni die letzte Scheu ablegte. Er hätte nicht geglaubt, daß man mit Messer Polo so gut sprechen könne.

Am Schluß der Unterhaltung ging Nicolo Polo zur Truhe, die in der Ecke stand, schloß sie auf und holte einen Beutel mit Diamanten hervor. Er schüttete sie vor den staunenden Augen Giovannis auf den Tisch und sagte zu ihm, er solle sich einen aussuchen als Dank dafür, daß er seinem Sohn das Leben gerettet hätte.

Marco, der an das Kleiderbündel dachte, das der Freund seinerzeit zurückgewiesen hatte, bekam ein wenig Angst, als er sah, wie Giovanni, geblendet von der Pracht, einen Schritt zurückwich. Aber das war doch heute etwas ganz anderes.

«Nimm nur, Giovanni», sagte er, «der Vater schenkt es dir doch.» Und er führte den Freund, der ihm willig folgte, an den Tisch. Auch Nicolo forderte ihn noch einmal auf, einen der Diamanten, die er einst vom Großkhan bekommen hatte, als Geschenk und Erinnerung an den Freund anzunehmen, der doch bald für lange Zeit Venedig verlassen würde.

Giovanni, noch immer ganz benommen, suchte sich aus dem Haufen funkelnder Steine den kleinsten heraus. Nicolo Polo aber gab ihm einen größeren und sagte scherzend, den solle er später einmal, wenn er erwachsen sei, seiner Braut schenken.

Giovanni wußte kaum, wie er zur Tür hinauskam vor lauter Freude über das Geschenk und die freundliche Behandlung und fragte Marco, ob er auch nicht vergessen hätte, sich zu bedanken. Aber der Freund beruhigte ihn.

Als Giovanni an diesem Abend nach Hause fuhr, nahm er sich vor, den Diamanten an einem bestimmten Tage Giannina zu schenken.

Die beiden Brüder waren nun schon länger als ein Jahr wieder in Venedig und warteten ungeduldig auf eine Nachricht Teobaldo di Viscontis. Das Reisefieber meldete sich in ihnen, und keiner war wohl unruhiger als Marco. Obwohl Nicolo und Maffio Polo nur mit wenigen vertrauten Freunden über ihre Erlebnisse gesprochen hatten, war doch in den Kreisen der Kaufleute bekanntgeworden, welche Reichtümer sie mitgebracht hatten. Und eines Tages meldete sich der ehrenwerte Schwager Pietro Bocco bei ihnen, der mit seinen Geschäften nicht so schnell vorwärtskam, wie er gern wünschte und bei seinen Verwandten anfragen wollte, ob sie bereit wären, ihm eine größere Summe für den Abschluß eines vorteilhaften Handelsvertrages zu leihen.

Maffio, das Oberhaupt der Familie Polo, empfing ihn mit undurchdringlichem Gesicht und bat ihn, Platz zu nehmen. Messer Pietro Bocco wollte eine liebenswürdige Unterhaltung beginnen, wurde aber von dem Schwager durch eine Handbewegung unterbrochen. Maffio Polo stand auf, ging zur Tür und befahl Maria, Nicolo Polo zu rufen.

Er setzte sich wieder und sagte gleichmütig zum Schwager, er solle sich ein wenig gedulden. Sie wechselten ein paar nichtssagende Worte, bis Nicolo Polo erschien, der Pietro Bocco zurückhaltend begrüßte.

Messer Pietro Bocco begann ein Gespräch, in dem er den beiden Kaufherren Komplimente machte über die kluge Art, ihre Geschäfte zu führen, nachdem sie doch so lange von Venedig entfernt gewesen waren. Die Brüder warfen nur hin und wieder einen Satz ein und ließen ihn reden.

Marco hatte recht, er hat kalte Augen, die seine Freundlichkeit Lügen strafen, dachte Nicolo und war stolz auf die gute Beobachtungsgabe seines Sohnes.

Endlich kam Messer Pietro Bocco nach einer geschickten Vorbereitung auf den eigentlichen Grund seines Kommens. Er bat die Brüder, ihm zu einem niedrigen Zinssatz — sie seien doch Verwandte — zweitausendfünfhundert Dukaten zu leihen.

Nicolo Polo schwieg. In diesem Augenblick ging ihm noch einmal alles durch den Kopf, was er von Marco und Paolo erfahren hatte, und es tat ihm im Angesicht des lächelnden Heuchlers leid, daß er keine sicheren Beweise in Händen hatte. Drohend zogen sich seine starken Augenbrauen zusammen.

Maffio Polo stand auf und kam hinter dem Tisch hervor.

«Zweitausendfünfhundert Dukaten wollt Ihr?» fragte er, und im Ton seiner Stimme klang etwas, das Pietro Bocco aufhorchen ließ.

«Wieviel habt Ihr denn mit Eurer nächtlichen Schmuggelfahrt verdient?» fragte Nicolo Polo plötzlich. «Ihr erinnert Euch an die fünfzehn Säcke Salz?»

Messer Pietro Bocco erbleichte. Der Angriff war zu unerwartet gekommen. Und schon holte Nicolo Polo zum zweiten Hieb aus: «Ihr habt mir erzählt, welche Fürsorge Ihr meinem ungehorsamen Sohn angedeihen ließet», sagte er mit schneidendem Hohn, «ich danke Euch dafür, Pietro Bocco.» Er beugte sich nieder und brachte seine zornsprühenden Augen in die Nähe des zurückweichenden, bleichen Gesichtes. «Der Dolchstoß ist danebengegangen. Schade, Pietro Bocco, was?»

Maffio Polo faßte den Bruder an den Schultern und zog ihn mit sanfter Gewalt zurück, weil er nicht wollte, daß Nicolo in das verhaßte Gesicht schlug.

Pietro Bocco fand seine Fassung wieder und sprang auf. «Was sind das für unsinnige Beschuldigungen?» rief er unsicher. «Ihr habt Euch eigentümliche Sitten angewöhnt», sagte er, mit einem Versuch zu spotten.

«Wir werden dafür sorgen, daß Ihr für den Salzschmuggel zur Rechenschaft gezogen werdet», sagte Maffio. «Geht aus unserem Hause. Laßt Euch hier nicht mehr sehen. Wir kennen Euch nicht mehr, Pietro Bocco. Ihr seid ein Verbrecher und kein ehrlicher Kaufmann!»

Er ließ den angst- und zornbebenden Pietro Bocco nicht mehr zu Worte kommen, ging drohend auf ihn zu, bis dieser sich umdrehte und schnell aus dem Zimmer flüchtete.

Maffio und Nicolo Polo standen am Fenster und sahen ihm mit finsteren Mienen nach.

«Ich hätte ihn niederschlagen sollen», sagte Nicolo und trat in das Zimmer zurück.

Загрузка...