DER TANZBÄR

SEIT TAGEN WAR KEIN TROPFEN VOM HIMMEL gefallen. Die Landstraße nach Padua lag wie ausgestorben im grellen Sonnenlicht. Eine Kutsche, von zwei schlankgliedrigen Pferden aus dem Marstall des Dogen gezogen, wirbelte Staubwolken auf, die sich nach rechts und links verteilten und auf das Gras niedersanken.

Auf einer Anhöhe, nahe der Straße, stand eine kleine Kapelle. Vor dem schmiedeeisernen Eingang saß Giannina und sah mit glanzlosen Augen der Kutsche nach. Der Staub hüllte sie ein, drang in Nasenlöcher und Ohren, setzte sich in den Haaren fest, die ihr wirr ins Gesicht hingen, und biß in die Augen.

Sie hatte nachts in einem Heuschober geschlafen, war wie betäubt in den späten Morgenstunden aufgewacht und hatte sich in einem kleinen Bach gewaschen. Dann war sie weitergewandert. Einige Bauersfrauen, die Gras zusammenharkten, gaben ihr Wein, Brot und Ziegenkäse und wollten wissen, warum das Mädchen so allein und gar nicht für eine Reise gerüstet über die Landstraße ginge. Sie sagte, daß sie nach Padua wolle, zu ihrem Onkel, und verriet nicht, daß sie weggelaufen war.

Nie wieder würde sie zum Messer Celsi zurückgehen. Giannina lehnte sich an die heißen Steine der Kapelle und wischte den Staub aus den Augen. Sie war müde geworden, am liebsten hätte sie sich ein wenig in den Schatten gelegt und geschlafen. Aber sie mußte ja weiter, denn sie hatte sich vorgenommen, in einem Dorf nahe Padua um Obdach zu bitten und am nächsten Tag in die Stadt zu gehen.

Ein Wagen, von zwei Ochsen gezogen, rollte langsam vorbei. Der Bauer saß auf den Brettern, ließ die Beine herunterhängen und döste vor sich hin. In der Ferne lagen die Häuser eines Dorfes; dunkle schweigende Zypressen erinnerten Giannina an den Friedhof von San Michele. Ein feiner Schmerz zog in ihr Herz ein und breitete sich über den ganzen Körper aus. Sie schloß die Augen und gab sich der Wehmut hin. Wie im Traum stand sie auf und legte sich im Schatten der Mauer nieder. Sie wollte ein wenig schlafen und alles vergessen, was ihr weh tat. Bald atmete sie tief und gleichmäßig; nichts an ihrem äußeren Anblick verriet von den unruhigen Träumen, die von ihr Besitz ergriffen.

Sie hat ihren Kopf auf den rechten Arm gebettet, die schwarzen Haare bedecken das Gesicht, die braunen Beine ragen über den Mauerschatten hinaus und werden von der Sonne erwärmt.

Giannina träumt. Sie hört, wie Giovanni singt. Die Flut hat die Steinstufen der Villa überspült und steigt immer höher. Der Himmel ist mit drohenden, jagenden Wolken bedeckt. Ein Sturm peitscht das Wasser, es reicht Giovanni schon bis zu den Knien, ringsum ist nur Wasser, dichter Regen fällt. Aber lauter als das Heulen des Sturms und das Toben der Wellen klingt Giovannis Gesang. Grenzenlose Furcht packt Giannina. «Das Wasser! Giovanni!» Sie kann den Freund nicht mehr sehen, die Fluten schlagen über ihm zusammen… «Hier, Giannina, sieh, einen Spiegel aus purem Silber schenke ich dir. Du hast nur geträumt. Die Sonne scheint doch, Giannina. Siehst du nicht, wie er glänzt?»… «Wie groß meine Augen sind, Papa?»… Entsetzt schreit sie auf. Sie sieht im Spiegel das wutverzerrte Gesicht des Messer Celsi, er streicht mit einer heftigen Bewegung die Haarsträhne zurück und schreit: «Was hast du mit meinem Kapaunchen gemacht, du Diebin? Das Haus brennt ab. Hilfe, das Haus brennt ab…» Giannina will den Spiegel wegwerfen, aber sie kann kein Glied rühren. Die Finger des Messer Celsi fassen nach ihrem Hals und pressen ihn zusammen…

Auf der Landstraße näherte sich eine seltsame Gesellschaft der steinernen Kapelle: Ein rüstiger alter Mann mit tiefbraunem, runzligem Gesicht und schwarzem, von Silberfäden durchzogenem Bart. Er war armselig gekleidet und trug einen gelben Hut mit einer prächtigen Feder daran. Sein kühnes Zigeunergesicht mit der gebogenen Nase verriet, daß er nicht italienischer Herkunft war. Auf seiner Schulter saß ein kleines Äffchen. Es hatte rote Samthöschen und ein gelbes Jackett an. Als es nach einem Schmetterling, der gerade vorüberflog, haschen wollte, fiel es fast herunter; im letzten Augenblick klammerte es sich noch an den Hals seines Herrn.

«Mach keine Dummheiten, Pippino», sagte der Alte. Er blieb stehen und schob den Hut zurück.

«Na, Herkules, kannst du noch laufen?» fragte er und drehte sich um. «Heiß heute, alter Freund, was? Warte nur, dort an der Kapelle machen wir Rast.»

Herkules, ein mannsgroßer brauner Bär mit traurigen Augen, schüttelte seinen dicken Kopf, als hätte er die Worte seines Herrn verstanden.

Der Alte nahm die Deichsel des Wagens, den man eher als einen Käfig auf Rädern bezeichnen konnte, wieder auf und zog an dem Strick, um den Bären zum Weitergehen zu nötigen. Herkules trottete müde neben ihm her. Das Schloß an den dicken Gitterstäben der hohen Kiste klapperte, Pippino jagte mit geschickten Fingern einem Floh nach.

Zwei Studenten, die auf dem Wege zur Universität nach Padua waren, riefen dem Alten einige Scherzworte zu und machten ihn darauf aufmerksam, daß es Zeit sei, Pippino trockenzulegen. Im Eifer des Flohfangens hatte Pippino sich naß gemacht. Er zeigte ein bestürztes Gesicht, als sein Herr ihn ausschimpfte, und wußte vor Scham nicht, wohin er sehen sollte.

An der Kapelle blieb die kleine Karawane stehen. «So, Herkules, ich lasse dich jetzt ein wenig los. Bleib schön in der Nähe, gleich gibt's was zum Fressen. Und dir, Brüderchen, ziehn wir mal die Hosen aus. Du bleibst angebunden, sonst rennst du mir davon.»

Pippino hüpfte vor Freude, daß er die lästigen Kleider los war, auf und nieder. Während der Alte den Käfig aufschloß, um Futter zu holen, lief Herkules um die Kapelle herum und blieb überrascht vor dem im Gras liegenden Mädchen stehen.

Der Bär war kaum ein Jahr alt gewesen, als er in die Gewalt der Menschen gekommen war. Er wußte nichts mehr von den hohen Karpatenbergen mit den dunklen, schweigenden Wäldern, die einst seine Heimat gewesen waren. Soweit er zurückdenken konnte, war er von Menschen umgeben gewesen, die verlangten, daß er sich in den wunderlichsten Bewegungen nach dem Takt einer kleinen Trommel auf zwei Beinen drehen solle.

Herkules hatte sich damit abgefunden, daß er mit einem Ring durch die Nase als Tanzbär von Land zu Land ziehen mußte. Er war froh, in dem alten Zigeuner einen Herrn gefunden zu haben, der es nicht allzu böse mit ihm meinte.

Die Menschen auf den Basaren des Orients und den Jahrmärkten und Messen Spaniens, Frankreichs, Deutschlands und Italiens waren oft schlecht zu ihm gewesen, wenn er müde war von dem anstrengenden Tanz nach dem Takt des unerbittlichen Tamburins. Herkules hatte in seinem langen Leben die Erfahrung gemacht, daß es am besten sei, alle Wünsche der Menschen zu erfüllen.

Er erinnerte sich an ein Erlebnis im Hafen von Alexandria. Damals gehörte er einem jungen, heißblütigen Araber, der nur darauf bedacht war, recht viel Geld zu verdienen und ihn von früh bis abends tanzen ließ. An einem Nachmittag mußte er auf einem öffentlichen Platz, umgeben von betrunkenen, schreienden Zuschauern, seine Künste zeigen. Er war so erschöpft, daß er sich nur noch mit äußerster Mühe aufrichten konnte. Die Sonne schien unerbittlich heiß. Immer wieder riß ihn das Trommeln des Tamburins und das Rasseln der Schellen hoch und zwang ihn, sich im Tanz zu wiegen und zu drehen. Selbst die Mulis und Kamele, die am anderen Ende des Platzes standen, hatten Erbarmen mit ihm und stießen klagende Schreie aus. Die Menschen aber wollten, daß er ihren Willen erfülle. Sein Herr riß so heftig an dem Nasenring, daß er sich vor Schmerzen aufbäumte.

Die Händler ließen ihre Teppiche, Früchte, Glasperlen, Töpferwaren und feingeschliffenen Waffen aus den Augen, um sich das Schauspiel anzusehen. Einige schimpften über die Grausamkeit, die anderen jedoch, gleichgültig gegen die Schmerzen des Tieres, machten den Bärenführer durch anfeuernde Zurufe noch wütender. Er bearbeitete Herkules mit Fußtritten; als das nichts nützte, zog er sein Messer und stach den Bären viermal in die Seite. Blut floß über das braune, verschmutzte Fell. «Tanze, du Satansbär», schrie der Araber und schlug wild auf das Tamburin.

«Gleich wird er tanzen», rief einer aus der Mitte der Zuschauer und schlug sich, trunken lachend, auf die Schenkel.

Herkules spürte keinen Schmerz und keine Erschöpfung mehr, als er sich aufrichtete und mit einem einzigen Tatzenhieb seinen Peiniger niederstreckte. Das Tamburin flog in die Zuschauermenge, die entsetzt auseinanderstob. Herkules hatte alle Überlegung verloren. Er lief hinter den schreienden Menschen her, riß eine Holzbude mit Töpferwaren um, brachte die Mulis und Kamele in Verwirrung, rannte durch menschenleere Gassen und fand, geleitet durch einen gütigen Stern, den Ausgang der Stadt.

Herkules wußte, daß er um sein Leben lief. Darum war er bemüht, aus der Nähe der Menschen zu kommen. In einem Dickicht ließ er sich nieder und verbrachte die Nacht. Tagelang irrte er durch das Land. Er fand nur wenig Nahrung; so entschloß er sich schließlich, wieder Menschen aufzusuchen, und trottete in das nächste Dorf, das nur aus wenigen Häusern bestand. Willig ließ er sich einfangen und in einen alten Stall sperren. Er war so heruntergekommen, daß er fast zwei Tage und zwei Nächte schlief. Zwischendurch verschlang er alles, was man ihm in den Trog schüttete.

Der Zufall wollte es, daß in dieser Zeit der alte Zigeuner mit seiner achtjährigen Enkelin Zsusinka und dem Äffchen durch das Dorf wanderte. Er kam aus Kairo und war auf dem Wege nach Jerusalem. Für wenig Geld erwarb er den Bären und nahm ihn mit auf seinen weiten Reisen durch die Welt.

Das Leben war nun besser geworden für Herkules. Die kleine Zsusinka hatte den großen gutmütigen Burschen gern, sie sorgte dafür, daß er gut untergebracht wurde und gab ihm heimlich von den Süßigkeiten ab, die sie manchmal auf ihren Bettelgängen erhielt. Herkules wurde ihr Freund und Spielgefährte.

Leider währte diese lichte Zeit nur wenige Jahre. In Damaskus geschah es, daß Zsusinka die Aufmerksamkeit zweier Sklavenhändler erregte. Sie boten dem Alten eine für seine Verhältnisse hohe Summe und versprachen ihm mit vielen schönen Worten, das Mädchen einem reichen Herrn zu geben, der sie wie eine Prinzessin behandeln würde. Zsusinka war zwölf Jahre alt und von außergewöhnlicher Schönheit. Die Zeiten waren schwer, und der Alte wußte, daß er sie eines Tages hergeben mußte. Lange überlegte er, bis er schließlich seine Einwilligung gab.

Traurig nahm er von Zsusinka Abschied und zog mit Herkules und Pippino weiter. Er tröstete sich damit, daß nun für Zsusinka das elende Landstreicherleben vorbei sei. Sicher würde sie es jetzt besser haben, die beiden Händler hatten es ihm ja mit tausend Schwüren versichert und Allah als Zeugen angerufen.

Herkules hatte von dem Abschied kaum etwas gemerkt, denn Zsusinka war sehr stolz gewesen und hatte ihren Schmerz zu verbergen gewußt.

Als Herkules jetzt das Mädchen im Schatten der Kapelle liegen sah, spürte er ein sonderbar helles, frohes Gefühl, das alle Müdigkeit verscheuchte. Er glaubte den Klang einer bekannten Stimme zu hören. Freudig brummend beugte er den Kopf über Gianninas Gesicht und beschnüffelte es mit seiner nassen Schnauze. «Was hast du denn, Herkules?» fragte der Alte.

Giannina, so unvermutet aus ihrem Schlaf gerissen, öffnete die Augen und sah das braune zottelige Gesicht verwundert an. Im ersten Augenblick glaubte sie, noch zu träumen; als sich aber Herkules zu seiner ganzen Größe aufrichtete und, einem inneren Drang gehorchend, ungeschickte Tanzbewegungen machte, als sie das Gras, die Blumen, den Himmel gewahrte und von der Landstraße ein Gespräch vorbeigehender Leute hörte, wußte sie, daß sie nicht mehr schlief. Merkwürdigerweise empfand sie keine Angst vor dem riesigen Tier, sondern war eher belustigt über seine Bewegungen.

«Herkules, was ist denn mit dir los? Du tanzt, ohne daß ich dich aufgefordert habe?» Der Alte stand an der Kapelle und schüttelte den Kopf. Aber dann sah er Giannina, die sich aufgesetzt hatte und die Haare aus dem Gesicht strich.

«So ist das also, Herkules», rief der Alte aus. «Du bist mir ja ein vornehmer Kavalier. Aber komm jetzt, das Fressen steht bereit. Und du, meine kleine Blume», wandte er sich an Giannina, «schläfst hier ganz allein in den Tag hinein und hast gar keine Furcht vor meinem Herkules? Brauchst dich nicht zu fürchten, er hat die kleinen Mädchen gern.»

Er setzte sich neben Giannina ins Gras; Herkules schnupperte in die Luft und verschwand um die Ecke, wo sein Fressen bereitstand.

«Ja, ja», erzählte der alte Zigeuner, «Herkules ist ein kluges Tier. Meine Zsusinka hat ihn geliebt wie einen Bruder. Sie war so schön wie der Mohn zwischen dem goldenen Korn…» Der Alte sah versonnen vor sich hin.

«Ihr hattet eine Tochter?» fragte Giannina neugierig. «Wo ist sie denn geblieben?»

«Ach, mein Töchterchen, wenn ich dir das erzählen könnte. Eine traurige Geschichte ist das. Seitdem Zsusinka von uns fort ist, hat uns das Glück verlassen.» Der alte Zigeuner sah sie mit einem schnellen Seitenblick an.

«Erzählt es mir doch, Großväterchen», bat Giannina. Sie hatte die Sorge um ihr eigenes Schicksal vergessen.

«Zsusinka war eine kleine Zauberin, wenn sie das Tamburin schlug und sich in den Hüften wiegte, wurden alle, die in ihren Zauberkreis gerieten, von der Tanzlust besessen. So war sie, meine Zsuska; die Hartherzigsten öffneten ihre Börsen, wenn sie kassieren ging. Sie brauchte nur ein einziges Wort zu sagen, um Herkules zum Tanzen zu bringen. Selbst wenn er müde war, richtete er sich auf und drehte sich willig. Ich muß oft mit ihm schimpfen, ehe er sich zum Tanzen bequemt, aber Zsusinka folgte er aufs Wort…»

Giannina hörte gespannt auf die einschläfernde Stimme des alten Zigeuners, der von Zeit zu Zeit einen abschätzenden Blick auf das Mädchen warf, als wolle er ergründen, ob seine Worte auch die beabsichtigte Wirkung hatten.

«Eines Tages kam ein reicher, vornehmer Herr, gekleidet wie ein Sultan, in seidenen gestickten Gewändern und sah meine Zsusinka tanzen. Er blieb stehen und schaute wie verzaubert zu. Oh, mein Töchterchen, wenn du Zsusinka gekannt hättest. Schön war sie in ihrem roten Kleidchen, wie eine Märchenprinzessin. Der Herr gab uns ein Goldstück und streichelte Zsusinka freundlich die Wangen. Dann nahm er mich zur Seite und bot mir fünfhundert gute Golddukaten für meine Zsuska…»

«Ihr habt doch nicht etwa eingewilligt?» fragte Giannina und wagte kaum zu atmen.

«Nicht für tausend Dukaten hätte ich sie hingegeben», erwiderte der Alte. «Aber du weißt doch, wie das ist, wenn sich ein vornehmer Herr etwas in den Kopf gesetzt hat. Eines Tages geht meine Zsusinka weg, um Futter und Wasser für Herkules und Pippino zu besorgen, und kommt nicht wieder. Ich habe sie gesucht, bin wohl zehnmal zum Kadi gelaufen und habe den reichen Herrn angezeigt, bis sie mich schließlich aus der Stadt gejagt haben. Froh konnte ich sein, daß sie mir nicht noch fünfzig Stockhiebe verabreichten. Wer fragt in der Welt nach einem armen, mutterlosen Zigeunermädchen?»

Der Alte sah traurig vor sich hin. Er hatte diese Geschichte schon tausendmal erzählt und sie mit immer neuen Einzelheiten ausgeschmückt, bis er schließlich selbst daran glaubte, daß alles so geschehen wäre, wie er berichtete.

«Aber was machst du so allein auf der Landstraße, meine Blume?» Er sah sie mit einem verschlagenen, listigen Ausdruck an. «Du siehst aus, als hättest du Kummer?»

Giannina, noch bewegt von der Geschichte des Zigeunermädchens, brauchte einige Augenblicke, bis sie sich wieder in die Wirklichkeit zurückfand. Ein dunkles Gefühl warnte sie, dem Alten von ihrem Schicksal zu erzählen. Da kam der Bär wieder zurück und schnüffelte freudig an ihrem Arm, als wolle er sie auffordern, ihn zu streicheln. Sie strich über sein braunes Fell und freute sich über sein vergnügtes Brummen.

«Du bist ein gutes Mädchen», sagte der Alte. «Gehst du jetzt zu deinen Eltern?»

Giannina verbarg ihren Kopf in Herkules' Fell. «Aber ich kann doch nicht nach Hause gehen», schluchzte sie, alle Vorsicht vergessend. «Nein, nein! Niemals wieder gehe ich nach Hause zurück!»

«So so! Dacht ich's mir doch, daß du Kummer hast, meine Blume. Schön bist du, wie meine Zsusinka. Weine nur nicht. Sieh, da ist auch noch der Pippino.»

Er nahm das Mädchen an die Hand und brachte es zu dem Karren.

«Das ist nun unsere ganze Familie. Auf den Pippino mußt du aufpassen. Er sitzt dir mit einem Male auf dem Kopf und zaust in deinen Haaren herum. Flöhe hat er auch wie Sand am Meer, aber wenn du ihn erst ein paar Tage gefüttert hast, wird er ganz zahm… Der Herkules folgt dir wie ein gehorsames Hündchen… Nun setz dich, meine Tochter, und erzähle mir, warum du nicht nach Hause zurückkehren kannst. Der alte Ferko wird schon einen Rat wissen…»

Paolo hatte ein schlechtes Gewissen, weil er mit den beiden Knaben weggegangen war, ohne Marcos Mutter zu unterrichten. Aber jetzt war es zu spät. Sie befanden sich auf dem Wege nach Aquileja; ein Fischer aus Mestre hatte ihnen gestern gesagt, daß in diese Richtung ein Mädchen gegangen wäre, das nach der Beschreibung Giannina sein konnte.

Die drei waren recht niedergeschlagen. Vor ihnen lag die endlose Straße mit den ungezählten Wegkreuzungen, mit den Brücken, die sich über Bäche und Flüsse schwangen; sie mündete in Dörfer und Städte, wand sich geschickt durch die Häuser, kroch schlangengleich Anhöhen und Berge hoch und hatte keinen Anfang und kein Ende. Die Räder der schwerbeladenen Kaufmannszüge knirschten durch die ausgefahrenen Rinnen, bewacht von gemieteten Kriegsknechten, die mit Hellebarden und Armbrüsten bewaffnet waren. Aus der Grafschaft Tirol, von den Bergen des Erzbistums Salzburg, aus den Herzogtümern Kärnten und Steiermark, von überallher, mit den feinsten Verästelungen wie ein Spinnennetz über die Wälder, Äcker, Gebirge, Viehweiden, Flüsse und Häuser gebreitet, schienen die staubigen Straßen alle nach Venedig zu führen und von dort, in die Kanäle und das Meer mündend, auf unsichtbaren Schiffsstraßen nach den fernen Küsten zu greifen.

Vor einem von zwei mächtigen alten Bäumen beschatteten Gasthaus blieben die Wanderer stehen. Marco ging hinein, um sich nach Giannina zu erkundigen. Der Wirt gab ihm freundlich Auskunft. Wieder war es vergebens. Seit Tagen war kein Mädchen hier eingekehrt.

«Wir hätten den alten Francesco fragen sollen», sagte Giovanni. «Er weiß vieles, was anderen Menschen verborgen bleibt. Aber wir können doch jetzt nicht zurückgehen?»

«So viele Straßen gibt es, wo wird die kleine Giannina sein?» Paolo sah die Freunde fragend an.

«Wir müssen sie finden, und wenn wir bis ans Ende der Welt laufen sollen», erwiderte Marco. Insgeheim aber war er von tiefer Sorge um die Mutter erfüllt, die ja nicht ahnen konnte, wohin er so plötzlich verschwunden war.

Links und rechts der Straße rankten sich die Weinreben der Landschaft Friaul an den hölzernen Stäben empor. Kirchenglocken läuteten. Das Himmelsdach wölbte sich über das Land, hier und da von weißen Wolken bedeckt, deren Ränder rosa erglühten. Im Westen lag Venedig, vor ihnen, im Osten, öffnete ein Wald seine Pforte und ließ die Straße ein.

In weißes Leinen gekleidete Bauern arbeiteten gebeugt zwischen den Weinreben oder schleppten auf ihren Rücken Holzbütten mit Erde auf eine Anhöhe. Auf der anderen Straßenseite pflügte eine Frau mit einem Ochsengespann die Stoppeln der ersten Ernte um. Still und unbeweglich und ohne Gesang war der heiße Spätnachmittag; der Abend kündigte sich an.

Der kühle Atem des Waldes mit seinen unberührten, würzigen Düften wehte um die Wanderer. Eine alte Frau, die Holz sammelte, floh in den tiefen Baumschatten, als sie die Schritte hörte. Der Wald und das Land mit den Feldern und Weinbergen gehörte geistlichen Herren, die den kleinsten Holzdiebstahl streng bestraften.

«Wir sind nun schon den zweiten Tag unterwegs», sagte Paolo. «Bald ist die Nacht da und nirgends eine Spur. Laßt uns zurückgehen, Herr. Die Signora weiß nicht, wo wir sind. Sie ist krank und wird sich Sorgen machen.» Marco erwiderte nichts.

«Recht hat Paolo. Es hat keinen Zweck, weiterzulaufen. Vielleicht ist sie gerade in die entgegengesetzte Richtung gegangen und entfernt sich immer mehr von uns. Komm, Marco», sagte Giovanni, «wir gehen nach Venedig zurück und sprechen mit Gianninas Eltern. Dann können wir noch einmal aufbrechen…»

Marcos Gesicht war verschlossen und abweisend. Keiner sollte sehen, was ihn bewegte. Der Verstand sagte ihm, daß die beiden recht hatten; aber die Vorstellung, daß Giannina jetzt schutzlos über die Landstraße irre und wahrscheinlich nicht wisse, wo sie essen und schlafen solle, verdrängte noch alle vernünftigen Erwägungen. Viele Wünsche wohnen im Herzen der Menschen. Sie fallen wie Sterne hinein und erleuchten das Dunkel; dann verlöschen sie oder glimmen weiter, um irgendwann wieder neu und stärker aufzuflammen.

Der Wald dämpfte die Geräusche. Kaum drangen die Abendsonnenstrahlen durch das Blätterdach, grünlich und golden glänzten die erleuchteten Moosflecken, die Farnkräuter sahen wie seltsame, aus dem Boden wachsende Vogelflügel aus.

Vielleicht hat Giovanni recht, überlegte Marco. Wenn sie nun nach Padua geflohen ist? Dann führt uns jeder Schritt weiter von ihr weg. Außer in Mestre haben wir doch nirgends eine Spur gefunden. Im Gegenteil. Alles deutet darauf hin, daß sie diesen Weg nicht gegangen ist. Hat es da Zweck, bis Aquileja oder gar darüber hinaus zu laufen? Und die Mutter zu Hause? Wie wird sie sich über mein Verschwinden grämen.

In Marcos Herzen wurde es plötzlich unbarmherzig hell. Vielleicht drohte der Mutter sogar Gefahr? Warum hatte man ihn ermorden wollen? Und was bedeutete der geheimnisvolle Brief? Daß er das alles vergessen hatte!

O Mama, meine Mama, flüsterte es unhörbar in ihm. Die Bäume standen wie unheimliche Riesen zu beiden Seiten. Marco sah den breiten Rücken Paolos, der sich im Takt der Schritte bewegte; daneben ging Giovanni und bemühte sich, Schritt zu halten. Plötzlich blieb er stehen und wartete, bis Marco neben ihm war.

«Wenn sie nun nach Padua gegangen ist?» fragte er.

«Ich habe auch schon daran gedacht», erwiderte Marzo zögernd.

«Deine Mutter wird Angst um dich haben, Marco. Und auch mein Vater! Wir müssen erst einmal zurückgehen. Weißt du, ich habe das Gefühl, daß wir Giannina noch finden werden. Vielleicht ist sie ganz in der Nähe, und wir sind irgendwo an ihr vorbeigelaufen…»

«Es wird auch bald Abend», warf Paolo ein.

Marco sträubte sich nur noch zum Schein. Als Giovanni und Paolo langsam denselben Weg, den sie gekommen waren, zurückgingen, folgte er ihnen.

So gingen sie wieder Venedig zu, traten aus dem Wald in das freie Land hinaus und spürten die warme abendliche Luft. Die Hoffnung, Giannina zu finden, beschleunigte ihre Schritte. Diese Hoffnung war mit einem Male so stark geworden, daß sie die Müdigkeit und den Hunger vergaßen. Im Schatten des Waldes war ihnen die Suche nach dem Mädchen hoffnungslos erschienen, jetzt aber, im goldenen Abendschein, verstärkte sich die Gewißheit, daß sie Giannina finden würden.

Giovanni hatte das bestimmte Gefühl, daß die Freundin in der Nähe sein müsse, gerade, als hätte er von irgendwoher eine geheime Botschaft erhalten. Als er in der Ferne eine Menschengruppe erblickte, klopfte sein Herz wie ein Hammer gegen die Brust. Es waren, wie sich bald herausstellte, Bauersfrauen, die von den Feldern der Herren nach Hause zurückkehrten.

Um seine Enttäuschung zu verbergen, sagte er mit fester Stimme: «Ganz bestimmt treffen wir sie noch. Ich glaube, wir sind jetzt auf dem richtigen Weg.»

Ohne eine Antwort abzuwarten, lief er weiter, so daß die beiden Mühe hatten, ihm zu folgen.

Die vielen Wegkreuzungen, die ihnen vor Stunden alle Zuversicht geraubt hatten, störten sie nicht mehr. Vor ihnen lagen die stillen Häuser eines Dorfes, beherrscht von einer Burg, die links auf der Anhöhe lag. Zwei braun und weiß gefleckte Jagdhunde tummelten sich vor der heruntergelassenen Zugbrücke. Die Blicke der Wanderer wurden von den festgefugten Mauern angezogen, die rings die Wohngebäude und den gedrungenen Wachturm umgaben und wie eine drohende Faust auf der lieblichen Landschaft lasteten.

Sie vergaßen für Augenblicke, die Straße zu beobachten. Paolo war wohl der erste, der sich von dem Anblick trennen konnte. Nachher wollte jeder zuerst die ihnen entgegenkommende Gruppe gesehen haben. Doch dieser kleine freundschaftliche Streit war ohne Bedeutung. Jeder sagte sich, daß er diese Ahnung schon in seinem Herzen getragen habe, nachdem sie den. dunklen Wald verlassen hatten.

Paolo war es jedenfalls, der zuerst ausrief: «Was für eine komische Gesellschaft ist das? Ein Mann mit einem gelben Hut?» Er beschattete die Augen, weil ihn die Sonne blendete. «Und ein Mädchen ist bei ihm…»

«Giannina?» fragte Marco, noch ungläubig.

«Giannina!» rief Giovanni und lief der Gruppe entgegen. Da setzten sich auch Marco und Paolo in Bewegung, so daß sie fast gleichzeitig bei Giannina anlangten. Ferko, der alte Zigeuner, legte die Wagendeichsel auf die Erde und begrüßte die Herren, indem er seinen gelben Hut lüftete. Man sah seinem Gesicht nicht an, wie unwillkommen diese Begegnung ihm war. Hatte er sich doch am gestrigen Abend große Mühe gegeben, Giannina zum Mitgehen zu überreden, nun schien alles vergeblich gewesen zu sein.

«Da bist du, Giannina», sagte Giovanni. «Wir haben dich gesucht, Giannina.» Er ärgerte sich über diese alltäglichen Worte, aber was sollte er sagen, um alle Gefühle zum Ausdruck zu bringen?

«Giovanni? Marco?» sagte das Mädchen erstaunt, als seien ihr Geister begegnet und nicht lebendige Menschen, die sie seit Jahren kannte und die zu ihrem Leben gehörten wie das Wasser rings um Murano und wie der Aprikosenbaum im elterlichen Garten.

«Wir haben dich gesucht, Giannina», sagte auch Marco. «Uberall haben wir nach dir gefragt, aber keiner hatte dich gesehen. Wie konntest du nur davonlaufen, ohne uns etwas zu sagen? Und auf einmal bist du wieder da. Gut, daß wir dich getroffen haben, Giannina. Jetzt gehen wir schnell nach Hause.»

Ganz allmählich, wie Wachskerzen, die von Menschenhand eine nach der anderen ausgelöscht werden, erlosch die Freude in Gianninas Herzen. Nach Hause zurück, hatte Marco gesagt. Zum Messer Celsi?

«Komm, Herkules!» sagte der Zigeuner und öffnete den Käfig. «Kannst dir noch ein wenig die Füße vertreten. Tanz, mein Alter, tanze für unsere kleine Giannina.»

Dumpf und hart trommelte die Faust auf das Tamburin, aufreizend rasselten die Schellen. Herkules tanzte.

Pippino, der im Käfig bleiben mußte, rüttelte an den Gitterstäben.

Die Sonne verglühte im Westen, breite goldene Lichtstraßen führten von der Erde zu den roten, gelben, orangefarbenen und blaßvioletten Wolkentupfen.

«Hei, Herkules, tanze! Tanze für deine kleine Freundin! Bald wirst du an Kaiser- und Königshöfen tanzen!» Das Tamburin tönte.

«Unsere Zsusinka ist wieder bei uns. Siehst du sie? Tanze, tanze, Herkules. Ihr Haar ist wie der bleiche Wüstensand, aber wenn die Sonne scheint, ist es aus purem Gold!»

Herkules tanzte! Seine schwermütigen Augen sahen unverwandt auf Giannina. Auch Marco, Giovanni und Paolo waren in den Bann des alten Zauberers geraten. Das Feuer des Sonnenballs loderte über den ganzen Himmel hinweg. Herkules' Fell glänzte. Die Augen des alten Zigeuners glühten, seine Lippen murmelten Worte, die sich zu lauten Ausrufen steigerten und auf eine sonderbar erregende Weise den Takt des Tamburins begleiteten.

«Tanze, Herkules! Zsusinka ist wieder da, schwarz wie die Nacht sind ihre Haare geworden. Sie ist traurig. Ihre Wangen sind wie Milch. Das Gesicht weint! Tanze, Herkules! Bald wirst du vor Grafen und Fürstensöhnen tanzen!»

«Hört auf, Alter!» sagte Paolo mit rauher Stimme. «Macht das Mädchen nicht verrückt, es geht mit uns zurück!» Er kniete vor Giannina nieder und zog sie an sich. «Sieh mich an, Giannina. Fühle meine Arme. Diese Arme werden dich schützen. Keiner darf dir etwas zuleide tun.»

Das Tamburin verstummte jäh. Herkules setzte die Vorderfüße auf die Erde; Pippino sprang wütend im Käfig umher.

Ein Herr und eine Dame ritten über die Zugbrücke und näherten sich. Aus dem Weg, Zigeuner!» rief der Herr. Ferko, der mitten auf der Straße stand, trat mit eiliger Verbeugung zurück.

Die Dame sagte ihrem Begleiter einige leise Worte. Dieser nickte zustimmend. «Geh in den Burghof, Zigeuner. Sag, der Herr hätte dich geschickt. Kannst dir ein paar Soldi verdienen!»

Ferko verbeugte sich wohl zehnmal und schwenkte mit weiter Armbewegung den Hut. «In den Käfig, Herkules! Hast du's gehört? Zur Burg sollen wir kommen.»

«Geschlagen hat mich der Messer Celsi, mit den Füßen getreten und mit der Faust ins Gesicht geschlagen», sagte Giannina. «Was habe ich denn nur getan?»

Ihre Augen wurden dunkel vor Schmerz und Haß.

«Du gehst nie mehr zu ihm zurück.» Uber Marcos Gesicht huschte plötzlich ein freudiges Leuchten. «Ich werde mit meiner Mutter sprechen, Giannina. Sie ist krank und braucht Pflege. Du kommst zu uns, Giannina. Dann ist alles gut.»

«Du gehst nie mehr zum Messer Celsi», sagte auch Giovanni. «Ich habe jetzt einen Dolch, eine Vogelfeder kannst du im Fluge damit zerschneiden. Sieh ihn dir an, Giannina! Du brauchst nun wirklich keine Angst mehr zu haben… Dein Vater war ganz weiß im Gesicht, als er erfuhr, daß man dich geschlagen hat», erzählte er nach einer Pause weiter. «Eine Magd, die dich aus der Küche rennen sah, hat es ihm gesagt. Er hat einen Spiegel auf den Boden geworfen; mit dem Fuß hat er ihn zerstampft. Wenn deine Mutter ihn nicht zurückgehalten hätte, wäre er gleich zum Messer Celsi gelaufen… Weißt du schon, daß man Marco ermorden wollte?»

Giannina hatte sich aus Paolos Armen gelöst. So viele Eindrücke waren auf sie eingestürmt, daß nur der letzte Satz in ihrem Gedächtnis blieb. «Ermorden wollte man dich, Marco? Ist das wahr?»

«Giovanni und Paolo haben mich gerettet», erwiderte Marco.

«Hier, mit diesem Dolch wollte er Marco töten.» Giovanni hielt ihr den Dolch hin. Sie nahm ihn und legte ihn auf die flache Hand.

«Mein Vater hat einen Spiegel zerstampft?» fragte sie zusammenhanglos.

Herkules kam ein letztes Mal zu ihr und rieb den Kopf an ihrer Schulter. Dann ließ er sich gehorsam in den Käfig sperren.

«Lebt wohl, Großväterchen! Lebt wohl, Herkules und Pippino, ich kann nicht mehr mit euch kommen.»

«Leb wohl, meine Blume», sagte der alte Zigeuner. «Gott schenke dir Gesundheit und Reichtum. Ich ziehe nun weiter, meine Zsusinka suchen…»

Er nahm die Deichsel vom Boden und legte das Zugseil um. Die Räder setzten sich knarrend in Bewegung.

Der Sonnenball lag feurig über den dunklen Waldwipfeln. «Dachte schon, daß ich sie gefunden hätte, meine Zsusinka», sprach der Alte vor sich hin, «aber der alte Ferko hat kein Glück mehr…»

Der Käfig schwankte ungeschickt hin und her. Die Räder rollten in den ausgefahrenen Rinnen.

In der Ferne kläfften die Hunde.

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