DER NEUE TAG

IN DEN ABENDSTUNDEN, WENN SICH DÄMMERUNG und Dunkelheit wie fließende Gewänder um die Lagunenstadt legen und in den Stuben die Kerzen angezündet werden, reifen die Träume, Wünsche und Sehnsüchte in den Herzen der Menschen.

Marco saß allein in der Stube. Paolo war vor einer Stunde zum Messer Pietro Bocco gegangen und würde erst morgen früh zurückkommen.

Draußen heulte der Wind.

Eigentlich wollte Marco heute abend noch ausgehen; aber er schob es immer weiter hinaus und gab sich der wohligen Wärme hin, die von dem knisternden Feuer im Kamin kam.

Auf der Piazzetta tanzten jetzt wohl in toller Ausgelassenheit die Masken, brannten die rauchenden Fackeln unter den Arkaden und machten die Nacht zum Tage.

Es gab Stunden, in denen sich Marco wie ein Einsiedler verkroch und in die unsichtbaren Fäden seiner Traumwelt einspann. Er empfand fast ein Gefühl der Befriedigung, daß Paolo nicht zu Hause war. Er fühlte sich erwachsen und selbständig. Außer Maria und Giannina war niemand zu Hause. Auf ihm ruhte die ganze Last der Verantwortung.

Manchmal war es schön, allein zu sein.

Giannina befand sich schon in ihrer kleinen Dachkammer. Ob sie an ihren letzten Ausflug nach Murano dachte? Sie war ja noch einen Tag länger geblieben als er. Sicher saß sie jetzt auf ihrem Bett und träumte mit ihren dunklen Augen von allen möglichen Dingen. Marco konnte sich das genau vorstellen. Es war beinahe, als befände sie sich hier in der Stube neben ihm und redete, wie es ihre Art war, unbefangen von alltäglichen Ereignissen, die in ihrer Darstellung den Charakter von etwas Besonderem, Märchenhaftem erhielten. Eine Blume wurde ein Wunder an Schönheit, und ein Glassplitter verwandelte sich in einen Diamanten. Schön wäre es, wenn sie zu einem Plauderstündchen herunterkäme.

Er überlegte, ob er nicht zu ihr gehen und sie einladen solle, sagte sich dann aber, daß sie vielleicht lieber allein sei. Möglicherweise dachte sie gerade an Giovanni, und da wollte er nicht stören.

Die einsamen Stunden zwischen Abend und Nacht können auch wie feine spitze Dolchspitzen sein, die sich ins Herz hineinbohren.

Er hatte überhaupt das Gefühl, als hielte Giannina sich seit dem letzten Besuch auf Murano etwas von ihm fern. Auch ihre Gespräche waren nicht mehr so unbefangen wie sonst. Eine rätselhafte Scheu hatte eine unsichtbare Schranke zwischen ihnen aufgerichtet.

Wenn er sein Vorhaben, das er in aller Heimlichkeit vorbereitete, ausführen würde, könnte es durchaus möglich sein, daß Giannina einmal jeden Augenblick bereute, den sie ihm ausgewichen war.

Ein kleiner Zorn regte sich gegen Giovanni, den er aus irgendeinem Grunde für Gianninas Zurückhaltung verantwortlich machte. Marco war mit sich selbst nicht zufrieden und schimpfte sich aus, weil er spürte, daß er dem Freund und auch Giannina unrecht tat.

Er war doch nicht etwa verliebt in Giannina?

Marco mußte laut lachen. Auf was für Gedanken er manchmal kam! Es dauerte eine ganze Weile, bis sich seine etwas gekünstelte Heiterkeit gelegt hatte.

Vielleicht war es am besten, doch noch auszugehen. Wer konnte es ihm verwehren? Er war sein eigener Herr. Sein Oheim Pietro Bocco erschien nur selten einmal, um, wie er sagte, nach dem Rechten zu sehen.

Ein starkes Gefühl der Freiheit durchströmte Marco nach all den Jahren, da ihn die kranke Furcht der Mutter in jeder Regung seines phantasiebegabten Geistes gehemmt hatte; besonders, wenn er am Hafen stand und die auf große Fahrt auslaufenden Schiffe beobachtete.

Er hatte den festen Entschluß gefaßt, sich im nächsten Frühjahr auf ein Schiff zu schleichen, das nach Byzanz segelte. Von dort würde er versuchen, nach Damaskus zu kommen.

Marco hielt sein Vorhaben vor Giovanni und Giannina vorläufig noch geheim. Auch mit Paolo hatte er noch nicht darüber gesprochen, aber er wollte ihn morgen einweihen.

Maria sah noch einmal in das Zimmer hinein und warf einen Holzkloben ins Feuer.

«Geht Ihr heute noch aus, junger Herr?» fragte sie. «Oder kann ich das Haustor schließen?»

Marco rückte dichter an das Feuer heran. Draußen wehte ein ungemütlicher Wind. «Schließ nur zu, Maria», sagte er.

Sie ging zögernd zur Tür und blieb, den Blick auf Marco gerichtet, noch einen Augenblick stehen. Als er das erwartete Zuschnappen der Tür nicht hörte, sah er verwundert auf. «Was gibt es noch, Maria?»

«Paolo kommt doch morgen zurück, Herr?» fragte sie und hatte Mühe, die Sorge in ihrer Stimme zu verbergen.

«Warum sollte er nicht zurückkommen?» erwiderte Marco. Er unterdrückte ein plötzlich aufsteigendes Unbehagen. In Zukunft würde er Paolo nicht mehr für Dienstleistungen freigeben. Sollte sein Oheim Pietro Bocco sehen, woher er Arbeitskräfte bekam!

Er dachte wieder an das große Unternehmen, das er bis zum kommenden Frühjahr in allen Einzelheiten vorbereiten mußte. Es gab da viel zu überlegen.

Während er am Kamin saß und den Flug der Funken beobachtete, hörte er gar nicht, wie die Tür geöffnet wurde. Überrascht richtete er sich auf, als er Gianninas Stimme vernahm. «Ich bin heute so unruhig», sagte sie. «Hörst du den Sturm draußen?»

Marco rückte zur Seite und forderte sie auf, neben ihm Platz zu nehmen.

«Manchmal habe ich Angst», erzählte sie, «daß das Meer uns verschlingt, die Häuser, die Gärten, die Felder — alles, alles…»

«Da bist du also gekommen, weil du Angst hast?» Giannina ließ ihre Haare durch die Finger gleiten und strich sie zurück. Sie überhörte Marcos Frage.

«Ich fühle mich so fremd hier, Marco. Warum ist das nur so? Murano liegt doch ganz nahe. Du kannst es bei klarem Wetter mit deinen Augen sehen… Es ist jetzt schon kalt auf Murano. Denkst du noch an unseren letzten Besuch?… Ach, was rede ich da? Das kommt daher, weil es draußen so stürmisch ist. Ich kann den Wind nicht leiden, bin wie ein kleines Mädchen…»

Heimweh hat sie, sagte sich Marco. Das ist der Grund, warum sie in der letzten Zeit so scheu und verschlossen gewesen ist. Und kalt ist es jetzt schon auf Murano. Er sah den Freund vor sich, wie er frierend die Beine\anzog, und erinnerte sich daran, daß er ihm ja Kleidungsstücke schicken wollte. Ein warmes, freundschaftliches Gefühl ergriff ihn. Aber was sie vom Wind erzählt hatte, forderte seinen Widerspruch heraus.

«Der Wind hat auch seine guten Seiten», sagte er. «Er trägt die Schiffe über das Meer. Ich habe es gern, wenn der Wind weht. Nicht immer natürlich…» Er brach den Satz plötzlich ab.

Giannina saß neben ihm auf der Bank, der rötliche Flammenschein tönte zart ihr Gesicht und spiegelte sich in ihren Augen. Sie war schöner als alle anderen Mädchen, die Marco kannte. Heimweh hatte sie, und er erzählte ihr etwas vom Wind. Manchmal war es wirklich nicht einfach, das zu sagen, was man auf dem Herzen hatte.

In der Stille des Zimmers wich die Unruhe von Giannina.

Sie spürte, daß sie müde wurde, aber sie brachte nicht die Kraft auf, sich von der wohligen Wärme und den lockenden Flammen zu trennen.

«Du brauchst dich hier nicht fremd zu fühlen», sagte Marco und sah dabei starr geradeaus. «Wir werden eben öfter nach Murano fahren. Giovanni wird sich ja auch freuen. Du darfst nicht denken, daß ich ihn vergessen habe… Es ist nur so», setzte er wichtig hinzu, «daß ich jetzt an vieles denken muß… Aber Giovanni vergesse ich nicht, darauf kannst du dich verlassen.»

Marco spürte mit jedem Wort, wie sich das freundschaftliche Band zwischen ihm, Giannina und Giovanni wieder fester knüpfte.

Und er war sehr froh darüber.

Auch von Giannina war die Traurigkeit gewichen.

Als sie sich von Marco verabschiedet hatte, ging er zu der Truhe, die unter dem Fenster stand, und suchte die Kleider für den Freund heraus. «Wie ein Graf wirst du darin aussehen», murmelte er.

Schon am anderen Tage wollte er mit Paolo nach Murano fahren und sie bei Giovannis Vater abgeben. Wenn der Freund abends nach Hause kam, würde er die Kleider vorfinden. Er hätte dann keine Gelegenheit, das Freundesgeschenk zurückzuweisen.

Marco schlief tief und traumlos in dieser Nacht und ahnte nichts von den Aufregungen, die der kommende Tag bringen sollte.

Ein stiller Morgen brach an. Die Luft war nur leise bewegt. Nichts deutete mehr auf die stürmische Nacht hin. Die Lagune schlummerte im weichen Dämmerschein; bleifarben, bleischwer, schillernd umschloß das Wasser La Guidecca, La Gracia, San Clemente, San Spirito und die zahlreichen anderen Inseln. Die Fischer pflügten mit ihren breiten Booten das träge Wasser und befestigten sie an den bekannten Fischplätzen, um die Angeln auszulegen und die Netze auf den Grund zu senken.

Die Piazza, vor Stunden noch von fieberndem Leben und Fackelschein erfüllt, lag schweigend im Dämmerschleier. Die hallenden Schritte der ersten Händler verstärkten den Eindruck steinerner Schwermut. Dann glitten Sonne und Farbe über Wasser und Steine und hoben das anmutige, kraftvolle Bild gleichsam empor, so daß es wie eine Spiegelung über der Lagune zu schweben schien.

Der neue Tag!

Messer Pietro Bocco erwartete ihn sehnlichst, damit er ihm endlich Gewißheit bringe, ob das Unternehmen geglückt sei.

Tausend Dukaten Gewinn! Er rechnete schon mit ihnen, sie sollten zum Einkauf neuer Waren dienen. Es wurde Zeit, daß sich sein Handel erweiterte.

Böse Träume hatten ihn in der Nacht geplagt. Immer wieder war er aufgeschreckt und hatte mit offenen Augen in das Dunkel gestarrt. War es richtig gewesen, Marcos Diener mitzuschicken, oder hatte er sich in seiner Ungeduld zu einer falschen Handlung hinreißen lassen?

Zum Teufel mit den quälenden Gedanken! Was konnte ihm schon geschehen, wenn die Barke in die Hände der Schergen gefallen war? Er hatte doch gut vorgesorgt.

Aber die tausend Dukaten durfte er nicht verlieren.

Eilig kleidete er sich an, aß nur flüchtig sein Frühstück und begab sich in das Arbeitszimmer. Der Morgen verging ohne besondere Ereignisse. Pietro Bocco überprüfte die Aufstellung der Waren — Spiegelgläser, Tauwerk, Wachs, deutsche Tücher, Drachenblut — die demnächst nach Alexandria versandt werden sollten, und besprach mit seinem Secretario, was im Fondaco der Deutschen einzukaufen sei.

Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er auf jedes Geräusch im Nebenzimmer lauschte, in der stillen Hoffnung, daß endlich ein Bote käme. Er hatte mit Kapitän Matteo vereinbart, daß dieser ihn sofort vom Gelingen des Unternehmens benachrichtigen solle.

Schlecht gelaunt setzte er sich zum Mittagessen nieder und rührte die Speise kaum an. Die schwarzen Gedanken, die ihn in der Nacht bedrängt hatten, kehrten wieder. Er verzichtete auf den gewohnten Mittagsschlaf und begab sich sofort wieder in sein Arbeitszimmer. Den Secretario scheuchte er mit einer unwilligen Handbewegung hinaus. Vergeblich versuchte er, seine kalte Ruhe wiederzugewinnen. Seine Aufregung nahm ständig zu.

Finster brütend schlug er das Hauptbuch auf und starrte hinein. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen, der Staub und die stickige Luft reizten ihn zum Husten. Sein Gesicht färbte sich dunkelrot, und die Augen traten vor Anstrengung aus den Höhlen. Erschöpft wischte er sich den Schweiß von der Stirn, als sich der Hustenanfall endlich gelegt hatte.

Da hörte er im Nebenzimmer den Klang einer fremden Stimme. Gleich darauf klopfte es an die Tür. Der Diener trat ein und meldete, daß ein Bote Messer Pietro Bocco zu sprechen wünsche.

«Schick ihn herein!» sagte Pietro Bocco und richtete sich würdevoll auf.

Mit mürrischem Gesicht kam der krummbeinige Ernesto ins Zimmer. Man merkte ihm an, daß er nur wenige Stunden geschlafen hatte. Er drehte verlegen die Kopfbedeckung zwischen den Händen, streifte mit scheuem Blick die Einrichtung des Zimmers und suchte in seinem Gedächtnis nach den Worten, die ihm Kapitän Matteo aufgetragen hatte.

Pietro Bocco betrachtete ihn wohlwollend und sagte ermunternd: «Was bringst du? Sag es mir schnell!» Er legte eine Zechine auf die Handfläche und warf sie spielerisch in die Luft.

«Die Fracht ist am vereinbarten Ort abgeliefert worden, Herr», sagte der Krummbeinige.

Pietro Bocco nahm die Meldung äußerlich mit gelassener Freundlichkeit auf, als hätte er nichts anderes erwartet, im Innern aber jubelte er, so daß es ihm schwer wurde, die vielfältigen Gefühle, die sein Herz schneller schlagen ließen, zu verbergen. Ein aufmerksamerer Beobachter als der krummbeinige Ernesto hätte am gierigen Glanz der Augen die Erregung abgelesen. «Gut, mein Freund! Diese Nachricht ist eine Zechine wert.» Er warf dem Krummbeinigen das Geldstück zu. Dieser fing es auf und behielt es unschlüssig in der Hand. Er hatte noch eine zweite Meldung zu übermitteln, die, wie er annahm, für den Herrn recht unangenehm sein würde. «Es ist da… Kapitän Matteo läßt bestellen…», stammelte er. Pietro Bocco hob überrascht den Kopf.

«Was gibt es noch?» fragte er ungeduldig. «Mach schnell, ich hab wenig Zeit!»

Es lag Messer Pietro Bocco sehr daran, daß sich der Krummbeinige nicht allzu lange in seinem Haus aufhielt. Was wollte er nur noch? War doch irgend etwas schiefgegangen?

«Ein Mann ist verunglückt, über Bord gespült worden», stieß Ernesto hervor.

Pietro Bocco zog unwillig die Augenbrauen zusammen, weil er vermutete, daß die Schmuggler eine Extra-Belohnung herausschlagen wollten.

Gleichzeitig empfand er Erleichterung.

«Das ist eure Sache, sag das dem Kapitän! Ich kann doch für eure Besatzung nicht aufkommen!»

«Der Diener, Herr, den Ihr geschickt habt, ist über Bord…» Pietro Bocco brauchte einige Zeit, um sich den Sinn der Worte in seiner ganzen Tragweite klarzumachen. Da hatte er ja zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Tausend Dukaten und der lästige Diener verschwunden, dem er schon lange mißtraute; ob zu Recht oder Unrecht, danach fragte er nicht.

«So!» sagte er und versuchte seiner Stimme einen zornigen Klang zu geben. «Das ist ja ein schlechtes Geschäft für mich! Ist er tot?»

Der Krummbeinige zog die Schultern hoch. «Es war sehr stürmisch, als er über Bord gespült wurde. Wir haben ihn nicht mehr gesehen…»

«Geh jetzt!»

Kaum hatte der Krummbeinige die Tür hinter sich geschlossen, fiel der zur Schau getragene Unmut von Pietro Bocco ab. Er faßte das Stehpult mit beiden Händen, rüttelte es hin und her und sagte zu sich selbst: «Nicht kleinmütig sein, Pietro Bocco! Du hast jetzt Glück in deinen Unternehmungen. Gott ist dir gnädig gesinnt. Zum Handel gehören Mut und Kaltblütigkeit. Gott hilft dem Tüchtigen!»

Und wieder verlor er sich in seinen ehrgeizigen Träumen, die ihm einen Weg vorgaukelten, der in steilem Aufstieg zu Reichtum und Macht führte. Aber Pietro Bocco hatte keine Zeit, seinen Triumph bis zur Neige auszukosten. Unangemeldet und in höchster Erregung stürmte sein Neffe in das Zimmer.

«Verzeiht, Oheim», sagte er hastig, «was ist mit Paolo geschehen? Er ist noch immer nicht zurück. Seit dem Morgen warte ich auf ihn.»













Pietro Bocco ließ ärgerlich das Pult los, sagte sich aber sofort, daß er seine gehobene Stimmung, in die ihn die Nachricht des Krummbeinigen versetzt hatte, verbergen mußte.

«Du bist sehr aufgeregt», sagte er salbungsvoll, «deshalb will ich dir verzeihen, daß du unangemeldet kommst und mich in meinen Geschäften störst.»

Er senkte die Augen, trat auf seinen Neffen zu und legte die Hände auf dessen Schultern, wie er sie wenige Augenblicke zuvor auf das Stehpult gelegt hatte.

«Du siehst mich noch in tiefem Nachdenken über eine traurige Nachricht, die ich soeben empfangen habe…»

Marco sah das schmale Gesicht mit der feinen Stirn und den funkelnden Augen dicht vor sich und mußte sich plötzlich an Paolos Warnung erinnern: Nehmt Euch vor Messer Pietro Bocco in acht, Herr. Ich weiß nichts Genaues, aber… Seine Abneigung gegen den Oheim wurde mit einemmal so stark, daß er sich zwingen mußte, den Druck der Hände auf seinen Schultern zu ertragen.

«Dein treuer Paolo ist in Ausübung seines Dienstes vergangene Nacht ertrunken. Ertrage es mit Fassung, mein Sohn!»

«Nein!» schrie Marco, «nein, das ist nicht wahr!» und schüttelte die Hände ab.

Pietro Bocco wich zurück und verlor für Augenblicke seine Beherrschung. «Willst du mich Lügen strafen?» sagte er drohend.

Marcos Gesicht war wie weißer, seelenloser Marmor, eine entschlossene, kalte unbeherrschte Wut überfiel ihn.

«Ihr lügt doch!» rief er, und seine Finger ballten sich zitternd zu Fäusten. Es schien fast, als wolle er sich auf den Oheim stürzen.

«Eine Ohrfeige gehört dir!» zischte Pietro Bocco. Marcos jäher Zorn erlosch wie ein Feuer, auf das ein Klumpen feuchte Erde geworfen wird. Was wird Giannina sagen? dachte er. Und Giovanni? Er konnte sich sein Leben ohne Paolo, der ständig in treuer Fürsorge um ihn gewesen war, gar nicht vorstellen. Gestern abend noch hatte er sich vorgenommen, ihn in seine geheimen Pläne einzuweihen und um seine Unterstützung zu bitten.

«Warum habe ich ihn nur gehen lassen?» fragte er tonlos. Aus weiter Ferne hörte er die kalte Stimme des Oheims:

«Kann man wieder vernünftig mit dir reden? Denke bitte daran, daß es sich um einen Diener handelt… Ich will dein ungehöriges Benehmen vergessen!» Marco erwachte aus seiner Erstarrung.

«Du wirst die nächsten Angehörigen des Dieners benachrichtigen müssen», fuhr Pietro Bocco fort, «oder besser noch, ich werde es tun.»

«Er hat keine Angehörigen», erwiderte Marco. «Aber sagt mir, Oheim, wie es geschehen ist.»

Vielleicht ist das alles nur Lüge, überlegte er. Und ein winziges Hoff-nungspflänzchen rührte sich in seinem Herzen. Pietro Bocco konnte der Frage nicht ausweichen, ohne das Mißtrauen des Knaben wachzurufen.

«Er ist mit einer Barke, die ich für diese Nacht gemietet habe, nach San Nicolo gefahren. Es war stürmisch draußen, du weißt es selbst. Er ist wohl ungeschickt gewesen und über Bord gespült worden.»

«Kann ich mit einem sprechen, der Paolo zuletzt gesehen hat, Oheim?» fragte Marco.

«Nein!» erwiderte Pietro Bocco schneidend. «Du fragst wie ein Staatsinquisitor. Deine Fragen beleidigen mich… Der Tod deiner Mutter schien dich weniger schmerzlich zu berühren als das Unglück dieses Dieners… Geh jetzt nach Hause. Ich befehle es dir!» Marco drehte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer.


«Er ist mit einer Barke nach San Nicolo gefahren», sagte Marco. Vor ihm stand Giannina, noch verwirrt von der furchtbaren Nachricht. Paolo sollte ertrunken sein? Der kräftige Paolo, der schwimmen konnte wie ein Fisch? Paolo, der ruhige, gute Freund, in dessen Obhut sie gespielt, gesungen und geträumt hatten?

Das konnte nicht möglich sein. Nein, sie glaubte es nicht. Giannina klammerte sich an diesen Gedanken, und es gelang ihr, die Tränen zurückzuhalten.

Paolo ist nicht ertrunken, wiederholte sie sich immer wieder. Marcos Gedanken arbeiteten jetzt klar. Hatte sein Oheim nicht davon gesprochen, daß er die Nachricht von Paolos Tod soeben empfangen hätte? Demnach mußte doch der Bote kurz zuvor erst bei ihm gewesen sein? Die Fragen tauchten auf und verschwanden, um neuen Fragen und Zweifeln Platz zu machen. Sie beleuchteten wie zuckende Blitze einen dunklen Weg, der zu einem unbekannten Ziel führte.

Warum wollte der Oheim den Namen der Barke nicht nennen?

Nach San Nicolo sollte sie gefahren sein?

Fragen, Fragen, die gebieterisch eine Antwort forderten.

Der kurze, sichere Schiffsweg nach San Nicolo war doch selbst bei stürmischem Wetter nicht so gefährlich, ringsherum lagen Inseln, von einem Schwimmer wie Paolo auch bei Wellengang zu erreichen. Und dann war die Lagune von Booten und Barken belebt. Tag und Nacht!

«Ich glaube nicht, daß er ertrunken ist», unterbrach Giannina die Überlegungen. «Glaubst du es, Marco?» Ängstlich wartete sie auf seine Antwort.

«Als ich die Tür öffnete, verließ ein Mann das Haus», sagte Marco. «Ob das der Bote gewesen ist, der die Nachricht brachte? Wie sah er nur aus?» Er konnte sich bei allem Nachdenken nicht an das Gesicht und die Gestalt des Mannes erinnern.

«Mein Oheim hat mich aus seinem Haus gewiesen, als ich fragte, ob ich jemand sprechen könnte, der Paolo zuletzt gesehen hat… Ich war so unbeherrscht und zornig. Aber es hat keinen Zweck, zornig zu sein. Man macht dann vieles verkehrt… Was hat das nur alles zu bedeuten, Giannina?» Die quälende Ungewißheit machte ihnen das Herz schwer.

Wäre ich nie nach Venedig gekommen, dachte Giannina. Und Murano erschien ihr wie ein stiller Blumengarten, in dem die Vögel sangen und die Bienen summten. Aber dann erinnerte sie sich an das verzerrte Gesicht Messer Celsis, an seine schwarze Haarsträhne, an den erhobenen Arm und die Fußtritte. Wie froh war sie damals gewesen, daß Marco sie nach Venedig gebracht hatte. Es gab keinen stillen Blumengarten. In Murano nicht, in Venedig nicht. Nirgends! Nirgends! Das Leben war anders, und man mußte mit ihm fertig werden.

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