KAPITÄN MATTEO

DIE SCHWARZE BARKE LAG, VOR NEUGIERIGEN Augen geschützt, in der Ausbuchtung eines schmalen Wasserlaufes jenseits des Canal Grande. In dem Hause hinter einem Gärtchen wohnten zwei Familien: Kapitän Matteo mit seiner Frau Lucia und ein Terrazzoschläger mit drei großen Söhnen und einer fünfzehnjährigen Tochter. Das Haus gehörte wie viele andere der Republik. Die monatliche Miete war hoch; das Einkommen der Republik ar Mieten betrug jährlich fast eine Million Dukaten. Wer nicht rechtzeitig zahlte, wurde auf die Straße gesetzt. Kapitän Matteo hatte dem Terrazzoschläger mehr als einmal mit kleineren und größeren Summen ausgeholfei.

In dem ungepflegten Garten blühte zwischen wucherndem Unkraut eine hochstielige gelbe Blume. Unbekümmert um das herbstliche Sterben entfaltete sie ihre Blütenblätter mit jedem Tag schöner. Es war einer jener idyllischen Winkel, die den Eindruck eines stillen, weltabgelegenen Dörfchens inmitten des bewegten venezianischen Lebens erweckten. Das Haus, zu beiden Seiten von Wasser begrenzt, war nur mit dem Boot zu erreichen.

Kapitän Matteo lag auf dem Bett und wälzte sich stöhnend auf die andere Seite. Durch die Ritzen der Fensterläden schien die Sonne ins Zimmer. Er wollte versuchen, noch ein wenig zu schlafen. Seine Arbeit begann erst am Abend. Selten fuhr er tagsüber mit der Barke hinaus. Er überlegte sich, ob es nicht richtiger sei, den Anstrich der Barke wieder zu ändern. Der Vergleich Meister Benedettos, sie sähe einem Sarg mit Segeln ähnlich, hatte ihn sehr getroffen.

Seine Frau klapperte in der Küche mit dem Geschirr. Geräusche, die ihn sonst nicht störten, machten ihn jetzt unruhig und ärgerlich. Er ahnte, daß sein nächtliches Erlebnis die Ursache für seine Gereiztheit war, wollte es aber nicht zugeben. Es geschah in der letzten Zeit oft, daß er über sein vergangenes Leben nachdachte.

Wirst du alt, Kapitän Matteo? fragte er sich.

Er schloß die Augen und sank in einen Dämmerzustand. Und wieder tauchten die Bilder der Vergangenheit auf.

Als er achtzehn Jahre alt war, verließ er zum erstenmal seine Vaterstadt. Er war Matrose auf einem Kauffahrerschiff. Sie segelten um Sizilien und hielten Kurs auf die französische Küste. Der Schiffszwieback bekam ihm gut, und die schwere Arbeit erledigte er spielend. Schon damals wagte keiner, mit ihm anzubinden, und er selbst suchte keinen Streit. Sie lagen acht Tage im Hafen von Massilia und segelten von dort in die spanischen Gewässer. Ein furchtbarer Sturm, der heiß und gewaltig vom schwarzen Erdteil her wehte, warf das Schiff gegen die Felsen der Steilküste. Nur zwei kamen mit dem Leben davon: Matteo und der Steuermann. Der junge Matrose wanderte durch Spanien und wurde nach mancherlei abenteuerlichen Begebenheiten Soldat in der Leibgarde des spanischen Königs.

Eigentlich war vieles gegen seinen Willen geschehen oder, ehrlicher gesagt: Er hatte sich treiben lassen, jedes Abenteuer freudig begrüßt und nicht lange nachgedacht, obwohl sein Verstand besser arbeitete als der vieler Gefährten, die er unterwegs kennenlernte. Hinzu kamen seine körperlichen Kräfte, die ihm unbemerkt viele Hindernisse aus dem Wege räumten.

Sein Leben war nicht so gewesen, daß er Grund hatte, sehr zufrieden damit zu sein. Er hatte eigentlich nichts Besonderes geleistet. Die strenge Ordnung und der eintönige Dienst als Soldat des spanischen Königs gefielen ihm nicht. Er war jung und unruhig, und seine Heimatstadt hieß Venedig. Ihr Name war in aller Munde. In Venedig lebten seine Eltern. Der Vater war als Sohn eines Bauern in seiner Jugend von der Terra ferma in die Stadt gezogen und hatte nach mühevoller Arbeit und durch eine gute Heirat eine kleine Kunstschmiedewerkstatt erworben. Er schmiedete Gitter für Vorgärten und für öffentliche Zisternen. Und im Nachbarhaus wohnte die blonde Lucia, die noch ein Kind gewesen war, als Matteo in die weite Welt reiste. An alles das mußte Matteo denken, als er in der bunten Uniform steckte. Und so kam es, daß dem spanischen König eines Tages ein stattlicher Soldat fehlte.

Matteo kehrte nach Venedig zurück. Als der Vater starb, verkaufte er die Werkstatt und erwarb eine Warenbarke.

Lucia wurde seine Frau.

Wie lange lag das alles zurück, und wie hell lebte es noch in der Erinnerung! Hatte er wirklich nichts Besonderes geleistet? Im Seekrieg gegen Genua, als sich die Republik in höchster Gefahr befand, war er einer der tapfersten Matrosen gewesen, der die Soldaten auf den feindlichen Schiffen in Furcht und Schrecken versetzt hatte.

Die Gedanken eilten durch die Vergangenheit, erklommen steile Gipfel und verweilten in grauen Niederungen.

Wer war er denn heute? Einer, der sich Kapitän nennen ließ, der im Alter eitel geworden war? Fünfzig Jahre war er alt, noch immer stark und gewandt, über eine Schar von Schmugglern gebietend, geschützt durch die Gunst hoher Herren, die seine Dienste in Anspruch nahmen.

Der Kapitän Matteo!

Draußen schien die Sonne. Die schwarze Barke ruhte in der engen Bucht, und eine gelbe Blume blühte zwischen üppig wucherndem Unkraut.

Was hatte ihn gehindert, Kapitän auf einer stolzen venezianischen Fregatte zu werden? Verstand er nicht mehr von der Seefahrt als mancher, der sich Kapitän nannte?

Ja, wenn er der Sohn eines reichen Patriziers gewesen wäre! Doch es lohnte sich nicht, darüber nachzudenken. Zum Teufel damit!

Ein traumloser, fester Morgenschlaf vertrieb die Gedanken und Erinnerungen.

Als Lucia die Tür öffnete und seinen Namen rief, tönte ihr als Antwort ein lautes Schnarchen entgegen. Sie ging in die Küche zurück und zuckte bedauernd mit den Schultern.

«Ihr müßt euch noch etwas gedulden», sagte sie zu Marco, Giovanni und Giannina, die eben gekommen waren und erklärt hatten, daß sie unbedingt Kapitän Matteo sprechen müßten, es handele sich um eine wichtige Angelegenheit.

Zwischen den dreien hatte es heute morgen einen Streit gegeben, weil Marco und Giovanni die Freundin nicht mitnehmen wollten. Sie meinten, es sei zu gefährlich für ein Mädchen, sie solle lieber zu Hause bleiben. Giannina hatte ihnen tüchtig die Meinung gesagt und sich nicht abweisen lassen. Bald sollte sich zeigen, wie recht sie gehabt hatte.

Sie standen nun in der Küche herum und wußten nicht, was sie anfangen sollten. Was sie sahen, war eigentlich dazu angetan, das anfängliche Herzklopfen zu beruhigen. Sie hatten sich den Empfang anders vorgestellt. Lucia war eine große, schöne Frau mit mütterlichem Gesicht, die ganz alltägliche Dinge verrichtete und auch eine ganz alltägliche Neugierde über den merkwürdigen Besuch an den Tag legte.

Giannina faßte als erste Mut. «Könnt Ihr den Kapitän nicht wecken?» fragte sie bittend, «es ist wirklich sehr wichtig, Ihr könnt es glauben.»

«Was wollt ihr nur von ihm?» Lucia putzte den Kupferkessel mit Sand und Essig blank, daß man sich darin spiegeln konnte. «Wenn ihr mir das erzählen würdet, könnte ich ihn vielleicht wecken…»

Marco warf Giannina einen warnenden Blick zu. Sie wandte sich entrüstet weg. Glaubte er vielleicht, daß sie ein Sterbenswörtchen verraten würde? Es war doch ausgemacht, daß sie mit keinem anderen, nur mit Kapitän Matteo sprechen durften.

«Ihr tut so geheimnisvoll», sagte Lucia, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, «und dann verlangt ihr, daß ich meinen Mann wecke. Hört ihr denn nicht, wie er schnarcht? Am besten ist's, ihr kommt gegen Mittag noch einmal wieder.» Aber die drei erklärten, in der Küche warten zu wollen, wenn die Frau es gestatte.

«Meister Benedetto aus Murano schickt uns nämlich», kam es aus Gianninas Munde. Sie sah triumphierend auf die beiden Jungen: Seht, wenn ich nicht mitgekommen wäre! Ihr steht ja da wie die Stockfische.

«So, der Meister Benedetto schickt euch! Und gleich drei Boten auf einmal!» Lucia unterdrückte ein Lächeln. Sie stellte den Kessel auf den Tisch und wischte sich die Hände ab.

«Dann werde ich versuchen, ihn wachzukriegen», sagte sie, entwaffnet durch die Beharrlichkeit. «Setzt euch solange!»

Schweigend saßen sie nebeneinander auf der Bank. Was würden die nächsten Augenblicke bringen? Erst jetzt kam ihnen wieder zum Bewußtsein, warum sie gekommen waren. Bald würden sie erfahren, was mit Paolo geschehen war.

Sie hörten, wie im Nebenzimmer eine dröhnende Baßstimme erstaunt fragte: «Drei Kinder? Deshalb weckst du mich?» Die Antwort der Frau war nicht zu verstehen.

«Wenn er nun nicht mit uns sprechen will?» flüsterte Giannina. Die Jungen sahen mit verschlossenen Gesichtern vor sich hin.

«Er muß!» preßte Marco zwischen den Zähnen hervor. «Sonst soll er mich kennenlernen!»

Nach einer Weile kam Lucia zurück. «Es war gar nicht einfach, ihn wachzukriegen. Wenn er schläft, dann schläft er. Aber nun habt ihr euren Willen. Geduldet euch noch einen Augenblick, er wird euch gleich rufen.»

Sie nahm wieder den Kupferkessel in die Hand, wischte mit einem Lappen den Putzsand ab und hielt ihn gegen das Licht.

«Ich bin gespannt, was ihr auf dem Herzen habt», sagte sie mit einem letzten Versuch, aus den Kindern etwas herauszulocken, «es muß ja wirklich eine wichtige Sache sein.» Sie sah sie erwartungsvoll an.

Die drei schwiegen. Jeder versuchte auf seine Weise, die zaghafte Hoffnung durch zuversichtliche Gedanken zu stärken. Aber es gelang ihnen nicht. Mit gespannten Sinnen lauschten sie auf die Geräusche im Nebenzimmer.

Auf dem Kaminsims stand ein Stundenglas. Unendlich langsam tropfte das Wasser in den unteren Glasbehälter. Giannina konnte den Blick nicht abwenden. Sie verfolgte, wie der Tropfen sich bildete, sich wie eine winzige Seifenblase ausweitete und schließlich von dem Glaszapfen löste.

Ewigkeiten schienen zu verrinnen.

Sie schrak zusammen, als sie plötzlich eine dröhnende Stimme hörte: «Kommt rein!»

Hastig gingen die drei in das Nebenzimmer. Sie mußten sich an das dämmerige Licht gewöhnen. Vor dem kleinen Fenster, das zum Garten hinausführte, stand ein Pfirsichbaum, der trotz der vorgerückten Jahreszeit sein Laub noch trug. Dahinter war die Bordwand der schwarzen Barke zu sehen.

Kapitän Matteo stand in der Mitte des Zimmers. Giannina erschrak über die mächtige Gestalt mit dem verquollenen Gesicht. Er sah auch wirklich furchteinflößend aus. Das rechte Auge lugte durch einen schmalen Spalt hervor, boshaft blinzelnd, wie es den dreien schien.

Stirn, Augenbraue und Schläfe waren so bunt gefärbt wie die weinselige Knollennase. Die Jungen bemühten sich, die Furcht, die sie mit Krallenfingern packte, abzuschütteln.

Der erste Schreck legte sich, als Kapitän Matteo zu sprechen begann. Durch seine Worte schimmerte die ihm eigene Gutmütigkeit.

«Tretet nur näher!» forderte er sie auf. «Da ist ja ein hübsches Mädchen mitgekommen. Wie heißt du denn, mein Töchterchen?» «Giannina!» sagte sie und atmete befreit auf.

«Und ihr beiden Helden?» wandte sich Kapitän Matteo an die Jungen. Diese, überrumpelt durch die schnelle Frage, antworteten folgsam: «Marco.»

«Giovanni.»

«Giannina, Marco, Giovanni», wiederholte er, «nun kenne ich euch wenigstens. Aber jetzt sagt mir, warum ihr mich aus dem Bett herausgeholt habt?»

Er sah nachdenkend auf Giovanni und erinnerte sich, daß er das feine Gesicht des Jungen bei Meister Benedetto gesehen hatte. «Wir kennen uns doch», sagte er gemütlich. Der Besuch der drei bereitete ihm sichtlich Freude. Er konnte ja nicht ahnen, was für peinliche Fragen sie ihm bald stellen würden, sondern glaubte, daß sie irgendeine Botschaft von Murano brächten. Vielleicht hatte Meister Benedetto das Fäßchen Wein so gut gemundet, daß er ein neues wünschte. Ein behagliches Schmunzeln breitete sich auf seinen beweglichen Zügen aus.

Marco räusperte sich energisch. «Ihr seid der Kapitän Matteo?» fragte er.

Matteos Zyklopenauge vergrößerte sich; Spott funkelte darin. «Hoho», erwiderte er, «du fragst wie Seine Durchlaucht vom höchsten Gericht, mein Sohn.» Er verbeugte sich leicht. «Ich bin der Kapitän Matteo. Was steht zu Diensten?»

Giannina mußte trotz der ernsten Situation lächeln, wurde aber gleich wieder ernst.

«Und die schwarze Barke gehört Euch?» fragte Marco unberührt weiter.

Kapitän Matteos Blick wurde nachdenklich. Er trat an Marco heran und legte die Hand auf seine Schulter. Eine breite, kräftige Hand, die die Partie vom Hals bis zum Oberarmansatz umschloß.

«Nun sag schon, was du willst, mein Junge. So redet man nicht mit Kapitän Matteo, selbst wenn man feine Kleider trägt.»

Marco wollte aufbrausen. Die breite Hand drückte ein ganz klein wenig; und das kluge, ruhige Auge sah ihn väterlich-verständnisvoll an. Nicht aufregen, mein Junge, schien es sagen zu wollen. Marco blieb ruhig.

Alles macht er verkehrt, dachte Giannina. Und Giovanni steht da und sagt kein Wort.

«Kapitän Matteo», sagte sie, «wir sind doch so in Sorge… und Meister Benedetto meinte auch…» Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Schluchzend sprach sie: «Sagt uns doch, wo Paolo geblieben ist!»

Giannina konnte nicht weitersprechen, sie hatte nicht einmal die Kraft, das tränenüberströmte Gesicht mit den Händen zu verdecken. Der ganze Schmerz der vergangenen Tage floß mit den Tränenperlen über ihre Wangen.

Kapitän Matteo trat ans Fenster. Seine Gestalt verdeckte es.

Dämmerlicht erfüllte das Zimmer. Unmerklich bewegten sich draußen die Zweige des Pfirsichbaumes. Der Sohn des Terrazzoschlägers pflückte die gelbe Blume ab und pfiff dabei ein Lied.

Giannina schluchzte lauter und verbarg das Gesicht. Die Haare fielen auf ihre Hände, die weiß durch das glänzende Schwarz leuchteten.

Das ist es also, dachte der Mann am Fenster. Sie wollen wissen, was aus Paolo geworden ist. Ja, wenn ich das wüßte! Warum ist er ins Wasser gesprungen? Er trommelte mit den Knöcheln gegen die Scheibe.

«Weine nicht», sagte Giovanni und legte den Arm um die Schultern des Mädchens.

Marcos Herz verschloß sich vor den vielen Gefühlen, die ihn bewegten.

Plötzlich wurde die Tür geöffnet, und Lucia trat in das Zimmer. «Ich hörte doch, daß jemand weint! Was hast du angerichtet, Matteo», sagte sie entrüstet und beugte sich über das Mädchen. «Warum weinst du denn?» Mütterlich besorgt sah sie Giannina an.

Kapitän Matteo drehte sich um. «Laß sie nur, Lucia», sagte er, «keiner hat ihr etwas getan. Sie hat wohl einen großen Schmerz erlebt, da ist es besser, wenn sie weint… Geh nur wieder in die Küche. Wir haben hier noch etwas zu bereden.»

Lucia sah ihn fragend an.

«Geh nur», wiederholte er. «Ich erzähle dir nachher, was geschehen ist.»

Kopfschüttelnd ging Lucia hinaus.

Giannina wischte sich die Tränen ab. «Ich weine nicht mehr», sagte sie, «bestimmt werde ich nicht mehr weinen.» Sie spürte am ganzen Körper einen feinen, ziehenden Schmerz, und in ihrem Kopf pulste aufgeregt das Blut durch die Adern. Jetzt hatte sie die Gewißheit gewonnen, daß sie eine böse Nachricht erhalten würden.

Auch in Giovannis Augen, die auf Kapitän Matteo gerichtet waren, dunkelte bange Furcht.

«Ich werde euch erzählen, wie alles geschehen ist», sagte Kapitän Matteo. «Vorher müßt ihr mir versprechen, mit keinem darüber zu reden, außer mit Meister Benedetto.»

Er sah sie der Reihe nach ernst und prüfend an.

Sie nickten schweigend. Eine tiefe summende Stille erfüllte den Raum. «Wer war denn eigentlich dieser Paolo?» fragte der Kapitän, bevor er die Geschichte erzählte. «Wie kam er zu Pietro Bocco? Er hat mir gut gefallen, euer Paolo, das könnt ihr mir glauben.»

«Ich habe ihn zu Pietro Bocco geschickt», erwiderte Marco leise. «Pietro Bocco ist mein Oheim, und Paolo dient in unserem Hause.» Eine Schuld wuchs wie ein Berg vor ihm auf.

Kapitän Matteo sah die Qual in Marcos Gesicht. Sein Groll, den er anfangs gegen ihn gehegt hatte, war verschwunden. «Du konntest ja nicht wissen, was geschehen würde», sagte er, «brauchst dir keine Vorwürfe zu machen.» «Paolo war unser Freund», sagte Giovanni.

«Er wäre auch mein Freund geworden.» Kapitän Matteo sah über die Köpfe der Kinder hinweg. «Oder glaubt ihr das etwa nicht?» fragte er. «Hier!» Er deutete auf sein Gesicht. «Das sind die Spuren seiner Fäuste. Trotzdem sage ich: Er wäre auch mein Freund geworden!» Fast bittend sah er in die Gesichter der drei. Er wünschte, daß sie seinen Worten Glauben schenkten.

«Aber so sagt uns doch, was geschehen ist!» rief Giannina verzweifelt. «Ihr sprecht von Paolo, als käme er nie mehr zurück. Lebt er denn noch, Kapitän Matteo? Ich weine doch nicht. Nein, ich weine nicht!»

Lautlos rannen die Tränen über ihre Wangen.

Kapitän Matteo setzte sich schwer auf die Bank und begann die Geschichte der stürmischen Nacht auf der Lagune zu erzählen, zögernd zuerst die Worte setzend, dann in Feuer geratend und die Rede mit Handbewegungen unterstreichend. Er verschwieg lediglich, daß er verbotenes Gut für Pietro Bocco befördert hatte. Da er aber die Wettfahrt mit der Schergenbarke geschildert hatte, konnte man sich die Zusammenhänge denken. Eine Frage, die Marco stellte, wehrte er mit einer müden Handbewegung ab. Er saß wie ein Angeklagter auf seiner Bank, die breiten Schultern vorgeneigt und den Kopf in die Hände gestützt.

In Marco regte sich wieder der Haß gegen seinen Oheim, der die Schuld an allem trug. Kapitän Matteo richtete sich auf. «Nun wißt ihr, wie es gewesen ist.» Er überflog mit einem schnellen Blick die Gesichter. Giovanni stand unbeweglich auf seinem Platz und ließ die Arme hängen. Es war ihm zumute wie damals, als die beiden Männer die Nachricht vom Unfall des Vaters gebracht hatten.

«Laß den Mut nicht sinken», sagte Kapitän Matteo zu ihm. Er beugte sich vor und sah ihn eindringlich an. «Du, mit deinen hellen Augen!»

Giovanni erwiderte nichts. Was sollte er auch antworten? Paolo war verschwunden, und keiner wußte, ob er noch lebte. Keiner wußte es. «Meint Ihr, daß er an Land gekommen ist?» fragte Marco.

Kapitän Matteo nickte. «Ich werde ihn suchen lassen, überall. Seid nicht mehr traurig. Eines Tages wird euer Paolo wieder auftauchen. Ihr könnt immer zu mir kommen, wenn ihr Lust habt.»

So endete der Besuch bei Kapitän Matteo. Giovanni, der allein nach Murano zurückfuhr, klammerte sich an diese Worte: Eines Tages wird euer Paolo wieder auftauchen. Sie gaben ihm die Kraft, den eigentümlichen Zustand der Gleichgültigkeit und Gedankenträgheit zu überwinden.

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