HÖLZERNE PERLEN

AN EINEM ABEND, ALS DIE LAGUNE IM WESTEN wie ein Feuermeer erglühte, stand Giovanni nach langer Zeit wieder auf den Steinstufen der alten Villa und lauschte dem Herzschlag des Wassers. Ein Fischerboot ruhte auf den Wellen, die kräftigen Farben des Himmels wurden blasser, bis sie jegliche Tönung verloren und im einförmigen Grau der Dämmerung verschwanden. Matt schimmerte die Mondsichel, vereinzelt blitzten Sterne auf.

Die weißen Marmorsäulen strebten wie schlanke versteinerte Baumstämme empor. Die Luft war von einem fernen Brausen erfüllt, als tobe über der Adria ein Meeressturm, der Schiffe wie Kinderspielzeug auf die Schaumkämme haushoher Wogen hob und im nächsten Moment in einen brüllenden Abgrund stürzte.

Die Lagune aber schwang in sanfter, weiter Bewegung aus, kleine Wellen umspülten Giovannis Füße, und das Wasser übte, wie immer im geheimnisvollen Dämmerlicht, seine magische Kraft aus.

Seitdem der Vater beim Bau des Palastes am Canal Grande verunglückt war, hatte Giovanni nicht mehr gesungen, er war noch nicht einmal der Aufforderung des Priesters gefolgt, im Knabenchor der San-Marco-Kirche zum Fest des heiligen Theodoras mitzusingen. Die Musik, die tief in seiner Seele schlummerte und in glücklichen Tagen durch eine besonders schöne Färbung des Wassers, durch Gianninas dunkle, fragende Augen oder durch einen blühenden Baum geweckt worden war, schien für immer verstummt zu sein.

Die Natur war wie eine schweigende Glocke.

Nacht und Tag ohne Musik. Wasser, Boote, Schiffe, die mit geblähten Segeln, stolz wie riesige Pfaue, davonschwammen — ohne Musik.

Ein Stein hatte Ernestos rechtes Bein zertrümmert; ein Stein, der längst wieder in den Bau des Palastes des Grafen Este eingefügt worden war. Von dem glatten carrarischen Marmor war kein Eckchen abgesplittert, Ernestos Heisch und Knochen hatten verhindert, daß der kostbare Marmor beschädigt wurde.

Die Maurer, Steinbauer und Zimmerer hatten zuerst hilflos vor dem am Boden liegenden, leise stöhnenden Ernesto gestanden. Sie liebten ihn alle, und er hieß «der gute Ernesto», weil es kaum einen hilfsbereiteren Menschen gab als ihn. Keiner konnte sich erinnern, jemals Streit mit ihm gehabt zu haben. Mittelgroß, breit in den Schultern, und mit Armen, die für drei schafften, wenn es darauf ankam, hatte er mit seinen ruhigen, abgemessenen Bewegungen die schwersten Arbeiten verrichtet.

Das morsche Tau am Hebebaum war gerissen und der Stein aus fünf Meter Höhe herabgesaust. Die warnenden Rufe ließen Ernesto im letzten Augenblick zur Seite springen, sonst wäre er erschlagen worden. Er stürzte, und der Stein zerschmetterte ihm das rechte Bein.

Solche Unfälle geschahen öfter. Aber daß es gerade dem bedachtsamen Ernesto passieren mußte!

Agniello faßte sich zuerst, er packte den zunächst Stehenden am Arm und zog ihn mit sich fort, um eine Krankentrage zu holen. Die anderen bildeten einen Kreis um den Verunglückten, zwei beugten sich nieder und bemühten sich um ihn.

Der gute Ernesto wurde in das Hospital des heiligen Petrus und Paulus gebracht, das zur Beherbergung der Pilgrime diente, die nach Palästina wallfahrten, und in seltenen Fällen auch Kranke und Verwundete aufnahm.

Giovanni erinnerte sich an den Nachmittag, als zwei Maurer in ihrer Arbeitskleidung mit gezogenen Kappen in das kleine Haus Ernestos getreten waren und die Nachricht von dem Unglück, das den Vater getroffen hatte, überbrachten. Fast verlegen standen die zwei Männer vor dem Knaben; Giovanni kannte sie, es waren ja Freunde des Vaters, gute Freunde, die Ernesto manchmal zu einem Schoppen im Weinhaus abgeholt und mit dem Jungen freundlich gescherzt hatten.

Ihre Gesichter wirkten so fremd, und auch ihre Stimmen klangen, als gehörten sie nicht ihnen.

Was hatten sie gesagt? 'Ernesto verunglückt — dein Vater — das Bein zerschlagen…?' Das konnte doch nicht wahr sein. Aber warum war der Vater nicht mit ihnen gekommen? Was wollten sie von ihm? Es war plötzlich leer in seinem Gehirn, als hätten die wenigen Worte alle Gedanken entfernt.

«Vater ist verunglückt?» fragte er nach einer Weile ungläubig und erwartete, daß sie ihn mit ihren rissigen Kalkhänden am Kragen nehmen und freundschaftlich schütteln würden: «Da ist er doch, dein Vater. Komm herein, Ernesto, sieh dir einmal an, was für Angst wir deinem Jungen eingejagt haben.»

Aber die Männer blieben schweigend stehen und blickten scheu zur Seite, als sich das tiefe Erschrecken und der zuckende Schmerz in das junge, ernste Gesicht eingruben.

Giovanni weinte nicht. Der Vater lebte ja. Vielleicht war alles gar nicht so schlimm? Ohne Zögern lief er zum Hospital. Er konnte später nicht sagen, welchen Weg er genommen hatte. Nur so viel wußte er, daß er bei der Kathedrale San Donato stolperte und in den Straßenschlamm fiel, sich aber sofort wieder aufraffte und über und über beschmutzt schließlich vor der großen Pforte des Hospitals anlangte. Ein Bruder, gekleidet in eine schwarze Kutte, mit einem runden, weißen Gesicht unter der Kapuze, empfing ihn und führte ihn in einen Warteraum, der einem düsteren Gewölbe glich und nur ein einziges kleines Fenster nach der Wasserseite hatte. Die Mauern des Hospitals waren fast fünf Fuß stark.

Giovanni war es, als müsse er stundenlang warten. Endlich kam der Bruder zurück, setzte sich umständlich auf einen Schemel und erklärte Giovanni, daß er den Vater nicht sehen könne. Der Arzt sei gerade bei ihm, wahrscheinlich müsse er dem Verunglückten das Bein abnehmen. Giovanni solle sich in Geduld fassen und zu Gott beten, daß alles gut abgehe.

Die Pforte bewegte sich knarrend in den Angeln, öffnete sich, schloß sich wieder. Giovanni stand auf der Straße.

Hinter dem großen schwarzen Tor lag der Vater. Der Arzt war gerade bei ihm.

Giovanni ging wie im Traum zurück und zog zum zweitenmal an dem Glockengriff. Wieder bewegte sich die Pforte knarrend in den Angeln. Das Geräusch schmerzte.

«Was willst du schon wieder?» fragte der Bruder mit dem runden, weißen Gesicht, ein wenig unwillig, wie es schien. «Du kannst doch jetzt nicht zu ihm…»

Giovanni sah ihn mit seinen hellen Augen an; die Stirn des Bruders glättete sich.

«Sagt Ihr dem Vater, daß ich hiergewesen bin?» fragte Giovanni ernst. Und als er das Nicken sah, fügte er eifrig hinzu: «Sagt ihm auch, daß ich alles in Ordnung halte, das Haus und den Garten. Er braucht sich keine Sorgen zu machen…» «Ich werde es ihm sagen. Aber nun geh nach Hause!» Elena und Pietro, Gianninas Eltern aus dem Nachbarhaus, erwarteten ihn schon.

«Gut, daß du da bist! Wie geht es ihm? Ach, mein armer Junge», sagte die Frau mit Tränen in den Augen. «Hier, iß erst einmal! Morgen gehe ich zu Giannina und erzähle ihr, was geschehen ist. Aber sprich doch, wie geht es ihm denn? Der arme Ernesto!»

«Sei doch ruhig, Frau», sagte Pietro leise, «siehst du nicht, daß er noch ganz verstört ist?»

«Der Arzt ist gerade bei ihm», sagte Giovanni mit abwesendem Blick, «er wird ihm wahrscheinlich das Bein abnehmen müssen.»

«Hier auf dem Tisch liegt Geld, Giovanni», sagte Pietro und schob seine Frau, die in lautes Wehklagen ausgebrochen war, hinter sich. «Die Maurer, Zimmerleute und Steinträger haben es gebracht. Versuche jetzt zu schlafen, oder komm zu uns herüber…»

Giovanni durfte den Vater nach fünf Tagen zum erstenmal besuchen. Er verbarg seine Erschütterung, als er das eingefallene, graue Gesicht auf dem weißen Laken sah, und sagte ganz fröhlich: «Jetzt ist ja alles gut, Papa. Ihr werdet staunen, wie schön der Garten geworden ist, wenn Ihr nach Hause kommt. Gestern war Agniello da, vorgestern Giorgio, jeden Abend kommt ein anderer und fragt, wie es Euch gehe und ob er; mir helfen solle.»

«Das Bein ist hin, Giovanni», erwiderte Ernesto mit trauriger Stimme. «Niemals werde ich wieder auf dem Bau arbeiten können…»

«Das macht nichts, Papa», unterbrach ihn Giovanni, «ich bin doch bald vierzehn Jahre alt…» Er beugte sich zum Gesicht seines Vaters und sagte fast feierlich: «Seit gestern bin ich beim Meister Benedetto in der Lehre. Ich werde Bootsbauer, Papa, ein berühmter Bootsbauer, wie der Meister Benedetto. Er hat mir schon viele Kniffe beigebracht.»

«So, hat er dir schon viele Kniffe beigebracht», der Vater schmunzelte. Und Giovanni war so froh, als er das Lächeln auf dem grauen Gesicht sah. «Sie sind alle so freundlich zu mir, Papa…»

«Daß dich Meister Benedetto aufgenommen hat…», sagte Ernesto verwundert. «Da bist du wahrhaftig in guten Händen. Lerne nur tüchtig; Benedetto ist einer der besten Bootsbauer in Venedig.»

Die Krankenluft in dem Saal mit den sechzehn Betten roch dumpf. Lautlos huschte ein Mönch von Bett zu Bett, hier und da wurde ein Stöhnen hörbar. Selbst am hellen Tage, wenn draußen die Sonne schien, herrschte in dem Raum mit der gewölbten Decke die Dämmerung. Jedesmal, wenn Giovanni den Vater besuchte, verspürte er das gleiche beklemmende Gefühl.

«Singst du noch, Giovanni?» fragte Ernesto eines Tages. Sein Gesicht war wieder voller geworden, und er konnte schon über die Schmerzen, die er im rechten großen Zeh zu spüren vermeinte, einen Scherz machen.

«Ich singe nicht mehr, Papa.» Als Giovanni bemerkte, daß der Vater mit dieser Antwort nicht zufrieden war, setzte er stolz hinzu: «Ich baue jetzt Boote und Schiffe. Das ist eine große Kunst.»

«Wirst auch wieder singen, Giovanni…»

An diese Worte dachte Giovanni jetzt. Mehr und mehr senkte sich die Dunkelheit hernieder. Das Brausen des fernen Windes klang wie Muschelton, und die Lagune verharrte in schweigender Unbewegtheit. Viele Sterne hatten am Himmel ihr Licht entzündet, und die Mondsichel schien mit schimmernden Diamanten eingefaßt.

Ich habe einen Höcker, und mein Vater hat ein Holzbein. Eine schöne Familie! Die häßlichen Gedanken nisteten sich wie Wühlmäuse in seinem Gehirn ein.

«Was ist Venedig ohne unsere Kunst, Boote und Schiffe zu bauen?» hörte Giovanni die Stimme Meister Benedettos, mit dem immer zu Spott geneigten Unterton. «Ein armseliges, nach Fisch und Maultiermist stinkendes Labyrinth von Holz- und Steinhäusern! Wir machen Venedig zur Königin mit den Schiffen und Barken, die wir bauen, unsere Köpfe erfinden den schönsten Schmuck… Hölzerne Perlen sind die Schiffe, merke dir das, mein Junge, sonst wirst du nie ein vernünftiger Bootsbauer werden, hölzerne Perlen…»

Giovanni glaubte das Lachen Meister Benedettos über diesen seltsamen Vergleich zu vernehmen.

Auf San Michele flammte ein Feuer.

Ein Musikant hatte sich an eine einsame Stelle gesetzt und spielte auf dem Fagotto ein Lied. Weit klangen die klagenden Töne über Land und Wasser.

Es war die siebente Abendstunde. Giovanni wurde unruhig. Er spähte angestrengt in die Dunkelheit und lauschte auf jedes Geräusch. Ein Boot näherte sich, aber es kam nicht von Venedig, sondern aus der entgegengesetzten Richtung. Ein Fischer ruderte dicht an Giovanni vorbei, ohne ihn zu bemerken. Tropfen fielen vom Ruderblatt zurück, es hörte sich an, als würden Steinchen ins Wasser geworfen.

Auf dem Friedhof von San Michele, dort, wo das Feuer brannte, ruhte Marco Polos Mutter.

Giovannis Vater saß auf der Bank vor seinem kleinen Haus, die Krücken neben sich, und sann darüber nach, daß es bald Zeit sei, irgendeine Arbeit anzunehmen. Er konnte nicht länger untätig zu Hause sitzen und von den Almosen der Freunde leben.

Vieles hatte sich in den vergangenen Wochen geändert. Aber eines war geblieben, war in den schweren Stunden sogar noch stärker geworden: die Freundschaft Giovannis zu Marco und Giannina. Sie sahen sich seltener als früher, doch wenn sie zusammenkamen, spürten sie ohne viele Worte, wie die Freundschaft gewachsen war.

Die beiden Jungen empfanden aber auch, daß das Leben begann, ihre Wege auseinanderzuführen.

Marco liebte das Meer und die Schiffe; alles zog ihn in die Ferne, und der kindliche Wunsch, in fremden Ländern nach verborgenen Schätzen zu suchen, war nichts anderes als ein Widerschein des Strebens venezianischer Kaufleute nach einem gewinnbringenden Handel und all den Abenteuern, die damit verbunden waren.

Giovanni aber wandte seine Sehnsucht immer mehr der Kunst des Meisters Benedetto zu. Er suchte das Glück nicht in der Ferne, sondern verfolgte mit der ihm eigenen Beharrlichkeit das Ziel, auf Murano ein angesehener Bootsbauer zu werden, um hier, auf der von Wasser und spiegelnden Lichtreflexen umgebenen Laguneninsel, mit dem Blick auf das farbenprächtige, lebensprühende Venedig, ein geruhsames Leben mit seinem Vater und Giannina führen zu können. Giannina gehörte zu ihm; solange er zurückdenken konnte, hatte er mit ihr alle Freuden und alle Ängste geteilt. Seitdem sie in Venedig war, glaubte er manchmal etwas Fremdes in ihren Augen zu finden, das ihn beunruhigte.

Heute abend wollten Marco und Giannina nach Murano kommen. Deshalb stand Giovanni seit geraumer Zeit auf dem vereinbarten Treffpunkt und wartete.

Und in der Ungeduld des Wartens brachen wie ungebärdige Fohlen die Gedanken hervor, die schon längere Zeit im Hintergrund gelauert hatten: Vielleicht kommen sie gar nicht? Ich stehe hier und warte, wer sagt mir denn, daß sich Giannina so sehr auf den Besuch Muranos freut? In Venedig ist Karneval. Die Piazzetta und der Marcusplatz, die Kanäle und Brücken wimmeln von bunten Masken.

Müde wehrte Giovanni die finsteren, mißtrauischen Gedanken ab.

Es war eine Herbstnacht mit tausend Sternen, ein Nachklang des vergangenen Sommers, der heiß und von grellem Licht erfüllt gewesen war.

Kam nicht ein leises Mädchenlachen von San Michele herüber und mischte sich mit den Tönen des Fagotto und der fernen Musik des Meerwindes? «Giovanni! Giovanni!» rief eine Mädchenstimme.

Da begann die unsichtbare Glocke wieder voll und rein zu klingen.

Er legte die Hände an den Mund und rief mit einer Stimme, die wie tönendes Erz über das Wasser klang:

«Giannina!» Und noch einmal, jede Silbe betonend: «Gian — ni — na!» Dann kräftig und schmetternd wie Fanfaren: «Marco! Marco!» «Wirst auch wieder singen», hatte der Vater gesagt.

Das Boot tauchte wie ein großer plumper Fisch im Dunkel auf und steuerte auf Giovanni zu.

«Hast du das Feuer auf San Michele gesehen, Giovanni?» fragte Marco, noch ehe er ausgestiegen war. «Giannina hat es angezündet, du solltest daran erkennen, daß wir bald kommen. Auf die verrücktesten Ideen kommt sie manchmal, deine Seeräuberbraut.»

Er lachte laut und herzlich. Wenn er den Fuß auf Murano setzte, war er unbeschwert wie ein Vogel, der am blauen Himmel schwebt.

«Da sind wir endlich einmal wieder zusammen», sagte Giannina in leichter Verlegenheit. «Wie geht es dem Vater?»

«Ach, er schmiedet Pläne. Sitzt vor dem Haus und glaubt, daß er schon wieder Bäume ausreißen könnte.»

Paolo befestigte das Boot an einem Pfahl, der im Wasser stand. Es war ausgemacht worden, daß Marco, Giannina und Paolo die Nacht auf Murano verbringen sollten, um am nächsten Morgen erst nach Venedig zurückzukehren.

«Messer Pietro Bocco wird böse sein, wenn er davon erfährt», hatte Paolo gewarnt. «Er könnte es als Anlaß benutzen, mich aus Euren Diensten zu entfernen.»

Marco hatte ihn beruhigt. «Nie werde ich das zulassen, Paolo. Mach dir keine Sorgen. Du kannst bei mir bleiben, solange du willst. Und wenn ich einmal auf Reisen gehe, nehme ich dich mit.»

Paolo war in die Gemeinschaft der drei aufgenommen worden, so daß sie ohne Scheu vor ihm sprachen. Er gehörte zu ihnen wie ein großer Bruder, der seine schützende Hand über sie hält. «Schön ist der Abend», sagte Marco. «Immer ist es schön auf Murano.»

Sie setzten sich auf die Steine nieder und blickten über das Wasser. Nicht weit von ihnen zog eine größere Barke, von kräftigen Ruderschlägen bewegt, vorüber. Die Töne des Fagotto waren verklungen.

«Da hast du also das Feuer angezündet», sagte Giovanni. «Ich dachte mir beinahe, daß es ein Zeichen von euch sei.»

«Siehst du, Marco», rief Giannina und klatschte vor Vergnügen in die Hände. — «Was für ein Unsinn, ein Feuer anzuzünden», ahmte sie Marcos Stimme nach, «wie kann Giovanni ahnen, daß es für ihn bestimmt ist. -Du brauchst jetzt nicht zu lachen», sagte sie mit gespielter Empörung, «ärgerst dich nur, weil ich recht hatte!»

Marco aber war in Wirklichkeit gar nicht zum Lachen aufgelegt. Die unbefangene Freude Gianninas, die sich in ihren Bewegungen, ihrem Mienenspiel und ihren schnellen Worten ausdrückte, rief eine Traurigkeit in Marco hervor, die ihm sonst fremd war. Sie legte sich wie ein Schleier über seine Gefühle und dämpfte sie zu einem angenehmen Mitleid mit sich selbst.

«Ich lache eben», sagte er fast böse. Und er lachte noch einmal. Es war ein Lachen, das die Stimmung der Herbstnacht störte. Gleich darauf ärgerte er sich selbst darüber.

Doch Giannina verscheuchte die Verstimmung; plötzlich fand sie begeisterte Worte für den Mond am dunklen, sternenbesäten Himmel, dann glaubte sie ein Glühwürmchen zu entdecken, sprang auf, jagte ihm nach und kam mit der aufgeregten Mitteilung zurück, daß sie sich beinahe an einem Glassplitter verletzt hätte.

«Glas», sagte sie, «überall liegt Glas herum auf Murano. Wenn es wenigstens ein Diamant gewesen wäre!»

Paolo saß mit leisem Schmunzeln abseits und spielte mit einer Rute, die er von einem Weidenbaum abgeschnitten hatte.

Die schweigende Nacht, das leise Gespräch und die tanzenden Lichter auf der Lagune verliehen den Wünschen die Flügel der Phantasie.

Uber Giovannis Züge flog ein froher Schein, der die feinen und doch kräftigen Linien seines ernster gewordenen Gesichts hervorhob. Meister Benedettos Worte kamen ihm in den Sinn: «Die Arbeit bekommt dir. Bist breit in den Schultern wie Ernesto, dein Vater, und hast seinen ruhigen Sinn…»

«Die Arbeit bekommt mir gut», sagte er und reckte sich stolz.

«Hast ordentlich Arbeitshände bekommen», meinte Giannina und strich neugierig mit dem Finger über seinen Handteller.

«Ich muß jetzt oft an Zsusinka denken», sagte Marco. «Wie mag es ihr wohl ergangen sein? Manchmal hätte ich Lust, nach Damaskus zu fahren, um sie zu suchen.»

Sie hatten sich schon mehrmals über Ferko, den alten Zigeuner, der irgendwo mit Herkules und Pippino durch Städte und Dörfer zog, unterhalten. Und Zsusinka, das unbekannte Zigeunermädchen, war ihnen vertraut wie eine Schwester geworden; ihr unbestimmtes Schicksal, das an ein Märchen erinnerte, gab immer wieder Anlaß zum Nachdenken und Träumen. Auch heute, im zarten Dunkel der Sternennacht, erfanden sie Geschichten, in denen sie sich ausmalten, wie es Zsusinka wohl ergangen sein könnte.

Für Giovanni und Giannina war es eigentlich mehr ein Spiel mit dem feinen Gewebe der Phantasie, während aus Marcos Worten der Glaube sprach, daß er eines Tages Näheres über Zsusinka erfahren oder ihr gar von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen werde. Er stellte sich vor, daß sie Giannina ähnlich sähe, mit vollen roten Lippen und Augen wie glühende Kohlen.

Vom Wasser kam ein kühler Hauch. Giovanni, der keine Strümpfe anhatte, zog fröstelnd die Schultern ein.

Ein leiser Wind wehte vom Land her und trug den Rauch aus dem Schornstein des nahen Glasofens mit sich.

Die Glasöfen Muranos durften auch in der Nacht nicht verlöschen.

Die Wolken am Himmelsgewölbe kamen in Bewegung. Der Wind hatte sich aufgemacht und trieb sein Spiel mit ihnen, schob sie vor die Mondsichel, blies sie wieder auseinander und setzte sie erneut zu Wolkengebirgen und bizarren Gestalten zusammen.

Ernesto saß indes auf der kleinen, selbstgezimmerten Bank vor seinem Haus. Elena, die Nachbarin, war bei ihm gewesen und hatte ihm einige Scheiben geräucherter Wurst gebracht. Sie hatte sich gleich wieder verabschiedet, weil sie für Pietro, der diese Nacht arbeiten ging, das Essen zubereiten mußte. Es war Ernesto auch recht, allein zu sein — allein mit seinen Krücken und seinen Sorgen, die ihn mehr denn je bedrückten.

Er dachte über den merkwürdigen Besuch nach, den er heute morgen empfangen hatte. Giovanni wußte noch gar nichts davon. Messer Celsi war bei ihm gewesen und hatte sich nach Ernestos Befinden erkundigt.

Ernesto bewegte seine linke Fußspitze unruhig hin und her; sein Beinstumpf schmerzte wieder. Leise raschelte der Wind in den Bäumen und Sträuchern.

Ein Glück war es, daß Meister Benedetto den Jungen aufgenommen hatte, ohne das übliche Lehrgeld zu verlangen. Aber Giovanni besaß nicht einmal Strümpfe und lief wie ein Landstreicher umher. An sich selbst dachte Ernesto nicht. Er gab sich mit dem zufrieden, was gerade im Hause war. Sein Essen bestand hauptsächlich aus Polenta, einem dicken Brei aus Kornmehl und Wasser, der in heißer Asche gebacken wurde. Polenta gab es zum Frühstück, zum Mittag und zum Abend. Manchmal aß er sogar eine gesalzene Sardelle oder ein Stück gesalzenen Käse dazu.

Messer Celsi war sehr freundlich gewesen und hatte mit Ernesto wie mit seinesgleichen gesprochen. «Du bist jetzt in Not, Ernesto. Aber schau, ich will dir helfen, bin gar nicht so schlecht, wie die Leute mich hinstellen. Die Dirne», er wies auf das Nachbarhaus, «hätte nicht so empfindlich zu sein brauchen. Aber ich nehme ja nichts krumm, bin ein Gemütsmensch. Ist sie weg? Gut! Es gibt genügend Mägde, die gern bei mir arbeiten, oder meinst du nicht?»


Ernesto gab ihm keine Antwort und unterdrückte den Unwillen, der in ihm aufstieg.

«Wie gesagt, Ernesto», sprach Messer Celsi weiter, «ich will dir helfen, kann doch einen so tüchtigen Landsmann nicht im Stich lassen. Wenn du Geld brauchst, bitte, der Celsi gibt es dir. Da setzen wir ein Papierchen auf, daß du es mir in drei Jahren zurückzahlst…»

So ungefähr hatte Messer Celsi gesprochen. Ernesto könne auf der Stelle zweihundert Zechinen oder auch mehr bekommen, die Zinsen seien nicht der Rede wert, da würde man schon einig werden.

«Wo nur die Kinder bleiben?» schrie Elena hinüber. «Geh ins Haus, Ernesto, es wird kühl…»

Ernesto spielte gedankenverloren mit den Krücken, die er sich selbst angefertigt hatte. Er wußte natürlich genau, daß Messer Celsi sein Angebot nicht aus Menschenfreundlichkeit gemacht hatte, sondern auf diese Weise versuchte, in den Besitz von Ernestos Haus zu gelangen.

«Kannst du nicht zahlen, gut, nehmen wir dein Haus. Hier auf diesem Papier steht, daß du mir zweihundert Zechinen schuldest.» Von dieser Art war Messer Celsi. Uberall, wo es etwas zu holen gab, tauchte der nimmersatte Celsi mit seinem Geiergesicht und der schwarzen Haarsträhne auf und sprach freundliche, hilfsbereite Worte.

Was sollte Ernesto machen? Seine Kollegen hatten ihm bis jetzt geholfen, und auch die Nachbarsleute taten alles mögliche, um ihm sein Los zu erleichtern. Aber sie waren ja selbst arme Teufel, die sich recht und schlecht durchs Leben schlugen.

Das Herz tat ihm weh, wenn er seinen Jungen in der zerschlissenen Kleidung herumrennen sah.

Zweihundert Zechinen! Damit konnte er sich ein Fischerboot kaufen, und auch für Giovanni bliebe noch etwas übrig. Doch würde er in der Lage sein, Messer Celsi die Summe zum festgesetzten Zeitpunkt zurückzuzahlen? Das Fischen brachte nicht viel ein. Ernesto wußte, daß die Fischer froh waren, wenn sie für ihre Familien das notwendige Geld für das Essen und die ärmliche Kleidung verdienten. Und es war ja auch unmöglich, allein hinauszufahren. Er brauchte einen kundigen Begleiter. Rudern wollte er schon, er besaß ja noch kräftige Arme. Beim Rudern machte es nichts aus, wenn ein Bein fehlte. Und einen Begleiter würde er sicher finden, wenn er erst ein Boot hätte.

Ernesto schmiedete Pläne. Er war neununddreißig Jahre alt, seine Haare an den Schläfen waren schon grau. Auf Krücken mußte er sich nun herumschleppen. Seit dreizehn Jahren lebte er allein mit Giovanni in dem kleinen Haus, das er einst für Marietta gebaut hatte. Er konnte nach so langer Zeit ohne Schmerz an seine Frau denken, sie war eine ferne, gute Erinnerung.

Das Haus ist ein kleines Schmuckkästchen. Die meisten Häuser auf Murano und auch in Venedig sind aus Holz gebaut. Es gibt nur wenig Ziegelbrennöfen in der Republik von San Marco. Ziegel sind teuer. Noch teurer sind die natürlichen Steine aus den Bergen oder die Blöcke aus den carrarischen Marmorbrüchen. Der Transport nach Venedig ist beschwerlich. Und plötzlich wünschen die reichen Herren, daß ihre Wohnhäuser und Paläste aus Stein gebaut werden. Sie können es sich leisten; Steine sind kostbar wie Salz, aber Menschenleben und Arbeitskräfte sind billig. Je teurer die Steine, desto billiger die Arbeitskräfte. In Venedig sind in letzter Zeit viele Handwerker zugewandert, die glaubten, in dieser Stadt mehr verdienen zu können als in ihrer Heimat. Die reichen Herren können auswählen. «Ist dir der Lohn zu niedrig, geh nach Hause, es gibt genügend andere.»

Ernestos Haus aber ist ein Steinbau, fest gefügt, für Jahrhunderte gebaut. Er hat die Steine unter Lebensgefahr aus einer Ruine auf einer entfernten Insel herausgebrochen und nachts mit dem Boot nach Murano gebracht. Bei Wind und Wellengang! Nacht für Nacht! Marietta, seine Frau, stand an der Landungsstelle mit einem Wagen bereit; und während Ernesto zum zweiten Male in die Nacht hinausfuhr, belud sie den Wagen, zog ihn über die schlechten, bei Regen verschlammten Wege quer durch die Insel und lud die Steine an der Stelle ab, wo später das Haus gebaut werden sollte.

Sie trug damals schon das Kind unter dem Herzen. Das Haus wuchs. Ernesto magerte ab. Marietta reichte ihm mit zusammengebissenen Zähnen die Steine zu. Sie ließ sich nicht vom Arbeitsplatz vertreiben.

Als Giovanni geboren wurde, fehlte nur noch das Dach. Aber Marietta konnte nicht mehr von ihrem Krankenlager aufstehen. Die Blumen blühten auf den Fensterbrettern, als sie starb.

Ernesto liebte jeden Stein dieses Hauses.

Giovanni trug die Züge der Mutter und rannte wie ein Bettler umher.

Zweihundert Zechinen!

Der Himmel hatte sich immer mehr bezogen.

Ernesto griff nach den Krücken und wollte sich eben erheben, als die Gartentür geöffnet wurde und ein junges Mädchen mit einem Korb am Arm eintrat.

«Da seid Ihr ja, Ernesto. Gut, daß ich Euch noch draußen treffe!» «Was willst du bei mir?» fragte Ernesto verwundert. «Messer Celsi schickt mich. Ich bringe einen gebratenen Kapaun. Ihr sollt ihn Euch schmecken lassen.»

Der Messer Celsi schickte ihm einen Kapaun.

Ernesto erhob sich mühsam. Wegen eines Kapauns war Giannina unmenschlich geprügelt worden. Die Zornesadern schwollen auf Ernestos Stirn.

«Sind auch die Kopffedern nicht abgebrannt?» fragte er mit unterdrückter Wut in der Stimme. «Ich esse nur Kapaune mit Kopfputz, sage das dem edlen Messer Celsi!»

Die Magd sah ihn mit erschrockenen Augen an. Aber Ernesto war schon wieder ruhiger geworden. «Geh, bring ihn zurück! Sag, ich will ihn nicht haben!»

Ernesto humpelte ins Haus.

Das Mädchen ging kopfschüttelnd davon, und die Angst regte sich in ihm, wenn es daran dachte, daß es Messer Celsi den Kapaun zurückbringen mußte.

«Aber du frierst ja, Giovanni», sagte Giannina. «Wir werden schnell nach Hause gehen. Man wird schon auf uns warten.»

Paolo holte den Korb mit dem Essen und befestigte das Boot. Eine stürmische Nacht kündigte sich an.

Heulend pfiff der Wind über das Wasser, zerrte an den Kleidern, fegte über Wiesen und Stoppelfelder und trieb trockenes Laub vor sich her.

Sie mußten schreien, wenn sie sich verständigen wollten. Die Wolken verdeckten den Mond, kaum waren noch Sterne am Himmel zu sehen. Als sie an der Glashütte vorbeigingen, wurde das Tor geöffnet. Ein breiter Lichtstreifen fiel über den Weg und beleuchtete die riesengroß erscheinende Silhouette eines Glasmachers, der tief atmend im Torweg stand.

Giannina und Giovanni traten aus dem Dunkel ins Licht und gingen wieder in das Dunkel hinein. Sie stemmten die Schultern gegen den Wind und preßten die Lippen zusammen. Dieses schweigende Nebeneinandergehen auf der winddurchwehten heimatlichen Insel erfüllte sie mit einem Gefühl, das hell und unbeschreiblich schön war.

Marco, der einige Schritte zurückgeblieben war, hatte im Lichtschein die ärmliche, dünne Kleidung des Freundes gesehen. Er beeilte sich, wieder an Gianninas Seite zu kommen. Vor ihnen ging Paolo und bahnte mit seiner großen Gestalt den Weg. «Bald sind wir da!» schrie Giovanni.

Das nächste Mal bringe ich ihm Kleider mit, dachte Marco. Und er nahm sich vor, mit Giannina einen Feldzugsplan auszuarbeiten; denn er wußte, wie empfindlich der Freund war. 'Ich habe hier ein paar Kleider, die mir zu klein geworden sind. Sie liegen unnütz in der Truhe. Könntest du sie vielleicht gebrauchen, Giovanni? Ich möchte sie nicht länger herumliegen lassen…' Marco legte sich geschickte Reden zurecht, mit denen er Giovanni bewegen wollte, das Geschenk anzunehmen.

Jetzt standen sie vor dem Kanal, der Murano teilte. «Vater Andrea!» rief Giovanni zum anderen Ufer hinüber. Der Wind nahm ihm die Worte von den Lippen und trug sie geschwind davon.

Sie mußten mehrmals rufen, bis sie Antwort erhielten. Nach einer geraumen Weile kam der Fährmann mit seinem Boot. Er schimpfte, weil man ihn zu so später Stunde aus seiner Bretterbude geholt hatte. Als er aber Giovanni sah, legte sich sein Ärger.

«Du bist's», brummte er, «steigt nur ein!» Dann erkannte er auch Giannina. «Bist du auch wieder mal da?» fragte er.

Er stieß das Boot ab und ruderte gegen die Wellen an. Der Wind zerzauste sein Haar. «Teufelssturm!» knurrte er und machte mit bedächtigen Bewegungen das Boot am anderen Ufer fest.

Die Bäume in den beiden Vorgärtchen trugen nur noch wenig Laub, hinter Ästen und Zweigen schimmerten die Fenster.

«Wir gehen zu uns!» ordnete Giannina an. Doch Giovanni strebte schon nach der anderen Seite. «Ich komme gleich», rief er.

Als Giovanni in die Stube trat, saß Ernesto vor dem Kamin und blickte in die Flammen. Auf dem Tisch stand ein Teller mit den geräucherten Wurstscheiben, die Gianninas Mutter gebracht hatte.

«Da bist du ja!» sagte Ernesto und hob den Kopf. «Setz dich nur und iß, wirst sicher tüchtigen Hunger haben… Es ist wohl recht stürmisch draußen?»

Die flackernden Flammen beleuchteten Ernestos Gesicht. Giovanni setzte sich neben ihn und streckte die Hände gegen den Kamin.

«Will mich erst ein wenig wärmen», sagte er. «Habt Ihr denn schon gegessen, Papa?»

Ernesto nickte. Seine Beine sind blau vor Kälte, dachte er. «Wärme dich nur, mein Junge!»

«Ich weiß gar nicht, warum ich heute so froh bin?» sagte Giovanni und konnte den Blick nicht von dem Spiel der Flammen lösen. Der Vater lächelte. «Das ist manchmal so», erwiderte er. «Ich muß schnell zu Giannina hinübergehen», erinnerte sich Giovanni. «Sie warten schon auf mich. Marco schläft ja heute bei uns.»

Während Giovanni redete, dachte der Vater mit Sorgen daran, was Messer Celsi wohl zu dem verschmähten Kapaun sagen würde. Er hatte sich inzwischen entschlossen, die zweihundert Zechinen anzunehmen. Gleich am nächsten Morgen wollte er zum Messer Celsi gehen. Oder war es nicht besser, zu warten, bis der reiche Landmann sein Angebot wiederholte? «Was habt Ihr denn gegessen, Papa?» «Beinahe einen Kapaun», sagte Ernesto und lächelte bitter. Giovanni sah ihn fragend an.

«Iß nur, damit du stark wirst und große Schiffe bauen kannst.» Er griff unter die Bank und warf einen Holzkloben ins Feuer. Gierig beleckten ihn die Flammen. Das Wasser in den Poren verdampfte und sprengte knisternd die engen Hüllen.

«Ihr kommt doch mit, Papa?» fragte Giovanni, mit vollen Backen kauend. «Wie gut die Wurst schmeckt! Wenn ich erst Geld verdiene, werden wir oft Wurst essen…»

«Ich will noch ein wenig allein sein. Geh nur, mein Junge!»

Der Herbststurm tobte die ganze Nacht hindurch. Am anderen Morgen aber brach die Sonne durch das graue Gewölk und schmückte den Himmel in den schönsten Farben.

Marco hatte bei Giovanni geschlafen, lange hatten sich die Freunde noch unterhalten. Es war so schön, im Bett zu liegen, wenn der Wind ums Haus heulte und an den Fensterläden rüttelte.

Nun lag die Insel still im ersten Morgenschein und hielt stumme Zwiesprache mit den flüsternden Wellen.

Ernesto, der seit seinem Unfall wenig Schlaf fand, war schon aufgestanden und hantierte in der Küche. Er machte Feuer an und hängte den mit Wasser gefüllten Kupferkessel über die Flammen. Bald kam Paolo aus dem Nachbarhaus, um Marco zu wecken. Sie wollten so früh wie möglich zurückfahren, damit Pietro Bocco von dem nächtlichen Ausbleiben nichts merkte. «Ich komme bald wieder», sagte Marco zum Abschied.

Giovanni blickte den beiden nach. Marco, schlank und biegsam, war nur einen halben Kopf kleiner als der Diener.

Auch Giannina war früh aufgestanden. Sie blieb noch einen Tag in Murano, um ihrer Mutter, die sich nicht wohl fühlte, bei der Wäsche zu helfen. Als sie in den Garten hinausging, sah sie in der Ferne den Freund mit dem Diener.

«Ihr geht schon», rief sie ihnen nach, «und habt euch noch nicht einmal verabschiedet?»

Marco winkte und schrie etwas, seine Worte waren nicht mehr zu verstehen.

Weiße Wolkenberge umgaben in einem Halbkreis schützend die Sonne. Giannina stützte sich mit den Händen auf einen Holzpfosten, legte das Kinn darauf und sah, ein wenig verträumt, den Freunden nach.

Giovanni stand unbemerkt an der Gartentür. Er wollte rufen, brachte aber kein Wort heraus.

Wie lange hatte er Giannina nicht gesehen? Vier Wochen waren es wohl gewesen. Im hellen Licht des Morgens bemerkte er plötzlich, daß sie sich irgendwie verändert hatte. Ihr Gesicht schien neue Linien und Farben bekommen zu haben. Es war ganz ungewöhnlich, die lebhafte Giannina so still und versonnen zu sehen. Woran dachte sie?

Ein feiner Schmerz, dessen Ursache er nicht deuten konnte, kündigte sich an.

Marco und Paolo waren längst nicht mehr zu sehen. Gianninas Gesicht war weich und träumerisch, vor ihren Augen schimmerte ein goldener Sonnenschleier. Eine angenehme Müdigkeit breitete sich über ihren Körper aus.

Sie glaubt ihn noch immer zu sehen, dachte Giovanni. Wie kann es auch anders sein? Er ist schlank und trägt schöne Kleider…

Wagenräder drehten sich über Sand und Steine. Das Geräusch näherte sich. Rufe tönten durch den Morgen. Giovanni wandte den Kopf.

«Lauf, mein Böckchen, lauf!» Der alte Francesco kam und trieb mit munteren Rufen den Ziegenbock an, den er wie ein Pferdchen vor seinen Handwagen gespannt hatte. «Lauf, mein Böckchen, lauf!» Das Böckchen senkte den Kopf und legte sich in die Zügel.

Giannina erwachte aus ihren Träumen, lief grüßend an Francesco vorbei und stand nun unerwartet vor Giovanni.

«Ach, Giovanni», sagte sie und breitete die Arme aus, «ich bin ja so froh, daß ich hier bin!»

«Marco ist nun weg», erwiderte er mit abwesendem Gesichtsausdruck. Er konnte die träumerisch in die Ferne gerichteten Augen Gianninas, die ihn jetzt lebhaft und forschend ansahen, nicht vergessen.

«Ich muß zum Meister Benedetto», sagte er und wollte ins Haus hineingehen. Doch Giannina hielt ihn zurück. «Was hast du nur, Giovanni?» fragte sie.

Er senkte die Augen und empfand mit einemmal ein unbehagliches Schuldgefühl. «Ich wollte dich nicht stören», begann er stockend. Er hätte sich selbst ohrfeigen können über diese Worte, die gegen seinen Willen über die Lippen geschlüpft waren.

«Ich verstehe dich nicht», rief Giannina aus. «Du stehst da, steif wie ein Stock, und redest so merkwürdig.»

Der Ärger in Gianninas Stimme steigerte seine Verwirrung, so daß er keinen Rat mehr wußte, als sich umzudrehen und schweigend ins Haus zu gehen.

Nach einer Weile kam er mit einem Bündel, in dem sich sein Werkzeug befand, wieder heraus. Seine Hoffnung, Giannina im Garten zu treffen, erfüllte sich nicht. Er wußte wohl, daß er sich wie ein Esel benommen hatte, brachte es aber nicht fertig, einfach in das Nachbarhaus zu gehen, um mit einigen Worten das herzliche Verhältnis wiederherzustellen.

Der Weg führte einen Hügel hinan. Von der Anhöhe hatte man einen weiten Blick auf die silbern schimmernde Lagune. Giovanni sah das Wasser, ohne von seiner Schönheit berührt zu werden.

Zwei schlanke Pappeln standen vor der kleinen Brücke, die über einen schmalen Nebenarm des Kanals führte. Das Laub zitterte. Zwischen den hohen Bäumen, mitten auf dem Weg, wartete Giannina. Sie war nachdenklich vorausgegangen. Erst hatte sie ins Haus gehen wollen, aber dann war ihr mit einemmal klargeworden, daß sie Giovanni nicht böse sein durfte.

Als er jetzt auf sie zukam, klopfte ihr Herz; es war, als dringe die Sonne in ihre Gedanken und Gefühle ein. Sie stand zwischen den Pappeln, das Gesicht dem Freund zugewandt, der nur noch wenige Schritte entfernt war.

Giovanni blickte auf und blieb überrascht stehen. Er nahm sein Bündel von einer Hand in die andere und beobachtete einen Spatz, der wie ein Federball auf dem Brückengeländer herumhüpfte. Vor ihm stand Giannina und sagte:

«Ich stehe hier schon eine ganze Weile und warte auf dich. Wenn du willst, begleite ich dich ein wenig.»

Der Spatz flog auf und verschwand im Laub der Pappeln. «Vorhin habe ich daran gedacht, wie schön es wäre, wenn ich immer hierbleiben könnte», sagte Giannina.

Giovannis Gesicht war brennend rot geworden. Er sah an Giannina vorbei und prägte sich, ohne daß er es wollte, nebensächliche Einzelheiten ein: Das Geländer der Brücke war an einer Stelle beschädigt, der Pfahl, der es stützte, hing schräg über dem Wasser und spiegelte sich darin. Ein Fisch sprang plätschernd über die Oberfläche und verursachte kreisförmige Kringel, die über das Wasser huschten und wie eine sterbende Melodie verebbten.

Giovanni hüstelte.

«Der Wind ist ja nun vorbei», sagte er endlich.

Das Mädchen beugte sich nieder und pflückte eine rote Herbstblume. «Meister Benedetto wird warten», sagte sie.

Giovanni spürte am Klang ihrer Stimme die leise Ungeduld und suchte angestrengt nach den richtigen Worten, um die aufsteigende Verstimmung zu verscheuchen. Das Nachdenken fältelte seine Stirn und gab dem Gesicht ein ernstes Aussehen.

Giannina hatte sich die Begegnung mit dem Freund anders vorgestellt. Sie glaubte Kälte und Abweisung in seinen Zügen zu lesen. Was war nur in den vergangenen vier Wochen geschehen? Warum hatte Giovanni sich so verändert? Angst, Scham, ein feiner, ziehender Schmerz und Zorn kämpften in ihr und drängten die Worte auf ihre Lippen:

«Ich werde dich nicht länger stören. Kannst es mir ja sagen, wenn du nichts mehr von mir wissen willst!»

Plötzlich traten ihr die Tränen in die Augen. Doch Giovanni sollte ihren Schmerz nicht sehen. Sie drehte sich um und lief davon, als verfolge sie ein böser Geist.

«Giannina!» rief Giovanni mit angsterfüllter Stimme. «Warte doch!» Er warf sein Werkzeugbündel ins Gras und jagte hinter dem Mädchen her. Alle Unsicherheit war mit einemmal verschwunden; während er rannte, kamen ihm schon die ersten Worte in den Sinn. Und als er Giannina eingeholt hatte und am Arm festhielt, sagte er, noch ganz außer Atem: «Das ist doch alles ganz anders, Giannina. Ich freue mich so!»

Sie verbarg ihr tränenüberströmtes Gesicht und sagte schluchzend: «Ich weine, und du freust dich!»

«So meine ich das doch nicht», sagte Giovanni, dem auf einmal die Worte zuströmten. «Ich freue mich, daß du hier bist. Wirklich, Giannina. Ich dachte nur, daß es dir hier nicht mehr so richtig gefällt… Nun komm nur. Da habe ich doch einfach mein Werkzeug ins Gras geworfen. Wenn das Meister Benedetto wüßte!»

Er nahm ihre Hände vom Gesicht. «Lachst ja schon wieder», sagte er froh.

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