DER KÖNIG DER FELDER

IM JAHRE 1267 HATTE SICH IN EINEM KLEINEN DORF, das zum Königreich Neapel gehörte, die folgende Geschichte zugetragen. Angiolino, ein armer Bauer mit einem schmalen Streifen Pachtland, borgte sich von seinem Herrn, auf dessen Feldern er vier Tage in der Woche schuftete, einen Esel, um mit seiner Hilfe das Heu von einer entfernt liegenden Wiese einzubringen. Es fiel ihm auf, mit welcher Bereitwilligkeit der Verwalter des Herrn ihm den Esel überließ; er machte sich aber keine Gedanken darüber, sondern zog los, um so schnell wie möglich aus der Rufweite zu kommen; denn es konnte doch sein, daß der Verwalter es sich im letzten Augenblick noch anders überlegte.

Die Sonne schien schon am Morgen sengend heiß vom Himmel hernieder. Angiolino blieb von Zeit zu Zeit stehen und wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn. Das Lavagestein brannte unter seinen nackten Fußsohlen, aber die dicke Hornhaut war so unempfindlich wie die Ledersohle unter dem Stiefel eines vornehmen Herrn. Besorgt betrachtete er den Esel, der aus Gewohnheit Huf vor Huf setzte, bei der Rast jedoch taumelnd stehenblieb und sich nur mühsam aufrecht halten konnte. Als der Bauer einmal zufällig die Nüstern berührte, merkte er, daß sie ganz heiß waren. Was sollte er tun? Das Heu mußte an den beiden Tagen in der Woche, da er keinen Frondienst zu leisten hatte, eingebracht werden, sonst müßte es wieder sechs Tage liegenbleiben, und Gott wußte, wie das Wetter dann sein würde. Auch fehlte ihm der Mut, das Tier wieder zurückzubringen; denn der Verwalter war ein gestrenger Herr und schnell mit Prügel zur Hand. So ging er denn weiter, der Esel setzte gehorsam Huf vor Huf und bewegte sich eben, so gut es ging.

Als Angiolino an den Bach kam, der durch das Weideland des Herrn floß, sagte er sich: Wirst dem Eselchen einen Trunk gönnen und ihm eine Handvoll Gras hinwerfen, damit es wieder zu Kräften kommt. Er führte das Tier also an das Wasser.

«Sauf, Freundchen!» sagte er. «Das Wasser gehört zwar dem Herrn, aber er sieht es ja nicht, und weniger wird es auch nicht, wenn du deinen Durst stillst. Ich werde dir inzwischen eine Handvoll Gras holen…»

Die Luft zitterte vor Hitze. Die Wiese zog sich bis zu einem grauen Lavafelsen hin, hinter dem in einer Riesenschale das Meer gleißte und funkelte und die Sonnenstrahlen hunderttausendfach auf das ausgedörrte Land zurückwarf. Für Angiolino war das ein gewohnter Anblick, der ihn weniger erregte, als es ein Stück fetter Ziegenkäse mit einem Krug brunnenkühlen Wassers getan hätte. Er vergewisserte sich, nach allen Seiten spähend, daß niemand in der Nähe war, beugte sich nieder und rupfte vom Rande des Baches mit geübten Händen das Gras ab.

«So, mein Freundchen», sagte er, «gleich wirst du wieder munter werden. Bei Angiolino sollst du nicht hungern, der weiß, was es heißt, wenn man nichts zu beißen hat.»

Wohlgemut drehte er sich um und wollte dem Esel das Futter bringen. Was er sah, jagte ihm einen solchen Schrecken ein, daß er mit offenem Munde stehenblieb. Das Gras fiel ihm aus der Hand. Der Esel nämlich lag neben dem lustig über die Steine sprudelnden Wasser, streckte alle viere von sich und ließ seine Zunge heraushängen.

Nachdem Angiolino sich von seinem Schrecken erholt hatte, sprang er auf das Tier zu und versuchte es wieder auf die Beine zu bringen.

«Steh doch auf, mein Guter», klagte er verzweifelt, «kriegst das feinste Gras, auf Händen will ich dich tragen, wenn du nur aufstehst, damit ich dich zum Herrn zurückführen kann… Oh, du störrisches Vieh», er stieß mit dem Fuß nach dem bewegungslos vor ihm liegenden Körper, «willst du mich um mein letztes Hab und Gut bringen? Du Teufelstier! Hundesohn, steh auf, sonst sollst du Angiolinos Fäuste spüren… Ach, mein Guter, was machst du da für Sachen. Verstell dich doch nicht, steh auf…» Doch weder Bitten noch Drohen half; Schwärme von Fliegen ließen sich auf Zunge, Augen und Nüstern nieder. Das Eselchen rührte sich nicht mehr, lag stocksteif auf der Erde und grinste, so schien es Angiolino, höhnisch mit den großen gelben Zähnen.

Als es dem Bauern zur Gewißheit geworden war, daß der Esel durch nichts mehr zum Leben erweckt werden konnte, ging er einige Schritte abseits, setzte sich auf die Böschung und hängte die Füße in das Wasser. Mit finsterem Gesicht starrte er auf die Wellen, die unbeschwert ihres Weges zogen.

Angiolino war jetzt dreißig Jahre alt, von Kindesbeinen an diente er dem Grafen, so wie es seine Großeltern und seine Eltern getan hatten. Er verdiente immer gerade so viel, um die Pacht für den schmalen Streifen Land aufbringen zu können. Vier Tage in der Woche arbeitete er für den Herrn, und oft wurden es auch fünf Tage. In den wenigen freien Stunden hatte er sich aus Felssteinen ein armseliges Haus gebaut; in einem Bretterschuppen standen zwei Ziegen und drei Schafe. Im nächsten Jahr hatte er heiraten wollen. Da passierte ihm nun die Geschichte mit dem Esel.

In Angiolino, der bis jetzt alles geduldig ertragen hatte, begann es zu gären. War er denn schuld am Tode des Esels? Jetzt verstand er, warum der Verwalter ihm das Tier so bereitwillig überlassen hatte. Hätte er ihn nur zurückgewiesen und das Heu auf seinem Rücken nach Hause geschleppt.

Aber jetzt half kein Lamentieren. Der Bauer stand in plötzlichem Entschluß auf; eine stille Hoffnung begann sich in ihm zu regen. Sie konnten ihn doch nicht für den Tod des Esels verantwortlich machen. Angiolino legte sich eine Rede zurecht und gab sich selbst die Antworten, die er von dem Herrn zu erwarten hatte. «Er taumelte ja schon, als der Knecht ihn mir gab, Herr.» — «Du hast ihn zu Tode geschunden, du mußt ihn bezahlen!» — «Holt doch den Knecht, Herr. Er kann bezeugen, daß der Esel krank war.» — «Werde nicht frech, Angiolino, schon einmal mußte ich dich auspeitschen lassen.»

Die Hoffnung starb in seinem Herzen. Er kannte die Herren, sein ganzes Leben lang hatte er sich gebeugt. Aber diesmal… Er hob die Fäuste zum Himmel: «Herrgott, wenn du mir dieses Mal nicht hilfst!»

Es kam so, wie Angiolino vorausgesehen hatte. Es kam sogar noch schlimmer. Er durfte die hohe Summe, die der Herr für den Esel verlangte, nicht einmal an den zwei freien Tagen der Woche abarbeiten, sondern sollte sie sogleich bezahlen. Da er das natürlich nicht konnte, befahl der Herr, ihm das Land zu nehmen und sein Vieh — zwei Ziegen und drei Schafe — aus dem Stall zu treiben. Angiolino sei noch einmal billig davongekommen, ließ er bestellen.

Angiolino ging in der Nacht zu seiner Braut und verabschiedete sich von ihr.

Er würde bald wiederkommen, sagte er, sie solle sich keine Sorgen um ihn machen.

Sie weinte, als er ging; denn sie fürchtete sich vor dem fremden, wilden Ausdruck in seinem Gesicht. Was hatten die Herren nur mit dem gutmütigen Angiolino gemacht?

Angiolino hielt sein Versprechen. Er kam bald wieder. Kaum hatte der Mond zweimal gewechselt, da war Angiolino wieder da. Zu Pferde kam er geritten, mit einer Schar von Straßenräubern, denen er sich zugesellt hatte. Ein heruntergekommener Adliger mit einem zarten, kindlichen Gesicht führte das Kommando. «Milchgesicht» hieß er bei den anderen, und Milchgesicht war berüchtigt wegen seiner Grausamkeit. Er machte nicht viel Federlesens. «Aufhängen!» war seine ständige Redensart. Für ihn ging es nur darum, große Beute zu machen. Doch Angiolino, der sich durch große Tapferkeit auszeichnete, begann den Räubereien bald einen anderen Sinn zu geben.

Zunächst aber wollte er die Rechnung mit dem Herrn begleichen, der ihm sein kümmerliches Pachtland und sein Vieh genommen hatte. Er widersprach nicht, als Milchgesicht befahl, den Herrn aufzuhängen. En wurde an jener Stelle gehenkt, wo Angiolino einst auf seinen Befehl wegen einer Geringfügigkeit ausgepeitscht worden war. Das Schloß des Herrn wurde niedergebrannt.

Ein Jahr später war die Schar der Straßenräuber schon auf 120 Mann angewachsen, und ihr Ruf drang weit über die Grenzen des Königreiches Neapel hinaus. Angiolino hatte in kurzer Zeit lesen und schreiben gelernt und war zum Anführer der Schar geworden. Milchgesicht redete noch sein Wort mit, wenn über ein neues Unternehmen beraten wurde, und fügte sich widerwillig den Anordnungen Angiolinos.

Sie durchstreiften Städte und Provinzen. Angiolino hielt Gericht, wenn er erfuhr, daß einem armen Bauern oder Handwerker durch seinen Herrn Unrecht geschehen war. Und er sprach besser Recht, als es die gewöhnlich bestochenen Richter getan hätten.

Einem reichen Benediktiner Abt, der mit seinem Gefolge von Neapel nach Rom reiste, nahm er die Hälfte des Geldes, 1250 Unzen ab, wovon ein Teil dazu diente, um ein armes Mädchen auszustatten, der andere Teil, um Familien armer Landleute zu unterstützen und der Rest zum Unterhalt seiner Truppe. Angiolino war zur Plage der adligen Herren geworden, die alles mögliche versuchten, um seiner habhaft zu werden. Vom Volke aber wurde er geliebt und geachtet, und keiner dachte daran, ihn zu verraten. Man nannte ihn den König der Felder.

Als Paolo in jener stürmischen Nacht von Bord der Schmugglerbarke gesprungen war und seine Arme und Beine zu regen begann, um nicht unterzugehen, hatte er zuerst einen furchtbaren Schmerz verspürt, der ihm fast die Besinnung raubte. Er hörte auf, sich zu bewegen, und sank wie ein Stein nach unten. Die Wellen schlugen über ihm zusammen; er öffnete den Mund, um zu atmen, und schluckte Wasser; ringsumher war es dunkel, er schwebte durch einen von brausenden Geräuschen erfüllten Raum, vergaß seine Schmerzen und empfand ein wohliges Gefühl des Geborgenseins in einer geheimnisvollen Welt abseits von allem irdischen Geschehen. Er wußte genau, wo er sich befand, seine Gedanken arbeiteten ganz klar, aber sein Lebenswille war gelähmt.

Wasser strömte durch Mund und Nase ein; in seinen Ohren sauste es; seine Beine berührten den Grund. In diesem Augenblick aber, als habe ein Zauberstab ihn berührt, kehrte sein Lebenswille zurück. Er kauerte sich nieder und stieß sich mit einem Ruck vom Grund der Lagune ab. Endlos lange schwebte er durch das tosende Dunkel, das Wasser schien durch alle Poren in ihn einzudringen, es klopfte in rasendem Wirbel gegen sein Trommelfell, in schneller Folge zogen Erinnerungen aus seiner Kindheit, die verschüttet in seinem Unterbewußtsein geschlummert hatten, an seinen Augen vorüber; wahnsinnige Furcht packte ihn, er glaubte, wieder auf den Grund des Wassers hinabzusinken. Ein kühles nasses Grab umfing ihn.

Da tauchte sein Kopf über dem Wasser auf, die Wellen klatschten in sein Gesicht. Er befand sich auf der Oberfläche des wildbewegten Wassers und wußte, daß er, wenn ihm sein Leben wert war, weiter gelebt zu werden, oben bleiben müsse. Nichts arideres hatte mehr Platz in seinem Denken, weder Marco noch Giovanni oder Giannina. Er dachte jetzt nur an sich selbst. Die Schmerzen im rechten Schultergelenk waren so stark, daß er laut schrie, aber er bewegte den Arm trotz alledem. Er spie das Wasser aus, das eine Welle in seinen Mund gespült hatte, und begann sich seines Wamses zu entledigen. Es gelang ihm, Stück für Stück der Oberkleidung abzuwerfen.

Er legte sich auf den Rücken und bewegte sich gerade so viel, daß er nicht untersank. Mit tiefen Zügen atmete er die Luft ein. Uber ihm wölbte sich ein wolkenbehangener Himmel mit nur wenigen Sternen. Von Zeit zu Zeit ließ der Mond sich sehen. Paolo hob den Kopf und versuchte sich zu orientieren, in welche Richtung er schwimmen müsse.

Um ihn her Wasser, Wellen, Rauschen, weiße Schaumkämme und das Heulen des Windes!

Er wußte, daß der Strand des Lido in der Nähe war. Aber wo lag er? Immer wieder hob er, die Schmerzen unterdrückend, den Kopf und suchte den dunklen Schatten des Landes. Nichts war zu sehen. Er überlegte, daß der Wind, wenn er seine Richtung nicht geändert hatte, parallel zum Ufer wehte, er sich also links halten, quer durch die Wellen schwimmen müsse. Die leichte Benommenheit, die wie ein Reif um seine Stirn gelegen hatte, war gewichen. Mit kräftigen Bewegungen, den rechten Arm möglichst schonend, schwamm Paolo los. Er wollte nicht untergehen, alles in ihm bäumte sich gegen den nassen Tod auf, der ihn von allen Seiten umlauerte. Wie lange schwamm er schon? Er hatte jeden Sinn für die Zeit verloren. Seine Bewegungen waren matter geworden, er hob auch nicht mehr den Kopf, um nach dem Land Ausschau zu halten. Das wäre eine unnötige Anstrengung gewesen. Seine Kraft reichte gerade noch aus, um sich über Wasser zu halten und langsam, unendlich langsam vorwärtszubewegen.

Paolo wurde müde, er schloß die Augen, träumte, er läge geborgen in einem Bett, das Heulen des Windes und das Tosen des Wassers klang immer ferner, er vergaß die Schwimmbewegungen, die Beine sanken und fanden Grund. Paolo wachte mit einem Schlage aus seiner Betäubung auf. Er war in der Nähe des Landes, stand auf festem Boden. Das Wasser reichte ihm kaum bis zur Brust, und vor ihm lag das Ufer.

Die Wellen hatten nachgelassen, er war unbemerkt in eine schützende Bucht hineingeschwommen. Langsam ging er auf das Ufer zu. Er taumelte, als das Wasser ihm nur noch bis zu den Waden reichte, schleppte sich mit seiner letzten Kraft weiter und sank auf dem weichen gelben Dünensand nieder.


Fünfzig Schritt entfernt von der Stelle, wo Paolo fest und ohne Träume schlief, stand die Hütte des alten Dimitro, von dem man sagte, daß er schon hundert Jahre alt sei. Er selbst wußte das Jahr seiner Geburt nicht mehr, nur soviel konnte er sagen, daß er zu jener Zeit, als Kaiser Barbarossa und Papst Alexander III. in Venedig sich trafen, schon ein denkender Knabe gewesen war. Und diese Begegnung zwischen den beiden gekrönten Häuptern der Christenheit hatte vor einundneunzig Jahren stattgefunden.

Acht andere mit Schilf gedeckte Fischerhäuser befanden sich, in einem unregelmäßigen Halbrund gebaut, in der Nähe von Dimitros Hütte. Er selbst fuhr zwar nicht mehr zum Fang hinaus, machte sich aber den anderen durch vielerlei Arbeiten nützlich — Netze flicken, Fische dörren, Kähne reparieren, Reusen flechten — so daß man ihm gern seinen Anteil von der Ausbeute des Fanges gab.

Dimitro war der erste, der sich von seinem Lager erhob. Der Sturm hatte sich ausgetobt, die Lagune schimmerte im Zwielicht, als sei nichts geschehen in der vergangenen Nacht. Der Mond stand am Himmel, blaß und ohne Leuchtkraft, und die Lichter der Sterne verlöschten.

Neben einem Fischerkahn, der zum Schutz gegen die gierigen Wellen auf den Strand gezogen worden war, lag ein dunkler Gegenstand: Dimitros hundertjährige Augen waren noch so scharf wie die eines jungen Menschen, nichts entging ihnen, was den gewohnten Anblick störte. Er glaubte zuerst, es handele sich um ein Stück angeschwemmtes Holz, bemerkte dann aber, daß ein Mensch dort lag, der nur mit einer Hose bekleidet war.

Dimitro stand lange vor dem ruhig atmenden Körper, bis er sich entschloß, ihn wachzurütteln. Als er sich niederbeugte, erkannte er an der Schwellung, daß die Schulter des Mannes verletzt war. Vorsichtig weckte er ihn.

Der Herbstmorgen stieg kühl aus dem Wasser. Noch verbarg sich die Sonnenkugel hinter dem Horizont. Paolo fror, als er die Augen öffnete, und spürte bei den ersten Bewegungen den Schmerz im Schultergelenk. Er sah in ein uraltes Greisengesicht und glaubte, er träume noch. Aber Dimitro ließ ihn nicht lange im unklaren darüber, daß er keine Traumerscheinung, sondern ein lebendiger Mensch sei. Paolos Erinnerung an die Erlebnisse der vergangenen Nacht kehrten zurück. Und da er keinen Augenblick daran zweifelte, daß die Schmugglerbarke des Kapitäns Matteo von den Schergen aufgebracht worden war, redete er mit beschwörenden Worten auf den alten Fischer ein.

«Versteckt mich, Großväterchen, die Schergen sind mir auf den Fersen. Ihr könnt mir glauben, daß ich kein Verbrechen begangen habe. Ich bin da in eine Sache hineingeraten… nachher erzähl ich Euch alles. Versteckt mich jetzt, ehe es Tag wird.»

Das trübe Licht der Dämmerung breitete sich über Wasser und Land aus und ließ die Konturen der Hütten und Kähne deutlicher werden. Der Alte sah aufmerksam in Paolos Gesicht. Eine bange Weile dauerte die schweigende Musterung. «Komm!» sagte er dann und winkte.

Paolo erhob sich mühsam und folgte dem Alten. Im Gehen versuchte er, seinen rechten Arm zu bewegen. Er schmerzte zwar sehr, aber er glaubte festzustellen, daß er nicht ernsthaft verletzt war.

Dimitros Hütte bestand nur aus einem Raum, in dem es so stark nach Fisch roch, daß Paolo einen Augenblick lang den Atem anhielt. Dimitro brannte eine Ölfunzel an und wies auf ein Schilflager in der Ecke des Raumes.

Paolo legte sich, erschöpft von dem kurzen Weg, nieder und ließ es geschehen, daß der Alte ihn mit einer zerlumpten Decke zudeckte. Er hörte im Halbschlaf, wie es sich in den benachbarten Hütten regte, leise Stimmen, Geräusche zuschlagender Türen, Schritte im Sand, dann schlief er fest ein und erwachte erst, als die Sonne durch das winzige Fenster hereinschien.

Mit offenen Augen lag er da und überlegte, was nun weiter zu tun sei. Zunächst blieb ihm nichts anderes übrig, als sich der Pflege und Verschwiegenheit des Alten anzuvertrauen. Das Wichtigste war, daß die Schulter ausheilte, damit er wieder in den vollen Besitz seiner Kräfte kam. Außer seiner Hose besaß er nichts auf dem Leibe. Seine Lage war wirklich nicht beneidenswert. Aber er war schon froh darüber, den Schergen entronnen zu sein; nun galt es, sich auch weiterhin ihrem Zugriff zu entziehen, denn er hatte keine Lust, ins Gefängnis geworfen oder zu lebenslanger Galeerenarbeit verurteilt zu werden.

Er beschloß, sobald sein Gesundheitszustand es erlaubte, das Gebiet der Republik von San Marco zu verlassen und nach Süden zu ziehen. Irgendwo würde er schon eine Arbeit und ein Unterkommen finden. Es fiel ihm schwer, von Venedig Abschied zu nehmen, besonders wenn er an Giovanni, Marco und Giannina dachte. Aber er wußte sich in seiner Not keinen anderen Rat. Das einzige, was ihm zu tun übrigblieb, war, den Kindern auf irgendeine Weise Nachricht zu geben, daß er sich noch am Leben befand und nach Jahren vielleicht wieder nach Venedig zurückkehren würde.

Während er so grübelte, hörte er, wie leise die Tür geöffnet wurde. Er wandte den Kopf und sah ein etwa achtzehnjähriges schlankes Mädchen im Türrahmen stehen.

«Großvater schickt mich», sagte sie mit scheuer Zurückhaltung, «schlaft Ihr noch?»

Paolo lächelte. «Nein», erwiderte er, «ich schlafe nicht mehr. Aber tretet doch näher, ich möchte gern mit Euch reden.»

Sie schüttelte den Kopf. «Großvater hat mir verboten, mit Euch zu reden.»

Aber die Neugierde stand in ihrem Gesicht geschrieben. Sie warf einen Blick hinaus, sah, daß Dimitro zum Strand hinunterging, und schlüpfte hinein.

«Nur auf einen Sprung», sagte sie hastig, «sagt, wo kommt Ihr her? Gestern wart Ihr noch nicht hier. Und warum tut Großvater so geheimnisvoll?»

«Ihr dürft doch nicht mit mir reden!» mahnte Paolo. Sie verzog ärgerlich das Gesicht. Da war wieder einer, der sie wie ein kleines Mädchen behandeln wollte. «Dann gehe ich eben, Messer Unbekannt», sagte sie. «Denkt nicht, daß ich neugierig auf Eure Geschichte bin.»

«Bleibt nur», sagte Paolo, «es war doch nur Spaß. Gern will ich Euch erzählen, was mir geschehen ist, wenn Ihr mit keinem Menschen darüber redet.»

Ihr Unmut verflog im Nu. «Erzählt es mir», bat sie eifrig, «von mir wird keiner etwas erfahren. Aber beeilt Euch, ehe der Großvater zurückkommt.»

Sie ließ sich neben seinem Lager nieder und sah ihn mit neugierig funkelnden Augen an.

Paolo meinte, daß es besser sei, ihr nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Ihr Mund sah gar zu geschwätzig aus. So erzählte er ihr, er sei während einer nächtlichen Segelfahrt über Bord gespült worden und hätte sich hier mit letzter Kraft an Land gerettet. Es machte ihm Freude, ihr Mienenspiel zu beobachten, das zwischen Mitleid und Enttäuschung schwankte. Mitleid, weil er verletzt worden war und erschöpft vor ihr lag; Enttäuschung, weil sie eine geheimnisvolle Geschichte an Stelle dieser alltäglichen erwartet hatte.

«Nun will ich zum Großvater laufen und ihm sagen, daß Ihr wach seid», sagte sie. Da wurde schon die Tür geöffnet. Dimitro trat herein. Das Mädchen sprang auf. «Eben wollte ich zu Euch kommen, Großvater», rief sie und drückte sich an ihm vorbei.

Der Alte ging wortlos zu Paolos Lager. «Erzähle», sagte er, und Paolo wunderte sich über den kraftvollen Klang seiner Stimme.

Paolo berichtete. Dimitro bereitete ihm indes ein Frühstück. An gelegentlichen Bemerkungen erkannte Paolo, daß er jedes Wort verfolgte.

«Iß erst mal», sagte der Alte, als Paolo geendet hatte. «Wirst Hunger haben!» Er setzte ihm Brot und gedörrten Fisch vor, den er einer Holzkiste in der Ecke entnahm. Paolo, der lange Zeit nichts gegessen und große Anstrengungen hinter sich hatte, verspürte merkwürdigerweise keinen Appetit. Er aß einige Bissen Brot, schob das Essen dann von sich.

«Entschuldigt, Großvater», sagte er, «aber ich kann jetzt nichts essen.» Seine Stirn und seine Wangen glühten, und der Kopf schmerzte ihm.

Dimitro, der ihn beobachtet hatte, befahl ihm, sich umzudrehen. «Brauchst dir keine Sorgen zu machen», sagte er, «ich spreche heute abend mit den anderen. Du bleibst hier, bis du wieder gesund bist. Wir liefern keinen an die Schergen aus, wenn er nicht gerade ein Dieb oder ein Mörder ist… Nun beiß die Zähne zusammen!»

Dimitro untersuchte die verletzte Schulter, bewegte den rechten Arm des Kranken und murmelte unverständliche Worte. Paolo spürte große Schmerzen und eine fliegende Hitze, die den ganzen Körper ergriff.

«Bleib liegen!» befahl der Alte. Er verließ die Hütte und kam bald darauf mit einer Salbe zurück. Wieder die unverständlichen Worte murmelnd, bestrich er die kranke Schulter und band sie mit einem Tuch fest ein.

«Du darfst dich nicht bewegen, Junge», murmelte Dimitro, «ich werde dich wohl längere Zeit beherbergen müssen.»

Am Abend standen fünf Fischer um Paolos Lager und beratschlagten, was zu tun sei. Dimitro hatte ihnen die Geschichte des Fremden erzählt. Sie beschlossen, ihm Obdach zu gewähren, bis er gesund sei, und ihm dann zu helfen, ungesehen fortzukommen. Das schlanke Mädchen, eine Urenkelin des Alten, sollte ihn pflegen.

Paolo hörte von alledem nichts. Ein heftiges Fieber hatte ihn befallen. Die Fischer hatten ihm zwei Decken gebracht, damit er nicht friere in der Nacht. Sie lagen wie eine Bergeslast auf ihm; er versuchte sie abzuwerfen, aber als er sich aufrichtete, riß ihn ein furchtbarer Schmerz in der Schulter zurück, der eine Feuerlohe über den ganzen Körper jagte.

Ein Tor tat sich auf, davor gähnte ein Abgrund, in dem tosend das Wasser brauste. Er wollte zurückweichen; eine fremde Gewalt zwang ihn, den Fuß vorzusetzen, und als er zu stürzen drohte, wurde es hell. Eine breite Treppe, von Sonne überstrahlt, führte zu einem stillen See, dessen Ufer von Marmor eingefaßt waren. Am Ufer winkten Giovanni, Giannina und Marco. «Komm zu uns, Paolo. Wir warten auf dich. Komm!» Er sprang die Treppe hinunter, die winkenden Kinder wichen zurück, je schneller er lief, um so weiter entfernten sie sich von ihm. «Giannina!» rief er. «Giovanni! Marco! Bleibt doch. Warum rennt ihr weg?»… Es wurde finstere Nacht, der stille See verwandelte sich in ein brüllendes Meer, das über die Ufer trat und sich auf ihn warf. Er versank in dem grundlosen Wasser.

«Giannina», rief er mit letzter Kraft.

Giulia, die Urenkelin des Alten, pflegte ihn. Sie hörte seine Fieberschreie. Wenn er aus seinen Phantasien erwachte und die schweren Lider hob, kam sie zu ihm, um den Verband zu erneuern oder kalte Umschläge auf seine Stirn zu legen, die das innere Feuer, das ihn zu verzehren drohte, bannen sollten. Oder sie flößte ihm kühles Wasser zwischen die rissigen Lippen. Er wollte die Zunge bewegen, um einige Worte zu sagen, und wunderte sich, wieviel Mühe das kostete. Wochen vergingen, bis er wieder richtig sprechen und klar denken konnte.

Er bewegte den rechten Arm und stellte erfreut fest, daß die Schmerzen verschwunden waren. Giulia freute sich mit ihm, als sei sie selbst von der schweren Krankheit genesen. Aber mager war er geworden.

Als das Mädchen die Stube verließ, tastete er mit den Fingern sein Gesicht ab. «Ich muß ja wie ein Totenschädel aussehen», sagte er für sich, «überall spüre ich die Knochen. Und einen Bart habe ich wie ein Seeräuber.»

An den Fischgeruch in der Hütte hatte er sich gewöhnt, der gehörte dazu wie das winzige Fenster mit der Aussicht zum Strand und zur Lagune und die geschickten braunen Hände des alten Dimitro, der abends beim Schein der trüben Ölfunzel am Tisch saß und Heiligenfiguren oder kleine Segelschiffe schnitzte.

Paolo richtete sich von seinem Lager auf, stützte sich auf die Arme und blickte stolz umher. Giulia kam wieder in die Stube und schlug überrascht die Hände zusammen. «Ihr könnt ja schon sitzen», jubelte sie. «Das muß ich dem Großvater erzählen. Ich will Euch gleich das Essen zubereiten. Ihr müßt viel essen, damit Ihr wieder zu Kräften kommt.» Sie kochte ihm eine Fischsuppe, die er mit großem Appetit verzehrte.

Langsam erholte sich der von der Krankheit geschwächte Körper, so daß er daran denken konnte, in den nächsten Tagen aufzubrechen. Er sagte es Dimitro.

«Bleib noch eine Woche, dann kannst du gehen», sagte der Alte. Er hatte Paolo in sein Herz geschlossen und würde ihn gern noch länger beherbergt haben. Aber er spürte mit der Weisheit des Alters, daß Paolo unruhig war, solange er sich auf venezianischem Boden befand.

Giulia hatte ihn die ganze Zeit aufopfernd gepflegt. An einem Abend hatte er ihr auch wahrheitsgetreu erzählt, wie er auf die Schmugglerbarke gekommen war, seinen Kampf mit Kapitän Matteo und den Sprung über Bord geschildert. Sie wußte nun, daß er weggehen würde, um vielleicht niemals zurückzukehren.

Eine Frage quälte sie, die sie nicht länger zurückhalten konnte.

Draußen regnete es. Die Fischer waren mit ihren Booten und Netzen hinausgefahren. Großvater Dimitro war in das nahe Dorf gegangen, um gedörrte Fische zu verkaufen. Paolo saß am Tisch und schaute durch das kleine Fenster auf den verlassenen Strand. Giulia bereitete in einer hölzernen Mulde den Brotteig zu. «Großvater hat mir gesagt, daß Ihr bald weggeht», sagte sie. Paolo nickte.

«Was wird aber Giannina sagen, Eure Braut?» Sie richtete sich auf und strich mit dem Unterarm die blonden Haare aus der Stirn. Ihr Gesicht war gerötet. «Immer fallen mir die Haare ins Gesicht», sagte sie und lachte dabei.

«Was Giannina sagen wird?» fragte Paolo erstaunt. «Meine Braut?» Sie knetete den Brotteig und war ganz in ihre Beschäftigung vertieft.

«Nun ja», warf sie hin. «Ihr habt in Euren Fieberträumen so oft von Giannina gesprochen… Mir ist es ja gleich. Ich habe nur einmal gefragt.»

«So so», erwiderte Paolo, «ja, was wird sie wohl sagen?»

«Sie wird sehr traurig sein, meint Ihr nicht… Ach, da habe ich doch vergessen…» Sie lief in den Regen hinaus, ohne Tuch, mit dem Brotteig an den Händen. Nach einer Weile kam sie mit nassen Haaren zurück.

«Ein Wetter!» sagte sie.

Paolo sah wieder zum Fenster hinaus. Unaufhörlich fielen die Regentropfen auf das Wasser. Er dachte an Marco; er hatte Sorge, daß Messer Pietro Bocco etwas gegen ihn unternehmen würde. Für Giannina und Giovanni befürchtete er nichts, er war nur traurig, weil er sie wahrscheinlich lange Zeit nicht wiedersehen würde, vielleicht niemals mehr. Bevor er wegging, wollte er Dimitro bitten, daß er Marco einen Gruß übermittelte.

Giulia hatte ihn etwas gefragt und war in den Regen hinausgerannt. Jetzt stand sie wieder vor der hölzernen Mulde. Warum war er ihr die Antwort schuldig geblieben? «Ich sehe, daß Ihr traurig seid», sagte sie.

«Giannina ist nicht meine Braut», erwiderte er. «Aber Ihr habt recht, Giulia, sie wird sehr traurig sein, auch Giovanni und Marco…»

Giulias Gesicht wurde froh und traurig zugleich. Sie konnte sich vieles, was sie bewegte, nicht erklären. Ihre Hände steckten im Brotteig, und ihr Gesicht war über die hölzerne Mulde geneigt. «Auch ich werde traurig sein, wenn Ihr weggeht, Paolo», sagte sie.

Am nächsten Abend nahm Paolo Abschied von Venedig, von der schweigenden Gastfreundschaft der Fischer, von Dimitro, dem Hundertjährigen mit den jungen Augen in dem braunen, faltigen Greisengesicht.

Von Giulia.

«Vielleicht kommt Ihr einmal wieder?» sagte das Mädchen. Sie standen im Kreis um ihn herum. Es war dunkel. Die Füße in den groben Fischerschuhen standen im Sand. Das Wasser schimmerte fahl. «Ich danke euch allen», sagte Paolo.

Und zu Giulia: «Bestimmt komme ich einmal zurück, Giulia.»

Der Abschied war schwer. Er hatte eine neue Heimat gefunden und mußte sie schon wieder verlassen.

Ein Boot brachte ihn zum Festland. Die Fischer hatten Paolo ein Hemd, eine Jacke und Schuhe gegeben.

Da stand er nun auf der Landstraße, ein Leinensäckchen mit gedörrtem Fisch und Brot in der Hand, ganz allein auf sich gestellt, gesund und kräftig nach der langen Krankheit und mit einem frohen, freien Gefühl, das stärker war als der Abschiedsschmerz. Jetzt begann sein eigenes Leben, bisher hatte er nur für andere gelebt, war immer dagewesen, wenn man ihn brauchte, treu und zuverlässig, die eigenen Wünsche und Sehnsüchte tief im Herzen verborgen. Ein braves kleines Leben!

In der stürmischen Nacht, als er mit den Fäusten auf Kapitän Matteo losgegangen war, hatte etwas Neues begonnen.

Wie wird es weitergehen, Paolo? Vor ihm liegt die Landstraße, die nach Süden führt, durch Städte, deren Namen man mit Ehrfurcht nennt, über Hügel, Berge und Felsen, an der Meeresküste entlang, durch dichte Wälder und Olivenhaine.

Und Paolo wanderte über diese staubige Straße, arbeitete als Lastträger in einer kleinen Hafenstadt, trug in einer Bütte Erde den Berg hinan, die der Regen hinuntergespült hatte, half bei der Orangenernte am Golf von Gaeta, bettelte um Brot in der heiligen Stadt Rom, schlief in Ställen, Scheunen und Gasthäusern, wanderte, wanderte und träumte vom Canal Grande und einer Fischerhütte am Strande der Lagune.

Sein nächstes Ziel war Neapel, die Stadt am Fuße des Vesuvs, der düster aus dem blauen Meer aufsteigt.

Seine Bischöfliche Gnaden reiste von Neapel nach Rom. Papst Clemens IV. war vor einiger Zeit, am 29. November 1268, gestorben, und noch immer war kein Nachfolger gewählt worden. Da war es gut, des öfteren in Rom zu weilen. Der Bischof führte dreitausend Unzen mit sich, geborgen unter dem Sitz seiner Kutsche. Seine Bischöfliche Gnaden reiste mit bewaffneten Kriegsknechten; denn auf dieser Straße trieb ein Straßenräuber sein Unwesen, von dem man sagte, daß er den adligen Herren nicht wohlgesinnt sei.

Die Räder der Kutsche rollten über den Staub der Straße. Die ersten Januartage des neuen Jahres hatten Wind und Regen gebracht, heute aber war der Himmel blau, und die Sonnenstrahlen kündigten den Frühling an. Schon bedeckte sich das Land mit einem zartgrünen Schleier, und die Knospen begannen aufzubrechen. Rechts am schroffen Felsabhang hingen die Häuser eines jahrtausendealten Felsennestes, das nur auf schmalen Mulipfaden und über in den Fels gehauene Treppen erreicht werden konnte. Seine Bischöfliche Gnaden mußte genau hinsehen, wenn sie die grauen Häuser vom Grau der Felsen unterscheiden wollte.

über eine Treppe schritten zwei Frauen, hohe Tonkrüge frei auf den Köpfen tragend. Sie schritten wie Königinnen, stolz, mit edlen, unnahbaren Gesichtern, und verschwendeten keinen Blick an die auf der Landstraße Vorbeiziehenden.

Die Hufe der Pferde bewegten sich im leichten Trab. Die Kriegsknechte hatten die Hellebarden über die Schultern gelegt. Fünfundzwanzig ritten vor der Kutsche, fünfundzwanzig hinter der Kutsche — ein ganzer Hellebardenwald. Und in der Mitte Seine Bischöfliche Gnaden mit dreitausend Unzen Gold und einem Korb voll leckerer Speisen.

Die Räder rollten über den Staub der Straße. Die Sitze der Kutsche waren mit rotem Samt überzogen. Die Schuhe des Bischofs standen auf einem Teppich, kleine Schuhe an kleinen Füßen, die einen schweren Körper tragen mußten. Seine Bischöfliche Gnaden nahm einen Platz ein, der sonst für zwei gereicht hätte. Die Sonnenstrahlen schienen durch die Scheiben. Der Bischof zog die Vorhänge zu.

Er war den zweiten Tag unterwegs, nichts war bisher geschehen. Warum sollte nicht auch heute alles gut gehen? Er lehnte sich zufrieden und einigermaßen beruhigt in die Polster zurück. Noch immer war nicht entschieden, wer der Nachfolger des Heiligen Vaters werden würde. Könnte es nicht sein, daß man ihn in die engere Wahl zog? Seine Bischöfliche Gnaden gab sich längere Zeit diesem angenehmen Gedanken hin.

Die Kriegsknechte näherten sich einem Wald. Sie packten die Hellebarden fester. Einsam lag die Landstraße, kein Kaufmannszug, kein fahrendes Volk, kein Hund und keine Katze. Der Schatten des Waldes nahm sie auf, dichter Laubwald mit ersten, noch zusammengefalteten Blättern an den Spitzen der Zweige, von Sonne durchflutet, glatte und rauhe Stämme und Gestrüpp auf dem kühlen Waldboden.

Ein hochgewachsener, breitschultriger und hungriger Mann kam dem Bischofszug entgegen. Sie trafen sich an der Stelle, wo die Bäume links und rechts der Straße zurückwichen, als hätte die Natur sich hier einen Festraum geschaffen.

Paolo war es, der dem Bischof begegnete. Er wanderte nach Neapel und freute sich, weil die Sonne schien. Der Bischof reiste nach Rom und hatte die Vorhänge zugezogen. Paolo hielt den Hut in der Hand und trat zur Seite, um die Bewaffneten vorbeizulassen. Die Scheiben der Kutsche klirrten.

Seine Bischöfliche Gnaden verspürte Hunger und griff in den Korb, der ihm gegenüberstand.

Hinter den Bäumen wieherten Pferde, aber sie befanden sich in genügender Entfernung, so daß die Bewaffneten sie nicht hören konnten.

Angiolino, der König der Felder, stand hinter einem glatten Baumstamm und beobachtete, wie der Bischofszug sich der Mitte der Lichtung näherte. Es war sehr still im Wald, nur die Vögel zwitscherten oder flogen in den Zweigen umher.

Milchgesicht hatte, wie es in der letzten Zeit des öfteren geschehen war, einige Krüge Wein getrunken. Er rülpste laut. Angiolino warf ihm einen wütenden Blick zu.

Hinter jedem Baumstamm stand ein bewaffneter Mann. Im Hintergrund hielten zehn andere die Pferde bereit. Der Uberfall war bis in alle Einzelheiten vorbereitet worden. Drei Späher hatten Angiolino ständig über Ziel und Reisegeschwindigkeit unterrichtet, fünf andere hatten den günstigsten Platz für den Angriff ausgemacht und einen Pfad durch das Dickicht bis zu einer kleinen Lichtung mitten im Wald geschlagen, wo die Pferde untergebracht werden konnten. Ein zweiter Pfad, der als Fluchtweg dienen sollte, führte von dort wieder zur Straße zurück.

Angiolino hob die Hand. Das Zeichen wurde von Baum zu Baum weitergegeben. Die Bewaffneten stürmten mit eingelegten Lanzen ohne Geschrei auf die Straße zu. Angiolino hatte es so angeordnet, damit die Begleiter des Bischofs erst im letzten Augenblick gewarnt würden. Er wollte, daß die Uberfälle möglichst ohne Blutvergießen abgingen.

Milchgesicht aber, angefeuert durch den Wein und aus Widerspruchsgeist gegen Angiolinos Oberbefehl, stieß einen durchdringenden Schrei aus.

Der König der Felder erreichte an der Spitze eines zehnköpfigen Trupps als erster die Straße. Bevor die Kriegsknechte des Bischofs zur Besinnung kamen, starrten ihnen von drei Seiten die Lanzen der Straßenräuber entgegen. Die vierte Seite war offengehalten worden zur Ermutigung für diejenigen, die ihr Leben mehr liebten als den Geldsack des Bischofs.

Es hatte sich in der Gegend von Rom bis Neapel in Windesschnelle das Gerücht verbreitet, daß der König der Felder mit seinen Leuten den Kriegsknechten, die als Begleiter reicher Herren angeworben worden waren, kein Haar krümmte, wenn sie keinen Widerstand leisteten. Auf der anderen Seite war es so, daß sie ja ihren Sold nicht erhielten, um davonzulaufen, wenn Gefahr drohte. Sie konnten dafür zur Rechenschaft gezogen werden.

Der Anführer der Kriegsknechte befand sich im Angesicht der verwegenen Gesichter der Straßenräuber und der starrenden Lanzenspitzen für einen Augenblick in heftigem Zwiespalt, aber da er der Anführer war und ziemlich weit hinten stand, gab er den Befehl zum Angriff.

«Drauf und dran!» schrie er mit gellender Stimme und wendete sein Pferd, so daß es den Straßenräubern sein kräftiges Hinterteil zeigte.

Bevor jedoch die Kriegsknechte ohne Begeisterung ihrer Pflicht nachkommen konnten, gab es eine überraschende Wendung. Da war ja noch Paolo, der hungrige Mann mit dem Hut in der Hand, der wieder einmal ohne sein Zutun in eine Sache hineingeraten war, die böse auszugehen drohte. Er überlegte nicht so lange wie die Kriegsknechte, riß einem die Hellebarde aus der Hand und stürmte dem Trupp entgegen, der von Angiolino geführt wurde.

Im gleichen Augenblick gab es eine zweite Überraschung. Die Tür der Kutsche öffnete sich, zwei kleine Schuhe an kleinen Füßen sprangen behende vom weichen Teppich auf den Staub der Straße und präsentierten den Blicken der Straßenräuber einen dickleibigen, in Brokat und Samt gekleideten Körper mit unerschrockenem Gesicht. Seine Bischöfliche Gnaden verfügte über gewaltige Worte, die schon manchem armem Sünder in der Kirche und im stillen Kämmerlein heiße und kalte Schauer über den Rücken gejagt hatten.

«Hebt euch hinweg, ihr Teufelssöhne!» rief er und hob in heiligem Zorn die Arme. «Vergreift euch nicht an einem Diener des Herrn.» Er trat, das überraschte Schweigen ausnützend, auf Milchgesicht zu in der edlen Absicht, den Jüngling auf den rechten Weg zurückzuführen. «Und du, mein Sohn, mit dem sanften, kindlichen Gesicht, was hat dich in diese böse Gesellschaft geführt? Kehre um, ehe es zu spät ist…»

«Aufhängen!» krähte die wütende Stimme Milchgesichts dazwischen. Seine Bischöfliche Gnaden erbleichte, die gewaltigen Worte erstarrten auf seinen Lippen. Die kleinen Schuhe an den kleinen Füßen trippelten aufgeregt zur Kutsche und stiegen aus dem Staub der Straße auf den weichen Teppich.

Paolo war, nachdem er zwei Straßenräuber niedergeschlagen hatte, von den anderen überwältigt worden. Als er sah, wie die Kriegsknechte auf Befehl Angiolinos die Hellebarden wegwarfen und ihrem Anführer schleunigst auf der fürsorglich offengehaltenen Seite in den Wald hinein folgten, sagte er sich, daß er ein Narr gewesen sei. Aber was geschehen war, ließ sich nicht mehr ändern, er mußte die Folgen tragen.

Der Kutscher saß auf seinem Bock und wickelte seinen Bart um den Zeigefinger. Mit der freien Hand hielt er die Zügel straff.

Die Straßenräuber standen in guter Ordnung auf ihren Plätzen. Auf einen Wink Angiolinos trat der gewählte Schatzmeister der Truppe vor und bestieg die Kutsche. Dem Bischof, der ihm entsetzt in das sachliche, zum Geldzählen bereite Gesicht starrte, bedeutete er, auf der anderen Seite auszusteigen. Er hielt es nicht der Mühe wert, Seine Bischöfliche Gnaden nach dem Aufbewahrungsort des Geldes zu fragen, warf nur einen flüchtigen Blick auf Samt und Goldbrokatdeckchen, hob mit kundiger Hand den Sitz an und trat gleich darauf mit einem wohlgefüllten Säckchen auf die Straße. Seine Miene strahlte vor Zufriedenheit über seine sichere und erfolgreiche Arbeit. Als er die Tür der Kutsche zuschlug, fiel die Scheibe heraus und zerbrach auf dem festen Boden der Straße.

Der Schatzmeister sah Angiolino fragend an. «Wie üblich», sagte dieser.

«Nimm doch alles!» rief Milchgesicht entrüstet. «Hängt den Dicken auf. Kann Bischöfe nicht leiden.» «Schweig!» herrschte Angiolino ihn an.

Der Schatzmeister zählte gewissenhaft. Er sortierte die Münzen zu zwei gleichmäßigen Haufen. «Dreitausend Unzen», sagte er, zog einen oft benutzten Beutel aus der Tasche und schüttete tausendfünfhundert Unzen hinein. Die anderen wanderten in den Beutel seiner Bischöflichen Gnaden zurück. Er war nur halb gefüllt, aber immer noch recht stattlich anzusehen. Angiolino nahm ihn und ging zum Bischof, der ängstlich neben der Kutsche stand.

«Hier habt Ihr fünfzehnhundert Unzen», sagte er, «und nun geleite Euch Gott.»

Dann gab er den Befehl zum Aufbruch. Schneller als seine Bischöfliche Gnaden erwartet hatte, waren die Straßenräuber im Wald verschwunden.

Auf der Straße lag eine zerbrochene Hellebarde, stand eine Kutsche mit einer fehlenden Scheibe und ein Bischof mit fünfzehnhundert Unzen und einem verblüfften Gesicht.

Der Himmel war blau, die Sonne schimmerte durch das Filigran der Zweige, es roch nach Wald und Frühling.

Ein Bäuerlein kam wohlgemut seines Weges daher. Er zog einen Handwagen, auf dem ein liebevoll mit einem Stück Leinentuch bedeckter Ziegenbock stand. Als er an die Stelle kam, wo soeben der Überfall geschehen war, und die Kutsche, die zerbrochene Hellebarde und den um seine Pferde und den Bischof besorgten Kutscher gewahrte, verbeugte er sich in Ehrfurcht vor dem hohen Herrn und wollte mit Handwagen und Ziegenbock eiligst vorbei.

«Du Teufelsbraten, siehst du denn nicht, daß man hier einen Diener Gottes überfallen hat», schrie Seine Bischöfliche Gnaden, «sofort eilst du und alarmierst die Schergen. Straßenräuber haben mich überfallen. Eine ganze Kompanie soll kommen. Lauf, so schnell dich deine Beine tragen!» «Jawohl, Euer Gnaden.»

Das Bäuerlein setzte sich gehorsam in Trab. Die Räder des Handwagens hüpften über die Straße, der Ziegenbock, ängstlich bemüht, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, meckerte über die unwürdige Behandlung.

Nach einer Wegbiegung sah sich das Bäuerlein vorsichtig um. Seine Bischöfliche Gnaden und die Kutsche waren nicht mehr zu sehen. Er lief langsamer und bog in einen Waldpfad ein.

Nachdem er sich genügend weit von der Landstraße entfernt glaubte, hielt er an, öffnete den Schub und halb dem Böckchen, vom Wagen zu kommen.

«So, nun weide hier», murmelte er. «Wirst schon was finden. In die Geschäfte hoher Herren soll man sich nicht hineinmischen.» Er band das Böckchen an einen Baum und legte sich an einer sonnigen Stelle zu einem Schläfchen nieder.

Angiolino befahl, Paolo zum nahe gelegenen Schlupfwinkel der Räuber mitzuschleppen. Milchgesicht knurrte wütend, wagte aber keine Widerrede. Die Wirkung des Weins ließ nach. Die Worte des Bischofs hatten ihn zutiefst getroffen. Er haßte jeden, der auf seine zarte Gesichtshaut und die kindlichen Züge anspielte, die allerdings, wenn man genauer hinsah, Kälte und Grausamkeit nicht verbergen konnten. Er kochte innerlich vor Wut, daß er sich an dem Dicken nicht hatte rächen dürfen.

Die beiden Räuber, die Paolo niedergeschlagen hatte, waren wieder guter Dinge. Der eine trug an der Stirn mit Stolz eine riesige Beule zur Schau.

Paolos Hände waren gefesselt. Man hatte ihm einen Strick um den Hals gelegt, dessen Ende sich in der Hand eines Reiters befand, so daß Paolo gezwungen war, wollte er nicht erdrosselt werden, schnell neben dem Pferd herzulaufen. Zum Glück war die Strecke des Weges, die sie im Galopp auf der Straße zurücklegten, nicht weiter als tausend Schritt. Sie bogen in einen Seitenweg ein, der zum Fuß einer steilen Anhöhe führte. Angiolino ließ Paolo die Fesseln abnehmen. Milchgesicht ging dicht an ihm vorbei. «Oben wirst du gehängt!» flüsterte er ihm zu.

Paolo überlegte, ob er den blutdürstigen Milchbart niederschlagen und einen Fluchtversuch unternehmen solle, sagte sich aber, daß das keinen Sinn habe. So beschloß er, abzuwarten, was der Anführer von ihm wollte, der einen guten Eindruck auf ihn gemacht hatte.

Sie stiegen einen schmalen; steinigen Pfad hinan, zogen die Pferde an den Zügeln hinter sich her, hielten sich dicht an die Felsenmauer, stiegen höher und immer höher. Links klaffte ein Abgrund. Der Pfad war an manchen Stellen nicht breiter als fünf Fuß; Steine, die sich unter den Tritten der Menschen und Pferde lösten, fielen in die Tiefe.

Unter ihnen lagen die grauen Häuser eines Dorfes, das wie das Nest eines Raubvogels in die Felsnischen gebaut war. Blickte man zurück, sah man die gewundene Linie der Straße, einen schimmernden Flußlauf und den Waldstreifen.

Der Mulipfad führte in das Felsgewirr und entzog die Schar den Augen neugieriger Beobachter. Lediglich vom Dorf aus waren sie noch zu sehen. Kamen aber die Schergen in dieses Dorf und fragten, ob die Bauern die Straßenräuber gesehen hätten, zuckten diese mit den Achseln. Angiolino nahm den Reichen und gab den Armen. Man nannte ihn «König der Felder», weil er stärker und schlauer war als die Herren, denen die Äcker, Wiesen, Gewässer und die armen Landleute gehörten.

Paolo wischte sich den Schweiß von der Stirn. Leb wohl, Venedig, dachte er, lebt wohl, Dimitro und Giulia, lebt wohl, Giovanni, Giannina und Marco. Ein Schritt nach links und ich falle tausend Fuß tief in den Abgrund. Er war es nicht gewöhnt, auf solchen halsbrecherischen Wegen zu gehen. Venedig war weit und eben und wurde nachts von den Wassern der Lagune in den Schlaf gewiegt.

Der Weg stieg jetzt so steil bergan, daß Paolo auf allen vieren kriechen mußte. Vom Dorf her sah es aus, als krochen seltsame Insekten eine Wand empor. Die Pferde setzten vorsichtig ihre Füße und hielten die Köpfe geneigt, daß die Mähnen fast den Boden berührten. Schimpfworte schallten durch die klare Luft, wenn die Hufe auf den Steinen ausrutschten.

Endlich hatte Paolo die letzte steile Strecke überwunden; er blieb einen Augenblick stehen, Wind zauste an seinem Haar und zerrte an den Kleidern. Ein rechteckiges weites Plateau, spärlich mit Gras und kniehohem Gebüsch bewachsen, bot sich seinen Blicken dar. Kalt war es hier oben. Paolo bemerkte zu seinem Erstaunen eine ganze Anzahl Häuser, die vor Jahrtausenden aus Felssteinen erbaut worden waren und bisher jedem Sturm getrotzt hatten. Der Ackerbau hatte sich nicht mehr gelohnt auf dieser winddurchwehten ebenen Fläche; aus diesem Grunde waren die Häuser seit über hundert Jahren unbewohnt, bis Angiolino mit seiner Truppe hier eingezogen war.

Nur der eine Pfad führte zu dem Schlupfwinkel. Zwei Männer konnten ihn verteidigen, falls die Schergen einmal wagen sollten, sie anzugreifen. Nahrungsmittel lagen genügend bereit. Im Notfall konnte die Truppe eine zweijährige Belagerung aushalten. Auch Wasser war vorhanden. Ein Bach, von einer Quelle gespeist, endete am Rand des Felsens in einem Wasserfall, der brausend in die Tiefe stürzte.

Neben einem Haus brannte ein Feuer; zwei Männer brieten eine Ochsenkeule am Spieß. Ein Teil der Truppe blieb bei jedem Unternehmen zu Hause, um die notwendigen Arbeiten zu verrichten und von den Bauern der Umgebung Proviant einzukaufen. Sie zahlten gut, und die Bauern gaben ihnen gern von ihren Erzeugnissen ab.

Paolo vergaß beinahe, daß er als Gefangener herumlief. Er beobachtete mit regem Interesse, was hier oben geschah. Ganz unvermutet hatte sich seinen Blicken dieses seltsame Treiben auf dem Plateau, das den Himmel als Dach und die zerklüfteten Felsen zu Wächtern hatte, dargetan, eine kleine Welt für sich, in der andere Gesetze galten als einige tausend Fuß tiefer.

Hier gab es keine Herren und keine Knechte. Angiolino war der gewählte Anführer, und wenn wichtige Entscheidungen zu treffen waren, rief er alle zusammen und beriet sich mit ihnen. Die Truppe bestand in ihrer Mehrheit aus armen Bauern, die ihren Herren davongelaufen waren, weil sie die Bedrückung nicht mehr ertragen wollten, oder aus Abenteuerlust an dem wilden, freien Leben, das sie in den Bergen zu finden glaubten. Es gab auch Raufbolde unter ihnen, der übelste war Milchgesicht, Sohn eines heruntergekommenen Grafen aus Kalabrien. Er war vor Jahren von Hause weggelaufen, weil man ihn wegen eines Totschlages zur Rechenschaft ziehen wollte. Angiolino war bestrebt, einen nach dem anderen von diesen Gesellen zu entfernen.

Der Kern der Truppe war gut und unterstützte des Anführers Gerechtigkeitssinn.

Die Reiter hatten ihre Pferde versorgt, blieben in Gruppen stehen und unterhielten sich über den geglückten Überfall oder gingen in die Häuser hinein. Paolo, statt über einen Fluchtweg nachzudenken, stand noch immer im Banne des Lebens auf dem Plateau, das sich gleichsam auf einer riesigen steinernen Handfläche, die in den Himmel hineingestreckt war, abspielte. Es hätte auch keinen Zweck gehabt, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Stand man am Rand der Hochfläche, fielen die Felswände so steil bergab, daß jeder Abstieg den sicheren Tod bedeutete. Und der Mulipfad war bewacht, keine Maus könnte ungesehen vorbeischlüpfen.

Paolo hatte nicht länger Gelegenheit zum Schauen und Überlegen. Ein junger Bursche, schlank, mit einem sommersprossigen Gesicht und rötlichem Haar, näherte sich.

«Komm, Fremder, ich muß dich einsperren», sagte er, nicht unfreundlich, wie es Paolo schien.

«Was habt ihr mit mir vor?» fragte Paolo.

«Wenn es nach Milchgesicht geht, wirst du aufgehängt.» Der Sommersprossige warf dem Gefangenen einen schnellen, prüfenden Blick zu.

Paolo erwiderte nichts. Im Augenblick war ihm alles gleichgültig. Hunger hatte er, seit Tagen hatte er nichts Vernünftiges gegessen. Sie gingen an dem Feuer vorbei, der Duft des gerösteten Ochsenfleisches stieg ihm in die Nase. «Ich hätte nichts dagegen, vor dem Aufhängen noch ein Stück Ochsenfleisch zu essen», sagte er.

Der Sommersprossige lachte auf. «Komm nur», sagte er, «das Haus da drüben ist es.»

Er schob einen großen rostigen Riegel zurück und öffnete die Tür.

Paolo ging hinein. Die Tür wurde wieder verriegelt. Er befand sich in einem größeren Raum, der früher wohl als Stall für zwei Pferde gedient hatte. Durch ein schmales, scheibenloses Fenster in der rechten oberen Ecke fiel Licht herein. Es genügte gerade, um die wenigen Einrichtungsgegenstände erkennen zu lassen: eine Bank, ein Krug, zwei Futterkrippen, eine Schütte Stroh, umgeben von nacktem Felsgestein.

Paolo tastete die kühlen Wände ab, setzte sich dann auf das Stroh. Er war müde nach dem wilden Lauf mit dem Strick um den Hals und der anstrengenden Kletterpartie. Durch die Tür hörte er fröhliche Zurufe, das Wiehern eines Pferdes und die Wortfetzen eines Gespräches, versuchte aber nicht, den Sinn der Worte zu erraten. Warum auch? Draußen schien die Sonne, wehte der Wind. Und wenn es nach Milchgesicht ginge, würde er heute abend aufgehängt werden.

Er saß eine Weile und wunderte sich, daß er den kommenden Ereignissen ohne sonderliche Gefühlsregungen entgegensah. Er vermutete nach allem, was er unterwegs gehört hatte, daß er sich in der Gewalt des Mannes befand, dem man Gerechtigkeit und Liebe zu den Geringen nachsagte. Wenn es so war, konnte er dem Abend guten Mutes entgegensehen.

Bevor er noch weitere Überlegungen anstellen konnte, wurde wieder der Riegel zurückgeschoben und die Tür geöffnet. Der Sommersprossige brachte ihm ein Stück Ochsenfleisch, einen Kanten Weißbrot und einen Krug mit frischem Wasser.

«Sollst nicht hungern bei uns», sagte er, «brauchst auch nicht ängstlich zu sein. Milchgesicht hat nichts mehr zu bestimmen. Iß nur!»

Das waren gute Worte für Paolo. Der Sommersprossige gefiel ihm. Das Stück Ochsenfleisch war groß genug, um ihn für Tage mit Fleisch zu sättigen. Nachdem er gegessen hatte, legte er sich auf das Stroh, erfreute sich an dem Sonnenstreifen, der den Raum durchschnitt, und schlief schließlich ein.

Am Abend versammelte sich die Truppe, etwa hundertzwanzig Köpfe, um ein Feuer, das windgeschützt in einer Erdmulde brannte. Im weiten Rund saßen die Männer auf der Erde und warteten auf den Gefangenen.

Angiolino saß im Kreis seiner Zehnerschaftsführer und blickte düster in die Hammen. Er hatte vor einer Stunde mit Milchgesicht, der bereits wieder nach Wein roch, eine heftige Auseinandersetzung gehabt und einige Unverschämtheiten des Angetrunkenen schweigend eingesteckt. Es war höchste Zeit, daß er den Raufbold und Mörder mit seinen Spießgesellen aus der Truppe entfernte.

Die Nacht war sternenklar, Über die ebene Fläche mit den wenigen Vertiefungen pfiff der ewige Wind und trug die Rauchwolken mit sich fort. Die Schatten der gezackten Berge wuchsen drohend in den nächtlichen Himmel. Die Gesichter der Männer, weiße und braune, junge und alte, waren vom rötlichen Feuerschein getönt, viele Augenpaare beobachteten erwartungsvoll, wie der Gefangene vor Angiolino gebracht wurde.

Paolo überflog die schweigende Versammlung, sah hinter den auf dem Boden sitzenden Männern die eingezäunte Koppel mit den weidenden oder ruhenden Pferden, hörte das Heulen des Windes, das Brausen des Wasserfalles und glaubte einen flüchtigen Augenblick lang, die heimatliche Nähe des Meeres zu spüren. «Kennst du mich?» fragte Angiolino.

Paolo verneinte.

Das Feuer lohte auf, spiegelte sich hundertfach in den funkelnden Augen, die wie die Lichter von Raubtieren auf den großen, breitschultrigen Mann gerichtet waren.

«Man nennt mich den König der Felder», sagte Angiolino stolz. «Wir nehmen den Reichen und geben den Armen. Hast du von uns gehört?»

«Ich habe von Euch gehört.»

«Und du Narr hast den dicken Bischof verteidigt?» fuhr Angiolino ihn an. «Weißt du nicht, daß er die dreitausend Unzen, die er bei sich führte, aus seinen Bauern herausgeschunden hat?»

«Als ich den Bischof verteidigte, wußte ich noch nicht, wer Ihr seid.» Paolo sprach ohne Furcht.

«Er lügt!» schrie Milchgesicht dazwischen. «Hängt ihn auf!»

«Halt dein Maul!» Angiolinos Stimme klang hart und entschlossen. Milchgesicht knirschte wütend mit den Zähnen. Die Männer schwiegen.

Angiolino, äußerlich vollkommen beherrscht, wandte sich wieder an den Gefangenen: «Erzähl, wer du bist und woher du kommst. Sprich laut, daß alle es hören!»

Paolo senkte den Kopf. Er sollte erzählen, wer er war. Die Hammen zogen seine Blicke auf geheimnisvolle Weise an. Und ringsum die Gesichter mit den geschwungenen Kerben der Münder, den hohen und niederen Stirnen, die um die Knie gefalteten Hände, das gespannte Schweigen! Es war ihm, als müsse er jedem einzelnen Rechenschaft geben, warum er den Bischof verteidigt hatte. Vor ihm saß eine Schar von Richtern, sie trugen keine kostbaren Roben, schauten nicht hochmütig auf ihn herab. Sie saßen auf der Erde und wollten wissen, wer er war.

Angiolino hatte die Gabe, nicht ungeduldig zu werden, wenn die Zeit verrann, während der andere nachdachte. Einmal nur war er ungeduldig geworden, als man ihm für einen krepierten Esel seine kümmerliche Habe nahm.

Wer bist du, und woher kommst du? Eine einfache Frage für Paolo, von der es abhing, ob er weiterleben oder gehängt werden würde. Er wollte nicht gehängt werden.

Ein Diener war ich, ein Schmuggler wurde ich, weil Messer Pietro Bocco es befahl, ein Landstreicher bin ich. Das ist die Wahrheit. So würde er antworten.

Der eine, der dicht am Feuer saß, hatte eine Beule an der Stirn von Paolos Faust. Aber er sah genauso ruhig und erwartungsvoll auf den Gefangenen wie die anderen. «Erzähle!» forderte Angiolino noch einmal.

«Hängt ihn doch auf, den Hund!» schrie Milchgesicht. Was er sagte, war weniger gegen den Gefangenen gerichtet. Angiolino wußte das. Ein drohendes Gemurmel ertönte.

Angiolino sprang auf und schlug dem Überraschten mit der Faust vor die Stirn.

«Du Bauernlümmel!» brüllte Milchgesicht. Er taumelte zurück und zog das Schwert. «Jetzt ist es aus mit dir!»

«Weg mit ihm!» befahl Angiolino.

Fünf stürzten vor, überwältigten den wütend um sich Schlagenden. Das Schwert fiel klirrend auf die Steine.

Sie brachten ihn zum Rand des Felsens, dort, wo der Wasserfall in die Tiefe stürzte.

Ein gellender Schrei übertönte das Heulen des Windes.

Die Spießgesellen Milchgesichts, fünf oder sechs unter den Hundertzwanzig, senkten ihre Gesichter. Die anderen atmeten auf, von einem Alpdruck befreit. Einmal hatte es so kommen müssen. Angiolino hatte lange zugesehen, sehr lange…

Die fünf Männer kamen zurück und setzten sich auf ihre Plätze. «Nun sprich 1» forderte Angiolino den Gefangenen auf.

Paolo war es, als erwache er aus einem Traum. Er bezwang sich, das Unbegreifliche, was er soeben erlebt hatte, zu vergessen.

Und er erzählte seine Geschichte. Keiner unterbrach ihn. Die Ohren hörten die Worte, und die Herzen verstanden sie. Noch nie hatte Paolo von seinem Leben erzählt. Noch nie hatte jemand gefragt: Wer bist du? Jetzt aber, im wärmenden Schein des nächtlichen Feuers, kamen die Worte von selbst über seine Lippen.

Angiolinos düsteres Gesicht hellte sich auf.

«Bei mir war es ein Esel», sagte er, als Paolo geendet hatte. «Bei dir waren es fünfzehn Säcke Salz. Es kommt auf das gleiche hinaus. Immer kommt es auf das gleiche hinaus.»

Die anderen nickten stumm und sahen gedankenvoll ins Feuer.

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