BRUDER LORENZO

DER TOD DER MUTTER HATTE EINE TIEFE SPUR IN Marcos Seele hinterlassen. Manchmal glaubte er noch, ihre leisen Schritte in dem stillen Haus zu hören; und der Schmerz verdunkelte seine Augen. Aber bald spürte er, daß es eine Kraft im Menschenleben gibt, die alle Wunden heilt.

Der Herbstwind wehte über Meer und Lagune. Die Sonnenblumen in Venedigs Gärten welkten; taumelnd fielen gelbe und braune Blätter in die Kanäle und schaukelten auf den Wellen.

Marco achtete nicht auf das Heulen des Windes. Er saß in seiner Stube über eine Handschrift gebeugt, die ihm sein Lehrer, der Bruder Lorenzo, gegeben hatte. Sie berichtete, wie der blinde Doge Enrico Dandolo, ein hochgewachsener, weißhaariger Greis von 93 Jahren, an der Spitze eines Kreuzritterheeres Byzanz, die von mächtigen Mauern geschützte Hauptstadt des Oströmischen Kaiserreiches, erobert hatte.

Noch lebten Männer in Venedig, die an diesem Kriegszug, der unermeßliche Beute und viele Handelsvorteile für die venezianischen Kaufleute brachte, teilgenommen hatten. Einer von ihnen war Bruder Lorenzo. Er war damals, im Jahre 1204, achtzehn Jahre alt gewesen und gehörte zu den ersten Angreifern, die von den hohen venezianischen Schiffen mit Hilfe von Holzbrücken auf die Festungsmauern gestiegen waren und die griechischen Verteidiger nach hartem, erbarmungslosem Kampf zurückgetrieben hatten. Allen voran, die Soldaten durch seinen Mut anfeuernd, war Enrico Dandolo, mit dem weißen Kreuz auf dem prächtigen Purpurmantel, in die Stadt eingedrungen.

Marco las die Handschrift, die ein Mönch in der Einsamkeit seiner Zelle geschrieben hatte, mit atemloser Spannung. Er empfand eine sonderbare Genugtuung, als er die Berichte über die Eroberung von Byzanz studierte. Seine Phantasie wurde durch die Schilderung des Kampfes so angeregt, daß er während des Lesens plötzlich aufsprang, zu einem eingebildeten Schwert griff und mit geschlossenen Augen auf die feindlichen Soldaten eindrang, wie es der greise Doge getan hatte. Unversehen hatte sich die Stube in einen Kampfplatz verwandelt. Marco legte den linken Unterarm auf den Rücken und streckte mit einem furchtbaren seiner Rechten den Gegner nieder.

Draußen vertrieb der Wind das graue Gewölk und öffnete einen Spalt durch den die Sonnenstrahlen, zaghaft erst, dann immer stärker und heller, Wasser, Steine, Äcker und Gärten mit goldenem Licht übergossen.

Doch Marco sah nicht, daß die Sonne schien. Er war der blinde Doge Enrico Dandolo, ein Riese an Energie und kämpfte, mit dem Rücken an die Mauer der Festung gelehnt, die Soldaten durch wilde Zurufe an feuernd, gegen die Übermacht des Feindes.

Das Kampfgetümmel wurde stärker. «Avanti amigi!» schrie Marco und stürmte mit erhobenem Schwert vorwärts.

Die Fensterläden klapperten; Marco rannte mit dem Knie gegen einen schweren Eichenstuhl. Er spürte keinen Schmerz, wurde aber durch das polternde Geräusch aus seiner vorgestellten Welt in die Wirklichkeit zurückgebracht. Erschöpft hielt er inne, ließ das unsichtbare Schwert sinken und öffnete die Augen.

Marco sah sich nach allen Seiten um, ängstlich, daß jemand seine gewaltigen Kriegstaten bemerkt haben könnte. Er war allein im Zimmer. Vor ihm lag der umgestürzte Eichenstuhl. Ein breiter Sonnenstreifen zeichnete sich auf dem Teppich ab. Im welkenden Laub des Kastanienbaumes, der einsam auf dem viereckigen Hof stand, rauschte der Wind.

Byzanz lag weit, Byzanz mit seinen Palästen und Kirchen aus weißem Marmor, mit den vergoldeten Kuppeln griechischer Tempel, die sich im Blau des sonnenbeschienenen Marmarameeres spiegelten.

Auf dem Tisch lag die Handschrift, jeder Buchstabe mit Liebe und weiser Geduld geschrieben, zu Worten und Sätzen sich fügend, die eine wunderbare Kraft ausströmten, eine Kraft, die in Marco wirkte und ihn gezwungen hatte, zum Schwert zu greifen und mit der Kniescheibe einen schweren Eichenstuhl umzustoßen.

Marco lächelte, als er den Schmerz jetzt spürte.

Byzanz war so nah, daß man es mit den Händen greifen konnte. Er brauchte nur die Augen zu schließen, um die Bilder lebendig werden zu lassen.

Marco stellte den Eichenstuhl wieder auf die Füße und ging zum Fenster. Der gewohnte Anblick des gepflasterten Hofes mit dem Kastanienbaum und dem gegenüberliegenden Haus vermittelte ein Gefühl der Ruhe und Geborgenheit, auch wenn der Herbstwind sich stürmisch gebärdete und die jagenden Meereswogen der Adria ahnen ließ.

Marco hatte erst nach dem Tode seiner Mutter begonnen, sich tiefer mit den Wissenschaften zu befassen. Früher hatte er den Unterricht nicht recht ernst genommen. Lieber war er mit Giovanni und Giannina durch die Insel Murano gestreift, hatte im Schilf verborgen auf den Brettern des alten Fischerkahns gesessen und mit den Freunden romantischen Träumen nachgehangen. Das Lernen war ihm nicht schwergefallen, schnell hatte er sich die Regeln der Grammatik und die Grundgesetze der Mathematik eingeprägt, ohne Stocken konnte er Stellen aus der Heiligen Schrift oder die verlangten Psalter hersagen.

Jetzt aber war es, als hätte eine starke Hand ihn ins Leben gestoßen: da, schau! Alles, was du siehst, ist lebendig. Die Kirchen, Paläste und Denkmäler sind keine toten Gegenstände, sie haben ihre Geschichte und sind ein Teil der Geschichte Venedigs; aber auch die Fischerdörfer, die Werkstätten der Handwerker, die Glashütten auf Rialto und Murano, die Kriegs- und Handelsschiffe, die Stapelplätze an den fernen Küsten gehören zur Geschichte Venedigs. Das Meer gehört dazu, die Kanäle gehören dazu und die ungezählten Arbeitshände, die Dämme bauen, Flüssen neue Betten graben und Eichenpfosten in den schlammigen Grund rammen, damit neue Häuser, neue Paläste, neue Kirchen entstehen können…

Bruder Lorenzo war über das steigende Interesse seines Zöglings an den Wissenschaften sehr erfreut und schätzte seine Beobachtungsgabe. Auch Pietro Bocco, der nach dem Tode der Mutter als Vermögensverwalter und Vormund eingesetzt worden war, sah es gern, wenn sich Marco in seine Stube vergrub und lernte. «Wirst mal ein studierter Mann werden», hatte er mit wohlwollendem Lächeln zu seinem Neffen gesagt. «Venedig braucht solche klugen Köpfe.» Während Marco zum Fenster hinaussah, erinnerte er sich an die Warnung des getreuen Paolo: «Nehmt Euch vor Messer Pietro Bocco in acht, Herr. Ich kann Euch nichts Genaueres sagen, aber ich fühle, daß Ihr auf der Hut sein müßt.»

Viele Gedanken wohnten in Marcos Kopf und hielten ihn in ständiger Unruhe. Diese Unruhe hatte nichts Quälendes, sie half ihm, das zurückliegende Schwere zu vergessen und dem Gegenwärtigen und Kommenden nachzuspüren.

Die Tür wurde geöffnet; Paolo trat ein.

«Es ist Zeit, Herr, zum Bruder Lorenzo zu gehen. Ich sollte Euch erinnern, daß Ihr die Handschrift mitnehmt.»

Marco trat vom Fenster zurück und machte sich zum Ausgehen fertig.

«Wir müßten bald wieder nach Murano fahren», sagte er aus seinen Gedanken heraus.

«Messer Pietro Bocco sieht es nicht gern», erwiderte Paolo mit einem schnellen Blick auf seinen Herrn.

Marcos Gesicht rötete sich vor Zorn, die Schläfenadern zuckten im Takt des schnellen Herzschlages.

«Ich mache, was ich will!»

Uber Paolos Gesicht ging ein zufriedenes Leuchten.

«Vielleicht verbietet er mir noch, das Grab der Mutter auf San Michele zu besuchen», sagte Marco, noch immer zornig.

«Ich muß Euch etwas sagen, Herr.» Paolo schaute sich um, als befürchte er einen Lauscher. Marco sah ihn fragend an und hielt in seinen Bewegungen inne, als er den ungewöhnlichen Ernst im Gesicht des Dieners sah.

«Was gibt es denn, Paolo?»

«Heute morgen hat man die Leiche des Schreibers Luigi Farino aus dem Kanal gefischt. Mit einem Dolch im Rücken.»

Marco trat dicht an Paolo heran und faßte ihn an den Schultern: «Ist das der Schreiber, von dem du mir erzählt hast?» Er schüttelte Paolo. «Hast du es getan, Paolo? Sag schnell, hast du es meinetwegen getan?» Marcos Blicke ruhten in Ernst und Sorge auf dem großen, guten Gesicht des Dieners.

«Ein anderer hat ihn aus dem Wege geräumt. Vielleicht wußte er zuviel. Die Herren zögern nicht, wenn es gilt, einen unbequemen Mitwisser zu beseitigen.»

«Gott sei Dank, Paolo… Ich hatte Angst um dich.»

«Ich passe schon auf», murmelte der Diener, «Tag und Nacht passe ich auf.» Und laut sagte er: «Ich begleite Euch zum Bruder Lorenzo, Herr!»

Sie verließen das Haus zu Fuß. Der Wind hatte die Straßen getrocknet, so daß man gut gehen konnte. Marco trug die Handschrift in seiner Tasche und achtete darauf, daß sie nicht beschädigt wurde.

Vor einem kleinen Haus, in der Nähe der vor vier Jahren erbauten Ponte della moneta, die über den Canal Grande zum Alten Rialto führte, verabschiedete er sich von Paolo.

Bruder Lorenzo saß auf dem lederbezogenen Stuhl; vor ihm, auf dem Pult, lag ein aufgeschlagenes Buch. Ein kleiner weißer Pudel sprang freudig bellend an Marco empor.

«Schweig, Tiberius!» sagte der Alte mit lustigem Augenblinzeln. Aber Tiberius merkte, daß die Ermahnung nicht ernst gemeint war, und bellte noch lauter, bis Marco ein kleines Paket aus der Tasche zog und ihm die begehrten Knochen zuwarf.

In der Gelehrtenstube fiel alles von Marco ab, was ihn eben noch beschäftigt hatte.

«Du vergaßest den Gruß, den ich dich lehrte», sagte Bruder Lorenzo, «daran ist wohl Tiberius schuld?»

Marco wurde rot. «Friede diesem Hause!» sagte er. «Amen!» erwiderte Bruder Lorenzo. «Nun setz dich! — Und du, Tiberius, wirst uns nicht mehr stören!»

Tiberius zerbiß krachend einen Knochen.

«Er hat mit dem Kopf genickt, Bruder Lorenzo», wagte Marco einen Scherz.

Der Alte lächelte. Er war von mittlerer Gestalt und trotz seines Alters noch schlank. Mit seinem weißen Kopf- und Barthaar und der braunen Kutte ohne Kapuze sah er wie einer jener Apostel auf den Kirchengemälden aus. Nur sein Gesicht war nicht so kindlich gutmütig, sondern zeigte eher leidenschaftliche, listig-verschlagene Züge, die durch eine weise Abgeklärtheit gemildert wurden. Die Augen waren flink und klein und schienen bis auf den Grund der Seele sehen zu können.

Gestern hatte Bruder Lorenzo hohen Besuch empfangen. Messer Pietro Bocco war bei ihm gewesen und hatte sich nach den Fortschritten seines Neffen beim Studium der geistlichen Wissenschaft erkundigt. Er ließ durchblicken, daß er es gern sähe, wenn Marco sich unter Bruder Lorenzos Einfluß entschließen würde, Mönch zu werden. Als er sich mit freundlichem Nicken verabschiedete, legte er einen Beutel auf den Tisch, der, wie Bruder Lorenzo gleich darauf feststellte, 25 Zechinen enthielt.

Nun hieß es im 4. Kapitel der «Regel der Minderbrüder», daß kein Bruder, weder er selbst noch durch eine Mittelsperson, Geld irgendwelcher Art annehmen dürfe. Das brachte den Bruder Lorenzo, wie des öfteren, in arge Gewissenspein. Aber er sagte sich auch diesmal, daß er als Franziskanermönch auf seinen weiten Pilgerfahrten genügend Armut und Hunger kennengelernt habe und keine allzu große Sünde begehe, wenn er die 25 Zechinen einstecke, um den Abend seines Lebens durch ein Gläschen Wein und ein gebratenes Hühnchen zu verschönern. Der Messer Pietro Bocco verlangte ja nichts Schlechtes, im Gegenteil etwas Gottwohlgefälliges von ihm. Er sollte diesen klugen, aufgeweckten Knaben in den Schoß der Kirche führen.

Natürlich ahnte Bruder Lorenzo, daß der kühl rechnende Kaufmann nach dem Vermögen der Familie Polo trachtete. Er war sich noch nicht klar, auf wessen Seite er sich schlagen sollte; denn er spürte zu dem Knaben eine väterliche Zuneigung.

Marco, der von diesen Gedanken nichts ahnte, sah erwartungsvoll in die von zahllosen Fältchen umgebenen, erfahrenen Augen seines Lehrers.

«Du hast die Handschrift mitgebracht? Das ist gut. Wie hat sie dir gefallen, mein Sohn?»

«Bruder Lorenzo, erzähl mir von Enrico Dandolo. Ihr habt ihn doch mit eigenen Augen gesehen.»

Uber Marcos Gesicht flog ein Schein freudiger Erwartung. Der Pudel Tiberius kam gesättigt aus seiner Ecke und legte sich zu Füßen seines Herrn nieder; er schaute Marco an, als verstände er alles, was um ihn vorging.

Bruder Lorenzos weiße Augenbrauen zogen sich sinnend zusammen. Hinter dem Stuhl mit den bequemen Armlehnen standen Vasen mit bunter Malerei und kleine Bronzefiguren. Unter dem Muttergottesbild brannte ein Lämpchen. An der Wand, dem Alten gegenüber, hing ein Bild des heiligen Franz von Assisi, des Begründers des Franziskanerordens.

«Mir ist kalt, bring mir das Kohlebecken!» befahl der Alte. Marco holte das Becken und blies in die aus aufrecht stehenden schmiedeeisernen Eichenblättern gebildete Schale. Bruder Lorenzo hielt die Hände darüber und blickte in die glimmenden Holzkohlen. Die Wärme belebte seine Erinnerung.

«Du kommst zu einer guten Stunde, mein Sohn. Es gibt Augenblicke im Leben alter Menschen, da scheint die Gegenwart gestorben zu sein, und nur das Vergangene lebt.»

Ein warmer Glanz verjüngte seine Augen, als er zu erzählen begann: «Du willst von großen Kriegstaten hören, von der Eroberung Byzanz' oder von den Kämpfen gegen die Genuesen… Nicht davon will ich dir heute erzählen.

Etwas anderes ist in meinem Herzen lebendig; nicht minder interessant ist es, du wirst es bestätigen, wenn du es gehört hast.»

Der Alte bannte mit einem Blick den Unwillen, der sich in Marcos Miene andeutete.

«Sieh dich um», fuhr er fort, «da ist das Bild des Bruders Franz. Schau ihn dir an. Im Jahre 1221, heute vor 47 Jahren genau, habe ich den seligen Franz zum erstenmal gesehen. Es war auf dem Generalkapitel bei der heiligen Maria von Portiuncula. Wohl dreitausend Brüder saßen am Abhang des sanften Berges; der Wind hatte sich gelegt, und die Sonne schien wie an einem heißen Sommertag. Der heilige Franz war schon gebrechlich, so daß an seiner Statt Bruder Elias sprach…»

«Ihr wart einer der dreitausend Brüder», unterbrach ihn Marco, «und habt den heiligen Franz gesehen? Sagt, Bruder Lorenzo, wie sah er aus? Hatte er einen Heiligenschein um den Kopf?»

«Es ist nur wenigen Sterblichen vergönnt, die Attribute der Heiligkeit auf Erden zu erblicken. Ein Mensch war er, mit länglichem, kindlich gütigem Gesicht, der den Kaufmannsberuf aufgegeben und sein gesamtes I lab und Gut der Kirche geweiht hatte… Ein einfacher, guter Mensch…»

Bruder Lorenzo machte eine Pause. Er sprach nicht, weil es im Sinne Messer Pietro Boccos lag, sondern war ganz der Erinnerung hingegeben und überhörte, wie Marco sagte: «Ein Kaufmann war er — und wurde ein Mönch?»

Bruder Lorenzo neigte sich vor. An seinem geistigen Auge zog das Bild vorüber: die herbstlichen Bäume, die stille Kirche mit dem Friedhof und die Kutten der Mönche, die wie braune, reglose Feldsteine dasaßen.

Er stützte den Kopf in die Hand und erzählte weiter: «Gegen Schluß des Kapitels zupfte Bruder Franz Elias an der Tunika. Dieser neigte sich zu ihm und vernahm, was Franz wollte. Dann richtete sich Elias auf und sprach: 'Brüder, also spricht der Bruder: Es gibt eine Gegend, Deutschland genannt. Dort leben Menschen, die sind Christen und fromm. Wie ihr wißt, kommen sie häufig mit ihren langen Stäben und weiten Stiefeln in unser Land; sie singen dabei das Lob Gottes und seiner Heiligen, wandern in Schweiß und Sonnenbrand dahin und besuchen die Schwellen der Heiligen. Und weil die Brüder, die man einigemal hingeschickt hat, bös zugerichtet zurückkamen, so zwingt der Bruder niemand, zu ihnen zu gehen. Wer aber aus Eifer zu Gott und den Seelen hinziehen will, dem gibt er einen ebenso bedeutenden Gehorsamsauftrag, ja noch einen größeren, als wenn er über das Meer reisen würde. Wer also hingehen will, erhebe sich und trete zur Seite…' Also sprach Elias im Auftrag des Bruder Franz…»

Der Alte hielt inne in seiner Schilderung. Marco hatte gespannt zugehört.

«Dann seid Ihr nach Deutschland gekommen?» fragte er.

«Wie ist es Euch ergangen? Dort soll es Berge geben, die bis in die Wolken reichen und ewig mit Schnee und Eis bedeckt sind. Ist es so, Bruder Lorenzo?»

Marco neigte sich begierig vor und starrte in das Gesicht seines Lehrers, als finde er dort die Antwort.

In Bruder Lorenzo, angeregt durch die Anteilnahme, wurden die Erlebnisse lebendig, als wären sie erst gestern geschehen.

«Hör zu, mein Sohn», sagte er, «ich will dir getreulich schildern, wie es gewesen ist. Mein Herz war unruhig zur damaligen Zeit, ich hatte keine Angst vor den drohenden Gefahren und war einer der ersten, die sich meldeten. Neunzig Brüder wurden ausgewählt. In Gruppen zu dritt oder viert zogen wir los. Zum Feste des heiligen Michael waren wir in Trient und wurden freundlich aufgenommen. Auch in Bozen und Brixen litten wir keine Not. Von Brixen aus reisten wir ins Bergland und kamen zu der Zeit des Mittagsmahls nach Sterzing. Die Leute hatten gerade kein Brot zur Hand. Wir waren der deutschen Sprache nicht mächtig und verstanden nicht zu betteln. Da ging es uns schlimm. Der Magen knurrte, als wir uns in einem Strohhaufen zur Nacht niederlegten. Mit zwei Bissen Brot und drei Rüben versuchten wir unseren Hunger zu stillen.

Am anderen Morgen erhoben wir uns hungrig und leer. Als wir eine halbe Meile gegangen waren,bekamen wir Schwindel, die Beine versagten, und die Knie wurden uns schwach. In unserer Hungerspein pflückten wir von den Dornensträuchern und von verschiedenen Bäumen Früchte, die wir am Weg fanden. So kamen wir endlich nach Mittenwald, und als wir den Ort betraten, fanden sich zwei gastfreundliche Männer, die uns für zwei Denare Brot verkauften. Wir bettelten uns noch Rüben dazu und ergänzten damit, was uns an Brot fehlte. Weiter zogen wir des Weges, an Städten, Burgen und Klöstern vorbei nach Augsburg, wo wir von dem Bischof liebreich aufgenommen wurden…»

Bruder Lorenzo legte die Hände auf das Buch. Die Rufe vorbeifahrender Ruderer klangen gedämpft ins Zimmer. Tiberius lag noch immer bewegungslos, mit wachen Augen, auf seinem Platz. Marco saß auf dem Podest und erwartete ohne sonderliche Spannung die Fortsetzung der Erzählung.

«So waren wir also nach Deutschland gekommen und konnten durch die Gnade Gottes unseren Orden dort gründen. Bruder Cäsar wurde der erste Minister des Ordens in Deutschland. Ich war mit meinen Brüdern nach Salzburg gekommen. Einmal nun rief uns Bruder Cäsar zu sich nach Worms. Wir zogen zu zweit und zweit durch die Städte und Dörfer. Ich ging mit Bruder Michael in einen Ort, um Speisen zu bekommen. Wir hatten es noch immer schwer, uns verständlich zu machen, und erhielten meist die gleiche Antwort: "Gott berate", was "Gott wird für euch sorgen" bedeutete. Da uns aber zu diesen Worten nichts gegeben wurde, so sagte Bruder Michael, der ein Spaßvogel war, zu mir: "Dieses Gott berate wird uns heute noch umbringen."

Ich fing nun an, lateinisch zu betteln. Die Deutschen aber antworteten: 'Wir verstehen kein Latein, sprich deutsch zu uns.' Ich sagte: 'Nichts deutsch.' Jene sagten: 'Das ist doch seltsam, daß du uns deutsch sagst, daß du nicht deutsch kannst', und fügten noch bei: 'Gott berate…' Ja, mein Sohn, so war das mit den Deutschen, sie sind gar lustige und derbe Leute, und die Berge reichen bis in den Himmel, und die Bäche in den Gebirgsschluchten sind durchsichtig wie grünes Glas; wenn du die Wellen mit den weißen Kronen über die Steine springen siehst, kommen sie dir wie übermütige Waisenkinder vor. Der Mann und die Frau, die vor uns standen und uns freundlich lachend 'Gott berate' auf unsere Bitte nach Brot entgegnet hatten, brachten mich schier zur Verzweiflung. Ich wußte mir keinen Rat mehr, lachte aus lauter Verzweiflung, setzte mich auf eine Bank und blieb sitzen. Der Mann und die Frau sahen sich an, lachten ebenfalls und gaben mir wegen meiner Unverschämtheit Brot, Eier und Milch. Als ich sah, daß diese Verstellung uns nützlich sei, ging ich auf ähnliche Weise durch zwölf Häuser und bettelte so viel zusammen, daß es für sieben Brüder reichte…»

Die letzten Sätze waren an Marcos Ohr vorübergerauscht; nur flüchtig hatte sich ihr Sinn ihm mitgeteilt. Die Schilderung des Mönchs hatte ihn nicht zu fesseln vermocht. Er dachte an den alten Zigeuner, glaubte dessen Gesicht zu sehen und die sonderbar erregenden Worte zum Takt des Tamburins zu hören: 'Tanze, Herkules! Bald wirst du an Königsund Fürstenhöfen tanzen!' Und dann war da das Meer, in vielen Farben schillernd und mächtige Wellen gegen das Land spülend; eine Riesenhand strich darüber hinweg und glättete es, daß es wie ein Spiegel glänzte. Das Gesicht Gianninas schimmerte darin. Ein Sonnenstrahl huschte über das Wasser und trug in das bekannte Mädchengesicht auf eigenartige Weise die Züge des alten Zigeuners hinein, ohne es etwa abstoßend und häßlich zu machen. Zsusinka, dachte Marco. Und mit dem Namen verband sich seine Sehnsucht nach dem Meer, nach dem Leben auf den Segelschiffen, nach Wanderungen auf unbekannten Straßen und nach dem Gewinn eines märchenhaften, an Gold und blitzenden Diamanten reichen Schatzes.

Bruder Lorenzo warf einen prüfenden Blick auf Marcos Gesicht.

«Meine Schilderung scheint dich nicht zu interessieren», sagte er mit leichtem Ärger in der Stimme.

Marco erwachte aus seinen Träumen.

«Doch, Bruder Lorenzo», erwiderte er höflich. «Ihr habt sehr gut erzählt. Nur war ich auf einmal mit meinen Gedanken ganz woanders.»

«Möchtest wohl ein Eroberer werden, wie der blinde Enrico Dandolo?»

«Ich liebe das Meer und die Schiffe, Bruder Lorenzo.»

«So so», nickte der Alte. Ich habe mein möglichstes versucht, Messer Pietro Bocco, dachte er und empfand insgeheim Genugtuung, daß Marco Polo nicht auf die Wünsche seines Oheims einging; denn Bruder Lorenzo trug in seinem alten Herzen noch ein Stück seiner abenteuerlichen Jugend, die ihn unruhevoll von Stadt zu Stadt, von Land zu Land getrieben hatte, sei es auch nur als Bettelmönch über die Straßen Deutschlands, Frankreichs und Ungarns.

Einen flüchtigen Augenblick dachte er sogar daran, den Knaben vor den Ränkespielen seines Oheims zu warnen. Aber dann sagte er sich, daß es für ihn vorteilhafter sei, in diesen weltlichen Streit nicht einzugreifen. Seine flinken, listigen Augen glühten im Vorgefühl des Weines, den er sich, wenn sein Schüler gegangen war, von den großmütig gespendeten Zechinen Pietro Boccos leisten wollte. «Du kannst für heute gehen, mein Sohn. Ich muß ein wenig ruhen.» Der Alte erhob sich und schlug das Buch auf dem Pult zu. Eine Staubwolke tanzte zur Erde nieder. Tiberius sprang auf und geleitete Marco schweifwedelnd zur Tür. «Friede diesem Hause!» verabschiedete sich Marco. «Amen!» erwiderte Bruder Lorenzo. Tiberius bellte.

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