GIOVANNI SINGT

DER HERBST DES JAHRES 1271 SETZTE MIT HEFTIGEN Stürmen ein, das unbändige Meer warf sich brüllend gegen die Befestigungsanlagen und riß ganze Teile des natürlichen Strandes des Lido weg. Über Nacht wurde es plötzlich still, und am Morgen schien die Sonne.

Der Himmel tauchte gleichsam in das Meer hinab, um seiner farbigen Wolkenlandschaft den Glanz des geheimnisvoll schimmernden Wassers zu verleihen.

Eine Kette von schönen Tagen folgte, die den Menschen in Venedig Gelegenheit gaben, die Zerstörungen, die Meer und Lagune angerichtet hatten, wieder zu beseitigen. Die Piazzetta und der Marcusplatz mit ihren stolzen Bauten hoben sich aus dem Wasser und boten ihre festlichen Räume unter freiem Himmel dem Vergnügen der buntgekleideten Menschen dar.

Die Stadt auf den hundert Inseln hatte wieder einen Sturm überlebt. Vorbei war das Zagen, das die Ängstlichen befallen hatte, als das Wasser gegen Erde und Steine wütete und den Grund der Häuser, Holzpfähle und Steinaufschüttungen, erschütterte. Die vornehmen Herren gingen in ihren scharlachroten Mänteln durch die Merceria von der Ponte della moneta zur Piazza, fuhren auf teppichgeschmückten, mit vergoldetem Schnitzwerk versehenen Barken vom Canal Grande in den Canal della Guidecca nach San Giorgio und gingen mit ihren Damen in den herbstlichen Gärten spazieren.

Lastträger beluden die Schiffe mit Waren aus aller Herren Länder, Seeleute sangen Lieder von Stürmen, fremden Häfen und Heimweh, Handwerker bauten Schiffe und fertigten Spiegelgläser an, verkrüppelte Bettler krochen auf den Vorplätzen der Kirchen herum und baten um Almosen.

Der Sturm war vorbei; Venedig lebte, und die Luft war erfüllt von Farben und Stimmen und den Geräuschen des gegen Steine, Holz und Erde schlagenden Wassers.

In Rom war nach zwei Jahren Streites um die Tiara des Papstes der ehemalige Gesandte Teobaldi di Visconti als Gregor X. auf den Stuhl Petri gelangt.

Marco war nun siebzehn Jahre alt und nur eine Handbreit kleiner als der hochgewachsene Vater. Seine Stirn, frei und gut geformt, die großen grauen Augen, die gerade Nase und das starke Kinn zeugten von Energie und Klarheit der Gedanken.

Maffio und Nicolo Polo waren gestern, von Marco sehnlichst erwartet, aus Rom zurückgekommen. Ihre Unterredung mit dem neuen Papst war gut verlaufen. Gregor X. hatte sie gnädig empfangen, ihnen Briefe für den Großkhan überreichen lassen und zwei gelehrte Mönche bestimmt, die ihnen in die fernen Reiche folgen sollten, um im Auftrage des Papstes Bischöfe zu ernennen, Priester zu weihen und Absolution zu erteilen.

Die beiden Brüder begannen ohne Verzug mit den Reisevorbereitungen, und Marco half ihnen tatkräftig dabei. An der Riva della Schiavoni lag das Schiff, das in den nächsten Tagen nach der armenischen Küste auslaufen und die Reisenden an ihren Bestimmungsort bringen sollte. Die Mönche kümmerten sich wenig um die Reisevorbereitungen. Sie wohnten im Kloster zu San Nicolo.

Zwei Tage vor der Abfahrt, die wichtigsten Arbeiten waren getan, bat Marco den Vater um Erlaubnis, nach Murano zu fahren, um von den Freunden Abschied zu nehmen.

Es war ein sonniger Herbsttag, als er mit Giannina über die Lagune fuhr. Ein leiser Wind spielte mit Gianninas Haaren. Marco ruderte. Sie glitten durch die kleinen Wellen; Häuser und Kirchen grüßten von den Inseln; Lastkähne und Barken begegneten ihnen. Marco betrachtete das gewohnte Bild heute mit besonderen Augen; er achtete auf viele Einzelheiten, die er sonst übersehen hätte. Auf San Michele stand eine einsame Zypresse auf einer Landzunge und schien, aus der Ferne gesehen, aus dem Wasser zu wachsen. Dahinter lag die verwitterte Mauer des stillen Friedhofes mit dem Grab der Mutter, das er gestern mit dem Vater aufgesucht hatte.

Wasser und Inseln und Boote und hinter ihnen die Häuser und Kanäle, die Paläste und Kirchen der Rialtoinsel in ihrer engen Pracht, mit dem Gewimmel der geschäftigen Menschen, den Schiffen in den Häfen, die den Glanz ferner Welten ausstrahlten. Auf dem Turm der alten Kirche von San Michele läuteten die Glocken.

Marco prägte sich die heimatlichen Bilder und Töne in seiner Seele ein.

Giannina war so schön mit ihren fünfzehn Jahren, daß die Bootsführer und jungen Fischer ihr winkten oder in stummem Schauen vorüberfuhren. Das schwarze Haar schmeichelte wie nachtdunkle Wellen Schläfen und Hals und bedeckte die schmalen Schultern; die Lippen schimmerten wie reife rote Beeren in dem braunen Gesicht.

Murano lag vor ihnen. Dort, wo die römische Villa gestanden hatte, waren nur noch die in die Erde eingelassenen Steinquadern zu sehen, aber links neben dem Zaun stand der alte Feigenbaum mit den gelb und rot und braun gefärbten Blättern.

Giovanni erwartete sie, er zog das Boot an das Ufer und half Giannina und Marco beim Aussteigen.

Sie gingen durch die Insel, besuchten die Plätze, die Erinnerungen weckten, verweilten am Fischteich, der fast zugeschüttet war, sprachen belanglose Worte und vermieden es, an den bevorstehenden Abschied zu denken. Sie waren Wanderer, die mit geruhsamen Schritten an den Stätten ihrer Kindheit vorübergingen, über kleine Torheiten lachten und sich sehr erwachsen gebärdeten; denn Giovanni, breit in den Schultern und mit harten Arbeitshänden, war auf dem Wege, ein berühmter Schiffsbauer zu werden. Der Tag war nicht mehr fern, da man sagen würde: Siehe, dieses Schiff hat Giovanni auf Murano gebaut.

Und Marco war ein Weltreisender, der bald auf Kamelen durch die Wüsten reiten würde. Reiste er nicht im Auftrage des Oberhauptes der Christenheit zu einem der mächtigsten Herrscher der Erde? Marco und Giovanni, jeder auf seine Art ein Jüngling mit hochfliegenden Plänen! Nun mußten sie Abschied voneinander nehmen.

Sie gingen durch die Insel. Und zwischen ihnen schritt leichtfüßig Giannina, die einmal Giovannis Seeräuberbraut werden wollte.

Die Lagune breitet sich vor ihren Blicken aus, der Wind streicht darüber hin. Ein Herbsttag im matten, goldenen Schein der Nachmittagssonne. Rauch quillt aus den Kaminen der Glasöfen, wird vom Wind ergriffen und fortgetragen.

Lange Jahre wird Marco fern von der Heimat weilen. In Giovannis Herzen erklingt eine Melodie. Er kann mit Worten nicht sagen, was er empfindet, aber er kann ein Lied singen, das all die unnennbaren Gefühle, die ihre Lippen stumm gemacht haben, zum Schwingen bringt.

Sie stehen auf den Steinquadern, zu ihren Füßen schimmert das Wasser. Eine Landzunge mit Gärten und Bäumen hält den Wind ab. Sie nehmen Abschied voneinander.

Giovannis Stimme hat an Kraft und Schönheit gewonnen. Die Töne eines Handwerkerliedes, das vom Abschied, vom Wandern auf endlosen Straßen und von froher Heimkehr erzählt, werden über das Meer geweht.

Bewundernd schaut Giannina auf den Freund, dessen Gesicht all die Regungen zeigt, die in den Worten und Tönen des Liedes liegen. Giovanni singt.

An der Riva della Schiavoni aber liegt das Schiff, mit dem Marco Venedig verlassen wird; zwei gelehrte Mönche wandeln mit trüben Gedanken durch den Kreuzgang des Klosters und verfluchen ihr Geschick, das sie für die weite, gefährliche Reise bestimmt hat.

Marco aber vergißt, daß er auf Murano ist, seine Gedanken eilen der Wirklichkeit voraus, lassen ihn einsame Bergpfade und gefahrvolle Waldwege wandern und Kämpfe mit wilden Tieren bestehen, die sich nachts an ihr Lager schleichen.

Das Lied verklingt.

Giovanni nimmt Abschied von seinem Freund Marco. Sie umarmen sich, und es ist ihnen peinlich vor Giannina, daß ihre Augen zu glänzen beginnen.

«Du kommst ja wieder, Marco», sagt Giovanni und hilft, das Boot in das Wasser zu schieben.

Giannina und Marco fahren nach Venedig zurück.

Giovanni steht auf den weißen Steinen und winkt; das Boot mit Marco und Giannina wird kleiner, die Sonne versinkt hinter den Häusern Venedigs, die Lagune erglüht, und das dunkle Boot entschwindet Giovannis Blicken, scheint sich aufzulösen im farbigen Dunst des Herbstabends.

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