VII

Das Jenseitige Land, sechsundsiebzig Meilen südwestlich der Schwarzen Schlucht, 6491. Sonnenzyklus, Winter.


Die ungleichen Zwerge ritten auf die Hütte zu, die einen verlassenen Eindruck machte. Noch immer war es Ingrimmsch ein Rätsel, woher Tungdil die Eingebung nahm, dass sich jemand darin aufhielt. Er spitzte zu seinem Freund hinüber, schaute wieder nach vorn und rutschte dabei im Sattel hin und her.

Dreißig Schritte trennten sie vom Eingang, und noch immer zeigte sich niemand. »Bist du dir sicher, Gelehrter?«, erkundigte sich Ingrimmsch und lachte dabei, als erzähle er gerade einen Witz, um mögliche Beobachter zu täuschen. Während er den Freund ansah, bemerkte er, dass zwei Runen auf der Rüstung wie von innen beleuchtet glommen.

Ein Lächeln legte sich auf Tungdils Gesicht. »Du wirst es gleich erleben. Halte dich bereit.«

»Und wenn es harmlose Wanderer sind?«

»Die im Kalten sitzen? Die sich seit Umläufen nicht vor die Tür begeben haben?«, konterte Tungdil überlegen.

»Sie...« Ingrimmsch wusste nicht, was er dagegenhalten sollte. Alles, was ihm einfiel, ergab kaum Sinn.

Die Reittiere blieben mit ein wenig Abstand vor der Unterkunft stehen, die Zwerge stiegen ab.

»Was jetzt?«, wollte Boindil wissen und band seine Ponys mit einem Lederriemen an einer eisernen Halterung vor der Hütte an. Dabei zog er den Knoten nicht zu, um ihn jederzeit lösen zu können. »Stürmen wir rein?«

»Nein«, sagte Tungdil entschieden und zog Blutdürster. »Du klopfst.« Er pochte feixend gegen den Kopf des Krähenschnabels. »Damit.« »Schön! Endlich gehts los!« Ingrimmsch legte die Pfeife neben der Tür auf den Boden, damit sie im Kampf nicht zu Schaden kam, zog die geliebte Waffe und schlug damit kräftig gegen die Tür. Splitternd riss das Schloss aus dem Holz, und die Tür flog mit solcher Kraft auf, dass die Angeln herausbrachen. Rumpelnd krachte sie auf den Boden. Ingrimmsch ließ es sich nicht nehmen, mit einem lauten Ruf als Erster hineinzuspringen - und starrte auf leere Bänke und Tische; es war eisig kalt in der Hütte, und nirgends gab es Anzeichen, dass sich jemand hier aufhielt oder vor Kurzem aufgehalten hatte.

»Na, so etwas«, murmelte er enttäuscht. »He, Gelehrter! Da haben dich deine Sinne zum Narren gehalten! Komm und sieh es dir an!«

Hinter ihm blieb es ruhig.

Boindil drehte sich um, doch Tungdil war verschwunden. »Was, bei Vraccas, geht denn nun schon wieder vor sich?«, polterte er, als er hinter sich ein Geräusch vernahm. Er schnellte herum und hob den Krähenschnabel, spähte mit zusammengekniffenen Augen umher. »Gelehrter?«

Schritt für Schritt bewegte er sich in den Raum hinein.

Im Vorbeigehen sah er nach der Asche im Kamin, nach Fußabdrücken auf dem Holzboden oder nach anderen Spuren. Nichts.

»Ein Spuk der Berggeister«, sagte er leise zu sich selbst. Sein Blick fiel auf eine einsame Dauerwurst, die pendelnd über dem Herd hing. »Gelehrter? Wo steckst du? Nicht, dass ich dich aus Versehen angreife, wenn du um die Ecke gesprungen kommst!« Vorsichtig ging Ingrimmsch weiter und erreichte die Kochstelle. Der Herd war mit einer dicken Schicht Reif überzogen. Hier war schon lange kein Mahl mehr zubereitet worden.

Die Schnur, mit der die Wurst am Querbalken festgemacht war, knirschte leise. Verwundert stellte der Zwerg fest, dass es keinen Luftzug gab, aber sie stärker vor und zurück schwang als vorher.

Bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass sich die Deckenbalken darüber leicht bewegten, und er grinste. Da steckt die Ratte! Wer auch immer auf sie lauerte, er hatte sich auf dem Heuboden verkrochen, um die Zwerge in Sicherheit zu wiegen. »Gelehrter?«, rief er nochmals, bevor er einen Satz auf die Ofenplatte machte und mit dem langen Dorn des Krähenschnabels durch die Deckenbretter hackte. Er sprang in die Höhe und hieltsich mit beiden Händen am Griff fest, sodass die Holzdielen über ihm unter dem Gewicht barsten.

Getrocknete Grashalme fielen in die Kammer und bedeckten Boindil, der Staub raubte ihm die Sicht. Aber er glaubte, in dem Regen aus Heu einen Schatten bemerkt zu haben. Da er annahm, dass sich Tungdil bemerkbar gemacht hätte, schlug er gnadenlos danach.

Sein Hieb wurde pariert, Metall stieß gegen Metall. Plötzlich wurde der Krähenschnabel zur Seite gedreht, und Ingrimmsch benötigte seine ganze Kraft, um die Waffe nicht aus den Fingern gerissen zu bekommen.

Umgeben von rieselndem Heu und umherschwebenden Schmutzflöckchen, unternahm er einen weiteren Angriff gegen seinen Widersacher, den er noch immer als schwarzen Umriss sah. Der Größe nach handelte es sich um - einen Zwerg!

»Gelehrter, bist du das?«, fragte er vorsichtshalber und hielt seinen Schlag ein Blinzeln lang zurück.

Ein Fehler.

Eine sehr schmale Klinge, die mehr an einen fingerdicken Eisenstab erinnerte, tauchte vor ihm auf, und es gelang Boindil gerade noch, den Oberkörper nach rechts zu drehen, sonst wäre ihm die schräge, angeschliffene Spitze durch die Brust gefahren; stattdessen fand sie einen Weg durch den Mantel, die Ringe des Kettenhemdes und das gefütterte Untergewand ins Schlüsselbein. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn. Ingrimmsch knurrte wütend, da wurde die Waffe bereits zurückgezogen. Er spürte das Blut warm aus der Wunde laufen, doch er befand, dass sie harmlos war. Schulter und Arm ließen sich bewegen, Luft bekam er auch noch.

Grollend packte er den Griff mit beiden Händen und sprang durch das Heu gegen den Gegner. Dabei vollführte er kreiselnde Angriffsschläge; irgendwann, so dachte er sich, würde er ihn erwischen. »Versteck dich nicht, du Feigling!«, rief er wütend und verließ die Wolke aus Halmen und Staub. Dennoch musste er husten, seine Augen tränten. Er sah eine Gestalt vor der Tür.

»Halt! Bleib stehen!« Er spurtete los und folgte dem Unbekannten hinaus ins Freie. Doch kaum stand er im Schnee, war der Angreifer verschwunden. »Wie, bei Tions widerlichen...« Ingrimmsch bekam einen Schlag gegen den Hinterkopf, der Helm fing die Wucht ab, doch es genügte, ihm einen ordentlichen Schwindel zu bescheren. »Hinterrücks, ja, das kannst du!«, tobte er in seinem Zorn, und vor seine ohnehin verschleierte Sicht schob sich ein roter Schein. »Ho, stell dich endlich!« Der Kampfwahn wollte ihn übermannen.

Neben der Tür verharrte der Gegner. Er trug einen geschlossenen schwarzen Lederhelm mit zahlreichen Ornamenten aus Nieten und Silberdraht. Seinen Leib schützte er mit einer gleichfarbigen Lederrüstung, an der verzierte Tioniumplatten angebracht waren, und die Beine verbargen sich unter einem rockähnlichen Schutz aus geschwärzten Eisenplättchen, wie ihn die Dritten gern anfertigten.

»Sieh an: ein Zwergenhasser. Was hat dich denn hierher verschlagen?« Boindil wischte sich über die Augen. Unter den Füßen des Angreifers sah er seine Pfeife. Zertreten. »Schau dir das an! So ein Orksfott! Wie soll ich jetzt gemütlich schmauchen?« Er biss die Zähne zusammen und schnaubte doppelt vor Wut. »Einerlei: Ich weiß, wer dich gleich schlagen wird!«

Tungdil erschien über ihnen auf dem Dachfirst, Blutdürster in der Rechten haltend. Ein eindrucksvoller Anblick, wie Ingrimmsch von Neuem bemerken musste. »Was viel wichtiger wäre: Wie ist er durch das Braune Gebirge und vorbei an der Festung der Vierten gelangt? Diese Lücke sollten wir finden, bevor es weitere tun.« »Warte, Gelehrter. Ich löcher ihn gern mit Fragen!« Ingrimmsch hob den Krähenschnabel. »Deswegen habe ich den ja dabei.« Er stürmte gegen den Zwerg, der in der einen Hand einen runden Schild und in der anderen eine schwertähnliche Waffe trug. Im unteren Teil war sie dick geschmiedet worden, um schwere Hiebe zu überstehen, dann verjüngte sie sich zu einer langen dünnen Spitze. Damit war es ein Leichtes, durch Lücken in Panzerungen zu stechen. »Ich breche dir dein Stäbchen entzwei!«, versprach er brüllend und drehte sich halb in den Angriff hinein, um ihn für den Gegner unparierbar zu machen.

Der Dritte dachte gar nicht daran, sich dem heransurrenden Krähenschnabel in den Weg zu stellen. Er sprang zur Seite und hob blitzartig den Arm mit dem Schild. Boindil bemerkte zu spät, dass etwas nach ihm geworfen wurde. Eine schwarze Pulverwolke quoll vor ihm auseinander, in die er unwiderruflich hineinwirbelte. Seine Augen brannten auf der Stelle feuergleich, und die Tränen schössen ihm derart ein, dass er nichts mehr sah. Jeder Atemzug schmerzte, er musste husten und bekam keine Luft mehr.

Doch der Kampfwahn war entflammt, ließ ihn blind und sinnlos um sich schlagen. Die Kräfte schwanden mehr und mehr, bis er keuchend und krampfend in den Schnee fiel. Die Raserei fiel von ihm ab, das Weiß taute durch seine Körperwärme und spülte die Augen aus; als er den Kopf hob, sah er wenigstens wieder etwas. Er spie aus. Sein Speichel hatte sich wie der Schnee unter seinem Gesicht schwarz gefärbt. Tungdil und der Unbekannte droschen aufeinander ein, das Klirren der aufeinanderprallenden Schneiden folgte in schneller Reihung, und die Bergwände warfen das Scheppern zu ihnen zurück, während sich die beiden bei ihrem tödlichen Messen umkreisten. Die wirbelnden Bewegungen und Manöver, die sie dabei machten, hatten nichts mit herkömmlichen Kämpfen zu tun. So etwas sah Ingrimmsch das erste Mal.

Für Boindil wirkte es, als kämpften zwei Brüder gegeneinander. In den schwarzen Rüstungen sahen sie sich sehr ähnlich, wären die unterschiedlichen Waffen nicht gewesen.

Tungdil setzte dem Feind heftig zu. Den Schild hatte er bereits zerschlitzt, die Spitze des seltsamen Schwertes fehlte, und die Rüstung klaffte an drei Stellen auseinander. Blut sickerte hervor, ab und zu fielen rote Tröpfchen in den Schnee.

Ingrimmsch stemmte sich auf die Beine, ächzend rang er nach Atem und hob den Krähenschnabel. »Warte, Gelehrter! Ich bin bei dir!«, rief er und wankte vorwärts. »Dem Rockträger schulde ich noch was!«

Tungdil ließ einen Schlag des Gegners an Blutdürster vorbei gegen die Rüstung prallen. Kaum berührten sich Eisen und Tionium, gab es einen grellen Blitz, und der dumpfe Schrei des Angreifers erklang. Er hatte den Griff seiner Waffe loslassen müssen, das Schwert fiel in den Schnee und versank darin, dabei zischte es laut. Wasserdampf stieg von der Stelle auf.

Der Unbekannte zog sich mit drei Schritten zurück und hob die linke Hand, ein unverständliches Wort, das an die Sprache der Albae erinnerte, drang unter dem Helm hervor - und sämtliche Runen auf Tungdils Panzerung leuchteten hell wie Sonnen auf! Der Freund verschwand in einem Meer aus gleißenden Strahlen.

Boindil schirmte die Augen mit der Rechten ab und rannte auf den Gegner zu. »Weg, du Missgeburt!« Als er die Stelle erreichte, an der sich der Feind befunden hatte, sah er nur noch eine Fußspur, die zu einem steilen Abhang führte. Hat er sich hinabgestürzt? Vorsichtig folgte er den Abdrücken, die über die Kante führten.

Weiter unten erkannte er eine Zwergengestalt, die sich mehrfach überschlug und dem Talboden näherte, bis ihr es gelang, den ramponierten Schild unter den Körper zu ziehen und auf ihm wie auf einem Schlitten über den vereisten Schnee zu gleiten. Rings um ihn herum kamen die Verwehungen ins Rutschen. Eine Lawine schickte sich an, den Dritten nach unten zu begleiten.

»Ho, Rockträger! Tion ist die längste Zeit auf deiner Seite gewesen!«, schrie er dem Flüchtenden zufrieden hinterher. »Von mir aus kann dich der Weiße Tod holen!« Boindil wartete, bis er den Zwerg in den Schneeschleiern verschwinden sah. Er wandte sich grinsend zu Tungdil, der ein paar Schritte von ihm entfernt stand. »Schade ist nur, dass wir ihn nicht befragen konnten. Ich meine«, er berührte seine Waffe, »löchern. Hättest du ihn am Leben gelassen, Gelehrter?«

Der Freund gab keine Antwort und bewegte sich nicht.

Voller böser Ahnung eilte Ingrimmsch zu Tungdil und schob das Visier mit dem Ende des Krähenschnabels in die Höhe. Tungdils Züge waren ausdruckslos, und die Augen schauten durch ihn hindurch in die Ferne. »Oh, bei Vraccas! Was hat er mit dir gemacht?« Er pochte gegen die Rüstung. »Oder war die das? Das schwarze Blech scheint auch Nachteile zu haben.«

Ingrimmsch nahm eine Handvoll Schnee und warf sie Tungdil ins Gesicht. Und sofort flatterten die Lider, der Blick richtete sich auf ihn. »Aha, die Starre ist gewichen.« Ingrimmsch atmete auf.

»Nicht ganz.« Tungdil wurde rot vor Anstrengung. »Ich versuche es ja, aber die Rüstung lässt sich nicht bewegen!«

»Was?« Ingrimmsch stellte seine Waffe ab, packte den rechten Arm und versuchte, ihn mit Kraft nach unten zu schieben. Die Scharniere blieben in ihrer Position wie festgeschmiedet. Alles, was er erreichte, war, dass Tungdil ins Schwanken geriet und rücklings in den Schnee fiel. »Ganz hervorragend, Ingrimmsch«, bedankte er sich und klang keineswegs glücklich. »Ich werde hier drin erfrieren.«

»Was doch besser wäre, als in den eigenen Ausscheidungen zu ersticken, oder?« »Ich finde das nicht witzig, Ingrimmsch!«

»Nein, hab keine Sorge. Ich kümmere mich natürlich um dich. Wir bekommen deine Schachtel schon auf.« Boindil sah nach dem Befün. »Aber nicht hier draußen. Er wird dich bis zur Hütte ziehen, und mit einem Pony kriege ich dich durch die Tür. Ich bekomme dich irgendwie schon an die wärmenden Flammen, und dann denken wir darüber nach, was wir tun können.«

Und so, wie er es sprach, geschah es auch.

Nach ein wenig Hin und Her lag Tungdil in seinem ungewollten, wenn auch sicheren Gefängnis vor dem Kaminfeuer, das Ingrimmsch entfacht hatte. Die herausgebrochene Tür war schräg vor dem Eingang angelehnt und mit einem Tisch abgestützt, um dem auffrischenden Wind zu trotzen. Aus ihren Vorräten bereitete Boindil ein einfaches, aber schmackhaftes Mahl zu.

»Soll ich dich füttern?«, bot er Tungdil an und grinste. Ein bisschen Schadenfreude gönnte er sich trotz der Sorge, dass die Rüstung ihre Unbeweglichkeit vielleicht niemals mehr verlieren könnte. Plötzlich hatte die Rüstung für ihn ihre Düsternis, ihre Aura von Angst und Schrecken verloren. »Ein schöner Haufen unbeweglicher, wertvoller Schrott«, murmelte er.

»Nein, nicht füttern. Wer weiß, wo die Bissen hinfallen«, brummte sein Freund missgelaunt und blickte an die Decke zur Dauerwurst, an der sich Heu und Staub festgesetzt hatten.

Ingrimmsch aß mit gesundem Hunger. »Ist dir das schon mal passiert, Gelehrter?«, fragte er mit vollem Mund.

»Nein. Ich habe auch noch niemals gegen einen Dritten gekämpft, der die Sprache der Albae beherrschte«, gab er entnervt zurück.

Ingrimmsch kaute und dachte nach. Wenn man die Panzerung durch Schwarzaugisch zum Innehalten zwingen konnte, wer war wohl ihr Schöpfer? Wer hatte sie vor Tungdil getragen? Vor seinem Weggang in die Schlucht wäre sein Freund niemals auf die Idee gekommen, sich mit etwas zu rüsten, welches das unverkennbare Werk des Bösen war. Seine braunen Augen richteten sich auf die Klinge. Schätzte er Tungdil vielleicht falsch ein? Immerhin hatte er sich aus einer Albae Waffe eine eigene geschmiedet... Blutdiirster! Boindil fand seine Überlegung gut: Womöglich trug diese Klinge die Schuld an der Wandlung des Freundes in einen finsteren, gefährlich wirkenden Zwerg, auch wenn ihm die gegenwärtigen Umstände etwas von seiner Wirkung raubten.

»Du musst doch hoffentlich nicht Zwergenwasser abschlagen?«, erkundigte er sich. »Noch nicht«, sagte Tungdil ungehalten.

»Ich kann dich auch mit dem Gesicht nach unten legen, dann läuft es aus dem Helm raus.«

»Das würdest du auch noch tun!«

»Sicher.« Ingrimmsch lachte.

»Bei den Infamen! Wenn ich nur wüsste, wie der Gegenzauber lautet.« Jetzt staunte Boindil mit offenem Mund, sodass man sein Essen als kleine Bröckchen auf der Zunge liegen sah. »Der Dritte hat einen Zauber gegen dich geworfen? Ein Zwergenhasser, der Magie zu wirken versteht?« Er nahm den Teebecher. »Vraccas stehe uns bei! Es wird immer rätselhafter.«

»Nein, es war keine Magie. Es war ein... Befehl«, versuchte Tungdil die Wirkung zu erklären.

»Aha. Wie bei einem Pony. Ich sage steh, und es bleibt stehen.« Ingrimmsch zeigte mit dem Löffel auf die Rüstung. »Wieso tut man das?«

»Damit sich der Träger sicher sein kann, dass kein anderer die Rüstung benutzt«, seufzte der einäugige Zwerg. »Es würde zu lange dauern, es dir zu erklären.« »Ach, ich habe Zeit.« Er leckte den Löffel ab. »Du auch, Gelehrter.«

»Mir ist nicht danach, verflucht!«

»Das bedeutet, wenn ich es richtig verstanden habe, kann dir das beim nächsten Mal wieder passieren. Zum Beispiel, wenn du gegen einen Alb antreten musst. Und das«, Ingrimmsch hob den Löffel, »ist sehr wahrscheinlich. Jedenfalls im Geborgenen Land.« Er betrachtete die Runen. »Du solltest die Rüstung wirklich ablegen, sobald die Sperre nachlässt. Eines Umlaufs.« Er zwinkerte ihm zu. »Notfalls schleife ich dich zurück nach Übeldamm. In meiner Schmiede bekomme ich diese Prachtbüchse schon geknackt. Ich habe solche Hämmer!« Dabei riss er die Arme weit auseinander.

»Das würde nichts bringen.« Tungdil verdrehte die Augen undschaute der Dauerwurst beim Pendeln zu. »Es ist zum Auswachsen!«, rief er und versuchte mit aller Gewalt, sich aufzurichten. Aber die Rüstung ließ sich nicht bewegen, die Gelenke quietschten nicht einmal.

»Meinst du, ich könnte dich als Schlitten benutzen?«

»Du genießt es, mich aufzuziehen, ist das möglich?« Tungdil bedachte den Freund mit einem anklagenden Blick. »Mitleid wäre mir lieber als Häme.«

»Ich bin nicht hämisch. Ich bemerke nur, dass es Nachteile hat, in einer fremden Panzerung umherzulaufen, die weiberhafte Launen hat, und ich bete, dass du es ebenso siehst.« Er schob sich einen Bissen Brot in den Mund und erhob sich. »Mir ist da ein Gedanke gekommen«, nuschelte er und nahm den Krähenschnabel mit einer Hand, in der anderen hielt er die Krume. Breitbeinig stellte er sich in Höhe der Knie über Tungdil. »Vielleicht ist es tatsächlich wie bei störrischen Weibern: Wenn man dennoch was von ihnen will, muss man sie reizen.« Er stopfte sich den Rest Brot in den Mund. Tungdil betrachtete ihn fassungslos. »Was hast du vor?«

»Reizen. Und zwar gehörig.« Er nahm Maß, damit er genau auf die Brust traf, und benutzte die abgeflachte Seite für den Hieb. »Es kann wehtun, Gelehrter. Aber es dient einem guten Zweck.«

Tungdils Kopf hüpfte im Helm auf und nieder, er strengte sich an, die Kraft der Rüstung zu brechen. »Nein, Ingrimmsch! Warte! Ich... Mir fällt gleich wieder ein, wie...«

Ingrimmsch hob die Waffe. »Augen zu. Es blitzt bestimmt wieder«, warnte er fröhlich und ließ den Krähenschnabel nach unten sausen.



Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Weyurn, Seenstolz, 6491. Sonnenzyklus, Winter.


Rodario fluchte und versuchte, mit der Dunkelheit im Schacht zu verschmelzen. Er fürchtete, dass ihn die Wachen auf den Wehrgängen unter Beschuss nahmen. Woher sollten sie auch wissen, dass er lediglich ein harmloser, neugieriger Schauspieler und kein Kopfgeldjäger oder Abenteurer war, der sich die Belohnung für Coiras Kopf verdienen wollte? Er machte sich so klein wie möglich und wartete, was sie mit ihm taten. Entschuldigende Rufe brachte nichts, seine Unschuldsbeteuerungen würden auf diese Entfernung zu undeutlichem Gegröle verkommen.

Die Schreie über ihm wurden lauter, eine Fanfare ertönte und stieß rasche, alarmierende Signale aus.

Rodiaro brach der Schweiß aus. Unter anderen Umständen hätte er sich geehrt gefühlt, wenn man so viel Aufhebens um ihn gemacht hätte, doch in dieser Lage war es ihm nicht möglich, die Aufmerksamkeit zu genießen.

Das blaue Leuchten am Grund des Sees nahm ab, und Coira senkte sich neben ihren Kleidern auf die Planken zurück. Dabei drehte sie sich, um mit den Füßen voran auf dem Holz zu landen, die Wäsche diente ihr als Unterlage.

Rodario bekam sie nochmals von allen Seiten zu sehen und durfte die Prinzessin in ihrer Schönheit bewundern, auch wenn sie sich nun Stück für Stück verhüllte. Er seufzte selig und sehr, sehr verliebt.

Coira schnallte den Gürtel zu und eilte auf die Kabine zu, betätigte den Hebel. Die Fahrt hinauf an die Oberfläche begann.

Der Mime wurde dabei mit nach oben gezogen; den kräftezehrenden Aufstieg hatte er sich so gespart. Allerdings war eine Gefahr für ihn noch nicht gebannt: die Rolle, auf der sich der Draht aufwickelte.

Rodario sah das helle Rechteck näher und näher kommen, die Seile verschwanden darin. Wasserstrahlen benetzten ihn, durchnässten seinen Rücken und den Nacken. Es war eisig kalt, und er musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzuschreien. Als er durch das Loch für die Gondel gezogen wurde, schwang er sich zur Seite und ließ los.

Rodario landete sicher auf dem Boden und musste nur zwei Ausfallschritte nach vorne machen, um den Schwung abzufangen. Voller Erleichterung stellte er fest, dass ihn niemand erwartete. Der Trubel war nicht seinetwegen ausgelöst worden. Kaum stand er, ratterte die Gondel durch die Öffnung. Coira schob die Gittertür zur Seite und betrachtete ihn. »Nanu? Was macht Ihr denn hier?« Sie legte eine Hand an den obersten Knopf ihrer Bluse und schloss ihn. »Auf Euch warten«, erwiderte er ungezwungen. Wenn du wüsstest, was ich alles von dir sehen durfte. Rodario schaute kurz auf ihre Handschuhe. Sie unterschieden sich in nichts und zeigten auch keinerlei Besonderheiten, Runen oder Zeichen. Hatte sie einfach keine Zeit mehr gehabt, den rechten auszuziehen?

Sie bemerkte, dass sich am Boden hinter ihm eine Lache bildete. »Sagt mir nicht, dass Ihr bei diesem Wetter schwitzt?«

»Wie kommt Ihr...?« Er lachte verlegen. »Das? Nein, das... stammt noch von unserer Überfahrt. Die Gischt hat mich erwischt.« Rodario drehte sich halb zu ihr, um ihr die Stelle zu weisen.

»Gischt. Was Ihr nicht sagt. Eine solche gezielte Gischt habe ich noch nie gesehen, und ich kenne den See sehr gut.« Coira sah ihn prüfend an, die Augen wanderten an ihm hinab und blieben an den schmutzigen Fingern hängen. »Ihr habt die ganze Zeit hier gewartet, sagtet Ihr?«

Bevor er lügen musste, wurde die Tür geöffnet, und Loytan stand vor ihnen. »Das müsst Ihr Euch ansehen, Prinzessin!«, sagte er aufgeregt und deutete nach draußen. »Ein merkwürdiges Rennen geht da vonstatten.«

Coira sah Rodario noch einmal in die Augen, dann lief sie mit Loytan nach draußen. Aufatmend folgte er den beiden ins Freie.

Ein stürmischer Eiswind war aufgekommen, über dem See ballten sich graue Wolken. Die Wellen schlugen deutlich höher gegen die Spundwände als bei ihrer Ankunft; feine Wassernebel stiegen auf und überzogen Mäntel, Helme und Gesichter mit Tröpfchen. Loytan geleitete sie zur Westseite, auf der man an der eigentlichen Insel vorbei einen Teil des Festlands erblicken konnte. Er reichte ihr sein Fernrohr. »Seht zum Ufer. Vorhin waren sie ungefähr eine halbe Meile von der Fährstelle entfernt.« Die junge Frau hob das Glas an die Augen; für Rodario war das Ufer zu weit entfernt, er sah lediglich, dass zwei schwarze Striche auf zwei schwarzen Punkten einen hellen Strich auf einem schwarzen Punkt jagten.

»Und? Was gibt es?«, drängelte er und bekam von einem Wächter ein Fernrohr hingehalten, das er nutzte, um die Vorgänge zu beobachten. »Sind das... Nachtmahre?«, fragte er in einer Mischung aus Verwunderung und Furcht. Die muskulösen schwarzen Tiere galoppierten den Dünenkamm entlang. Der Sand schien unterihren Hufen zu explodieren und spritzte weit in die Höhe, dabei flackerte es immer wieder um ihre Fesseln. Die schwarz gerüsteten Reiter auf ihren Rücken waren Albae. Rodario schwenkte zu dem Bedauernswerten, den sie hetzten, und rief vor Erstaunen laut: »Bei Elria und Palandiell! Das habe ich noch nie gesehen: ein Mensch auf einem Nachtmahr!«

»Ich bezweifle, dass Ihr überhaupt jemals einen Nachtmahr gesehen habt. Bis eben«, warf Loytan ein.

»Das muss eine sehr mutige Frau sein, die sich traut, auf solch ein Tier zu steigen.« Coira sah die langen blonden Haare der Verfolgten im Wind wehen.

»Sie muss einen Alb umgebracht haben, um daranzukommen«, warf Rodario ein. »Freiwillig weichen die sicherlich nicht aus dem Sattel.« Ihm gelang es, das Gesicht der Reiterin durch das Fernrohr auszumachen. Die Frau sah hübsch aus, und von Furcht konnte er auf ihren Zügen nichts entdecken. Mit entschlossener Miene hielt sie den Abstand zu den Albae aufrecht. »Erstaunlich, dass ihr der Nachtmahr gehorcht.« Loytan kratzte sich am Kinn. »Das wird Lohasbrand gar nicht freuen, wenn er hört, dass sich die Albae auf sein Gebiet gewagt haben.«

»Höre ich da eine gewisse Zufriedenheit?«, erwiderte Coira und sah ihren Vertrauten an. »Du meinst, aus dem Vorfall könnte man wieder die gute, alte Feindschaft des Drachen und der Albae aufleben lassen, wenn wir es richtig angehen?« Rodario kam die blonde Frau immer bekannter vor - bis ihm einfiel, woher ihm die Züge vertraut waren. »Bei den Göttern! Das da vorn muss Mallenia sein!« Coira warf ihm einen Blick zu. »Mallenia? Die Freiheitskämpferin?«

Rodario nickte. Er hatte nicht mitbekommen, dass ihn die Prinzessin ansah, sondern starrte durch das Fernrohr zum Ufer. »Ja! Ich kenne sie von den Zeichnungen auf den Aushängen, die ich bei meinen Schauspielreisen durch Gauragar und Idoslän angeschlagen sah. Die Albae und die von ihnen eingesetzten Vasallen zahlen eine Menge Geld für ihren Kopf.«

»Anscheinend haben sie die Sache selbst in die Hand genommen«, merkte Loytan an. »Sie haben an Geschwindigkeit gewonnen. Es wird nicht mehr lange dauern, und sie haben sie eingeholt.« Rodario senkte das Fernrohr und machte einen Schritt auf Coira zu. »Prinzessin, auch wenn es uns scheinbar nichts angeht, aber ich bitte Euch: Steht Mallenia von Idoslän bei«, sprach er inständig. »Ich weiß, wie sehr das Volk sie verehrt und liebt. Wenn sie stirbt, wird der Kampf gegen die Besatzer im Osten des Geborgenen Landes gleichermaßen sterben!«

Coira hob die Augenbrauen.

Rodario verstand es als Aufforderung, noch mehr sagen zu müssen, um sie zu überzeugen. »Ich flehe Euch an: Greift ein! Ihr habt die Macht, sie vor den Albae zu retten und dem Volk von Idoslän die Hoffnung zu bewahren.« Er schluckte. »Ich würde es selbst tun, wenn ich Eure Kräfte besäße oder ein schnelles Boot mit genügend Männern, um mich dem Bösen in den Weg zu stellen.«

»Abgesehen davon wäre es nicht gut, wenn sich herumspräche, dass Mallenia in Weyurn vor Euren Augen gestorben ist. In Sichtweite des Palastes Eurer Mutter«, half ihm Loytan unerwartet. »Es könnten Schlüsse gezogen werden, dass wir den Albae geholfen hätten. Oder dass Mallenia zu uns wollte, um den Widerstand in Weyurn mit dem in Idoslän zu vereinen. So oder so: Wenn der Drache davon erfährt, wird er sich auf den Weg machen, um den Gerüchten nachzugehen.« Der Graf schwieg kurz. »Als er das letzte Mal hier auftauchte, gab es sehr viele Tote, wenn ich mich richtig an die Aufzeichnungen erinnere.«

Rodario mochte die Begründung des Mannes zwar nicht, weil sie auf der Angst um ihn selbst beruhte und es weniger um den Sieg des Guten ging, aber Beistand blieb Beistand. »Prinzessin, bitte!« Er kniete vor ihr nieder. »Ich stehe ewig in Eurer Schuld, wenn Ihr Mallenia rettet!«

Coira lächelte ihn an. Sie lächelte ihn mit einem ganz neuen, besonderen und bislang ungekannten Ausdruck in den Augen an und berührte ihn an der Schulter. »Steht auf, Rodario der Siebte. Ihr sollt nicht vor mir knien. Jemand mit Eurer edlen Gesinnung schon gar nicht.« Sie erklomm den Rand der Spundwand und - sprang! Mit einem erschrockenen Ruf hastete Rodario nach vorn, um nach unten in die tobenden Wogen zu schauen und zu erkennen, was mit Coira geschah. Im nächsten Augenblick sah er sie. Sie schwebte mit unglaublicher Geschwindigkeit über die aufgepeitschten Wellen und hielt auf das Ufer zu. Ein blaues Leuchten umgab sie, türkisfarbene Blitze zuckten nach unten und trugen sie über das Wasser.

»Welch eine Frau«, brach es aus ihm bewundernd heraus, und er hörte das gehässige Lachen von Loytan.

»Das könnt Ihr Euch abschminken, Schauspieler. Darin ist Eure Zunft ja ohnehin bewandert«, sagte er und kam auf ihn zu. »Coira wird Euch von nun an etwas mehr bemerken, als sie es vorher getan hat, aber respektieren wird sie Euch nie. Ihr seid unter ihrer Würde.« Sein Ton wurde schärfer.

»Wenn man Euch so hört, könnte man annehmen, dass Ihr Absichten hegt, die Euch nicht mehr zustehen dürfen. Als Gemahl einer anderen«, gab Rodario schneidend zurück und richtete sich auf. »Um es frei zu sagen: Ich kann Euch nicht leiden, und mit dieser durchsichtigen Warnung habt Ihr es Euch erst recht bei mir verdorben.« Die Überheblichkeit verschwand aus den Zügen des Grafen. »Ich sehe, Ihr habt eine scharfe Zunge, wenn Ihr möchtet.«

»Sie würde Euch in hauchdünne Scheiben schneiden, wenn Ihr es auf einen Zweikampf mit ihr anlegtet.«

»Das muss ich nicht. Coira wird eher meinen Worten Glauben schenken als Euren. Ich sorge dafür, dass Ihr uns bald wieder verlasst.« Loytan bleckte die Zähne. »Nachdem Ihr getrocknet seid, Schauspieler. Im besten Fall. Das Wasser unseres Sees kann durchaus den Tod bringen.«

Rodario wischte sich lässig ein paar Tropfen vom Arm. »Das bisschen Nässe macht mir nichts aus.«

»Wer redet denn von der Gischt?« Ansatzlos gab er dem Mimen einen Stoß mit beiden Händen, der ihn über die Spundwand beförderte.

Rodarios klamme Finger rutschten am Eisen ab. Schreiend fiel er über den Rand in den See, der vom heraufziehenden Sturm weiter draußen deutlich mehr aufgepeitscht war. Er stürzte mit dem Kopf voraus in die Fluten und glaubte, in flüssiges Eis zu tauchen. Jede Faser seines Körpers gefror; er meinte, es in sich knistern und knacken zu hören, als das Blut in den Adern stockte.

Unterseeische Strömungen drückten ihn unbarmherzig gegen die Wand, pressten ihn mit ungeheurer Kraft dagegen und rieben sein Gesicht daran. In Rodario begehrte das Leben auf.

Wild um sich rudernd, kämpfte er sich dorthin, wo er Licht erblickte und die Oberfläche vermutete.

Mallenia sah sich ein weiteres Mal um und konnte nur noch die Albin erkennen. Sie befand sich nicht mehr als einhundert Schritte hinter ihr und trieb den Nachtmahr mit harten Gertenschlägen an.

Die junge Frau wandte sich nach vorn. »Schneller!«, schrie sie ihrem Nachtmahr ins Ohr und zog ihren Dolch, setzte die Schneide an den Hals der Kreatur. »Ich schwöre, dass du vor mir sterben wirst, wenn sie mich einholen!«

Rechts von ihr tauchte ohne Vorwarnung ein schwarzer Schatten mit rot glühenden Augen auf und brauste die Düne herab, dann prallte er gegen den Nachtmahr und warf ihn zur Seite. Der zweite Alb hatte sie umritten!

In einem Knäuel rollten Mallenia und ihr Hengst den Sandhang hinab auf das Ufer des Sees zu. Der Nachtmahr wieherte schrecklich, es klang schrill und wütend. Es gelang ihr, sich vor den um sich tretenden Läufen in Sicherheit zu bringen, doch die Reißzähne bekamen ihren linken Oberarm zu fassen. Ein faustgroßes Stück Fleisch wurde ihr herausgebissen, die Zähne schabten über den Knochen, packten zu und schleuderten sie in Richtung Wasser.

Mallenia schrie und glaubte im ersten Moment, ihren Arm verloren zu haben. Das Blut floss in einem breiten Strom aus der Wunde über ihren Arm und rann auf die hellen Kieselsteine, auf denen sie zum Liegen kam. Auch wenn alles in ihr schmerzte, eine Rast durfte sie sich nicht gönnen. Sie setzte sich auf und wollte sich erheben, um ihre Flucht zu Fuß fortzusetzen, aber ihre Beine versagten den Dienst.

Das Stampfen der Hufe näherte sich ihr, die Albae-Geschwister schlossen gemächlich zu ihr auf. Sie hatten plötzlich keine Eile mehr, das Rennen war entschieden. »Da sitzt sie, die Mörderin und Diebin«, sagte die Albin voller Hass und sprang aus dem Sattel. Sie lief auf Mallenia zu und drosch mit der Reitgerte auf sie ein. Die Frau hob den unverletzten Arm zum Schutz, und jeder Schlag zerschnitt ihre Haut. In die Gerte waren Dornen eingeflochten worden, die wie eine Säge wirkten. Als sie nach ihrem Schwert greifen wollte, bekam sie einen Tritt gegen den Kopf, der sie nach hinten in den eiskalten See warf.

»Gib acht, Firüsha, sonst ertrinkt sie«, sagte ihr Bruder vorwurfsvoll. »Dabei haben wir noch so viel mit ihr vor. Und binde ihr den Arm ab, ehe sie verblutet. Der Nachtmahr verspürte anscheinend Hunger.«

Mallenia sah die Albin über sich, dann packten die behandschuhten Finger sie am Kragen und zerrten sie zurück an Land. »Ein derart sanfter Tod darf ihr nicht gegeben werden.« Sie versetzte der jungen Frau einen Schlag gegen das Kinn, um sie ohnmächtig werden zu lassen. Als die Spannung aus dem Körper gewichen war, nahm sie Mallenias Gürtel und band damit die Wunde ab; sofort endete der Blutfluss. »Was tun, Sisaroth?«

Der Alb sah auf ihre Gefangene. »Sie lebend nach Idoslän zurückschaffen. Die Heilige der Widerständler, ihr Halt und ihre Hoffnung, muss gebrochen werden«, sprach er. »Vor aller Augen, vor vielen Augen, werden wir sie hinrichten. Damit ist der Wille der Aufständischen ausgelöscht. Sie haben keinen Nachfolger, der diese Lücke schließen kann.«

Firüsha sah zu ihrem Bruder, der noch immer auf seinem Nachtmahr saß. »Ist die Gefahr nicht groß, dass ein gewaltiger Aufstand aus der Hinrichtung erwächst?« Sisaroth lächelte hinterhältig. »Ich hoffe es sehr. Wir schlagen ihn nieder, und mit ihm gleich alle anderen Widerständler. Sie kommen zu uns, um Mallenia zu befreien, und werden ihren Tod empfangen.«

»Ein gutes Vorhaben.« Firüsha sah dennoch nicht überzeugt aus.

»Ich sehe Vorbehalte?«, wollte er wissen. »Du rätst mir ab?«

»Nein. Ich überlege, was Aiphatön dazu sagen wird.«

Der Alb stieß ein lautes Lachen aus und legte den Kopf in den Nacken. »Unser Herrscher, der Unauslöschliche Kaiser, ist zu sehr damit beschäftigt, seine Gefolgsleute aus dem Süden bei Laune zu halten.« Er stieg ab und kam auf sie zu. »Ein schwächlicher Narr, trotz der Macht, die er besitzt. Er hat Angst vor einem Aufstand. Was ist nur aus ihm geworden? Früher wäre ich für ihn in den Tod gegangen, heute würde ich ihm den Vortritt lassen.« Die Kiesel knirschten nicht, als er darauf trat. »Welche Erwartungen habe ich in ihn gesetzt, den Nachfahren der Unauslöschlichen, nachdem er Lot-Ionan besiegt hatte! Und er redete, als wolle er die glorreichen Zeiten der ersten Generation der Albae zurückbringen. Stattdessen schleppt er uns die Zweitklassigen ins Geborgene Land und benimmt sich dienergleich! Wir hätten sie niemals benötigt. Aber das wird sich alles ändern. Bald.« Firüsha zog die Augenbrauen zusammen. »Du verheimlichst mir etwas, Bruder! Was weißt du noch?«

Sisaroth grinste. »Ich erfuhr, dass sie dem Unauslöschlichen Kaiser endlich das Versprechen abgerungen haben, noch in diesem Zyklus gegen den Magus zu marschieren.«

Firüshas Augen wurden groß. »Das wird ein harter Krieg und scharenweise Leben kosten! Und aus welchem Grund?«

»Um den Zugang in den Süden wieder zu öffnen. Es warten etliche des minderwertigen Packs im Jenseitigen Land darauf, hineingelassen zu werden. Aiphatön merkt nicht einmal, dass er dabei ist, seine eigene Macht in fremde Hände zu legen.« Sisaroth stand neben Mallenia und betrachtete ihr Gesicht. »Deswegen ist es wichtig, dass wir Idoslän, Gauragar und Urgon befrieden. Vor dem Krieg. Sollen sie nach Süden marschieren.« Er senkte die Stimme. »Wir sind uns darüber einig, dass wir sie nicht mehr nach Dsön Baisur lassen, Schwester?«

»So einig wie immer«, kam es unverzüglich von ihr. »In keines der drei Reiche, die einst den Elben gehörten. Sie gehören uns, den Dsön Aklän, nicht den Fremden.« Sie stieß einen hohen Laut aus, und der Nachtmahr, auf dem Mallenia geritten war, trottete mit gesenktem Haupt auf sie zu. Schnaubend kam er vor der Albin zum Stehen. Um sein Maul und die Nüstern haftete das Blut der Frau.

Sie zog pfeilschnell ihr Schwert und schnitt der Kreatur mit einem gewaltigen Hieb den Kopf ab. Der Nachtmahr und dessen Haupt fielen neben der Frau auf das Ufer, das Blut schoss aus dem Stumpf und begoss die Gefangene von Kopf bis Fuß.

»Fresst den Verräter«, befahl Firüsha den beiden verbliebenen Nachtmahren. Gierig machten sie sich über das warme Fleisch her. Sie waren von der langen Hätz ausgehungert.

»Was haben zwei Albae in Weyurn verloren?«, fragte eine weibliche Stimme schräg über ihnen; die Hände der Albae flogen an die Waffengriffe, gleichzeitig schnellten sie herum. »Das wird der Drache sicherlich nicht mögen.«

Sisaroth und Firüsha sahen eine schwarzhaarige Frau in vornehmer Kleidung auf der Dünenspitze stehen; sie trug nicht einmal ein Schwert bei sich. Die Augen leuchteten heller als bei einem gewöhnlichen Menschen - und dies machte die Geschwister stutzig.

»Eine Maga«, raunte Sisaroth seiner Schwester warnend zu. Er fühlte die unsichtbare Kraft, welche die Unbekannte in sich trug. Sie war im Überfluss damit angefüllt. »Ihr seid wer?«, hob er die Stimme.

»Das geht dich nichts an«, erwiderte sie herrisch und zeigte auf die Gefangene. »Ihr werdet ihr nichts antun, auf eure Nachtmahre steigen und Weyurn verlassen. Kehrt zurück nach Idoslän oder Gauragar oder Urgon und richtet dort Unheil an.« Firüsha stellte den linken Fuß auf Mallenias Brust. »Nun, sie gehört aber auch nach Idoslän.«

»Versucht es, sie mitzunehmen«, kam es von der Frau, und sie wirkte belustigt. »Der Drache wird sich freuen, wenn er davon hört. Endlich hätte er wieder einen Grund, um zum Angriff auf die Albae zu rufen. Der letzte Krieg ist schon lange her. Und ich glaube mich zu erinnern, dass euer Volk dabei nicht allzu gut abgeschnitten hat.« »Sie ist eine gesuchte Verbrecherin...«, versuchte es die Albin trotzig, doch die Frau fiel ihr furchtlos ins Wort.

»Dann hättet ihr sie wohl besser in Idoslän zu fassen bekommen als in Weyurn. Verschwindet!« Sie schüttelte die Arme aus und hob sie leicht an. »Das ist meine letzte Warnung an euch.«

Hinter den Geschwistern änderten die Wellen ihren Klang, und ein Mann schwankte aus den Wogen. Sein Gesicht war über etwas Raues gerutscht und ganz aufgescheuert, in der Hand hielt er einen Dolch, und er sah entschlossen aus. So entschlossen wie die Unbekannte auf den Dünen.

»Weg von ihr!«, befahl er den Albae. »Ihr lasst Mallenia in Frieden, oder die Maga wird euch zu Asche verbrennen!« Er kniete sich neben die Ohnmächtige und zog sie weg von ihnen und den fressenden Nachtmahren, deren Hufen sie gefährlich nahe lag. Ein Hinterlauf hob sich prompt und trat nach ihm; der Mann wich ihm erstaunlich rasch aus.

»Ihr seid kein Gefolge des Drachen«, sagte ihnen Sisaroth auf den Kopf zu. »Ich sehe keinen Anhänger aus Schuppen an Eurem Hals. Wie kommt es, dass Ihr uns dennoch mit Lohasbrand droht, als würdet ihr ihn gut kennen?« Die Frau gab keine Antwort - jedenfalls keine mit ihrer Stimme. Stattdessen streckte sie den rechten Arm mit der Handfläche nach oben aus. Über dem Handschuh erschien eine leuchtende Kugel, die langsam auf die Albae zuschwebte. Das Licht nahm an Stärke weiter zu, je mehr es sich den beiden näherte.

Die Nachtmahre wichen schnaubend und fauchend vor der Sphäre zurück, der Mann mit dem Kinnbärtchen warf sich schützend über Mallenia, um sie vor Tritten zu schützen. Sisaroth und Firüsha verzogen die Gesichter. Das Strahlen brannte in ihren Augen.

»Auf mein Wort hin wird das Gebilde zerspringen und euch mit seiner Helligkeit auf immer blenden«, verriet die Frau von der Düne herab. »Wenn ihr blind nach Hause findet, dann bleibt. Andernfalls rate ich euch, Weyurn zu verlassen. Und ich werde dem Drachen sagen, dass die Albae sich über die Vereinbarungen hinweggesetzt haben. Ich bin gespannt, wie er daraufhin handelt.«

Firüsha wollte ihre Waffe ziehen, doch Sisaroth hielt sie zurück. Er ging zu seinem aufgeregten Nachtmahr und stieg in den Sattel, dann ritten er und seine Schwester nach Osten.

Die Kugel verfolgte sie eine Weile, als sei der volle Mond vom Himmel gestiegen, um sie zu jagen. Nach zehn Meilen löste sie sich langsam auf und verging zu glitzerndem Staub, der sich auf den Schnee legte und auf den funkelnden Kristallen nicht weiter auffiel.

Sofort hielt Sisaroth den Nachtmahr an, und Firüsha riss ihren herum. Der echte Mond beleuchtete ihre wütenden Gesichter, auf denen sich dünne schwarze Linien abzeichneten. Ihre brodelnden Gefühle ließen sich nicht verbergen. Zu gern hätten sie diese in Mordlust umgewandelt, doch gegen eine Maga besaßen sie keinerlei Aussichten auf Erfolg. Nicht in einem offenen Angriff.

Sie sahen hinüber zur Insel, auf der zahlreiche Lichter brannten, und erkannten das Gebilde aus Eisenwänden mitten im See.

»Dort finden wir, was uns zusteht«, sagte der Alb düster und warf seiner Schwester einen Blick zu. »Tragen wir den Tod zu ihnen über das Wasser.«

»Ich habe nicht vor, ohne Mallenia zu gehen«, stimmte sie zu. »Sie ist der Schlüssel zu unserer unangefochtenen Herrschaft in drei Königreichen. Und ich will Rache für Tirigon!« Sisaroth machte ein Fischerdorf ganz in ihrer Nähe aus und schwenkte auf den Pfad ein, der dorthin führte. »Fragen wir, wer auf der Insel der Mutigen lebt. Und danach schauen wir, ob sich unter den Menschen Material für ein neues Kunstwerk findet. Ich spüre das Bedürfnis, Großes zu schaffen.«

Firüsha sagte nichts. Aber sie dachte bei sich, dass das aufragende Eiland schon bald Insel der Toten genannt werden würde.

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