VIII

Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Weyurn, Seenstolz, 6491. Sonnenzyklus, Winter.


Mallenia schlug die Augen auf und sah die Unterseite eines Baldachins über sich. Er war in orangeroten Farben gehalten und wies weiße und gelbe Stickereien auf, die ihr vollkommen unbekannt waren; die Luft roch feucht und kühl, als wären die Fenster sperrangelweit geöffnet. Der Duft von Bienenkerzen schwebte zart durch den Raum, und das Licht flackerte.

Sie wandte den Kopf nach rechts und sah eine schwarzhaarige Frau an ihrem Bett sitzen, die ungefähr in ihrem Alter war. Sie trug ein tailliertes, hellrotes Gewand, das die gerade Haltung ihres Oberkörpers betonte und von der Hüfte abwärts bauschig und verspielt wurde.

»Willkommen.« Die Frau lächelte Mallenia an. »Mein Name ist Coira, und Ihr befindet Euch auf der Insel Seenstolz in Weyurn. Im Palast solltet Ihr vor den Albae sicher sein, die Euch verfolgt haben, Mallenia von Ido«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. »Wir konnten Euren Arm retten, doch es wird auch mit meiner Magie eine Weile benötigen, bis die Stelle verheilt ist. Der Biss des Nachtmahrs hat Euch Fleisch und Knochen gekostet.«

Mallenia sah nach ihrem Oberarm, der unter einem dicken Verband verborgen lag, und meinte, die Zähne noch immer zu spüren. Sie räusperte sich. »Ich schulde Euch mein Leben«, bedankte sie sich. »Das werde ich niemals mehr gutmachen können.« »Darauf kommt es auch gar nicht an«, gab Coira freundlich zurück. »Ihr seid eine Freiheitskämpferin und wagt, was ich niemals wagen durfte.«

»Seid nicht so bescheiden, Prinzessin«, erklang die Stimme eines Mannes von der anderen Seite des Bettes. »In Mifurdania habt Ihr Euch gegen die Orks von Lohasbrand gestellt. Das macht Euch durchaus zu einer Verteidigerin der Freiheit.« Bevor die Ido den Kopf zu drehen vermochte, beugte sich ein Mann mit einem zotteligen Kinn- sowie Schnurbärtchen über sie. »Ich darf mich vorstellen: Rodario der Siebte«, sagte er ein wenig schüchtern. »Er hat Euch am Strand gegen die Nachtmahre verteidigt«, sagte Coira, »während ich mich um die Albae kümmerte.« Ihr fiel ein, dass er ihr noch immer nicht erklärt hatte, weswegen er nicht ertrunken war. Eigentlich konnte er doch nicht schwimmen. »Dann stehe ich auch in Eurer Schuld.« Mallenia deutete ein Nicken an. »Ach, was. Wir Freiheitskämpfer halten zusammen«, spielte er seine Tat herunter. »Und verteidigt ist ein wenig übertrieben. Ich habe darauf geachtet, dass Ihr nicht unter die Hufe der Viecher geraten seid, mehr nicht.«

Mallenia schenkte ihm ein Lächeln, bevor sie Coira ansah. »Die Albae - Ihr konntet sie besiegen? Zu zweit?«

»Auch wenn ich keine Maga bin wie einst meine Vorgängerinnen, so bin ich in der Lage, mich dieser Gewalten zu bedienen. Es war Euer Glück, dass die Albae auftauchten, nachdem ich meine gesamte Kraft erlangte. Etwas früher, und es wäre schlecht ausgegangen.« Sie schenkte ihr ein Glas Tee ein. »Allerdings muss ich Euch enttäuschen: Die Albae leben noch, aber ich habe sie nach Idoslän zurückgetrieben.« Mallenia presste die Lippen aufeinander, dass sie jegliche Farbe verloren. »Ihr kennt sie nicht.«

»Geschwister, oder?«, erkundigte sich Rodario. »Sie sahen sich äußerst ähnlich.« »Drillinge«, verbesserte Mallenia und nahm den Tee entgegen. Sie trank ein paar Schlucke, um die Trockenheit aus dem Hals zu vertreiben.

Coira strich die langen schwarzen Haare zurück. »Da wir zweien begegnet sind und Ihr auf einem Nachtmahr rittet, ahne ich, was geschehen ist.«

»Sie stellten mich in Hochheiligstadt, in Gauragar. Meine Mitstreiter wurden von ihnen umgebracht, ich tötete einen von ihnen und flüchtete, bis sie mich einholten«, berichtete sie. »Und sie werden zurückkehren, um mich zu töten. Ich belauschte sie, als sie mich für ohnmächtig hielten.« »Ihr versteht deren Worte?« Rodario setzte sich und betrachtete die Frau. Sie gefiel ihm ausnehmend gut. Mindestens so gut wie Coira, auch wenn sie vom Körperbau und den hellen Haaren den Widerpart zur Maga bildete. Er sah ihr an, dass sie viel mit Waffen übte und Wert auf Ertüchtigung legte. »Meinen Respekt! Wie habt Ihr das erlernt? Es soll sehr schwierig sein.«

Mallenia zwang sich ein Lächeln ab, es wirkte schief. »Wenn ein Land über so viele Zyklen besetzt ist wie mein Idoslän, bleibt es nicht aus, dass man die Sprache der Eroberer früher oder später begreift.« Sie wagte es nicht, die verbundene Stelle anzufassen; unter den Bänden juckte es heilend und pochte gleichzeitig schmerzhaft. »Wie lange wird es dauern?«

»Der Knochen ist schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Mehrfach gesplittert. Meine Magie hat die Trümmer verschmelzen lassen, doch bevor sie richtig halten, werdet Ihr vorneweg sieben bis acht Umläufe Schonung benötigen.« Coira erhob sich. »In zwei Umläufen werdet Ihr aufstehen dürfen. Soll ich einen Boten senden, der Euren Freunden von Eurem Verbleib berichtet?«

Mallenia seufzte schwer. »Es gibt niemanden mehr. Die Dsön Aklän, wie sie sich nennen, haben alle getötet, die mir nahestanden oder Nachfahren meines Ahnen, Prinz Mallen, waren.«

Rodario setzte sich auf. »Was bedeutet die Anrede?«

»Wenn ich es richtig übersetze, so viel wie Götter von Dsön.«

»Das nenne ich doch mal einen Titel!« Er schabte sich über das Kinn und riss sich dabei eines der dünnen Härchen aus. »Mit Verlaub, aber welchen Grund hat das Abschlachten? Um den Geist der Rebellion ein für allemal auszulöschen? Oder steckt mehr dahinter?«

Mallenia schaute überrascht. »Was meint Ihr denn mit mehr?«

»Woher soll ich das wissen? Ihr seid aus Idoslän und kennt die alten Sagen und Mythen. Existiert vielleicht eine Prophezeiung, welche den Niedergang eines übermächtigen Feindes an die Nachfahren des legendären Prinz Mallen knüpft?« Mallenia wurde urplötzlich von innerer Unruhe heimgesucht. »Daran habe ich noch niemals gedacht«, gestand sie ihnen.

»Die Albae sind bekannt dafür, dass sie das Mystische lieben. Sagt man«, schränkte Rodario sogleich ein. »Es könnte doch gut zu ihnen passen, dass sie Euch und die anderen jagten, um das Eintreten einer Prophezeiung zu verhindern.« Er wirkte nicht weniger aufgeregt als sie. »Das klingt doch sehr nach einer Geschichte, die auf die Bühne müsste, findet Ihr nicht?«

»Eure Begeisterung in allen Ehren, doch auf welcher Bühne wollt Ihr es aufführen?«, warf Coira ein. Sie fürchtete, dass die Verwundete durch die Spekulationen des Mannes ihre wichtige Ruhe verlor, die sie zur Genesung benötigte. »In Weyurn fehlen Euch die Spectatores, und in Idoslän kämt Ihr über den dritten Satz des Stückes nicht hinaus, wenn die Albae in der Geschichte die Verlierer wären.«

Rodario rieb sich erneute den spärlichen Bart, als könnte er ihn zum Wachsen anregen. »Das ist wohl wahr«, meinte er nachdenklich. »Ich werde mich umhören.« Er sah zu Mallenia. »Wir finden heraus, ob es mehr als Blutrünstigkeit gibt, welche die Schwarzaugen antreibt.«

Sie wollte etwas erwidern, da klopfte es, und ein Bediensteter steckte den Kopf zur Tür herein. »Prinzessin, Eure Mutter verlangt nach Euch. Es ist ein Bote eingetroffen. Ein Lohasbrander.« Auf ihren Wink hin zog er sich zurück.

»Ruht Euch aus, Mallenia. Wir sehen bald wieder nach Euch«, verabschiedete Coira sich und gab Rodario ein Zeichen, sie zu begleiten. »Je mehr Ihr schlaft, desto rascher verheilen die Wunden.«

Die beiden verließen das Zimmer und schritten Seite an Seite durch den Palast, der sich auf der Spitze des einzigen Berges der Insel befand.

Rodario hielt es nicht länger aus. »Was denkt Ihr, was der Drache ausrichten lässt?« »Das überlege ich, seit ich von dem Boten gehört habe«, antwortete Coira und fühlte sich ausgesprochen unwohl. Sie machte sich Vorwürfe, derart unbesonnen in Mifurdania gehandelt und ihre Herkunft verraten zu haben. Damit hatte sie nicht nur sich, sondern auch die geliebte Mutter in Gefahr gebracht. Der Drache verzieh nichts. Schon gar nicht den Tod seiner Verbündeten oder die Unterstützung eines Verbrechers. »Ich könnte mich freiwillig stellen, wenn es Lohasbrand fordert«, setzte er an, doch sie winkte ab.

»Niemand stellt sich irgendwem freiwillig. Ich dachte, wir versuchen, die Aufmerksamkeit des Drachen auf die beiden Albae zu lenken, ohne preiszugeben was sie hier wollten. Der tote Nachtmahr wird uns als Beweis dienen. Danach ist unsere kleine Episode in Mifurdania belanglos«, sagte sie fest, glaubte aber selbst nicht an ihre Worte. »Euch geht es gut? Eurem Gesicht auch?«

Rodario betastete die abgeschürfte Wange. »Nichts Schlimmes. Die Eisenwand hat mich geküsst.«

»Mir ist immer noch schleierhaft, wie Ihr es schaffen konntet, über die Brüstung zu stürzen. Und bis zum Ufer zu gelangen. Sagtet Ihr nicht, dass Ihr Nichtschwimmer seid?«

»Unvorsicht und eine schlüpfrige kleine Wasserlache. Mein Leben verdanke ich vermutlich Samusin«, log er. Er hatte sich entschieden, nichts von Loytans Anschlag zu berichten, sondern diese Sache mit dem Grafen unter vier Augen zu regeln. Allerdings war er von nun an vorsichtiger und würde ihm niemals mehr den Rücken zuwenden. »Es durchaus Sinn: Meine Tollpatschigkeit ließ mich ja zur rechten Zeit am Ufer erscheinen. Ihr allein gegen die Albae - was wäre das geworden?«

Coira lachte, weil die Äußerung des Mimen absolut ernsthaft klang. Als glaube er tatsächlich, dass sie ohne ihn in Schwierigkeiten geraten wäre. »Ja, Ihr seid mein Retter, Rodario der Siebte«, sagte sie freundlich und fasste seine Hand. »Wer hätte dieses Kämpferherz in Euch vermutet? Verzeiht, wenn ich es frei heraus sage, doch ich sicherlich nicht. Nicht nach Eurem nächtlichen Abenteuer in Mifurdania.« »Wie darf ich denn das verstehen?«

»Der Schrei, den Ihr von Euch gegeben habt, als ich vor Euch stand, war mädchenhaft und süß.«

»Pah«, sagte er und schauspielerte übertrieben.

Sie musste wieder lachen. »Es freut mich, dass ich Eure wahre Natur sehen durfte.« Die Maga blickte ihm in die braunen Augen, um eine neckende Äußerung hinzuzufügen - und schwieg verwirrt. Der unsichere Ausdruck in Rodarios Miene war für die Dauer eines Blitzschlags verschwunden gewesen und etwas sehr Männlichem, Erobererhaftem gewichen. Es breitete sich schier über den ganzen Mann aus und verlieh ihm eine völlig andere Ausstrahlung; gebannt starrte sie ihn an - doch schon kehrte das jungenhaft Unbeholfene auf sein Gesicht zurück.

Rodario lächelte und drückte ihre Finger. »Die Freude ist ganz meinerseits.« Er ließ sie los, als sie um die Ecke des Ganges traten und in die Sichtweite der Diener kamen. Coira fragte sich noch immer, was eben mit ihm vorgegangen war. Gemeinsam betraten sie den Westtrakt, in dem die Königin von Weyurn residierte, auch wenn es schon lange eher eine Gefangenschaft war.

Die Diener öffneten ihnen die hohen Türen, und sie betraten den Raum mit dem großen, runden Fenster, das aus vielen einzelnen Scheibenstücken zusammengesetzt war und durch Bleigrate gehalten wurde. Dahinter breitete sich der See in seiner verbliebenen Schönheit aus und erstreckte sich bis zum Horizont. Wolken zogen über die spiegelnde Fläche hinweg, einzelne Inseln ragten heraus wie Teller auf Pfählen, andere glichen eher Kegeln.

Wey die Elfte und entmachtete Königin von Weyurn ruhte auf einem bequem gepolsterten Sessel schräg vor dem Fenster; um sie herum saßen oder standen vier bewaffnete und gerüstete Lohasbrander. Sie hatte sich in ein seidenes, weinrotes Kleid gehüllt und eine Haube aus schwarzen Spitzen gewählt.

Was gar nicht zu ihrer Garderobe passte, war der Eisenring, der um ihren Hals lag. An den vier Ösen waren Ketten angebracht, die zu ihren Wächtern führten. Rodario sah die Gleitschienen am Ring, und er kam zu der Erklärung, dass sich der Durchmesser verringern ließ, wenn die Ketten gezogen wurden. Tod durch Ersticken. Rissen alle vier Männer gleichzeitig daran, konnte er sich vorstellen, dass die Vorrichtung die Königin köpfte.

Rodario bewunderte Wey, die sich nicht anmerken ließ, wie sehr sie diese Fesseln demütigten. Er hatte davon gehört, dass die Wachen sie niemals aus den Augen ließen, um zu verhindern, dass sie die magische Quelle betrat. Die Herrscherin war die mächtigste Maga des Geborgenen Landes, erzählte man sich, sogar stärker als Lot-Ionan. Ihr wahres Alter kannte niemand.

Der Drache, erinnerte sich Rodario, hatte sie dennoch besiegt und die Schonung der Tochter sowie des Landes versprochen, wenn sie sich unter Bewachung stellen ließ. Es musste bei dem Kampf sehr knapp für den Geschuppten ausgegangen sein. Rodario fragte sich, warum man die vier Lohasbrander nicht einfach tötete. Wegen der Sorge um die Bewohner des Reiches?

Wey nickte ihnen zu, die Ketten klirrten leise. Coira und der Mime verneigten sich vor ihr und nahmen auf den Stühlen Platz, die ihnen von Dienern hingestellt wurden. Ein fünfter Lohasbrander trat hinter einem Bücherregal hervor, er hatte einen schweren Folianten in der Hand. Rodario schätzte ihn auf um die fünfzig; das braune Haar trug er kurz, und eine Brandnarbe leuchtete unter dem linken Auge. Flankiert wurde er von zwei Orks: groß, gerüstet bis zum Hals und widerlich anzuschauen. Er bemerkte die Neuankömmlinge, musterte sie nacheinander und setzte sich an den Schreibtisch, der eigentlich der Königin gebührte.

»Falscher Platz«, sagte Coira unfreundlich zu dem Mann. »Es sei denn, Ihr wärt unter Eurer Rüstung eine Frau, und Euch stünde die Krone von Weyurn zu.« Der Mann lachte lauthals. »Das Ungestüm der Jugend«, gluckste er und öffnete das Buch, um darin zu blättern. »Ihr seid wie immer sehr direkt mit Euren Worten. Bedenkt man, was Ihr Euch zuschulden habt kommen lassen, könnte man Euer Verhalten als übermütig und töricht ansehen.«

Rodario betrachtete die Hornschuppe, die an einer goldenen Kette um den Hals des Gesandten hing. Sie trug Gravuren, die ihn als unmittelbaren Vertrauten des Drachen auswiesen, und seine Worte waren Befehl und Gesetz zugleich, so als spreche und richte der Geschuppte selbst. Rodario deutete es als kein besonders ermutigendes Zeichen und erhob sich von seinem Platz. »Ich bekenne mich allein schuldig.« »Schuldig?« Der Mann sah ihn verblüfft an. »Bei Tion! Jetzt sehe ich es erst: Noch einer von den Möchtegern-Rodarios«, stöhnte er auf. »Man sollte sie alle erschlagen, damit ich das Gesicht nicht mehr ertragen muss.« Er lehnte sich nach vorn. »Lasst mal sehen: Euer Gesicht ist zu dick, der Bart ist lächerlich, Ihr betont Eure Sätze nicht sehr eindrucksvoll und nuschelt dazu noch, als hättet Ihr die Wangen mit Watte vollgestopft. Ganz im Gegensatz zu dem, welchen wir in Mifurdania hingerichtet haben. Ich bin mir sicher, dass er den Wettbewerb gewonnen hätte.«

Rodario und Coira versteiften sich.

Der Mann grinste sie an. »Ja, und schon ist Euch der Zahn der Großmäuligkeit gezogen!« Er deutete auf die Hornschuppe. »Kehren wir zurück zum eigentlichen Grund meines Hierseins. Ich bin Präses Girin und von Lohasbrand ausgesandt, um Vorfällen auf den Grund zu gehen, die sich in Mifurdania zugetragen haben. Man sagt«, er richtete seine Augen auf Coira, »Ihr wäret darin verwickelt gewesen. Es geschahen Dinge, welche nur eine Maga geschehen lassen kann.« Seine linke Hand deutete auf Wey. »Da Eure Mutter die Insel nicht verlassen hat, wie mir ihre Wachen versicherten, bleibt Ihr. Das bedeutet einen Verstoß gegen die Abmachung!«

Rodario hatte sich nicht wieder gesetzt. »Präses, wen habt Ihr hingerichtet?«, stammelte er.

Girin verdrehte die Augen. »Es gibt so viele von Euch. Wie soll ich mir die ganzen verschiedenen Bezeichnungen merken? Aber ich denke, er nannte sich Unerreichbarer.« Er schmunzelte. »Das Schwert hat ihn dennoch ereilt. So unerreichbar war er für uns wohl doch nicht, wie er dachte. Somit ist der Kopf der Aufständischen im wahrsten Sinne abgeschlagen. Das Geschmiere über Freiheit und Widerstand ist dahin.«

Coira hielt sich eine Hand vor den Mund, Rodario schwankte sogar. »Haltung«, murmelte er und riss sich zusammen.

Girin sah auf Coira. »Kommen wir zurück zu Euch...«

»Ihr verdächtigt die Falsche«, redete der Mime dazwischen und reckte sich. Haltung! »Das war ich.«

»Ihr?« Der Präses prustete los. »Was bezweckt Ihr damit? Dass ich mich zu Tode lache?«

»Wir Schauspieler kennen Kniffe, um die Augen derer zu täuschen, die uns beobachten. Wir schaffen Illusionen aus Pülverchen, lassen Lampen verlöschen oder beschwören Dämonen, wenn man uns ein wenig Zeit und Material an die Hand gibt«, erklärte er. »Ihr werdet die Erzählungen um den begnadeten Magister technicus Furgas noch kennen? Mir war genug Zeit vergönnt, um mich auf die Rettung vorzubereiten. Ein Freund von mir hat sich verkleidet, und gemeinsam sind wir in den Turm eingedrungen, um den Unerreichbaren zu befreien. Die Orks waren dämlich genug, sich täuschen zu lassen.«

Girin richtete sich auf, dann hob er den linken Arm und wackelte mit dem Zeigefinger. »Kommt her, Schauspieler.«

Rodario ging gemessenen Schrittes auf den Schreibtisch zu.

Wey und Coira wechselten besorgte Blicke.

Die Prinzessin fand es rührend, was der Mann für sie zu tun gedachte, und war zwiegespalten. Wenn der Lohasbrander zum Entschluss kam, dass sie gegen die Abmachung mit dem Drachen verstoßen hatte, geriet das Leben ihrer Mutter in Gefahr; gleichzeitig wollte sie nicht zulassen, dass sich der Schauspieler opferte. Sie wunderte sich über die Tapferkeit Rodarios, in demmehr Mann steckte, als sie bei ihrem ersten Treffen angenommen hatte. Der Mime hatte den Schreibtisch erreicht, Girin besah sich ihn. »Also, dann. Zeigt mir, wie Ihr es angestellt habt«, forderte er ihn auf und lehnte sich zurück. »Lasst doch mal einen Eurer gefälschten Zauber sehen.«

»Ich... hatte ja keine Vorbereitungszeit«, wand sich Rodario und schob die Hemdsärmel in die Höhe. »Aber ich erkläre es Euch. Nehmen wir den Feuerball. Hier säßen zum Beispiel Vorrichtungen mit Pflanzensamen. Wenn ich den Auslöser betätigte und den Feuerstein...«

Girin schüttelte den Kopf. »Nein, ich möchte nichts erklärt bekommen. Ich will es sehen.«

»Dazu müsste ich nach Mifurdania, um meine Gerätschaften zu holen.« Rodario hob die Schultern. »Anders geht es nicht. Vielleicht haben wir das Glück und treffen unterwegs die Albae, die in Weyurn heimlich umherreiten und spionieren.« »Sicherlich«, sagte Girin gönnerhaft. »Albae. Man sieht sie fast überall in unserem Land. Erst neulich habe ich einen beim Angeln am See gesehen.« Die Orks lachten grunzend.

»Ihr glaubt mir nicht?« Er drehte sich zu Coira. »Sie musste gestern drei von ihnen angreifen, sonst wären sie tiefer nach Weyurn vorgedrungen. Späher vermutlich. Am Strand werdet Ihr den Kadaver des Nachtmahrs finden. Sie sind sicher noch in der Nähe. Das dürft Ihr dem Drachen auch sehr gern berichten. Es halten sich immer weniger an Abmachungen, was?!«

Man sah dem Präses an, dass er ins Grübeln geraten war, und er sandte einen der Orks an Land.

Coira musste ein Grinsen unterdrücken. Rodario hatte geschickt von sich abgelenkt. Es war klar, dass Girin es sich nicht erlauben durfte, ausgerechnet in dieser Sache eine Nachlässigkeit zu begehen.

»Aber«, sagte der Lohasbrander und schaute wieder zu Rodario, »was auch immer an dem, was Ihr über den Alb berichtet habt, wahr sein mag, es entbindet Euch nicht von der Schuld.« Er gab dem anderen Ork einen Hinweis, und die Kreatur kam auf den Schauspieler zu. »Ich werde Euch mitnehmen nach Mifurdania und Euch den Wachen gegenüberstellen, die Euren Angriff überlebten. Wenn sie der Meinung sind, dass sie Coira mit Euch in Weiberkleidung verwechselt haben, ist der Makel von der weyurnischen Herrscherfamilie entfernt, und niemand kommt zu Schaden.« Girin nickte der Königin zu. »Für Euch, Rodario Wie-auch-immer, endet die Reise dort so oder so. Am Umlauf unserer Ankunft könnte der Wettbewerb zu Ende gehen. Ihr hättet das Glück, wenigstens noch den Sieger kennenzulernen, ehe der Scharfrichter Euren Kopf auf den Richtblock drückt.«

Dem bleichen Mimen wurden die Hände mit Ketten auf den Rücken gefesselt, welche der Ork von seinem Gürtel nahm. Doch er stand noch immer aufrecht und hatte das Kinn leicht erhoben.

Coira blickte erneut zu ihrer Mutter und versuchte an ihren Augen abzulesen, was die Herrscherin dachte.

»Ich sprach die Wahrheit, Präses«, sagte Rodario. »Aber wenn sich die Orks nicht einig sind? Wie sehr kann man sich auf ihren Verstand verlassen?«

»Sollte sich herausstellen, dass sie der festen Meinung sind, dass es doch Coira war, die am Überfall auf das Gefängnis beteiligt war, wird Wey die Konsequenzen tragen müssen.« Girin klang gleichgültig. »So lautete die Abmachung, die Ihr unterzeichnet habt«, sagte er zur Königin. »Der Drache hat darauf bestanden, dass sich daran gehalten wird, und möchte nicht der Einzige sein, der dies tut. Bedankt Euch bei Eurem eigenen Fleisch und Blut.«

»Das muss sie nicht. Coira hat damit nichts zu tun. Nach wie vor«, beteuerte Rodario, wurde vom Ork zur Seite gezerrt und neben den Schreibtisch gedrängt. »Mutter, was denkst du?«, fragte Coira und legte die Hände an ihren Gürtel, den sie locker auf den Hüften trug. »Die Albae würden doch auch vor einem Präses nicht haltmachen, wenn sie auf ihn träfen und er sich ihnen heldenhaft in den Weg stellen würde?«

»Kaum«, antwortete die Königin. »Und wir müssten den Drachen unverzüglich um Beistand gegen die Eindringlinge bitten, die unsere Insel bedrohen.«

»Was soll dieses Gerede?«, bellte Girin und sah zwischen Mutter und Tochter hin und her. »Hier sind keine Albae, und schon gar nicht würden sie es wagen, einen Abgesandten des mächtigen Lohasbrand anzugreifen. Sie wüssten um die Folgen.« Wey erhob sich langsam von ihrem Sessel, die Hände wie Coira vor dem Bauch zusammengefaltet. »Ich warte schon so lange auf die Gelegenheit, mich von den Fesseln zu befreien, Präses«, verkündete sie mit getragener Stimme und Stolz in den Augen. »Die Götter hatten ein Einsehen und sandten sie mir. An diesem denkwürdigen Umlauf. Dank Euch und den Albae.«

Girin ahnte, was kommen würde, und sprang von seinem Stuhl auf. »Rasch! Tötet sie beide!«

Der Ork zog sein wuchtiges Schwert und wollte sich auf Coira stürzen, und die vier Wärter der Königin zerrten an den Ketten; schleifend verengte sich der Ring. Rodario stellte dem Ork ein Bein, was nicht ausreichte, um das Scheusal zu Fall zu bringen, doch es strauchelte und verschenkte zwei Lidschläge, um sein Gleichgewicht zurückzuerlangen.

Rote Blitze trafen Gesicht und Brust, der Ork schrie seine Qualen schrill hinaus und fiel brennend auf den Marmorboden; sogar das dunkle Blut, das aus seinen Wunden lief, stand in Flammen. Rodario konnte seinen Blick nicht abwenden.

Weiße Energiebahnen legten sich um den Ring und verhinderten, dass er sich weiter zuzog, dann jagten sie die Ketten entlang in die Hände der Lohasbrander. Fauchend entzündeten sich deren Finger, als bestünden sie aus trockenem Holz. Rasend schnell tanzten die Lohen auf der Haut nach oben, huschten unter die Rüstungen; gleich darauf stieg Rauch aus den Kragenöffnungen. Kreischend ließen die Wächter die Ketten los und schlugen sich auf die Kleidung, um das Feuer darunter zu löschen. Es dauerte nicht länger als zwei kurze gesprochene Sätze, und sie stürzten verkohlt nieder.

Klirrend zersprang der Eisenring um Weys Hals und fiel in glühenden Fragmenten vor ihre Füße. Die Königin sah zu Girin, der sein Schwert gezogen hatte und vor dem großen Fenster stand. Er zitterte am ganzen Leib. »Hast du wirklich geglaubt, dass ich keinerlei Magie mehr in mir trage, Lohasbrander?«, sprach sie zornig.

»Der Drache wird kommen und dich vernichten!«, sagte er. »Er wird Weyurn vernichten, in einem Feuermeer untergehen lassen und die Seen austrocknen!« »Der Drache wird hiervon nichts erfahren. Aber von dir und den Albae, die sich einen Kampf mit dir lieferten. Im Palast. Es wird eine heldenhafte Geschichte über dich sein. Freue dich darüber.« Coira lächelte und trat zu Rodario. Ein kurzer Blitz, und seine Fesseln waren zerstört. »Wir werden ihm anbieten, sie zu suchen. Denn schließlich liegt uns das Wohl Weyurns ebenso am Herzen wie ihm, wenn auch aus anderen Gründen. Er wird unser Angebot annehmen, das ist gewiss.«

»Aber vorher«, Wey ging mit kleinen Schritten auf ihn zu, »musst du sterben, um unsere Geschichte vollkommen zu machen.«

Girin schlug mit dem Schwert gegen das große Fenster und zertrümmerte vier der Scheiben. Ein starker Wind schoss durch das Loch und fegte die leichteren, losen Gegenstände im Raum umher. Vorhänge wehten, Papier, Deckchen, leere Gläser landeten auf dem Steinboden. Ein Klirren und Rascheln erfüllte die Luft. »Niemals!«, schrie er und sprang hinaus. Der Präses wusste, dass er im See landen würde, auch wenn es einen unendlich tiefen Sturz bedeutete.

Rodario wollte es nicht der Fügung überlassen, ob der Mann starb oder nicht. Unerwartet schnell bückte er sich nach einem der toten Wächter, zog einen Dolch und schleuderte ihn gegen den Präses.

Die Klinge fuhr ihm durch den Nacken, der Körper verlor jegliche Spannung, und die Hand gab das Schwert frei. Rodario war zufrieden.

Sie eilten alle drei nach vorn und verfolgte den Fall der Leiche. Sie sahen Girin als schwarzen Strich, der den dunklen Wellen entgegenflog.

»Mindestens... achtzig Schritte. Der Aufschlag auf dem Wasser hätte ihn ohnehin zerrissen«, sagte Rodario genüsslich voraus. »Da hat er nicht mitgedacht.« Coira überlegte, ob Rodarios Wurf auf Glück oder etwas anderem beruhte. Sie kam zu keinem vernünftigen Schluss. Gemeinsam sahen sie, wie der Lohasbrander in den See eintauchte und verschwand.

»Brauchen wir seinen Leichnam?«, fragte sie Wey.

»Es wäre besser. Wir haben zwar genügend Tote, um es dem Drachen glaubhaft zu machen, dennoch wird der Kadaver des Präses am meisten auslösen.« Ihre Augen richteten sich auf das Boot, das sich zum Strand bewegte. »Da rudert der Ork, den er ausgesandt hat, den Nachtmahr zu suchen.«

Coira hatte verstanden. »Ich sorge dafür, dass er sich nicht absetzen kann, falls er gesehen hat, wer aus dem Fenster gefallen ist.« Sie umarmte ihre Mutter und hielt sie lange fest. »Wie lange habe ich darauf warten müssen!« »Eine Ewigkeit. So kam es mir vor.« Wey hatte die Augen geschlossen und die Arme um den Oberkörper der Tochter gelegt.

Rodarios Herz klopfte wild. »Was machen wir denn nun?«, erkundigte er sich aufgeregt. »Wie sieht der Plan aus? Ihr habt doch einen?«

»Zum Teil«, erwiderte Coira und löste sich von der Königin. »Wir lassen den Drachen im Glauben, dass die Albae seine Männer umgebracht haben. Danach sehen wir, was sich ergibt. Im besten Fall ruft er zum Krieg gegen sie. Während sie sich schwächen, können wir weitere Unternehmungen angehen.« Sie kam auf ihn zu und drückte ihn an sich. »Ihr seid willkommen, Eure Gedanken unserer Rebellion beizusteuern.« Rodario wurde heiß. Er spürte sie, und in seiner Vorstellung sah er sie nackt. Wie auf dem Grund der Quelle. »Sehr gern, Prinzessin«, hauchte er und hob unbeholfen die Arme. Durfte er sie umfangen oder nicht?

Ehe er sich entschlossen hatte, ließ Coira ihn los. »Ihr seid ein Schatz, Rodario der Siebte!«

»Ich hätte schon einen Vorschlag!«, beeilte er sich zu sagen. »Wie wäre es, wenn wir das Volk glauben lassen, dass der unbekannte Poet der Freiheit noch immer lebt?« Er streckte sich. »Ich werde sein Erbe antreten - jedenfalls, was das Reimen angeht.« Coira nickte, wenn auch nicht gerade begeistert. »Ihr traut Euch das zu? Nichts gegen Eure Dichtkunst...«

»Ich lerne schnell. Ihr werdet es sehen.« Er verneigte sich tief. »Ich verspreche Euch sogar, dass Ihr überrascht sein werdet, wie schnell.«

Da schimmerte es wieder auf, wie Coira fand - das Bild eines anderen Rodarios, der männlich war und Dolche sehr genau schleuderte. Nun war sie auf die Zeilen gespannt. Wey stand noch immer am Fenster und betrachtete den See. »Kümmere dich um die Grünhaut, Coira«, befahl sie. »Er hat das Ufer gleich erreicht.« Sie drehte sich zu ihnen. »Ich werde derweil mit unserem neuen Poeten sprechen. In ihm scheint sich ein verkannter heller Geist zu verbergen.«

Rodario verbeugte sich vor der Königin. »Zu Diensten, Hoheit!«



Das Jenseitige Land, sechsundsiebzig Meilen südwestlich der Schwarzen Schlucht, 6491. Sonnenzyklus, Winter.


Der flache Kopf des Krähenschnabels prallte gegen Tungdils gerüstete Brust, und wieder flammten die Runen auf der Tioniumpanzerung auf, als wollten sie der Sonne und allen Nachtgestirnen zusammen die Gegnerschaft erklären.

Ein Blitz fuhr die Waffe hinauf bis zum Griff - und schoss schräg nach oben in die Decke; dann fiel der Krähenschnabel auf den Boden.

»Ha!« Boindil stand neben den Füßen des liegenden Zwerges. »Dieses Mal habe ich keinen magischen Schlag erhalten.« Er grinste und strich sich den Bart glatt, an dem sich einzelne Härchen durch die Entladung aufgerichtet hatten. »Wenn ich die Waffe vorher loslasse und nach hinten springe, kann die Energie nicht übertragen werden. Ho, Gelehrter, was sagst du nun: Bin ich schlau oder bin ich schlau?« Er hob den Krähenschnabel auf und betrachtete den Metallkopf. »Mh. Er sieht heil aus.« Ingrimmsch reckte die Hand nach Tungdil. »Was ist mit dir? Kannst du dich wieder bewegen?«

Tungdil zwinkerte. »Ich sehe nur helle Lichter, die vor meinen Augen tanzen«, sagte er missmutig und hob den rechten Arm. Die Finger der Freunde schlossen sich ineinander, und gleich danach stand er neben dem Zwilling. »Doch es hat geholfen. Brachial und selbstzerstörerisch, aber wirkungsvoll.«

Boindil lachte dröhnend. »Selbstzerstörerisch wohl kaum.« Er sah nach dem kuhgroßen Loch in der Decke, welches die Magie geschlagen hatte. »Ich weiß jetzt immerhin, was ich unternehmen kann. Falls du wieder umfallen solltest. Aber achte in Zukunft darauf, dass ich immer in deiner Nähe bin. Am Ende halten sie dich bei deiner nächsten Rüstungsstarre für eine Statue und hieven dich auf ein Podest.«

Tungdil hob Arme und Beine, drehte Kopf und Rumpf. Die Panzerung besaß ihre alte Beweglichkeit und verhielt sich, als sei nichts Außergewöhnliches vorgefallen. »Ich versuche daran zu denken, wenn ich mich im Kampf gegen unsere Feinde befinde«, erwiderte er und ging zum Tisch, um endlich etwas zu essen. Ingrimmsch hatte ihm fast nichts mehr übrig gelassen. »Ich konnte doch nicht ahnen, dass ich so bald Erfolg mit meiner Kur gegen faule Rüstungen haben würde«, verteidigte sich Boindil gegen den stummen Vorwurf aus dem Auge des Freundes. »Was genau hat mein Schlag bewirkt?«

»Ich weiß es nicht. Es hätte gar nicht geschehen dürfen.«

Ingrimmsch lachte und angelte die Wurst herab. »Warte, ich reibe sie rasch im Schnee ab. Sie schmeckt bestimmt gut.« Er pochte damit gegen Tungdils Rüstung. »Wenn sie erst einmal aufgetaut ist, meine ich.«

»Mir reicht, was ich hier habe«, hielt ihn Tungdil vom Verlassen der Unterkunft zurück. »Was ist mit dem Dritten geschehen?«

»Der Weiße Tod ist mit ihm zu Tal geritten und hat ihn sich geholt. Vraccas war mit uns.« Ingrimmsch dachte nach, Sorgenfalten zeigten sich auf seiner Stirn. »Ich habe einen derartigen Rockträger zum ersten Mal gesehen. In einer Rüstung mit solchen Runen. Ich könnte schwören, dass es albische Zeichen waren. Mehr als merkwürdig.« »Was ist daran merkwürdig? Du sagtest doch, dass sie und die Schwarzaugen einen Pakt eingegangen sind.« Er nahm sich die letzte Kelle vom Eintopf, gab sie auf den Teller und aß.

»Zwischen einem Pakt und dem Tragen fremder Runen auf sehr absonderlichen Rüstungen besteht ein deutlicher Unterschied. Das, was ich über die Dritten gehört habe, klang nicht so, als wären sie so gut mit den Schwarzaugen befreundet, dass sie sich gegenseitig in Rüstkunst unterweisen.« Ingrimmsch blickte unwillkürlich auf das Tionium, in dem sein Freund steckte.

Tungdil kaute weiter und nahm einen Schluck Tee. »Du möchtest wissen, was für ein Geschöpf das war, welches ich beraubt und umgebracht habe«, deutete er die Blicke. »Schon, Gelehrter. Dass es ein Schweinehund gewesen sein muss, ist mir durchaus bewusst. Und dass er sich beim Anfertigen dieser Rüstung unheilvoller Magie bediente, wie sie auch von den Albae gebraucht wird, liegt nach dem Vorfall von vorhin auf der Hand.« Ingrimmsch sah Tungdil an. »Was müsste ich noch darüber wissen? Für den Notfall?«

Tungdil schabte die Reste zusammen, aß sie und leckte den Löffel ab. »Das war sehr gut«, lobte er. »Ein bisschen wenig, aber sehr gut.«

Der Zwerg kniff die Augen zusammen. »Ist das etwa der schäbige Versuch, mir auszuweichen?« Er kramte in seiner Tasche und nahm eine neue Pfeife heraus. »Wie gut, dass ich zwei dabeihatte. Der Schwachkopf hat mir meine Pfeife zertrampelt. Meine Lieblingspfeife! Sie war so gut eingeraucht.« Er stopfte sie und entzündete den Tabak mit einem glimmenden Span aus dem Kamin. Tungdil machte eine Pause, verfolgte den hellen Wasserdampf, der aus seinem Becher nach oben stieg und vergängliche Schlieren in die Luft malte. Dort stieß er mit den bläulichen Schwaden der Pfeife zusammen und vermengte sich.

»Ich begegnete ihm einen Zyklus nach meiner Ankunft auf der anderen Seite. Jedenfalls denke ich, dass es nach einem Zyklus war. Das Licht verhält sich dort unten anders, man verliert das Gespür für die Abschnitte eines Umlaufs. Ich setzte mich gegen eine Horde Orks zur Wehr und geriet ins Hintertreffen, weil ich noch immer an den Folgen der Verletzungen litt, die ich in der Schwarzen Schlucht hinnehmen musste. Die ersten zwanzig fielen sehr schnell, aber es quollen unentwegt neue Scheusale aus den Gängen hervor, angelockt durch das Geschrei der Sterbenden. Mit dem Rücken zur Wand verteidigte ich mich, zwei Bolzen im Leib und der linke Arm beinahe abgetrennt. Ich sandte mein letztes Gebet zu Vraccas, als er erschien.« Tungdils Stimme brach, er musste noch etwas trinken. »Er trug eine andere Rüstung als diese hier, aber von ähnlicher Beschaffenheit. Es war die erste, die er geschmiedet hatte.« Er neigte sich zu Ingrimmsch. »Ich schwöre, seine Kampfkraft übertrifft uns alle! Selbst dich, Boindil. Nimm deinen Bruder, mich und dich zusammen, und du kommst annähernd dorthin. Er führt zwei Waffen vom Gewicht deines Krähenschnabels gleichzeitig und ist dabei immer noch so schnell, dass man seine Schläge fast nicht kommen sieht. Eine dritte Waffe trägt er in einer Rückenhalterung. Er...«

»Hat er auch einen Namen?« Ingrimmsch hörte gebannt zu.

Tungdils Auge flackerte, und Boindil wusste nicht, ob aus Angst oder Missfallen wegen der Unterbrechung.

»Er hat viele Namen. Einen davon vermag ich auszusprechen«, wich er dem Freund aus. »Vraccas.«

»Was?« Ingrimmsch richtete sich ruckartig auf. »Lästerung sondergleichen! Wie kann er es wagen?«

»Er ist ohne Frage etwas ganz Besonderes und war bis zu meinem Erscheinen der einzige Zwerg in der Finsternis der anderen Seite.« Tungdil schauderte. »Wenn du ihn sehen würdest, Boindil, könntest du verstehen, warum dieser Name für mich Sinn ergab. Und er hat mich vor den Orks gerettet.« Er senkte den Blick auf den Becher. »Er nahm mich mit in sein Refugium, eine alte Festung, welche von den Ausgeburten Tions aufgegeben worden war. Er hatte sie so weit verstärkt, wie er es für nötig befunden hatte, und sich dort eine gigantische Schmiede eingerichtet. Genau so habe ich mir immer die Ewige Schmiede des Schöpfers vorgestellt! Er befeuert Essen, deren Hitze alles zum Schmelzen bringt, Boindil! Stein, Erz, alles! Ich habe es mit meinem eigenen Auge gesehen. Drachenbrodem ist dagegen ein heißes Lüftchen.« Er erhob sich, von innerer Unruhe getrieben. »Dort verbrachte er die Umläufe damit, sich Rüstungen auszudenken und sie zu überarbeiten. Wenn man so will, ging ich bei ihm in die Lehre.«

Boindil rieb sich den Bart. Er mochte es gar nicht, was er da zu hören bekam. »Diese Runen? Hat sich der falsche Vraccas sie auch ausgedacht?«

Tungdil nickte. »Er besaß ein gewisses Wissen über Magie, wenn du mich fragst. Allerdings eine andere Art von Kunst, wie sie die Magae und Magi des Geborgenen Landes beherrschen. Auf der anderen Seite werden die Zauber in Runen gebannt. Man kann sie durch besondere Worte zum Leben erwecken und auslösen. Oder sie handeln von selbst.«

»Ich erinnere mich sehr genau«, grummelte Ingrimmsch. »Das eine Mal hat mir voll und ganz genügt.« Er blickte zur Decke, wo Schneeflocken durch die klaffende Lücke hereinrieselten und am Boden zu Wasser schmolzen. Lieber ein Loch im Dach als abgerissene Arme. Er stützte die Ellbogen auf und legte den Kopf auf die Handflächen. »Er war dein Meister?«

Tungdil wanderte auf und ab. »Er zeigte mir Schmiedetechniken, die ich vorher nicht kannte, und ich fertigte bald meine eigene Rüstung an. Mir entging nicht, dass er immer wieder Besuch von Scheusalen empfing und sie durchaus höflich behandelte. Grauenhafte Wesen, Ingrimmsch. Unterhändler des Kordrion und anderen, noch schlimmere Monstren, die Waffen und Panzerungen für ihre Heere verlangten. Und es gab nicht wenige, die ihn am liebsten an die Spitze ihres Heeres gestellt und alles dafür gegeben hätten, was er verlangte. Denn es tobte ein Krieg unter den Bestien. Weil sie nicht mehr aus der Schwarzen Schlucht herauskamen, doch ihre Natur nach Gewalt und Mord verlangte, bekämpften sie sich gegenseitig.«

Ingrimmschs Vorstellungskraft arbeitete und schuf beängstigende Bilder. Er sah grob behauene Gänge voller Scheusale, die sich darin abschlachteten und die Wände samt Decke und Boden mit Blut und Eingeweiden schmückten; enorme Höhlen, deren Grund mit fürchterlichen Streitmächten bedeckt war, die mit Gebrüll aufeinander eindroschen; schwarze Festungen, gegen die angerannt wurde und deren Mauern unter den Einschlägen der Steine und dem Krachen der Rammböcke erbebten. Boindil spürte, dass er angestarrt wurde, und blickte zu Tungdil, der ihn wissend anlächelte.

»Alles, was du dir vorstellen kannst, genügt nicht, um das zu beschreiben, was ich sah«, sprach der Einäugige leise und setzte sich wieder. »Was gäbe ich jetzt für einen guten Schluck Branntwein und ein Fässchen Schwarzbier«, seufzte er.

»Ich auch«, raunte Ingrimmsch, ohne es zu wollen. Die Erzählungen des Freundes hatten Eindruck auf ihn gemacht. »Wie erging es dir weiter?«

»Mein Meister, wenn man so möchte, ist niemals auf eines der Angebote eingegangen. Er wollte nicht Heerführer werden - warum auch? Es waren weder seine Kriege noch seine Leute.«

»Und woher kam er?«, fiel ihm Boindil wieder ins Wort.

Tungdil überhörte den Einwurf. Absichtlich? »Er lieferte allen Seiten die Waffen, welche sie verlangten, aber niemals so gute Rüstungen, wie er sie für sich selbst schmiedete. Ich erlangte nach dreißig Zyklen sein volles Vertrauen und wurde von ihm als Unterhändler zu den Ausgeburten des Bösen gesandt. Bald machten sie auch mir Angebote.« Er schluckte und senkte den Kopf. »Ich widerstand nicht. Mein Verstand sagte mir, dass es gut war, so viele Bestien wie möglich in den Tod zu schicken, und das konnte ich am besten, wenn ich sie gegeneinander aufhetzte. Außerdem musste ich zur Schwarzen Schlucht gelangen - und wie hätte ich das besser gekonnt als an der Spitze eines Heeres?«

»Das war doch eine weise Entscheidung, Gelehrter.«

»Die mir aber die Feindschaft meines Meisters einbrachte. Ich hatte ihn immer glauben lassen, dass ich mich ebenso verhielt wie er: niemals Partei ergreifen und von allen Geld verlangen.« Tungdil wollte einen weiteren Schluck nehmen und bemerkte, dass sein Becher leer war. »Ein Söldner. Einhundert Zyklen war ich nichts anderes als ein Söldner und diente den Herrschern, die mir die besten Löhne anboten. Ich besaß mein eigenes Reich, Ingrimmsch.« Er lächelte versonnen, aber grausam. »Mir gehorchten Tausende, meine beiden Festungen waren uneinnehmbar. Doch damit weckte ich das Misstrauen der Fürsten in dieser Unterwelt. Diejenigen, denen ich diente, schlossen sich zusammen, um mich niederzuwerfen.« »Du musstest flüchten?« Tungdil lachte, und der Klang jagte Boindil ein Schaudern über den Rücken. Er vernahm abgrundtiefe Bosheit in der Stimme des Freundes. »Nein. Ich habe sie besiegt und mir ihre Reiche einverleibt. Meine Krieger waren die Besten, weil ich sie nach der Art der Zwerge ausgebildet hatte. Sie schnitten sich durch die Reihen meiner Feinde, als gäbe es nichts Einfacheres. Meine Macht währte geschätzte dreißig Zyklen, und ich war unangefochtener Gebieter auf der anderen Seite.«

»Und damit hast du deinen alten Meister gegen dich aufgebracht«, vermutete Ingrimmsch, dem die Kälte nicht mehr aus dem Leib fahren wollte. Die Schatten machten Tungdils Gesicht härter, zeichneten die Falten und seine Narbe düster nach. »Weil es nichts mehr zu verdienen gab. Ich zerstörte seine Geschäfte.« Er atmete tief ein und aus. »Lass mir für heute meine Ruhe, alter Freund. Ich bin müde, und die Erinnerungen an all die Umläufe, die ich im Geborgenen Land vergessen wollte, schmerzen mich. Schmerzen mein Herz und meinen Verstand.« Tungdil erhob sich und schritt zu den Betten. »Übernimmst du die erste Wache?«

»Sicher, Gelehrter.« Boindil verbarg seine Enttäuschung, so gut es ging. Tausend Fragen schössen ihm durch den Kopf. Doch er hatte Mitleid mit dem Kampfgefährten, den er dabei beobachtete, wie er sich steif und ächzend hinlegte, als wäre er ein Zwerg von achthundert Zyklen.

Ingrimmsch stand auf, legte Holzscheite in den Kamin und in die Feuerungsöffnung des Herds, damit sie nicht erfroren. Durch das Loch im Dach entwich viel von der lebensnotwendigen Wärme. Als er sich umdrehte, hatte Tungdil bereits sein Auge geschlossen und schlief.

Der Zwerg rieb sich über den Bart. Unschlüssig stand er im Raum, und die Zeit verstrich viel zu langsam. Irgendwann begab er sich leise neben das Lager des Freundes und beugte sich über ihn. Eingehend betrachtete er das vertraute Antlitz. Seine Rechte streckte sich langsam aus, die Finger näherten sich der goldenen Augenklappe.

Als die Kuppen höchstens barthaardick weit entfernt waren, zögerte Ingrimmsch. Es ist nicht rechtens, sagte er zu sich. Er ballte eine Faust und zog den Arm behutsam zurück, drehte sich um und kehrte an den Tisch zurück.

Das wirst du eines Umlaufs bereuen! Das war eine Gelegenheit, wie sie so schnell nicht mehr kommen wird, heulten seine Zweifel, aber Boindil achtete nicht weiter auf sie. Er starrte durch die Lücke hinaus zu den Gestirnen und betete zu Vraccas. Dem wahren Vraccas. Und der lebte nicht jenseits der Schwarzen Schlucht zwischen Scheusalen und Ungeheuern.

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