XVII

Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Weyurn, acht Meilen vor Seenstolz, 6491./6492. Sonnenzyklus, Spätwinter.


Durch den Angriff des Kordrion hatte die Gruppe um Tungdil einundzwanzig Zwerge der Schwarzen Schwadron und drei Zhadär verloren. Sie verbrannten die getöteten Krieger und nahmen die Asche mit, um sie ins Rote Gebirge zu bringen; dort sollten sie in allen Ehren bestattet werden. Zwergenüberreste gehörten in die Berge, nicht in ödes Land und schon gar nicht in ein Albae-Reich.

Aber auch die Mehrzahl der Ponys war ums Leben gekommen. Somit blieb ihnen nichts anderes übrig, als die ersten Meilen bis zur Nordwestgrenze von Phöseon Dwhamant zu Fuß zurückzulegen, ehe sie nach und nach ihre benötigten Reittiere den Bauern des einstigen Königreichs Tabain abkauften.

Natürlich erregte ein solcher Zug Aufsehen, und Tungdil trieb sie zu noch größerer Eile an. Umlauf für Umlauf ging es durch ausgetrocknete Seenböden, die mit einer Schicht Reif und Eis überzogen waren, welche unter den Hufen knisterte.

Sie passierten hoch aufragende Inseln, die Ingrimmsch an riesige steinerne Pilze erinnerten. Es gab jedoch auch viele Eilande, deren Sockel ohne das Wasser nicht mehr gehalten hatte. Sie waren umgestürzt und auf der harten Erde zerschellt. Es sieht unwirklich aus. Als wollten die Götter das Land neu formen. Besonders faszinierend fand Ingrimmsch die Stellen, wo sich einst Riffs befunden hatten. Sie ragten wie kugelige, abgeschliffene Berge empor, teilweise hundert Schritt und höher; dazwischen stießen sie auf die Überreste von gestrandeten Schiffen und die Skelette von gewaltigen Fischen. Die Zwerge lenkten die Ponys durch die Gräten und ritten durch sie hindurch, ohne sich die Köpfe zu stoßen, so enorm waren die Knochen. Ich wusste, weswegen ich tiefes Wasser gemieden habe. In betrachtete das Gebein und den dicken Schädel mit den Fangzähnen, die sogar auf der Innenseite des Mauls am Gaumen entlang hervorstanden. Daraus entkam keine Beute. »Man könnte meinen, dass unser Großkönig jeglichen Kampf gegen die Lohasbrander und deren Ork-Kontingente vermeiden möchte«, sagte Slin unterwegs. »Ja, leider«, meinte Ingrimmsch. »Es geht jedoch nicht darum, dass er oder irgendeiner von uns Angst vor dem Gefecht hat«, betonte er. »Es geht einzig um die Geschwindigkeit. Vorrangiges Ziel ist das Rote Gebirge und der Hort des Drachen, den wir um die wertvollsten Schätze erleichtern wollen, um ihn gegen Lot-Ionan zu hetzen.«

»Und wieso reiten wir auf Schleichwegen nach Seenstolz und zu Königin Wey der Elften?«, fragte Slin.

»Kann es sein, dass du nicht besonders zugehört hast? Weil der Gelehrte ihr auf dem Hinweg den Vorschlag unterbreiten möchte, gemeinsam gegen Lot-Ionan zu ziehen, sobald der Drache und seine Orks in den Süden aufgebrochen sind«, antwortete Ingrimmsch. »Auf dem Rückweg und beladen mit den Kostbarkeiten des Drachenhorts, werden wir uns ihre Antwort einholen.« Er betrachtete die Umgebung. »So lasse ich mir einen See gefallen«, meinte er zufrieden. »Da werden die zu Hause Augen machen, wenn ich ihnen davon berichte: Ich spaziere auf dem Grund herum, und der Fluch Elrias kann mich nicht treffen!« »Es sei denn, es würde stark regnen«, warf Slin ein. Ingrimmsch warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. »Wieso?« »Weil das Wasser sich sofort auf dem harten, ausgetrockneten Grund sammeln würde. Wie in einer Schüssel. Wenn wir dabei am tiefsten Punkt der Schüssel stünden, müssten wir schwimmen.« Slin bereitete es Vergnügen, das Schlimmste heraufzubeschwören. »Und wir wissen, dass unser Volk alles andere als gut darin ist.«

Ingrimmsch sah zum Himmel, der dunkler und dunkler wurde. »Vraccas, lass lieber Glut regnen, anstatt Elria zu erlauben, uns zu wässern wie Erbsen!«

Tungdil zeigte nach vorn. »Wir müssen zurück ans Ufer und nach Süden. Wir sollten genau gegenüber von Seenstolz herauskommen. Von dort ist es nur eine kurze Fahrt übers Wasser bis zur Insel der Maga.« Ingrimmschs gute Laune verschwand schlagartig, er entsann sich der Knochen. »Verflucht! Jetzt muss ich doch einen Fuß in ein Boot setzen.«

»Es ist doch bislang gut gegangen«, munterte ihn Slin auf. »Und wenn wir reinfallen: Was solls?! Ich gehe gern baden.«

»Du bist ja auch ein verweichlichter Vierter«, kam es höhnisch hinter einem Helm hervor; einige der Zhadär lachten.

Ingrimmsch erinnerte sich an die raue Stimme. Es war der gleiche Krieger, der auf dem Dach von Phöseon einen Streit mit Slin über die Länge von Bolzen vom Zaun gebrochen hatte. Er ließ sein Pony zurückfallen, bis er bei dem Gerüsteten angelangt war. »Warst du das eben?«

»Was soll ich gewesen sein?«

Die Stimme passte nicht. »Nein, du warst es nicht. Aber du weißt, wen ich meine: den Stänkerer.« Ingrimmsch schob das Visier des Mannes nach oben, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Ein schwarz gefärbtes Gesicht mit kurzem Bart. Es bereitete sogar ihm als Zwerg große Schwierigkeiten, die Unsichtbaren auseinanderzuhalten. Durch die Farbe bekamen sie ein gleiches Äußeres, was wiederum eine Art Schutz darstellte: Niemand würde genau beschreiben können, wie der Angreifer ausgesehen hatte. »Unter welchem Helm du auch immer steckst«, rief er laut, »halte deine Zunge in Zaum. Ich dulde das nicht.« Er lenkte sein Pony wieder nach vorn.

Tungdil hatte die Richtung bereits geändert und ritt an der Spitze neben Barskalin auf die Dünen zu, hinter denen sich ein Teil des Sees erstrecken musste.

Auch Ingrimmsch trieb sein Pferdchen die Anhöhe hinauf, die Hufe sanken tief in den losen Sand ein. Dann erreichte er die Spitze der Düne und erblickte die Ausläufer des Sees. Keine vier Meilen von ihnen entfernt lagerte eine Insel auf einem Ständer aus Basaltgestein, links davon sahen sie Eisenwände aus dem Wasser ragen. »Das da vorn ist Seenstolz«, sagte Tungdil zufrieden. »Wir sind dort rausgekommen, wo wir wollten.« Er deutete auf das Bauwerk im See. »Da die Quelle im See liegt, nehme ich an, dass sie eine Art Schacht gebaut haben.«

»Ja«, stimmte Balyndar zu. »Meine Mutter sandte die Fünften aus, um einer der Königinnen von Weyurn diesen Gefallen zu tun.«

»Eine Meisterleistung!«, lobte Ingrimmsch überschwänglich. »Der Druck auf die Wände muss unbeschreiblich sein.«

Balyndar verbarg seinen Stolz über die Leistung nicht. »Unsere Ingenieure haben viele Stützstreben einziehen müssen, damit der Schacht sich gegen das Wasser behaupten kann. In einem Meer mit Gezeiten und Strömungen, wie man es im Jenseitigen Land kennt, wäre es sicherlich nicht möglich gewesen.« »Das ist der Vorteil der Fünften. Sie haben aus den Stämmen die Besten bei sich aufgenommen und sind somit in allen Bereichen des zwergischen Handwerks weit vorne.« Slin sagte es ohne Bitterkeit. »Ich würde gern einen Blick in den Schacht werfen. Vorstellen kann ich es mir immer noch nicht.«

Barskalin machte sie auf ein Dorf aufmerksam, keine halbe Meile von ihnen entfernt. Die umgedrehten Boote am Strand und die Fischernetze sahen vielversprechend aus. »Da werden wir die kleine Flotte bekommen, die wir benötigen, um auf die Insel zu gelangen.«

»Zumindest eines, das zehn von uns übersetzt. Ich habe nicht vor, mit der Schwarzen Schwadron dort einzufallen. Im Dorf werdet ihr Unterkunft finden.« Tungdil lenkte sein Pony dahin. »Wir bleiben nicht lange bei der Königin.«

Sie galoppierten auf das Dorf zu.

Es wunderte Ingrimmsch nicht, dass eine Alarmglocke geschlagen wurde, die sie mit dünnem Ton begrüßte, als hätte selbst sie Angst vor ihnen. »Das ist was anderes als Pauken und Trompeten der Freude, wie wir es sonst gewohnt sind, was, Gelehrter?«, sagte er und beobachtete, was die Menschen unternahmen. »Sie rennen zum Ufer?« »Und lassen die Boote zu Wasser.« Slin zeigte auf die Flüchtenden.

»Ich wette, sie halten uns für Eroberer auf Geheiß der Albae.« Balyndar tippte gegen seine schwarze Rüstung. »Wir sehen auch nicht unbedingt aus, als wären wir friedliche Besucher. Die letzten Zwerge werden zum Bau des Schachtes hier gewesen sein.« Hargorin lachte. »Meine Schwarze Schwadron scheint sogar hier bekannt zu sein.« »Sende zwei Männer voraus, die den Menschen sagen sollen, dass wir keine böse Absichten hegen«, wies Tungdil ihn an. »Ich hätte wirklich daran denken müssen«, gab er Balyndar recht. »Wir verbreiten Angst und Schrecken, selbst wenn wir es nicht wollen. An dem Ort, an dem ich so lange verweilte, wäre das gut gewesen. Hier tut es mir leid.«

Ingrimmsch warf seinem Freund einen aufmunternden Blick zu. Es macht ihm zu schaffen.

Zwei aus der Schwadron preschten voran und machten mit lautem Rufen auf sich aufmerksam.

Ingrimmsch hob den Kopf, um ein letztes Mal den im Abendrot glühenden Himmel zu betrachten, bevor er gänzlich in der Dämmerung versank - und erkannte die Umrisse eines fliegenden Scheusals, das von Osten auf Seenstolz zuhielt. Was es genau war, vermochte er nicht zu sagen, doch es bewegte sich rasch. Und sehr zielstrebig. Mit einem Ruf machte er Tungdil auf seine Entdeckung aufmerksam. »Du kennst dich mit Ungeheuern doch besser aus als wir: Was ist das?«

Die Zwerge sahen zu, wie sich das Wesen der Insel und dem Palast der Königin näherte.

»Ich weiß es nicht«, gab der Einäugige zurück. »Aber ich denke, dass es der Königin nichts Gutes will.«

»Da kommen wir doch wie gerufen«, befand Slin aufgekratzt. »Wir helfen ihr, und dann steht sie in unserer Schuld! Wir müssen sie gar nicht mehr bitten, uns zu begleiten. Sie tut es, weil es ihr der Anstand gebietet.«

»So sehe ich das auch.« Tungdil ließ die Schwadron zum Ufer einschwenken, wo die Männer und Frauen noch immer zwischen den Booten standen und den beiden vorausgeschickten Zwergen misstrauisch zuhörten. »Hinüber mit uns.« Schaudernd betrachtete Ingrimmsch die Wellen, die gegen das Ufer liefen und schwappend brachen. »Ich hoffe, dass Elria mich vorhin nicht gehört hat«, sagte er in seinen Bart hinein, »und alle Fische, die größer als mein kleiner Finger sind, tot sein mögen!«

Rodario rannte zurück in den Palast und vernahm erleichtert, dass man seine Schreie gehört hatte: Überall erklangen Rufe, Gongs wurden geschlagen, und auf den Gängen hallte das Trampeln von schweren Stiefeln wider. Nicht nur die Festung auf dem Schacht bereitete sich auf eine mögliche Attacke vor, auch die Verteidigungsanlagen des Palastes wurden besetzt.

Er erreichte die Unterkunft von Mallenia, die bereits halb gerüstet vor der Tür stand und eben noch die letzten Lederbänder ihrer Panzerung festzog. »Wisst Ihr, was los ist?«

»Ich habe den Alarm ausgelöst«, sagte er sich brüstend.

»Ihr? Ihr seid doch gar nicht gefährlich.« Mallenia zog ein Schwert und lachte. »Im Ernst: Wisst Ihr, wem wir den Aufruhr zu verdanken haben?« »Ich habe ein... fliegendes Wesen gesehen, das auf den Schacht zuhielt. Da fand ich es angebracht, die armen Menschen im Palast zu wecken, damit sie den Angreifer gebührend...« Er hielt inne, weil er bemerkte, dass sie ihm nur noch halb zuhörte und an ihm vorbeiblickte.

Mallenia hob den Arm. »Königin Coira! Sucht Ihr uns?«

Er wandte sich um und sah die junge Maga umringt von Gardisten zu ihnen eilen. Sie trug das schwarze Gewand mit weißen Stickereien darauf, die Haare lagen unter dem weißen Schleier. »Es ist der Drache«, sagte sie von Weitem. »Er ist gekommen!« »Um uns anzugreifen oder sich mit Euch über das zu unterhalten, was Ihr ihm geschrieben hattet?« Mallenia deutete eine Verbeugung an, Rodario fiel es zu spät ein. »Ich weiß es nicht. Wollte er mir nicht einhundert Orks senden, um die Albae zu fassen?« Sie rannte weiter und gab den beiden mit einem Winken zu verstehen, dass sie ihr folgen sollten.

»Wohin eilt Ihr?«, erkundigte sich Rodario. »Befindet sich im Inneren des Inselfußes ein abgeschotteter Raum, in dem Ihr abwarten könnt, was sie ereignet?«

»Ich möchte zur magischen Quelle.«

»Begeht keinen Fehler, indem Ihr sie auf die Schnelle dem Untergang...« »Unsinn«, fiel sie dem Schauspieler ins Wort. »Ich möchte den Schacht nicht einstürzen lassen. Es geht darum, dass ich kaum mehr genügend Magie in mir trage, um uns nötigenfalls gegen den Geschuppten zu verteidigen.«

Rodario und die Ido tauschten erleichterte Blicke aus. »Es freut uns sehr«, sagte er, »dass Ihr Euch so entschieden habt.«

»Und es ist Euer beider Verdienst, dass ich so handele. Ich habe viel über Eure Worte nachgedacht und bin zum Entschluss gekommen, dass ich mich der Verantwortung stellen muss. Meine Mutter soll mich nicht vergebens ausgebildet haben.« Sie schenkte ihnen ein knappes Lächeln. »Auch wenn es nicht leicht wird. Ich trage kein allzu großes Kämpferherz in mir.«

Sie erreichten die Plattform, von der die Gondeln hinunter zum Schacht fuhren. Coira wollte eben einsteigen, da hielt sie Rodario an der Schulter fest. »Wollen wir nicht lieber die Treppen nehmen? Unsere Leben hängen an einem Draht und Tauen.«

»Sie halten es aus.« Die Königin betrat die Gondel. »Habt Vertrauen.«

»In die Konstruktion schon, aber nicht zu dem Drachen, der die Insel umkreist.« Er suchte nach dem Wesen, doch es zeigte sich im Augenblick nicht. »Wo mag es abgeblieben sein?«

»Unter der Insel«, riet Mallenia und kam zu ihnen. »Beten wir zu Elria und Palandiell, dass wir heil am Schacht ankommen.«

»Graf Loytan wird uns mit seinen Katapulten Deckung geben.« Coira befahl vier Gardisten zu sich, der letzte zog die Tür zu, und die Fahrt steil nach unten begann. »Graf Loytan ist nicht in der Festung, Hoheit«, sagte einer der Männer. »Wir sind ihm vorhin begegnet, als er zum Wandelgang gelaufen ist. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen.«

Rodario war sehr froh, dass er sein Gesicht abgewandt hatte. So konnte niemand etwas von seiner Miene ablesen. Er hielt sich für einen ausreichend guten Schauspieler, um sein Grinsen verbergen zu können, doch sicher war sicher.

Die Gondel pendelte leicht im auffrischenden Abendwind, was Mallenia dazu brachte, weiß im Gesicht zu werden. Das Schaukeln hatte jedoch nichts zu sagen, die Halterungen und Ösen des Aufzugs waren fest.

Coira ging es viel zu langsam, und sie wies den Gardisten, der die Mechanik bediente, die Bremse weiter zu lösen.

»Hoheit, damit kämen wir zu rasch in die Ladestation hinein«, wagte der Mann den Hinweis. »Es ist nicht ungefährlich, noch schneller als jetzt abwärtszufahren.« Da sich die Gondel bereits abgesenkt und somit weiter von der Insel entfernt hatte, sah Rodario das Wesen wieder. »Da! Es hängt tatsächlich unten am Felsen!« Mallenia, Coira und die Soldaten blickten hinaus, um mehr erkennen zu können. Es glich einer Eidechse, dem Tion die Flügel einer Heuschrecke gegeben hatte. Der schuppige Körper war zehn Schritt lang, das Maul konnte mit Sicherheit eine Kuh verschlingen, und die schwarze Haut schimmerte im letzten Sonnenschein feucht auf; Rodario erkannte gelbe und blaue Zeichnungen darauf. Um den Hals trug es eine eiserne Kette, an der ein dunkler Onyx von der Größe eines Handkarrens befestigt war. »Wieso schießen die Katapulte auf dem Schachtrand nicht?«, regte er sich auf.

Die starren Augen verfolgten die Gondel.

Mallenia sah hinab zu den Speer- und Pfeilschleudern, die scheinbar auf sie gerichtet waren. »Wegen uns. Wir hängen in der Schusslinie und geben dem Viech ungewollt Deckung.«

»Das ist kein Drache. Jedenfalls nicht Lohasbrand«, stellte Coira fest.

»Vielleicht ein kleiner Freund von ihm? Hat er ihn vorausgeschickt?« Rodario wusste nichts mit dem Anblick des Tieres anzufangen, in keiner Sage war es ihm untergekommen. »Es starrt mich an«, sagte er und wich vom Fenster zurück »Als hätte es Verlangen nach Schauspielern.«

»Es frisst sicherlich nur gute«, neckte Mallenia ihn und wurde sich gleichzeitig darüber bewusst, dass sie sich wie ein verliebtes Mädchen benahm - in einem sehr unpassenden Augenblick.

»Und es starrt uns alle an«, sagte Coira.

»Um ehrlich zu sein: Das bedeutet für mich keinen Trost.« Rodario wandte sich an die Königin. »Jagt ihm doch Magie durch den widerlichen Schädel!«

Sie verneinte. »Wir wissen nicht, was es von uns will. Am Ende ist es ein friedliebendes Wesen.«

»Im Geborgenen Land? Mit diesem Äußeren?« Sich schüttelnd verfolgte er, wie eine blaufarbene Zunge aus dem Maul schnellte und züngelte. »Seht! Seht doch, es holt sich Appetit!«

Die Gondel hatte zwei Drittel des Weges zurückgelegt.

Das Wesen ließ sich fallen, drehte sich im Sturz um die eigene Achse und breitete die Hornflügel aus, mit denen es genau auf die Gondel zuglitt. Es öffnete den Rachen und zeigte eine Reihe sehr scharfer Zähne.

»Meiner Ansicht nach ist es deutlich, was es will.« Rodario sank vor Coira auf die Knie. »Rettet uns!«

Seine Aufforderung hätte die Königin jedoch nicht mehr benötigt. Sie sammelte die letzten Reste ihrer magischen Kräfte und jagte einen roten Blitz durch das Fenster gegen das heranschießende Scheusal.

Die Attacke saß!

Die Energie zerfetzte die Schnauze und Teile des Halses, und aus dem Flug wurde ein maßloses Trudeln, das in den Seilen der Gondelbahn endete. Jetzt durften auch die Fernwaffen auf dem Schacht den Beschuss eröffnen.

Ruckartig wurde ihre Kabine in die Höhe gerissen, über ihren Köpfen erklang ein Klirren, gefolgt von einem reißenden Geräusch, und plötzlich stürzten sie dem See entgegen.

»Haltet sie auf«, schrie Rodario voller Furcht und versuchte, sich an einer Strebe festzuhalten. »Coira, tut etwas! Bremst den Sturz!«

Die Gondel drehte sich, und so sah er, dass die verletzte Kreatur ihnen mit ausgestreckten Vorderkrallen folgte.

»Vergesst, was ich gesagt habe: schneller, schneller!«, brüllte er Mallenia, gegen die er geprallt war, schreckensgepeinigt ins Ohr. »Die Bestie hat uns gleich!« Tungdil befand sich mit Slin, Balyndar und Ingrimmsch sowie zehn Zhadär auf dem ersten Fischerboot, das unter Vollzeug auf Seenstolz zuhielt. Sie sahen genau, was sich in vier Meilen Abstand zu ihnen abspielte.

Slin blickte nach hinten zu der kleinen Flotte, auf der sich die Schwarze Schwadron und die Zhadär befanden. Die Bewohner des Dörfchens hatten sich bereit erklärt, die Zwerge überzusetzen, nachdem sie die Namen Tungdil und Boindil vernommen hatten; als das Scheusal aufgetaucht war, beeilten sie sich zusätzlich. »Coira wird eine unerfahrene Maga sein.«

»Trotzdem bin ich froh, dass wir überhaupt eine Maga zum Fragen haben werden«, erwiderte Balyndar. »Ich bin sehr erschrocken, als die Leute vom Tod der Königin gesprochen haben.«

Boindil trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Aus mehreren Gründen fühlte er sich unwohl. Er befand sich auf dem See, von dem er nicht hören wollte, wie tief er nach unten ging, und er hatte nur die dünnen Planken der Nussschale unter sich; er wollte gegen die Kreatur kämpfen, wusste aber nicht, wie er das von einem Kahn aus anstellen sollte. Und er hatte nicht den blassesten Schimmer, was es eigentlich war, das die Gondel angriff. »Was steckt denn nun wieder dahinter? Das ist doch kein Drache«, sagte er zu Tungdil.

»Ich überlege, ob es gut oder schlecht ist.« Tungdil hielt den Blick nach vorn gerichtet und verfolgte, wie ein roter Blitz gegen den Angreifer zuckte; sterbend verhedderte sich die Kreatur in den Seilen. »Lohasbrand wird ihn nicht geschickt haben. Drachen dulden keine weiteren Ungeheuer neben sich. Er hätte das Wesen schon lange selbst getötet, wenn es im Roten Gebirge aufgetaucht wäre.«

Als das Seil der Gondel riss und sie den Fluten entgegenstürzte, fluchte Ingrimmsch laut. »Jetzt sind wir diese Maga auch noch los. Es ist zum Verzweifeln!« Die Pfeile und Speere, die aus den Wurfmaschinen am Schacht ausgestoßen wurden, sahen sie als kleine schwarze Wolken und dunkle, dünne Striche. »Sie wird sich gewiss retten können. Wenn ihr das nicht gelingt, wäre sie uns gegen Lot-Ionan keine Hilfe gewesen.« Tungdil klang unbeteiligt.

Die Flugbestie riss die Seile auf beiden Seiten aus den Verankerungen, tat etliche aussichtslose Flügelschläge und zerschnitt sich die dünnen Häute an den Drähten. Kreischend wirbelte sie hinter der Gondel her, als wolle sie die Kabine zu fassen bekommen und zerreißen.

»Sollte die Königin nicht langsam etwas unternehmen?«, bemerkte Ingrimmsch zweiflerisch. »Gleich schlagen sie auf.«

Da vollführte das Scheusal eine letzte, zufällige Wendung und verschwand kopfüber im Schacht; dabei zog es mehrere Blutbahnen hinter sich her. Das Rot klatschte gegen die Spundwände.

»Hu, das nenne ich mal eine unglückliche Fügung.« Ingrimmsch sah, wie die Gondel ihren senkrechten Sturz beendete und pendelgleich nach rechts schwang, dem Stempel, auf dem die Insel stand, entgegen. »Ha! Eines der Seile hat gehalten.«

Tungdil verzog den Mund. »Mir wäre es immer noch lieber, die Maga würde etwas tun. Ich bin von ihren Fertigkeiten nicht überzeugt.«

Ingrimmsch wollte etwas sagen, als es eine gewaltige Explosion gab.

Aus dem Schacht schoss eine grellgrüne Feuersäule zig Schritt hoch und blies die Aufbauten in den Himmel. Schemenhaft erkannten die Zwerge umherfliegende Menschen, Katapulttrümmer, Stücke von Dächern, Holzbalken und viele weitere Einzelteile, die vom Druck davongewirbelt wurden. Das Spektakel ging mit einem grellen Pfeifen einher; die Spundwände glühten zuerst rot, dann weiß, so sehr wurden sie von der Lohe erhitzt. Das Wasser ringsherum begann zu kochen, Dampf stieg auf. Wieder krachte es. Die Flamme fiel in sich zusammen, nur um einem Feuerball zu weichen, der unmittelbar über dem Schacht auseinanderquoll.

Tief unten auf dem Grund des Sees blitzte es silbrig auf: Ein Schimmern rannte kreisförmig den Grund entlang. Dort, wo es sich auf seinem rasenden Lauf befand, konnten die Zwerge bishinab blicken. Ingrimmsch glaubte, ein leichtes Kribbeln zu spüren, als es unter ihrem Boot weghuschte, und die Runen auf Tungdils Rüstung glommen auf. Unmittelbar danach grollte es vulkanartig. Die Oberfläche geriet in Wallung, Wellen schwappten gegen die Kiele, schaukelten sich immer weiter auf.

Eine dritte Detonation zerriss die Spundwände, sprengte sie auseinander, als bestünden sie aus brüchigem Glas und nicht aus härtestem Stahl.

Der See strömte gierig ein und entwickelte einen Sog, der auch die Fischerboote erfasste und sie auf die Insel zuzog. Blubbernd und tosend füllte sich das Loch, dann stieg eine Wassersäule fauchend empor und reichte bis an die höchste Stelle des Palastes hinauf, ehe sie in sich zusammenfiel.

»Festhalten«, war alles, was Tungdil sagte, als die gewaltige Welle auf sie zuschoss. Er selbst klammerte sich mit einer Hand am kleinen Mast fest und senkte den Kopf. »Ich hasse Elria«, knurrte Ingrimmsch und fand ein Tau, an das er sich krallte. »Sie findet immer einen Weg, mich bei meinen Reisen auf die Probe zu stellen.« Der Rumpf des Bootes hob sich, Gischt stob auf, und ein Brecher überschüttete die Zwerge mit eiskaltem Seewasser. Dann ging es auch schon abwärts. Ihr Gefährt schaukelte und bockte, doch es hielt den Kräften Stand und kenterte nicht. Slin blickte über die Schulter. Nicht alle hatten dieses Glück, zwei der Schiffchen waren umgekippt. »Vraccas möge sie vor der Boshaftigkeit Elrias schützen«, betete er knapp und richtete den Blick wieder nach vorn.

Noch immer schoss heißer Dampf an der Stelle aus dem See, wo sich Stahlwände befunden hatten. Ein lautes Poltern erfüllte die Luft. Der Sockel, auf dem die Insel mit dem königlichen Palast ruhte, zerbröckelte am untersten Ende. Der Basalt platzte auseinander, und das Gleichgewicht des Eilandes war dahin.

Langsam neigte es sich auf die linke Seite, die Stütze zerbrach vollständig, und dann tauchte Seenstolz ins Wasser ein. Eine zweite, mindestens ebenso große Welle rollte auf die Boote zu, auf denen die Fischer in helle Aufregung verfallen waren. Wieder ging es mit ihrem Schiffchen aufwärts.

Tungdil stand ruhig am Mast, sein Auge suchte den schäumenden, aufgewühlten See ab. »Was ist, Gelehrter?«, rief Ingrimmsch. Er stemmte sich gegen die Planken und lehnte sich nach vorne, um die Bewegung des Bootes auszugleichen. »Hast du Hoffnung, dass jemand diese Flut überlebt hat?«

»Vieles ist möglich«, erwiderte Tungdil und lächelte.

Die zweite Welle war deutlich heftiger, das spürte Ingrimmsch an der Steigung und der Dauer, mit der es nach oben ging. Me, nie, niemals mehr anfeinen See! Ihm graute vor der Talfahrt.

Ruckartig kippten sie in eine waagrechte Position, ehe sich der Bug nach vorn neigte und die Wellenrückseite hinabritt. Sie waren nicht mehr weit von der Stelle entfernt, wo sich vor Kurzem noch Schacht und Insel befunden hatten.

»Zwerg über Bord!«, dröhnte es in ihrem Rücken. Balyndar stand an der kniehohen Reling und wies nach Steuerbord. »Slin wurde von einem Brecher erfasst und weggezogen!«

Tungdil wandte sich nicht einmal um. »Wir müssen nach der Maga sehen«, antwortete er. »Zwerge haben wir genug dabei. Von der Maga gibt es nur eine.«

Ingrimmsch starrte seinen Freund an, er verstand diese abgebrühte Herzlosigkeit nicht. Ein Rückfall in den Tungdil, der sich im Jenseitigen Land einen Namen mit Gräueltaten gemacht hat. Seine Augen entdeckten Schwimmkörper an Deck, wie sie die Fischer zur Markierung ihrer Netze auf dem See hernahmen. Es waren aufgepumpte Schweineblasen, Korkstämme oder hohle Glaskugeln, um die mehrere Stricke gewickelt waren.

Ingrimmsch griff sie sich vier und rannte zu Balyndar. »Wo ist er?«

Gemeinsam starrten sie über die Wellen, bis der Fünfte den Vermissten ausgemacht hatte. »Da. Wirf!«

Ingrimmsch schleuderte die Schwimmkörper und legte seine gesamte Kraft hinein; sie flogen weit hinaus.

Der prustende, paddelnde Slin bekam die Leine zu fassen, an der eine Blase hing, und zog sie zu sich heran. Doch er ging wegen der schweren Rüstung immer wieder unter, und es war den beiden Zwergen klar, dass er um sein Leben kämpfte. Erst als er drei weitere Blasen zu sich gezerrt hatte, blieb er einigermaßen über Wasser. Es reichte, dass er Luft schöpfen konnte.

Erleichtert kehrte Ingrimmsch an den Bug zu Tungdil zurück. »Wir haben ihn gerettet. Eines der anderen Boote wird ihn aufsammeln.« »Sehr schön.« Er reckte sich, als habe er etwas in den weißen Gischtkronen entdeckt. »Du hättest ebenso ›mir doch egal‹ sagen können, Gelehrter«, erwiderte Ingrimmsch vorwurfsvoll. »Von der Betonung her lag es nicht weit daneben.«

Tungdil wandte sich plötzlich um, und für die Dauer eines Blinzeins hatte es den Anschein, als wolle er ihn schlagen. Sein Gesicht war zornig. »Wenn mir ein Armbrustschütze fehlt, suche ich mir einen neuen. Wenn mir eine Maga fehlt, was mache ich dann?«, entgegnete er auf den Vorwurf. »Es ist schön, dass Slin überlebt. Mehr nicht. Ohne Coira sinken unsere Aussichten gegen Lot-Ionan. Ob wir Slin dabeihaben, ist unerheblich. Ich glaube nicht, dass er Bolzen besitzt, die einen Magus mit einem Schuss töten können.« Er sah zum Fischer. »Hart backbord«, gab er Anweisung.

Ingrimmsch wusste nichts zu sagen. Ein gehöriger Rückfall. Das Boot schwenkte herum und hielt auf mehrere Trümmerstücke zu.

Noch immer schaukelte es heftig, der See hatte sich noch lange nicht beruhigt. Der Fischer reffte die Segel, um langsamer zu fahren und sich kein Loch in den Rumpf zu rammen; ständig rumpelte es, wenn sie gegen Treibgut stießen.

Tungdil hatte sich einen Bootshaken genommen und hielt ihn wie eine Harpune. »Haltet Ausschau nach Überlebenden. Wer Frauenkörper entdeckt, meldet sich sofort. Um Männer sollen sich die anderen kümmern.«

Ingrimmsch hob ein Netz auf und starrte auf die Wellen. »Ich habe eine Frau gesehen!«, rief er und zeigte auf eine regungslose Blonde in einer Lederrüstung, die mit dem Gesicht nach oben neben einer leeren Tonne schwamm.

Tungdil nahm den Haken, um sie vorsichtig heranzuziehen, die Zhadär hievten sie an Bord. »Ist das die Maga?«, wollte er vom Fischer wissen.

»Nein, Herr. Die Königin hat schwarze Haare«, bekam er zur Antwort. Ingrimmsch legte die Frau neben den Mast und warf eine Decke über sie, bevor Tungdil noch auf den Gedanken kam, sie wieder über Bord zu werfen; die Lippen waren blau und zitterten. »Das ist gut«, sagte er beruhigend zu ihr. »Dann lebst du.« Sie kam ihm sehr groß und stark für ein Menschenweib vor. Eine Kriegerin.

Ein Zhadär stieß einen Pfiff aus und deutete nach Steuerbord.

Sie nahmen Kurs auf seinen Fund, und gleich darauf fischte Tungdil die nächste Frau aus dem Wasser. Sie trug ein schwarzes Gewand und hatte lange schwarze Haare. Auch sie war ohne Bewusstsein und atmete zudem nicht mehr!

»Das ist sie«, raunte der Fischer ängstlich. »Das ist die Königin! Elria, sei ihr gnädig!« »Elria? Elria werde ich es zeigen!« Ingrimmsch drehte sie auf den Rücken und trat ihr mehrmals kräftig mit dem Stiefel ins Kreuz, bis sie aufhustete und würgend Wasser ausspie. »Hussa! Ich bin der geborene Heiler.« Er half der Maga, sich umzudrehen, und bekam vom Fischer eine weitere Decke gereicht. »Du verdankst dein Leben Vraccas«, schärfte er ihr freundlich ein.

»Es fühlte sich an wie eine Stiefelsohle«, ächzte sie mehr als sie sprach. Tungdil stellte sich vor sie und sah auf sie herab. »Willkommen unter den Lebenden, Coira Weytana, Königin von Weyurn.«

Sie hustete wieder und bedachte ihn mit einem dankbaren Blick.

»Das ist Großkönig Tungdil Goldhand«, stellte Ingrimmsch seinen Freund vor, danach sich und die Übrigen an Bord. »Wir sind zur rechten Zeit erschienen.« Es platschte neben ihrem Boot, und eine Männerhand klammerte sich um die Reling; gleich darauf erschien eine zweite, dann schob sich der Oberkörper über die Begrenzung. Das braune Haar lag eng am Kopf, sein aristokratisches Gesicht war bartlos. »Ich nehme an, dass ich an Bord kommen darf?« Er sah die Umstehenden verwundert an. »Ich fasse es nicht: ein Kahn voller Zwerge!«, sagte er schnaufend. »Bei den Geistern der Verstorbenen!« Ingrimmsch hob verwundert die Augenbrauen, weil er glaubte, das Gespenst eines Mannes zu erblicken, der schon lange tot war. Das rasierte Gespenst eines Mannes. »Rodario?«

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