I

Das Jenseitige Land, die Schwarze Schlucht, 6491. Sonnenzyklus, Winter.


Ingrimmsch starrte auf den lange vermissten und sehnsüchtig erwarteten Freund, der nun an der Spitze eines Heeres voller Ausgeburten des Schreckens stand. Mit der schwarzen Rüstung am Leib, Blutdürster in der Hand und der eisigen Miene wirkte Tungdil auf ihn, als hätte es niemals einen besseren Platz für ihn gegeben. Er passte dorthin.

»Aber das kann nicht sein«, rief er fassungslos. »Das ist er nicht! Vraccas sei mein Zeuge: Das ist nicht mein Tungdil!« Hilflos sah er zu Goda. »Das ist er nicht«, wiederholte er, als müsse er sich selbst überreden. »Ein Trugbild, um uns zu täuschen und bange zu machen.« Aus seiner Verzweiflung wurde jähe Wut. Ingrimmsch hob den Krähenschnabel; der Wahnsinn griff nach langer Zeit wieder mit ungewohnter Stärke nach ihm, und er hatte nicht vor, dagegen anzukämpfen. »Ich werde gehen und es zerschlagen!«

Dieses Mal war es an Goda, ihn zu packen. »Nein, Boindil!« Sie stellte sich mutig vor ihn, nahm sein Gesicht zwischen beide Hände und schaute in die braunen Augen, in denen es blitzte und irre funkelte. »Höre mir zu, Gemahl: Es ist nicht der richtige Zeitpunkt. Wir müssen in die Festung. Im Freien...«

Ihre Worte wurden vom Rumpeln und Knarren der Katapulte verschlungen. Steine, Pfeile und Speere schössen von den Wehrgängen und den Turmplattformen, flogen über die Ubariu und Zwerge hinweg. Sie verdunkelten die Wintersonne und warfen ihre Schatten kurz auf das Häuflein Verteidiger vor dem Tor, ehe sie in der Schwarzen Schlucht niedergingen.

Ein metallisches Prasseln brandete auf, Eisenspitzen durchschlugen Schilde, Helme und Rüstungen; darunter mischte sich das Aufkreischen der Getroffenen, das von dem Scheppern der in die Linie der Bestien einschlagenden Geschosse beinahe über lagert wurde. Alles zusammen ergab den martialischen Klang einer Schlacht, und bald lag der Geruch von Blut in der Luft.

Goda wusste: Dies war lediglich der Auftakt zu Schlimmerem. Bald würden auch die Stimmen der Verteidiger im Chor des Sterbens erklingen.

»Komm mit mir«, bat sie Ingrimmsch und küsste seine Stirn, während über sie hinweg unentwegt die Geschosse flogen. Rauchende Brandkugeln stiegen fauchend in die Höhe und zerbarsten an den aufragenden Steilhängen der Schwarzen Schlucht, brennende Flüssigkeiten ergossen sich über die Ungeheuer und den tobenden Kordrion.

Die Zwergin meinte zu spüren, wie Boindils Anspannung wich, und sie ließ ihn los. Da stieß er sie zur Seite und spurtete mit einem lauten Brüllen und hoch erhobenem Krähenschnabel auf die Feinde zu.

Für Goda war es zu überraschend gekommen, sie fiel auf die Erde. »Nein!«, schrie sie ängstlich und versuchte vergebens, nach ihm zu greifen. Sie wandte sich um. »Yagur, ihm nach! Beschützt ihn!«, befahl sie dem Anführer der Ubariu, die sich ohne zu zögern an die Verfolgung ihres Generals machten, um ihm beizuspringen. Angesichts der Unzahl der Feinde keine leicht lösbare Aufgabe.

Goda aber erhob sich und sammelte die magischen Kräfte, um ihrem Gemahl aus der Entfernung beizustehen.

Ingrimmsch dachte nichts mehr.

Er sah seine Welt durch eine blutrote Maske, und der einzige Punkt in der Umgebung vor sich, den er deutlich erkannte, war das widerliche Trugbild seines besten Freundes Tungdil. Diese Schmähung durfte er nicht auf sich beruhen lassen. Du darfst nicht Tungdil sein! Nicht auf deren Seite!

Es rauschte in seinen Ohren, die Laute rund um ihn herum vernahm er nur gedämpft. Der Drang, die Illusion zu zerstören und sich danach gegen die übrigen Gegner zu werfen, um sie in Stücke zu schlagen, löschte seinen Verstand aus. Es war zu überwältigend für einen Krieger wie ihn, dessen Blut heißer in den Adern pulsierte als flüssiges Gestein in unterirdischen Bergkanälen. Und er wollte sich auch gar nicht beherrschen. Rechts und links von ihm gingen zu kurz gezielte Speere und Pfeile nieder. Die Besatzung der Festung Übeldamm hielt sich andie Anweisungen ihres Befehlshabers, der irrwitzigerweise selbst gegen sämtliche seiner Erlasse verstieß: Er suchte den Kampf im offenen Feld, anstatt sich auf die sicheren Mauern zu verlassen und die anrennenden Bestien abzuschießen. Ingrimmsch befand sich weniger als zehn Schritte von der gegnerischen Front entfernt, die sich noch immer nicht bewegt hatte und am Ausgang der Schlucht verharrte. Der Nachschub der Scheusale stieg achtlos über die Gefallenen hinweg, lodernde Feuer wurden mit Sand und Knochenstaub zugescharrt. Sobald einer von ihnen fiel, trat eine neue Hässlichkeit aus der Schlucht, die einen unerschöpflichen Vorrat bereitzuhalten schien. Eine Brutstätte des Abscheulichen.

Was Ingrimmsch deutlich sah: Die Feinde hielten Abstand zum falschen Tungdil, als sei er von einer unsichtbaren Glocke umgeben, geschaffen aus Ehrfurcht und Angst. »Was immer du bist, ich vernichte dich!« Mit einem lauten, zornigen Schrei schwang er den Krähenschnabel hoch über den Kopf.

Die zwei blauen Augen an der Unterseite der Schnauze des Kordrions richteten sich auf ihn und danach auf den schwarz gerüsteten Tungdil, der sich soeben von Ingrimmsch abwandte und zu dem gigantischen Scheusal drehte; die Runen erstrahlten. Das Wesen kreischte auf, und es klang... furchtsam?

Bevor Boindil ihn erreichen konnte, sprang Tungdil nach vorne auf einen Leichnam, von da auf einen nächsten und nutzte den herausstehenden Schaft eines dicken Speeres als Sprungbrett, um mit einem Satz auf einen großen Katapultstein zu gelangen. Von da ging es auf einen weiteren und den nächsten über die Köpfe des Heeres hinweg wie über Trittstufen in einem Bach. Er war dem kurzen Hals des kauernden Kordrion nun ganz nahe, der zurückzuckte und grell zischte.

Ingrimmsch konnte seinen begonnenen Schlag nicht mehr aufhalten und ließ ihn kurzerhand gegen ein entgegeneilendes Scheusal krachen. Es erinnerte ihn an eine Kreuzung aus übergroßem Reptil und sehr fetter Schweineschnauze, der man die Ärmchen eines Gnoms verpasst hatte. Dennoch schwang es Schwert und Schild mit Leichtigkeit.

Die flache Seite des Krähenschnabels zerschmetterte den Schild mitsamt dem dünnen Arm, der ihn gehalten hatte, zerbrach die Rippen und quetschte den Brustkorb zusammen; tot fiel die Bestie in den Staub. Die nun auf ihn eindringenden Feinde hielt Ingrimmsch mit kreiselnden Bewegungen seiner Waffe auf Abstand und verteilte Verderben und Verletzungen großzügig unter ihnen, während er den vermeintlichen Tungdil nicht aus den Augen ließ. Noch immer weigerte er sich anzunehmen, dass es doch der Kampfgefährte aus alten Zyklen war, aber die Zweifel bröckelten. Was, bei Vraccas, tut er?

Plötzlich waren Yagur und die Ubariu an seiner Seite und standen ihm gegen die Ausgeburten des Bösen bei, die trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit ausharrten und auf den Befehl warteten, als Masse loszustürmen und sich gegen die Mauern der Festung zu werfen. Nur Vereinzelte attackierten sie und bezahlten dies mit ihrem Leben; Pfeile prallten an den überschweren Schilden der Ubariu ab, anderen blieben in der Luft stehen und fielen wirkungslos zu Boden. Godas Magie.

»Wir müssen zurück, General!«, verlangte Yagur und spaltete seinen Gegner mit einem wilden Hieb vom Schlüsselbein bis zum Nabel; er stach durch die niedersinkende Leiche und durchbohrte einen weiteren Feind dahinter. Die zweite Ubariu-Patrouille stieß zu ihnen und verstärkte ihre Kampfkraft.

Ingrimmsch sah zu dem schwarz gerüsteten Zwerg hinauf, der Blutdürster mit beiden Händen gegen den Körper des Kordrion führte. Die merkwürdig geformte Klinge durchschnitt die ungesunde weiß-gräuliche Haut, und ein breiter Blutstrom ergoss sich. Der Kordrion brüllte auf. Ingrimmsch war von dem Klang vom Kopf bis zu den Füßen regelrecht gelähmt. Das Gefecht erlahmte unter der donnernden Stimme, und auch die Schwarze Schlucht erzitterte unter dem Dröhnen.

Alles stand still...

... bis auf den Zwerg in der Tioniumrüstung!

Er klappte das Visier seines Helmes schwungvoll herab und scherte sich nicht um das Blut, das über ihn schwappte.

Er ist es doch! Er hat nur auf den rechten Augenblick gewartet, um sich uns zu erkennen zu geben! Ingrimmsch fragte sich bei dem Anblick nicht länger, ob es sich um seinen vermissten Freund handelte. Er wollte zu gern glauben, dass er es war. Vom heldenhaften, selbstlosen Handeln her stand der Angriff auf den Kordrion dem Kämpfer unzähliger Schlachten um das Geborgene Land gut zu Gesicht. Und warum Tungdil eine ganz andere Rüstung trug, die ihn mehr und mehr an Djerün erinnerte, dafür würde es sicherlich eine gute Erklärung geben. Dafür und für alles andere auch. Nach dem Kampf. Als Tungdil jedoch vom weißen Feuer des aufgebrachten Wesens eingehüllt wurde und in dem glühend grellen Ball verschwand, gab Boindil ihn auf. Der Zwerg wusste noch zu genau, was die gleißenden Flammen anrichteten, auch wenn die Schlacht mehr als zweihundertfünfzig Zyklen zurücklag. Sollte die Rüstung aus Tionium widerstehen, so reichte die Hitze im Innern aus, um den Zwerg bei lebendigem Leib zu rösten. Der Anblick seines getöteten Zwillingsbruders stieg aus seinen Erinnerungen empor... »Nein!«, schrie Ingrimmsch verzweifelt und hackte einem weiteren Gegner das lange, gebogene Ende des Krähenschnabels von oben durch Helm und Schädel. Es knackte laut, dann trat die Spitze unterhalb der Kehle aus dem Brustbein aus. Boindil riss den Toten zu Boden, stellte den rechten Fuß auf dessen Schulter und zog das lange Ende durch das hässliche Gesicht. »Vraccas, lass es nicht zu, dass ich ihn finde und gleich wieder verliere!«

Der Feuerball verteilte sich und quoll zu einer Wolke auf, in der ein schwarzer Umriss erkennbar war. Tungdil schien die Attacke überstanden zu haben!

Der Zwerg in der schwarzen Rüstung war auf ein Knie gesunken. Blutdürster hielt er schützend mit der breiten Seite voraus vor den Kopf, der andere Arm lag auf dem Rücken. Als der Flammenstoß verebbte, federte er in die Höhe und stach nach den unteren Augen des überrumpelten Kordrion.

Tungdil erwischte eines, und ein Geräusch erklang, das dem eines berstenden Lederbeutels ähnelte, der prall gefüllt war.

Blaues Wasser ergoss sich daraus, dem gleich darauf schwarzrotes Blut folgte. Armdicke Adern und Sehnen baumelten herab, noch mehr Flüssigkeiten sprühten umher, und die Kreatur wand sich vor Schmerzen.

Ingrimmsch wollte nicht glauben, was er sah: Der Kordrion zog sich mit blutsprühenden Wunden in seiner Flanke und am Kopf in die Schlucht zurück! Die titanischen Füße zermalmten Dutzende Scheusale und pressten sie in den Boden, Körperflüssigkeiten spritzten nach allen Seiten davon, dann war er verschwunden und hinterließ eine feuchte Spur auf den Felsen. Ein lautes Heulen erklang, und das Heer verschwand unter Geschrei in der Dunkelheit der aufragenden Felswände. Letzte Pfeil- und Speerschauer begleiteten ihren Abzug, dann schwiegen die Katapulte der Festung.

Ruhe senkte sich herab, in der das Säuseln des Windes, der sich an den Zinnen der Festung und den Hängen der Schwarzen Schlucht brach, überlaut erklang. Vorher hatte ihm niemand Beachtung geschenkt.

Ingrimmsch gab den Ubariu den Befehl, hinter ihn zu treten und den Weg nach unten in die Tiefe der Finsternis genau zu beobachten, während er selbst einen Schritt nach vorn machte und den blutverschmierten Krähenschnabel neben seinem Fuß abstellte. Er sah zu dem gerüsteten Zwerg und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, nach unten zu kommen. »Zeig dich, damit ich sehe, ob ich einen alten Freund oder einen neuen Feind vor mir habe«, rief er. Er vermochte seine Erregung kaum mehr zu zügeln und schwankte zwischen Freude und sehr, sehr viel Misstrauen. Der Glaube allein, seinen Freund vor sich zu haben, reichte noch nicht aus.

Von den Wehrgängen erklangen Hornsignale, das große Tor wurde geöffnet, und eine Streitmacht von zweihundert Zwergenkriegern und Untergründigen eilte unter der Führung von Goda heran. Sie nahmen hinter Ingrimmsch und den Ubariu Aufstellung und warteten. Kampfbereit.

Der gewappnete Zwerg und mögliche Tungdil sprang mit einer Behändigkeit, die man ihm in dieser Rüstung nicht zugetraut hätte, auf seinen Trittsteinen entlang, bis er mit einem Satz auf die Erde zurückkehrte; weißer Staub wirbelte um seine Füße auf und stieg bis zu den von schwarzen Metallschienen geschützten Knien. Blutdürster hielt er in der Rechten und hatte ihn mit dem Zacken nach hinten locker gegen die Schulter gelehnt. Schritt für Schritt näherte er sich der Abordnung. Der Helm blieb geschlossen. Boindil schluckte, sein Hals war trocken. »Visier in die Höhe«, blaffte er, die Rechte spannte sich um den Griff des Krähenschnabels und drückte zu. Die Lederummantelung knirschte leise. »Ich möchte dein Gesicht im Tageslicht sehen.« Hinter ihm zogen die Zwerge ihre Waffen, als der Gerüstete seinen Weg fortsetzte, ohne sich um die Aufforderung zu scheren.

Ingrimmsch konnte die Rüstung nun ganz genau erkennen. Sie war übersät mit Zeichen, Runen und Symbolen, die er noch niemals in seinem Leben gesehen hatte.

Ein kurzer Blick zu Goda zeigte ihm, dass auch die Maga vor einem Rätsel stand. Sie schüttelte knapp den Kopf. Sie vermochte mit den silbrig schimmernden Intarsien und Gravuren ebenfalls nichts anzufangen.

Was Boindil sehr irritierte: Es gab darauf kein einzigen Hinweis auf Vraccas oder die Herkunft als Kind des Schmieds, auch wenn die Rüstung an sich ohne Frage aus der Hand eines Meisterschmieds stammte. Eines Zwergenmeisterschmieds. Würde Tungdil das tun? Seine Art verleugnen? »Bleib stehen und zeige dich!«, befahl er resolut und hob seine Waffe. »Bist du Tungdil Goldhand, dann weise uns dein Gesicht. Wenn nicht«, Ingrimmsch ließ den Krähenschnabel kreisen, »zerschlage ich es dir im Helm!«

Jetzt blieb der Zwerg stehen. Breitbeinig und selbstbewusst präsentierte er sich der Übermacht. Dann ging der linke Arm nach oben, langsam und überlegen, keinesfalls hastig oder gar furchtsam. Stückchen für Stückchen wurde das dunkle Gitter in die Höhe geschoben, nicht einmal ein leises Schleifen war zu hören.

Boindil schluckte aufgeregt, sein Herz schlug bis zum Hals. Vraccas, lass das Wunder geschehen sein!, bat er und schloss die Lider, um das Gebet noch inbrünstiger an seinen Gott senden zu können. Er wagte es fast nicht, die Augen zu öffnen und in das Gesicht seines Gegenübers zu blicken. Dass er Goda laut einatmen hörte, machte es nicht besser. Schließlich traute er sich.

Er sah einen kurzen, braunen Bart um die sehr vertrauten Züge eines Zwerges, der deutlich gealtert war. Doch er hätte das Gesicht unter Tausenden erkannt. Über dem linken Auge lag eine Klappe aus purem Gold, die mit Gravuren durchzogen war und von goldenen Fäden an Ort und Stelle gehalten wurde. Das verbliebene braune Auge des Freundes ruhte auf ihm. Ingrimmsch las darin in erster Linie Neugier, wenig Freude und... etwas, das er nicht einzuordnen vermochte.

Die Falten um Tungdils Mund und Nase waren, wie man durch den dichten Bart sah, tief geworden und verliehen ihm etwas Gebieterisches, um das ihn mancher Zwergenkönig beneiden würde. Auf der Stirn verlief eine gut verheilte, doch dunkle Narbe, die oberhalb des rechten Auges unter dem Helmrand verschwand. Ingrimmsch seufzte tief. Rein äußerlich war es sein alter Freund, der nach all der Zeit vor ihm stand. Er machte einen Schritt auf ihn zu, doch vermeinte er, die Ablehnung geradezu spüren zu können, die von Tungdil ausging.

»Welche Beweise benötigst du, um dich davon zu überzeugen, dass ich Tungdil Goldhand bin?«, sprach er, löste den Kinnriemen und zog den Helm mit einer raschen Bewegung vom braunen Schopf. Die Narbe verlief von der Stirn weiter durch das schulterlange Haar bis zum Scheitelpunkt des Kopfes. Er warf den Helm auf den Boden und schüttelte einen Handschuh ab, danach zeigte er das goldene Mal, das er an seiner Hand trug. »Berühre es, wenn du möchtest, Boindil. Es ist mein ewiges Andenken im Kampf um den Thron des Großkönigs, obwohl ich niemals wirklich Anspruch darauf gehabt hatte.« Auffordernd streckte er die Hand aus.

Ingrimmsch strich über die gelbgoldenen Sprenkel, dann sah er erkundend in Tungdils Antlitz.

Der Zwerg lächelte, und es war das alte Lächeln. Das wohlbekannte und so unendlich lange nicht mehr gesehene Lächeln!

»Vielleicht soll ich dir erzählen, wie du mich glauben machen wolltest, dass man Zwerginnen mit stinkendem Ziegenkäse einreibt, um sie von sich einzunehmen?« Er beugte sich langsam nach vorne und zwinkerte. »Ich habe es niemals angewandt. Hast du es bei Goda tun müssen?«

Die Maga lachte auf.

»Du bist es wirklich!«, brach es aus Ingrimmsch hervor. Er ließ den Griff des Krähenschnabels los, breitete die Arme aus und riss Tungdil an sich. »Bei Vraccas, du bist es!« Es wurde heiß in seinen Augen, und Tränen schössen ein. Gegen die Rührung vermochte er nichts zu unternehmen. Er drückte Tungdil an sich, und dabei fiel es ihm vor lauter Freude nicht auf, dass seine Umarmung nicht erwidert wurde. Schließlich löste er sich von Tungdil und wandte sich den Zwerginnen und Zwergen zu, die ihn gespannt beobachtet und belauscht hatten. »Seht!«, rief er beschwingt und hob den Kopf, damit seine Stimme bis zu den Zinnen von Übeldamm schallte. »Seht, der Held ist zu uns zurückgekehrt! Das Geborgene Land wird bald schon vom Joch des mannigfachen Bösen befreit werden!« Er klopfte auf die schwarze Rüstung. »Ho, Lohasbrand, Lot-Ionan und ihr anderen Ausgeburten Tions: Jetzt gibt es keine Gnade und keinen Ausweg mehr für euch!«

Goda strahlte und wischte sich Tränen der Freude und Erleichterung aus den Augen, und die Zwergenkriegerinnen und Krieger hinter ihr starrten den Helden, den die meisten von ihnen nur aus Erzählungen kannten, unverwunden und in tiefer Ehrfurcht an. Eine Legendengestalt war zu ihnen zurückgekehrt und hatte darüber hinaus bei seinem Erscheinen das furchterregendste Wesen der Schwarzen Schlucht in die Flucht geschlagen.

Die Worte von Ingrimmsch waren bis zu der Besatzung der Festung gedrungen. Hörner und Trommeln erklangen und verkündeten die Nachricht. Es waren besondere Tonfolgen, eigens komponiert für den bedeutungsvollen Umlauf, an dem Tungdil zurückkehrte, damit es alle erfuhren.

»Ich kann mir sehr gut vorstellen«, sagte Ingrimmsch feixend, »dass einige glauben werden, die Fanfarenbläser hätten sich vertan und wollten eigentlich einen ganz anderen Befehl spielen.« Er schlug Tungdil auf die Schulter und bekam das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. »Lass uns in die Festung einziehen und die Schwarze Schlucht hinter uns lassen. Es ist Zeit, dich gebührend willkommen zu heißen. Und dann musst du uns berichten, was sich in all den Zyklen zugetragen hat! Auch wir haben viel zu erzählen.« Er bückte sich und reichte ihm Helm und Handschuh. Dabei sah er ihm fest ins Auge. »Du kannst nicht ermessen, wie glücklich ich bin, dich zu sehen, Gelehrter.«

Tungdil nahm seine Sachen an sich und wandte sich halb um, den Blick zur Schwarzen Schlucht gewandt. »Sie werden zurückkehren, Ingrimmsch. Der Kordrion war zu überrascht; sobald seine Wunden geheilt sind, wird er sich wieder aus seinem Versteck wagen. Zudem wird bald die Kunde vom Ende der Barriere umgehen. Die Scheusale werden ein Heer aufstellen, um auszubrechen...«

Boindil hob den Arm und wies auf die hohen, dicken Mauern der Festung. »Deswegen steht sie hier und trägt den Namen Übeldamm«, unterbrach er seinen Freund. »Sie werden nicht entkommen, kein einziges hässliches Exemplar. Und den Kordrion pieksen wir hübsch so lange mit unseren besonders schweren Speeren, bis er aussieht wie ein Igel und tot umfällt.« Er sah stolz zu Goda. »Aus ihr ist eine echte Maga geworden. Sie ist unsere stärkste Waffe.«

Tungdil betrachtete die Zwergin, die einen Schritt nach vorn gemacht hatte, mit einem Blick, in dem Befremden lag. »Ihr werdet sie brauchen«, meinte er leise und sah wieder zur Felsspalte. Ingrimmsch lächelte. »Wir sind mehr als zuversichtlich, Gelehrter. Da du jetzt unter uns bist, kann die Kinder des Schmieds nichts mehr schrecken.« Er setzte sich in Bewegung, und die Menge der Ubariu, Untergründigen und Zwergenkrieger teilte sich vor ihnen, um ein Spalier zu bilden.

Goda fixierte Tungdil, als er dicht an ihr vorüberging. Sie hatte den Eindruck, dass er sie gar nicht erkannte; das braune Auge war voller Gleichgültigkeit geblieben, als er sie angesehen hatte. »Er hat noch nicht einmal nach Sirka gefragt«, sagte sie leise zu sich selbst, und ihre Miene verdüsterte sich. Auch wenn ihr Gemahl im Überschwang der Gefühle leicht zu überzeugen gewesen war, in ihr erwachte ein Verdacht. Goda folgte ihnen, und die Krieger sicherten ihren Rückzug hinter die gewaltigen Tore des Bollwerks. In den kommenden Umläufen würde sie den Zwerg, den die Mehrheit sicherlich für Tungdil Goldhand hielt, einer intensiven Prüfung unterziehen. Während sie unter lautem Hörnerklang und dem Jubel der Truppen einzogen, dachte sie sich bereits Fragen aus. Denn wenn das Böse ihnen einen falschen Helden gesandt hatte, trachtete es gewiss nach Schrecklichem.

Die schwarze Rückenpanzerung Tungdils mit den funkelnden Intarsien vor Augen, wurde sich die Zwergenmaga mit jedem Schritt, den sie tat, sicherer, dass es nicht der alte Freund war, den sie bei sich empfingen. Sie nahmen das Böse bei sich auf und feierten es sogar!

Sie sah nach rechts und links, die Türme hinauf, von wo die begeisterten Rufe auf sie herabstürzten, sodass eine Unterhaltung unmöglich wurde.

In diesem Augenblick wurde sie sich bewusst, dass sie vermutlich die Einzige in der Festung war, die sich Sorgen machte. Alle anderen befanden sich in einem Freudentaumel, den der lange erwartete Erlöser von allem Bösen unter ihnen ausgelöst hatte. Ohne dass er überhaupt ein Wort zu ihnen gesprochen hatte.

Goda seufzte; ihr Blick streifte zufällig Yagur, den Anführer der Ubariu - und sie entdeckte auf seinem Antlitz eine allzu bekannte Sorge.



Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Weyurn, Stadt Mifurdania, 6491. Sonnenzyklus, Winter.


»Und hier, hochgeschätzte Spectatores, hier, zu meiner Linken und ganz außen, haben wir einen weiteren legitimen Spross des einmaligen, unerreichten, seit Dekaden von Zyklen niemals überbotenen Unglaublichen Rodarios!«, rief der Mann in opulenter weißer Kleidung von der hohen Bühne herab, die vor wenigen Umläufen noch als Hinrichtungsstätte gedient hatte. Wer genau hinsah, erkannte ein Büschel Haare, das an der Kante des von Kerben übersäten Holzklotzes im getrockneten Blut haftete, auf dem der Mann stand; es störte niemanden. Besser gesagt: Es durfte niemanden stören. Auf dem Platz in der Mitte der Stadt vor dem Rundtheater namens Neues Curiosum gab es kaum eine freie Stelle mehr, und auch die kleine überdachte Tribüne für Adlige und Kaufleute oder andere Bürger mit Privilegien war gefüllt.

Nur die erste Reihe, die ausgesuchten Zuschauern vorbehalten war, blieb leer. Sie kamen selten zu solchen heiteren Veranstaltungen, meistens gar nicht. Sie bevorzugten die Enthauptungen, öffentlichen Bestrafungen und Zurschaustellungen, was eine andere Bezeichnung für Demütigung war.

In der zweiten Reihe saß eine hübsche junge Frau mit wachen, leicht orangefarbenen Augen und schönen schwarzen Haaren, die bis an den Gürtel reichten und unter einem durchsichtigen Schleier lagen. Sie hatte einen Mantel aus schwarzem Wolfsfell um sich gelegt, in der Linken hielt sie einen Becher mit heißem Gewürzwein.

Der Marktplatz war zugestellt mit allen möglichen Buden, in denen die Händler verschiedenerlei Dinge zum Essen anboten, von heißen Würsten über geräucherte Schinkenstücke bis hin zu Waffeln und süßen Maronen in Sahne. Wer es kalt hatte, griff gern auf warmes Bier und erhitzten Wein zurück, je nach Vorliebe bekam man beides mit verschiedenen Gewürzen und Honig. Weiße Dampfschwaden standen über dem Marktplatz, ausgestoßen von den zahllosen kleinen Öfen in den Läden; aus einem Wirtshaus drangen gedämpfte Musik und Gesang. Die junge Frau atmete den Geruch ein und lächelte. Endlich ein Grund zur Freude in den traurigen Zyklen der Besatzung durch Lohasbrand und seine Spießgesellen.

»Möchtet Ihr noch etwas, Prinzessin Coira?«, fragte ihr Begleiter sie, der vom Alter her ihr Bruder hätte sein können. Unter seinem offenen braunen Fellmantel lag eine Lederrüstung, am Gurt trug er ein Kurzschwert. Die flache, gefütterte Kappe aus Wolle verdeckte das Haar und ließ ihn harmlos erscheinen. Mit Absicht.

»Nicht diesen Titel!«, zischte Coira und blitzte ihn vorwurfsvoll an. »Du weißt, was sie mit dir tun, wenn sie hören, wie du mich angesprochen hast, Loytan.« Ihr Begleiter ließ seine Blicke über die leere Reihe schweifen. »Nun, es ist keiner da, der mich dafür zur Rechenschaft ziehen könnte, dass ich die Wahrheit sage«, antwortete er leise, aber fest. »Ihr seid die Prinzessin, und Eure Mutter wäre die Königin von Weyurn, wenn es den verfluchten Drachen...«

Coira legte ihre Hand auf seinen Mund. »Sei still! Du redest dich um dein Leben! Sie haben ihre Augen und Ohren überall.«

Vor dem inneren Auge sah sie ihre Mutter, die im eigenen Palast als Gefangene lebte und den Ring der Schande um den Hals trug. Den gesamten Umlauf über stand sie unter Bewachung, gedemütigt und ihrer Macht beraubt. Wenn der Drache beschloss, sie nicht mehr am Leben zu lassen, konnten seine Diener den Ring zuziehen und sie qualvoll ersticken lassen.

Coira würde vieles geben, um sie befreien zu können. Sie atmete langsam aus. »Schau nach vorn und genieße, was uns die Nachfahren des Unglaublichen in diesem Zyklus bieten, wenn sie den Besten unter sich suchen.«

Loytan roch an ihrer Hand, lächelte sie ergeben an und wandte sich der Bühne zu. Der Ausrufer deutete mit seinem Rohrstock ans Ende der Reihe, die aus nicht weniger als elf Männern und sechs Frauen bestand.

Sie trugen auffällige, extravagant geschnittene Kleidung; das Wort bunt wäre für die Stoffe sicherlich erfunden worden, wenn es nicht schon vorher existiert hätte. Und doch dienten die Röcke, Kleider, Hosen, Hüte, Stiefel und anderen Dinge einzig und allein dazu, ihren Besitzer oder ihre Besitzerin noch mehr von den anderen abzuheben. Nur der Letzte von ihnen fiel aus der Reihe.

Er war der Einzige, dem der Schneider Sachen genäht hatte, dienicht passten. Oder seine Haltung war derart miserabel, dass die Falten und Säume ungünstig fielen.

Wie es sich für einen Spross des Unglaublichen gehörte, wuchsen ihm braune Haare, die er nackenlang trug, und er hatte wenigstens im Ansatz aristokratische Züge; allerdings wölbten sich seine Wangen nach vorne und raubten dem Vornehmen etwas von der Wirkung. Sein Kinnbärtchen, das Markenzeichen des Unglaublichen Rodario und Begründer zahlreicher Dynastien von Schauspielerlegenden in vielen Regionen des Geborgenen Landes, hing traurig herab und wirkte zerzaust.

»Er nennt sich - und ich gebe zu, dass es einfallsloser nicht mehr gehen kann - Rodario der Siebte! Applaus, bitte!« Der Ausrufer hob ruckartig die Arme, um die Menschen anzufeuern, doch das Klatschen erfolgte nur vereinzelt und verstummte rasch. »Bei den Göttern«, meinte Loytan amüsiert. »Welch eine traurige Gestalt unter so vielen Pfauen! Er wird nicht einmal einen Trostpreis gewinnen.«

»Ich finde es... sehr geschickt«, verteidigte Coira ihn auf der Stelle. Sie hatte Mitleid mit dem Rodario-Nachfahren, der eine schon tragische Bekanntheit innehatte. »Er... hebt sich ab.«

»Als das schlechte Beispiel, gewiss.« Loytan lachte laut auf. »Er ist meiner Meinung nach wie in jedem Zyklus der Erste unter den Letzten. Wollen wir wetten, Prinzessin?« Er strahlte sie an, dann sah er an ihr vorbei, und sein Gesicht verlor die Fröhlichkeit. Breite Schatten fielen über sie; Coira drehte sich erschrocken um.

Hinter ihnen hatten von ihnen unbemerkt vier Lohasbrander die Tribüne betreten und waren auf dem Weg zur ersten Reihe. Sie trugen schwere Lamellenrüstungen unter ihren Mänteln, die Helme waren einem Drachenleib mit angelegten Flügeln nachempfunden. Um ihren Hals hing jeweils eine Silberkette mit dem Splitter einer dunkelgrünen Drachenschuppe, das Zeichen ihrer unbestrittenen Macht in Weyurn. Damit standen sie über allem und jedem, außer ihrem Meister.

Coira neigte sich zur Seite und blickte suchend über den Platz, bis sie die Orks entdeckt hatte. Die Kreaturen gehörten zu den Lohasbrandern und waren deren gefügige Diener. Jetzt harrten sie in einer Seitenstraße aus und stopften Fleisch in sich hinein. Wegen der Kälte dampfte es, und sie wollte lieber nicht wissen, ob es rohe warme Brocken oder frisch zubereitetes Kesselfleisch waren. Der vorderste der Männer grinste Loytan an. Er war feist und muskulös zugleich, im breiten Gesicht wucherte ein hellblonder Bart. »Habe ich da eben etwas gehört, was besser unausgesprochen bleiben sollte? Ihr kennt das Gesetz, Graf Loytan von Loytansberg. Es gilt auch oder gerade für Adlige wie Euch.« Er sammelte Rotz im Mund und spie dem jungen Mann einen dicken, grüngelblichen Klumpen ins Gesicht. »Aber ich lasse noch einmal Gnade walten. Ich habe keine Lust, mir die gute Laune zu verderben.« Er polterte die Stufen hinab und setzte sich genau vor Loytan, sodass sein Helm die Sicht auf die Bühne einschränkte. »Ich empfehle Euch, nicht mehr da zu sein, wenn ich mich später erhebe. Solltet Ihr immer noch dasitzen, werde ich die Befehle von Meister Lohasbrand umsetzen.« Seine Begleiter lachten lauthals und nahmen ebenfalls Platz.

»Die erste Disziplin, geschätzte Spectatores, ist bei euch hochbeliebt und möchte zuallererst ausgetragen sein«, rief der weiß gekleidete Mann auf der Bühne weithin hörbar. »Es ist der Wettbewerb der schnellen, bissigen Worte, der vor den Ohren Mifurdanias, dem Ort, an dem der Unglaubliche so lange weilte, beginnen soll.« Er blickte in die Runde und stemmte die Arme in die Hüften. »Oh, man sieht an so manchem Gesicht auf dem Marktplatz, wohin die Ahnin gerne gegangen ist: ins Curiosum ... und zwar hinter die Bühne!«

Die Menge jubelte.

Coira hielt Loytans Hand fest, die an den Gürtel zum Kurzschwert gewandert war. »Nein«, flüsterte sie eindringlich.

Er zitterte vor Zorn am ganzen Körper. »Aber...«

»Du magst ihn vielleicht bezwingen, aber die Orks werden zu deiner Familie gehen und sie abschlachten. Der Drache bestraft alle, nicht nur einen Einzelnen - hast du das in deinem Stolz vergessen?« Coira nahm ihr Taschentuch und wollte ihm den Speichel des Lohasbranders abwischen, aber er wandte sich zur Seite und nahm seinen Ärmel. »Eines Umlaufs wird ihn nichts mehr vor mir retten«, knurrte Loytan. Die Frau ließ ihn vorsichtig los. Die Gefahr war vorerst gebannt. »Überlass die Aufstände anderen«, sagte sie leise. »Menschen ohne Angehörige.«

Er richtete den Blick nach vorn. »Ihr meint diesen feigen Zeilenreimer?«

»Er ist Poet, kein einfacher Dichter und schon gar kein feiger Zeilenreimer. Seine Werke, die er heimlich nachts an den Häusern von Weyurn anschlägt, haben mehr vollbracht als ein Schwert oder ein Pfeil.« Coira hatte die Eifersucht in Loytans Stimme sehr genau vernommen, und dabei war sie unnütz. Er hatte schon lange eine Gemahlin an seiner Seite. Sie selbst betrachtete ihn mehr als großen Bruder und Beschützer. Ihr selbst war bislang niemand begegnet, dem sie ihr Herz und ihre Unschuld hätte schenken wollen.

»Seine Zeilen bringen denjenigen, die ihnen folgen, den Tod«, hielt Loytan prompt dagegen und nickte zum Holzklotz. »Ich sehe die Haare, die im Blut hängen. Die Armen sind geköpft worden, weil sie Freiheit für das Königreich und Eure Mutter gefordert haben.«

»Sprecht noch ein einziges Wort, Loytansberg«, kam es aus dem Mund des Lohasbranders vor ihm, »und Ihr seid der Nächste, der Bekanntschaft mit dem Richtblock macht. Ich will von Eurem Geschwafel nicht weiter belästigt werden, also haltet Euer Maul! Oder ich sorge dafür, dass es sich niemals mehr öffnet.« Wieder lachten seine Kumpane.

Loytan schnaubte und langte nach seinem Becher Wein, nippte daran und schluckte die Erwiderung hinab.

Der Ausrufer auf dem Podest richtete sich auf. »Sodann mögen die Unnettigkeiten fliegen und die Luft zu unserer Erbauung verunreinigen. Rodariosöhne und -töchter, lasst uns hören, was ihr könnt!«

Den Anfang machte eine junge Frau, die sich einen überlangen Schnur- und Kinnbart angeklebt hatte und übertrieben männlich nach vorn an den Rand der Bühne trat; dort blieb sie stehen, fuhr sich über die künstlichen Gesichtshaare und fasste sich in den Schritt. Sie veralberte die Männer mit ihren Gesten ganz ausgezeichnet, was die Spectatores beklatschten.

Abrupt riss sie sich die falschen Barte ab. »Oh, Manneszier, fahr fort von mir!«, rief sie. »Bin Ladenia und Frau, ihr sehts genau, und doch mehr Mann, als mancher von euch es kann.« Sie schritt die Reihe der Rodarios frech grinsend entlang, bis sie vor dem Unerreichbaren angelangt war. »Ihr wolltet den Titel, wurde mir gesagt, und Ihr hättet die besten Aussichten, heißt es. Weil Ihr so schön seid«, sie dehnte das Wort und klimperte mit den Augendeckeln, »weil Ihr so klug seid«, dabei legte sie die Hand an die Stirn, »und weil Ihr mit den meisten Frauen in der Stadt das Lager teiltet, die alle für Euch stimmen werden.« Sie lachte. »Aber ich sehe mehr Männer als Frauen zu unseren Füßen: Ich war wohl besser als Ihr!«

Die Menge rief laut, vielstimmiges Lachen erfüllte die Luft.

»Ihr alle kennt den Witz, in dem ein Ork einen Zwerg nach dem Weg fragt, aber ich kenne einen viel besseren«, rief Ladenia. »Wie viele von den nichtsnutzigen Rodarios hier benötigt man, um einen Ork anzuheben?«

Der Lohasbrander lehnte sich gespannt nach vorn und hatte die linke Hand halb in die Luft gehoben.

Coira sah hinüber zu den Grünhäuten, die umgehend das Fressen eingestellt hatten und ihre Waffen zogen. Eine Katastrophe bahnte sich an. Sobald der Lohasbrander das Zeichen zu Ende führen würde, kämen sie auf den Platz gestürmt und würden das Spektakel beenden. Wegen eines Witzes. Ladenia hatte keine Ahnung, was sie mit ihrem Spaß anrichten konnte.

»Na, was denkt ihr?«, setzte die Frau auf dem Podest nach. »Was ist denn los? Traut sich denn keiner?«

Coira überlegte, wie sie den Lohasbrander ablenken konnte, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Was sehr schwierig war, denn die Schergen des Drachen freuten sich über eine Gelegenheit, die Tochter der rechtmäßigen Königin ebenso festsetzen zu dürfen. Sie öffnete den Mund, um ihn etwas Belangloses zu fragen, als Ladenia die Auflösung des Witzes gab: »Ich sage es euch: fünf. Vier halten ihn fest, und einer gräbt ein Loch, damit sich die Füße des Orks überhaupt von der Erde wegbewegen! Stemmen könnte das Gewicht keiner von den Hänflingen.«

Coira sah, dass der Lohasbrander die Mundwinkel verzog und den Arm senkte. Es war keine Schmähung, die mit Gewalt bestraft werden musste. Es war nicht einmal ein guter Witz.

Das merkte auch Ladenia, nachdem die bleierne Stille auf dem Platz anhielt. Daraufhin machte sie ein paar schnelle Tanzschritte, drehte sich einmal im Kreis und gab ein Lied zum Besten, bis der Ausrufer nach einigen Schritten auf sie zukam und sie derb an ihren Platz zurückschob.

»Werte Spectatores, wir haben gesehen, dass zumindest diese Nachfahrin sich im ersten Durchgang keine großen Hoffnungen auf den Titel machen darf«, schmetterte er und lachte sie aus.

»Und sie zeigte uns außerdem, dass der Unterschied zwischen Lied und Leid nur zwei verdrehte Buchstaben sind.«

Der Mann wurde mit lautem Lachen für seine bösartigen Kommentare belohnt, und er bedeutete dem nächsten Rodario-Nachfahren, nach vorne zu treten.

Nacheinander traten sie vor und bedachten ihre Mitbewerber auf den Titel »Würdigster Nachfahre des Unglaublichen« mit empörenden Schmähreden, bei denen vor allem jede derbe Boshaftigkeit von den Leuten mit lautem Jubel aufgenommen wurde; nur drei Anwärter versuchten sich in Schöngeistigem und Schwarzhumorigem, was weitaus weniger Anklang beim Volk fand.

Coira verfolgte zum einen das Geschehen auf der Bühne, gleichzeitig behielt sie die Orks und die Lohasbrander im Auge. Sie hatte sich gewünscht, die Darbietungen genießen zu können, doch die Anwesenheit der verhassten Besatzer verdarb ihr das Vergnügen. Solange sie zu denken vermochte, waren sie da gewesen, die Drachendiener.

Den Drachen selbst hatte sie noch nie zu Gesicht bekommen, doch auf den Zügen der Älteren, die in Weyurn lebten, flackerte die Angst vor dem fliegenden Ungeheuer auf, sobald die Sprache darauf kam. Lohasbrand hatte nach seinem Erscheinen vor zweihundertfünfzig Zyklen halb Weyurn mit Feuer überzogen und die damalige Königin zur Aufgabe gezwungen. Wey die Fünfte hatte sich zum Wohl ihres Volkes unterworfen, nicht aus Feigheit.

Danach waren die Orks, die Drachenanhänger, gekommen und überwachten seither die Gebiete für den Drachen. Auch Menschen hatten sich gefunden, die dem Geschuppten gerne dienten. Aus ihnen waren die heutigen Lohasbrander hervorgegangen, Weyurns neue Adlige ohne Anstand und Würde.

Coira wusste, dass sich Lohasbrand zu gern den Rest des Geborgenen Landes einverleibt hätte, um seinen sagenumwobenen Hort im Roten Gebirge mit noch mehr Reichtümern zu füllen, doch es gab zu viele Mitbewerber. Den Gerüchten zufolge hatten sich die vier Gegner auf einen Waffenstillstand geeinigt; Coira ging jedoch nicht davon aus, dass er ewig halten würde. Lohasbrand hatte sich stetig ausgebreitet, bis er mit Lot-Ionan und dem Kordrion aneinandergeraten war, und das würde er bald wieder versuchen. Das meinte sie daran zu erkennen, dass die Wächter, die ihre Mutter umgaben, seit einem halben Zyklus deutlich angespannter waren als vorher.

Coira reckte den Hals, um nach dem Unerreichbaren, wie er sich nannte, zu sehen: ein gut aussehender Mann von zwanzig Zyklen, der den Bildern des allerersten Rodario wie aus dem Gesicht geschnitten war. »Er sollte gewinnen«, sagte sie zu Loytan. »Er hat Stil.«

»Und keine Aussichten auf Erfolg«, fügte er hinzu. »Habt Ihr nicht gehört, was die einfachen Menschen verlangen? Hohn und Spott, keine gedrechselten Sätze, bei denen man nicht weiß, ob sie zu Ende sind oder ein neuer Satz begonnen hat.« Coira beugte sich nach vorn und betrachtete den Mimen eingehender. »Woher kommt er?«

Loytan suchte in einem der Flugblätter, die unter den Zuschauern verteilt worden waren, nach dem Namen des Mannes. »Hier haben wir ihn, Rodario der Unerreichbare. Er stammt aus dem angrenzenden Tabain«, las er vor. »Er betreibt dort ein eigenes Theater und ist außerdem unterwegs in Gauragar und Idoslän, wo er die Bühnen bei verschiedenen Gastspielen bereist.« Er besah sich den Mann. »Eine gute Figur. Für einen Schauspieler.«

Genau das hatte Coira auch gedacht. In ihrer Vorstellung wurde er zu dem unbekannten Poeten, der furchtlos gegen die Lohasbrander hetzte und sich über sie lustig machte, der zum Widerstand gegen die Männer und den Drachen aufrief, den Mut bei den Menschen in Mifurdania weckte und sie daran erinnerte, dass es eine Zeit ohne Unterdrückung und Zwangsabgaben gegeben hatte. Und der ihnen vor allem eine Zukunft ohne Angst versprach.

Nicht zuletzt war er für die Lohasbrander und die Orks auch gefährlich: Dreizehn Morde wurden ihm bereits angelastet. Er besaß nicht nur eine scharfe Feder, sondern auch eine scharfe Klinge.

Der Unerreichbare aus Tabain fügte sich vollkommen in ihr Bild des unbekannten Helden, auf den ein Kopfgeld ausgesetzt worden war, von dem einhundert Menschen bis zum Ende ihrer Umläufe leben konnten; dennoch hatte ihn bislang niemand an den Drachen verraten.

Inzwischen war es an Rodario dem Siebten, die Menge von sich und seiner Sprachfertigkeit sowie seinem Wortwitz zu überzeugen. Aber schon die Art, wie er einen Schritt nach vorn machte, ließ erahnen, dass es schrecklich werden würde. Schrecklich peinlich.

»He, Junge!«, rief einer der Zuschauer. »Ich hoffe, dass du dieses Mal geübt hast, sonst stecken wir dich wieder ins Teerfass und ziehen dich durch Sägespäne!« »Oder durch den Abort«, stieg ein Zweiter mit ein. »Dann stinkst du wenigstens so, wie es kein anderer kann!«

Die Leute lachten, die Rufer wurden beklatscht, und der Weißgekleidete bat mit einer herrischen Geste um Ruhe. »Lasst ihn doch sich selbst blamieren, werte Spectatores!«, sprach er getragen und schnitt eine Grimasse. »Wenigstens hat er es in den letzten Zyklen immer bewiesen, dass er darin ungeschlagen ist.« Er zeigte mit dem Stöckchen auf ihn. »Wir warten!«

Coira wünschte Rodario dem Siebten aus Mitleid, dass irgendwas geschah, was seinen Auftritt vereitelte. Ein Unwetter, ein Schneesturm, notfalls auch ein kleiner Hausbrand, der die Aufmerksamkeit auf sich zwang. Sie sah zu Loytan, der sich grinsend aufrichtete, um besser hören und am Helm des Lohasbranders vorbeisehen zu können. »Seht, den stattlichen Unerreichten...«, hob er mit zittriger Stimme an, und schon prusteten die Ersten vor der Bühne los.

»Verzeiht, dass ich Euch ins Wort falle, doch es heißt Unerreichbaren«, verbesserte ihn der Genannte freundlich, aber überlegen. »Fangt noch einmal an.«

Rodario der Siebte räusperte sich und klang mehr nach einer Frau denn nach einem Mann. »Seht, den stattlichen Unerreichbaren«, sprach er und sah zu seinem Rivalen, der ihm nett zunickte und ihm mit einer leiernden Handbewegung bedeutete, die Geschwindigkeit des Vortrags zu erhöhen. Doch plötzlich verlor der Siebte seine Gesichtsfarbe. »Aber... so reimt es sich nicht mehr auf den nachfolgenden Satz«, brach es bestürzt aus ihm hervor. Fieberhaft kraulte er sich das Kinnbärtchen. »Was mache ich denn nun?«

Die Zuschauer rasten vor Lachen, das unfreiwillig ausgelöst worden war. Coira seufzte leise und bedauerte den sinnlos Tapferen. Wieder würde er den Wettkampf gedemütigt verlassen - und im folgenden Zyklus aufs Neue dabei sein wollen.

Rodario der Siebte wurde rot. Das Gelächter stachelte ihn auf, und er ballte entschlossen die Fäuste. »Da steht er wie eine Bohnenstange«, schrie er gegen den Lärm, »und ihm wird schon angst und bange, wenn er mich sieht. Und flieht.« Rasch verneigte er sich und trat zurück in die Reihe der Bewerberinnen und Bewerber.

Loytan sah Coira an, lachte kurz auf. »Das war nicht sein ganzer Vortrag! Oder etwa doch?«

»Ich fürchte es beinahe.« Sie blickte wieder zu ihrem Helden, dem Unerreichbaren, der vor sich hin schmunzelte. Er gönnte sich keinen lauten, ausgekosteten Sieg, und das machte ihn für Coira noch anziehender. Verwundert stellte sie fest, dass ihr Herz schneller pochte, je länger sie ihn betrachtete.

Faules Gemüse und Schneebälle flogen von allen Seiten auf Rodario den Siebten zu, der den Regen ebenso über sich ergehen ließ wie den gebrüllten Spott und Hohn. Der Unerreichbare trat unerwartet nach vorne und hob die Arme. »Aufhören!«, herrschte er die Meute an. »Das hat er nicht verdient. Er mag kein Wortakrobat und kein Schönling sein, doch er ist ein Nachfahre desselben Mannes, dessen Lenden ich entstamme.«

»Bist du dir ganz sicher?«, grölte eine Frau.

Der Unerreichbare hatte sie sofort entdeckt und deutete mit dem rechten Zeigefinger auf sie. »Wer bist du, dass du ihn verhöhnen darfst?«, herrschte er sie an und wirkte ganz und gar nicht mehr freundlich. »Du kannst nicht einmal schreiben und lesen, oder?«

»Es reicht mir, wenn ich diesen Hanswurst höre und sehe«, gab sie zurück und erntete die nächsten Lacher.

Rodario sah zu seinem Fürsprecher, der zu einer geharnischten Antwort ansetzte. »Lasst es gut sein«, sagte er niedergeschlagen und lächelte traurig. »Sie hat ja recht.« Er klaubte sich die fauligen Salatblätter von den Schultern und warf sie auf den Boden, schüttelte sich das Haar aus; Eisklümpchen rieselten herab. »Ich bin schlecht wie eh und je.«

»Zeige Haltung, Spross des Unglaublichen!«, sagte der Unerreichbare und richtete sich auf. In einer dramatischen Geste wirbelte er um die Achse, damit sein von der Taille abwärts weit geschnittener Mantel möglichst schwang - und dabei fielen ihm mehrere Papiere zu Boden.

Die meisten blieben auf der Bühne liegen, zwei jedoch wurdenvon einer Böe erfasst und davongetragen, ehe er sie zu fassen bekam.

Dieselbe Böe trug eines der Blätter über die Köpfe der rufenden Menschen und die haschenden Finger hinweg bis zur Tribüne, genau in die Hände von Coira. Allein die erste Zeile in geschwungener Schrift genügte der jungen Frau, um zu begreifen, dass ihre Wünsche in Erfüllung gegangen waren. Sie begann mit »Bürger von Mifurdania, bietet Eure Stirn dem Bösen, das aus den Bergen kommt!« Ein gepanzerter Handschuh grabschte nach dem Papier, der Lohasbrander hatte es an sich gerissen. »Lies vor«, sagte er zu seinem Kumpanen und reichte es weiter. »Ich will wissen, was der Unerreichbare noch an Reden vorbereitet hat.«

Coira sah zu Loytan, der sofort verstand, dass auf dem Blatt nichts Harmloses geschrieben stand.

Allem Anschein nach vermochte auch der zweite Lohasbrander nichts zu entziffern. »Darf ich Euch behilflich sein?«, bot sich Coira geistesgegenwärtig an. Der Anführer der Lohasbrander sah zu seinem Begleiter, nahm ihm die Schrift wieder ab und gab sie der jungen Frau zurück. »Ich höre.«

Coira tat so, als lese sie vor und ersann dabei eine belanglose knappe Rede, die nicht so gut war, dass der Lohasbrander darauf drängte, sie aus dem Mund des Unerreichbaren zu vernehmen.

Kaum schloss sie die Lippen, drehte er sich auch schon wieder zum Podest. »Schwach«, meinte er abfällig. »Nicht besser als La... diese andere Frau von vorhin. Schlechter Wettbewerb.«

Coira sah zum Unerreichbaren, hob das Blatt und faltete es zusammen. Er verneigte sich tief vor ihr. Was genau sie getan hatte, konnte er nicht wissen, doch da die Gerüsteten nicht auf die Bühne gesprungen waren, um ihn zu köpfen, durfte er annehmen, dass sie für ihn gelogen hatte.

»Werte Spectatores, dieses war der erste Streich«, meldete sich der Ausrufer lautstark. »Eure Abstimmung mit Schneebällen und Gemüse hat ergeben, dass Rodario der Siebte nicht an den weiteren Wettbewerben teilnehmen wird und ehrenvoll ausgeschieden ist. Ein Glück für Ladenia, die Meisterin des Unwitzes.« Wieder lachten die Menschen. Der Weißgekleidete sprang von seinem Podest und eilte mit riesigen Schritten auf ihn zu, nahm eine vertrocknete Blume unter seinem Mantel hervor. »Bitte sehr: das Stinkröschen für Euch, werter Ausgeschiedener.«

»Dann hat er ja einen ganzen Strauß zu Hause!«, krakeelte ein Mann. »Die kann er sich in seinen...«

»Bist du der Ausrufer oder ich, Schreihals? Genug jetzt!«, würgte ihn der Mann ab und schwang den Rohrstock. »Morgen beginnen die Vorführungen im Neuen Curiosum, und die Eintrittskarten können wie stets an den Buden auf dem Platz erstanden werden.« Er verneigte sich und bekam einen donnernden Applaus für das wortreiche Hüten der Anwärter, was er mit Grinsen und weiteren übertriebenen Verbeugungen quittierte.

Rodario der Siebte stand verloren mit seiner getrockneten Blume neben der Holztreppe und betrachtete die verschrumpelte Blüte niedergeschlagen. Deswegen bemerkte er nicht, dass die Menschen vor dem Aufgang murrend auseinandergingen und vor dem Trupp Orks zurückwichen, der sich den Weg über den Marktplatz bahnte; zwanzig von ihnen umstellten die Bühne, vier betraten sie.

Wer noch immer die Geschichten von den Orks kannte, wie sie im Geborgenen Land einst umgingen, wunderte sich beim Anblick dieser Exemplare. Das lag vor allem daran, dass sie aus dem Westen des Jenseitigen Landes stammten, hieß es, und schon immer Anhänger von Lohasbrand waren.

An ihrem eindrucksvollen Wuchs, der hässlichen Gestalt und grünlichen bis schwarzen Hautfarbe hatte sich nichts geändert, doch sie stanken bei Weitem nicht mehr wie früher. Sie pflegten ihre Waffen besser als in den alten Zyklen, und laute Herumschreierei und sinnloses Gegrunze gab es nicht mehr. Sie handelten klug und überlegt das machte diejenigen Scheusale, die dem Drachen folgten, umso gefährlicher. Klirrend stapften sie über die Dielen, ihr Hauptmann baute sich vor dem Unerreichbaren auf. Mit Entsetzen sah Coira, dass er in der linken Faust einen der Zettel hielt.

»Verflucht«, sagte Loytan neben ihr leise. »Beinahe wäre Eure List geglückt.« Er legte seine Hand an den Schwertgriff, mit der anderen packte er sie. »Kommt. Wir gehen.« Coira wollte sich zuerst wehren. »Ich...«

»Ihr habt für den Mann gelogen«, raunte er ihr zu. »Was denkt Ihr, was der Lohasbrander mit Euch macht, wenn es herauskommt? Auf so eine Gelegenheit wartet der Drache doch nur!«

Sie wurde bleich und stand vorsichtig von ihrem Platz auf, Loytan tat es ihr nach und ging hinter ihr, um ihr den Rücken zu schützen.

Der Anführer der Lohasbrander hatte sich erhoben und sah zur Bühne. »Was soll das, Pashbar?«

Der Ork hob die Faust mit dem Schrieb. »Eine Schmähschrift aus der Hand des Verbrechers, der sich selbst Poet der Freiheit nennt.« Er zog ruckartig sein gezacktes, blankes Schwert und legte es an die Kehle des Unerreichbaren. »Es kam von diesem Mann. Alle haben es gesehen.«

»Was?« Der Lohasbrander sah über die Schulter nach Coira und bemerkte, dass sie verschwunden war. »Daher weht der Wind!« Er riss sein Schwert aus der Scheide. »Nehmt den Mimen fest und bringt ihn zum Gefängnis. Und sucht nach der Tochter der Königin! Sie hat ihn zu schützen versucht.«

»Aber...« Sein Kumpan zur Rechten wirkte unschlüssig. »Sie ist eine Maga, sagt man, wie ihre Mutter, und ich...«

»Es ist mir gleich, was sie ist«, schrie er erbost. »Fangt sie! Und wenn sie sich nicht fangen lassen will, tötet sie. Ihre Flucht ist mir Beweis genug, dass sie mit dem Verbrecher unter einer Decke steckt.« Er rannte von der Tribüne und scheuchte seine Begleiter durch die Menge.

Der Unerreichbare wagte es nicht, sich zu bewegen. Die scharfe Klinge lag zu dicht an seiner Kehle, und so war er gezwungen, sich festnehmen zu lassen. Die Arme wurden ihm von zwei Orks auf dem Rücken verschnürt, während ihr Hauptmann vor ihm stehen blieb und ihn genau beobachtete.

»Du warst es also, der unsere Männer hinterrücks ermordete«, grollte Pashbar und entblößte sein raubtierhaftes Gebiss. »Ich werde Wielgar bitten, dich bei lebendigem Leib essen zu dürfen, damit ich dich bei jedem Schnitt und bei jedem Biss schreien höre.«

Der Unerreichbare lächelte kein bisschen eingeschüchtert und ließ sich erhobenen Hauptes von den Scheusalen abführen.

Es war furchtbar still auf dem Marktplatz geworden.

Als der Unerreichbare an Rodario dem Siebten vorbeiging, drehte er den Kopf und sagte ernst: »Haltung, mein Freund. Darauf kommt es an, ganz egal, was du tust. Vergiss das nicht, wenndu nächsten Zyklus wieder antrittst. Dann vermagst du es zu schaffen.« Pashbar stieß ihm ins Kreuz, und er marschierte weiter.

Niemand konnte sich daran erinnern, dass an einem einzigen Umlauf gleich zwei Anwärter aus dem Wettbewerb ausgeschieden waren.

Schon gar nicht unter solchen Bedingungen.


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