XXVI

Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Sangrein, Südwesten, 6492. Sonnenzyklus, Frühling.


»Ist es immer noch hinter uns?« Ingrimmsch bog nach links und stand in einer weiteren Gasse, die ihm unbekannt vorkam. Wieso das denn? Bei ihrer Flucht hatten sie sich anscheinend verlaufen. »Verfluchte Stadt!«

»Nein«, rief Slin, der den Schluss bildete. »Ich kann es nicht mehr sehen.« »Ich weiß, warum«, grollte Balyndar und blieb stehen, hielt Ingrimmsch am Kragen fest. »Es ist vor uns!«

Die Kreatur aus Schilden, Speeren, Dolchen, Messern, Schwertern und zahlreichen weiteren Waffen bog um die Ecke. Sie hatte die ungefähre Form eines Skorpions mit sechs Scheren angenommen, die unablässig auf und zu schnappten.

»Entzückend«, machte Slin und deutete nach rechts. »Hier hinein. Die Gasse ist zu eng.«

»Dann wird es sich in eine... Schlange oder so etwas verwandeln«, antwortete Ingrimmsch wütend. »Es kann uns überall hin folgen. Das Wegrennen bringt nichts.« »Doch. Wir behalten so lange unser Leben, bis uns eingefallen ist, was wir gegen das Scheusal tun können«, schnaufte der Vierte.

»Erschieß es doch mit deiner Armbrust«, fuhr ihn Balyndar an. »Mit deiner Ausdauer ist es von uns allen am schlechtesten bestellt.«

Ingrimmsch dachte fieberhaft nach. Hiergegen half nur Magie, aber solange sie den Weg zurück zur Königin nicht fanden, war alles Rennen vergebens. Es raubte ihnen die Kräfte, bis sich das Wesen aus Stahl über sie hermachen und ihnen das Fleisch von den Knochen schaben würde. Er sah seinen Krähenschnabel am Ende des Giftstachels sitzen, Balyndars Morgenstern baumelte ebenso daran. »Was hilft gegen Eisen?«, sinnierte er rastlos, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. »Rost?«, meinte Balyndar spöttisch. »Ein gewaltiger Ziehstein!«, rief Slin. »Welch ein Vorschlag! Woher sollen wir einen derartigen Ziehstein nehmen, an dem geschätzte vierhundert Sack Eisen und Stahl hängen bleiben?«, nörgelte der Fünfte. »Und woher soll dein Rost geflogen kommen?«, murrte Slin zurück.

Da die künstliche Kreatur sich ihnen näherte, rannten sie wieder los.

Ingrimmsch fand den Einfall mit den Ziehsteinen nicht schlecht. Sie waren aus einem Mineral, das an Metall haftete und das berührte Metall danach selbst an Eisen haften ließ, außer an Gold, Silber und anderen Metallen von hohem Wert. Um diesen Feind aufzuhalten, bedarf es eines Berges aus Ziehsteinen. Es ist Zeitverschwendung, auf ein solches Wunder zu hoffen. Und Zeit haben wir wahrhaftig nicht!

»Wir trennen uns«, befahl er.

»Wird es sich dann nicht auch teilen?«, jammerte Slin sofort.

»Du bist immer noch der Zwerg mit einer Waffe von uns drei. Wir können es höchstens mit Steinen bewerfen.« Balyndar klang so wütend, wie Ingrimmsch sich fühlte. Da tat Slin etwas Seltsames: Er blieb stehen, ging auf ein Knie herab und hob die Armbrust. »Weiß jemand von euch, wo ein Skorpion sein Herz trägt?«, fragte er entschlossen und zielte auf das Wesen, das mit wirbelnden Waffen auf den Zwerg zuhetzte. Die Beine aus Schwertern schabten und klickten über den teilweise mit Platten versehenen Boden.

»Lass den Unsinn und komm.« Ingrimmsch wollte nach ihm greifen, aber der Vierte schüttelte seine Hand ab.

»Sag mir einfach, wo das Herz sitzt.«

Balyndar hob einen Stein auf und schleuderte ihn gegen die Kreatur. »Es ist ein Ding aus Magie und Eisen! Du kannst es nicht abschießen!«

Sie sahen, dass der Stein, kurz bevor er gegen den aus Schilden geformten Leib prallte, vom niederzuckenden Stachel getroffen und zum Zerplatzen gebracht wurde. »Ho, das war mein Krähenschnabel! Damit schlägt man nicht auf Stein!«, schrie Ingrimmsch.

Slin hatte sich selbst für eine Stelle entschieden. Er senkte den Lauf etwas, konzentrierte sich und betätigte den Abzug. Der Bolzen zischte davon.

Dieses Geschoss war auch zu schnell für die Reflexe des Gegners. Es sirrte zwischen zwei Schildrändern hindurch in die Mitte des Leibes. Es klirrte, und mitten im Laufen zerfiel das Gebilde in seine Einzelteile.

Doch den Schwung hatten die Schwerter, Dolche, Speere und anderen Klingen nicht verloren. Auf die drei Zwerge flog und wirbelte ein Waffenarsenal zu, dessen Masse schon ausgereicht hätte, um sie allein durch das Gewicht zu töten.

»Zur Seite!«, brüllte Ingrimmsch und warf sich durch eine verschlossene Haustür. Sie zerbarst unter dem Aufprall, und er fiel umgeben von Holztrümmern in einen Flur. Er spürte eine leichte Berührung am Fuß, aber der Schmerz blieb aus.

Schnell rollte er sich auf den Rücken, um nach seinen Begleitern zu sehen. Erleichtert atmete er auf, als er sie auf der anderen Seite in der Einfahrt unter einem Torbogen stehen sah. Der Weg, auf dem sie eben noch gestanden hatten, war übersät mit Waffen, die mitunter tief im Sand oder in zertrümmerten Platten staken.

»Ich werde niemals mehr etwas gegen eine Armbrust sagen. Oder Slin«, murmelte Ingrimmsch und stand auf, klopfte sich den Dreck von der Kleidung und trat in den Sonnenschein. Nun ließ sich das gesamte Ausmaß erkennen: Die umherfliegenden Waffen hatten sich sogar in die Wände gebohrt.

»Ich glaube es immer noch nicht«, sagte Balyndar und sah Slin zu, wie er grinsend die Armbrust nachlud. »Woraus sind diese Bolzen gemacht? Wir werden sie gegen Lot-Ionan benötigen.«

Plötzlich standen Coira und Mallenia in der Gasse und winkten ihnen zu. Damit war klar, wem sie die Rettung in Wahrheit zu verdanken hatten. Slin verzog das Gesicht, und der Fünfte lachte auf.

Sie nahmen sich ihre Waffen aus dem Durcheinander, vergaßen auch die Feuerklinge nicht und eilten zu den beiden Frauen.

»Da kamen wir gerade rechtzeitig«, sagte Mallenia mit Blick in die von Waffen gespickte Gasse. »Wir haben solche ähnlichen Kreaturen auch an unserem Rastplatz entdeckt.«

Vraccas, die kommt mir gerade recht! Ingrimmsch baute sich vor der Maga auf. »Sagtet Ihr nicht, dass es hier keine Magie gibt? Anscheinend versteht Ihr Euer Handwerk doch nicht so gut«, schimpfte er los, wurde aber von der Ido unterbrochen.

»Nicht jetzt. Wir müssen zurück, um den anderen gegen die Kreatur aus Wasser beizustehen. Uns folgte ein Wesen aus Steinen, das Coira bereits vernichtet hat.« Mallenia stützte die Freundin, deren Haut blassrosa war, trotz des Sonnenbrandes. Ingrimmsch befürchtete, dass sie so gut wie keine Kräfte mehr in sich trug. »Folgt uns.«

Die Zwerge sicherten nach hinten, und so ging es zu fünft über unglaublich viele Backsteine und geborstene Ziegel und um ein paar Ecken zum Marktplatz der Schmuckhändler. Mallenia erklärte ihnen, dass es sich dabei um das gesprengte Ungeheuer handelte, das die Frauen verfolgt hatte.

»Wird es noch für einen weiteren Spruch ausreichen?«, flüsterte die Ido unterwegs. »Wird es. Ich kann lediglich schwache Zauber sprechen, um mich zu schonen. Es genügt, um die Wesen zu zerstören, welche die Magie formt, aber nicht, sie dauerhaft zu vernichten. Wir müssen die Stadt verlassen«, gab sie atemlos zurück. »Die Felder sind an diesen Ort gebunden. In der Wüste sind wir in Sicherheit.«

Mallenia verwünschte Bumina und ihre Falle, in die sie gelaufen waren. Und die obendrauf auch noch Franek und nicht ihnen gegolten hatte.

Sie erreichten den Platz, auf dem die Pfützen überall standen. Auf dem Boden lag ein hustender Rodario, der seine Blätter einsammelte und sie dann fluchend wegwarf. Neben ihm stand Tungdil, Blutdürster in der Hand; von seiner Rüstung stieg Nebel auf, und die Haare hingen ihm nass vom Kopf, als habe er ein Bad genommen. »Was ist geschehen, Gelehrter?« Ingrimmsch half Rodario beim Aufstehen. »Die Magie kann meine Rüstung nicht leiden. Das Wasserwesen ist vergangen, als es mich umschließen wollte«, sagte er grimmig und blickte zu Coira. »Was ist Euer Rat?« »Weg von hier. Wir können die Magie nicht vernichten, aber sie muss dafür an diesem Ort verweilen«, sagte sie und hielt sich die Seite. Ihr rechter Unterarm fühlte sich an, als wäre er aus rohem Fleisch - was er auch tatsächlich war, wenn die Magie ihn nicht mehr zusammenhielt. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie das Gliedmaß verlor. »Dann soll es so sein, bevor der nächste...« Der Blick aus Tungdils Auge blieb an der Axt hängen, die Ingrimmsch in der Linken trug: Der Axtkopf glühte, die Intarsien leuchteten, und die Diamanten erstrahlten hellen Sternen gleich. »Was, bei den Infamen...?«

Ingrimmsch bemerkte das Verhalten der Feuerklinge im selben Augenblick. »Das hat sie vorhin nicht getan«, wunderte er sich und entdeckte Barskalin, der aus dem Haus trat. »Ah, das erklärt es. Die Axt kann die Zhadär nicht leiden.« Er hob sie an und betrachtete sie bewundernd. »Bei Vraccas! Es ist die richtige Feuerklinge!«, rief aus, als er verstanden hatte, was er sah. »Gelehrter, deine alte Waffe ist wieder zu dir zurückgekehrt!« Er ging zu dem Einäugigen und hielt sie ihm hin. »Nimm sie. Sie hat ihren rechtmäßigen Herrn wieder. Einem Großkönig steht sie zudem sehr gut!« Tungdil betrachtete die Axt, und Boindil meinte, Furcht in seinem Auge erkannt zu haben. »Gib sie Balyndar«, ordnete er schleppend an. »Meine Waffe ist Blutdürster.« »Gelehrter!«, rief Ingrimmsch entsetzt. Ein erneuter Rückfall!

»Blutdürster kennt mich seit Hunderten von Zyklen, und ich kenne ihn. Wir sind aneinander gewöhnt.« Er wies auf den Fünften. »Da steht der Sohn der Zwergin, die an der Entstehung der Feuerklinge beteiligt war. Das wird die Axt spüren und ihm gute Dienste leisten wie einst mir.« Er rief Barskalin zu sich und gab den Befehl, sofort aufzubrechen.

Ingrimmsch drückte Balyndar den Stiel in die Hand. Der Axtkopf schimmerte noch immer, und das würde er vermutlich tun, solange die Zhadär in der Nähe waren. Oder Tungdil, setzte ein kleines Zweifelstimmchen hinzu. »Achte auf sie«, war alles, was er bei der Übergabe an den Zwerg sagte.

Balyndar sah man die Rührung und die Ehrfurcht an, mit der er sie packte und an sich nahm. »Vraccas, ich schwöre dir, dass ich deine Feinde und die meines Volkes vernichten werde, wann immer es nötig sein wird«, sagte er getragen und warf seinen Morgenstern weg, um Platz zu schaffen. Er würdigte Tungdil nicht eines Blickes und verschwendete kein Wort des Dankes für die mehr als großzügige Geste an ihn. Die Gruppe eilte nach Osten, um der Stadt und ihren magischen Hinterhalten zu entkommen. Es war der kürzeste Weg hinaus. Die Augen der Zwerge, Menschen und Zhadär waren überall, nichts sollte übersehen werden.

Vor Coira drehte sich und schwankte der Boden. Sie hielt sichan Rodario fest und wollte noch etwas sagen, dann verließen sie die Kräfte; er schulterte sie und lief weiter.

Vor ihnen erschien die Wüste, mehr als vierzig Schritt bis zum Ausgang aus der Siedlung waren es nicht mehr.

»Gleich sind wir entkommen«, freute sich Ingrimmsch. »Da kann unsere Maga auch gerne weiterschlafen! Ho, das hätte mir...«

Ein alter Bekannter in neuer Gestalt schob sich ihnen in den Weg. Messer, Schilde, Schwerter und Spieße hatten sich zu einer vier Schritt hohen Gestalt formiert, die auf drei Beinen lief und einen gedrungenen Leib besaß. Die vier Arme ragten der Gruppe mehrere Schritt weit entgegen, und an ihren Enden drehten und rotierten die Klingen so schnell, dass sie nichts weiter waren als metallisches Schimmern. Sie pfiffen und summten laut, der Wind peitschte den Staub auf der Straße auf.

»Keine Zeit, die Maga zu wecken!«, befahl Tungdil und deutete auf die nächste Gasse. »Verteilt euch. Wir müssen an dem Biest vorbei. Sobald wir in der Wüste sind, geschieht uns nichts mehr.«

»Achtet auf eure Waffen«, rief Ingrimmsch als Warnung hinterher und umklammerte den Krähenschnabel so fest er nur konnte. »Du haust mir nicht mehr ab. Und wenn doch, nimmst du mich mit, und wir zerlegen dieses Magieungeheuer.« Die Flucht begann.

Die Gruppe sprengte auseinander, jeder suchte sich einen Weg am Feind vorbei. Ingrimmsch, Slin und Balyndar hatten beschlossen, Rodario zu begleiten. Sie trauten dem Schauspieler trotz aller Heldenhaftigkeit nicht zu, die ohnmächtige Frau schnell genug tragen zu können, um unbeschadet an dem tödlichen Wesen vorbeizugelangen. Ingrimmsch sah nach dem Feind, der sich die einfacheren Ziele ausgesucht hatte. Die wirbelnden Schneiden schnitten zwei Zhadär in kleine Fetzen. Dass etliche Klingen dabei zersprangen und Schäfte an den Rüstungen abbrachen, störte die künstliche Kreatur nicht weiter. Die einzelnen Teile wurden abgestoßen und durch neue Waffen aus dem Arsenal ersetzt; die Innereien und Fleischbrocken der Getöteten flogen schrittweit durch die Gegend.

»Lasst euch bloß nicht von dem Viech erwischen«, sagte er gehetzt zu seinen Begleitern. Sie erreichten die rettende Wüste.

Rodario hielt erst an, als er zwanzig weitere Schritte in dentiefen Sand hineingemacht hatte und ihm die Kraft ausging. Er sank auf die Knie und ließ Coira zu Boden gleiten, dann wandte er sich um und sah zur Stadt. Er und die drei Zwerge beobachteten machtlos, wie das Klingenungeheuer unablässig seine Form änderte, um in die kleinsten Sträßchen zu gelangen, und sich einen Zhadär nach dem anderen schnappte. Die Unsichtbaren schienen das bevorzugte Opfer zu sein. Während nach und nach Tungdil, Franek und Mallenia aus verschiedenen Gassen gelaufen kamen und zu ihnen stießen, warteten sie auf Barskalin und seine Truppe vergebens. Als hätte die Eisenkreatur nicht ausgereicht, stapfte ein hausgroßes Wesen aus Sand die Hauptstraße entlang.

»Der Stänkerer«, rief Ingrimmsch und deutete nach links, wo drei Zhadär aus einem Hof gelaufen kamen und sie bald darauf erreichten.

Mehr aber wurden es nicht.



Das Jenseitige Land, die Schwarze Schlucht, Festung Übeldamm, 6492. Sonnenzyklus, Spätfrühling.


Goda saß in ihrer Kammer und sortierte die neuesten Nachrichten, welche sie aus dem Geborgenen Land erhalten hatte. Müsste sie deren Inhalte in kurzen Worten zusammenfassen, würde sie sagen: Überall verlief es besser als bei ihnen. Verhaltene Aufstände waren gegen die Lohasbrander in Weyurn und Tabain losgebrochen, bis die Menschen bemerkten, dass sich weder ein Drache noch weitere Orks zur Verstärkung blicken ließen. Niemand hielt den Sturm mehr auf, den die Truppe aus Rodarios Nachfahren entfesselt hatte.

Zwar gab es Tote und Verletzte, aber die Menschen aus den unterdrückten Gebieten hatten die Schweineschnauzen ins Rote Gebirge zurückgeschlagen. Die Lohasbrander und deren Vasallen wurden nach kurzen Gerichtssitzungen meistens hingerichtet. Goda fand es erstaunlich, dass sich die Befreiten nach zweihundert Zyklen noch die Mühe machten und Gerichte zur Bestrafung einberiefen. Das Rote Gebirge befand sich wieder in der Hand der Kinder des Schmieds. Denn von dort war die nächste Botschaft gekommen: Xamtor, der sich als König der Ersten bezeichnete, meldete sich und ließ sie wissen, dass die Orks, die ihr Heil in der Flucht vor den Menschen Weyurns und Tabains gesucht hatten, vernichtet worden seien. Goda nahm eine Karte des Geborgenen Landes zur Hand und berührte den Westen des Reiches. Die Ketten dort waren gesprengt. »Vraccas, nimm deinen Schutz jetzt nicht von uns«, bat sie und rief »Herein!«, als gegen ihre Tür geklopft wurde. Kiras trat ein. Sie trug ein Stirnband, um die Brandwunde auf ihrer Haut zu verbergen. »Du hast mich suchen lassen?«

»Ja.« Sie schob ihr einen Stuhl hin. »Was machen meine verletzten Kinder? Du warst sicherlich eben bei ihnen.«

Die Untergründige setzte sich zur Maga. »Aber... die Sitzwache sagte mir, dass du heute Morgen erst nach ihnen gesehen hast.«

»Das war heute Morgen.«

Kiras legte ihre Hand auf Godas. »Es geht deinem Sohn schon besser, und Sandas Verstand erholt sich weiter von den Grausamkeiten, die man ihr angetan hat. Bald wird sie die Alte sein. Bis auf ihre Finger, die sie sich in ihrer anfänglichen Umnachtung abtrennte.«

Beide wussten, dass es niemals mehr so sein würde.

»Es gibt Neuigkeiten. Gute Neuigkeiten.« Goda reichte ihr die Briefe und öffnete einen weiteren; schnell überflog sie die Zeilen. »Oh, gut. Das Feuer der Freiheit hat die Grenze übersprungen und Gauragar erreicht. Die Dritten haben ihre Garnisonen verlassen und sich ins Schwarze Gebirge zurückgezogen, um nicht gegen die Menschen kämpfen zu müssen. Den Berichten nach«, sie gab das Schreiben an Kiras, »sind die Süd-Albae bereits kurz vor der Festung Ogertod.«

»Was uns fehlt, ist eine Nachricht von Ingrimmsch.«

»Ja. Und das beunruhigt mich sehr.« Goda lauschte in sich hinein, um zu erfühlen, ob ihr Gefährte tot oder lebendig war. Da sie keinerlei Anzeichen für etwas Schlechtes spürte, ging sie davon aus, dass er und die Gruppe sich unbeirrbar ihrem Ziel näherten: Lot-Ionan. »Doch ich weiß, dass sie siegen werden.«

»Dann ist es ja gut. Wir brauchen die Hilfe eines Magus...« Sie sah zu Goda.

Die Zwergin probierte sich an einem Lächeln. »Ich weiß, wie du es meinst.« Kiras erwiderte die Freundlichkeit. »Die Wachen melden, dass unter der Barriere alles ruhig geblieben ist. Die Scheusale haben nicht versucht, neue Lager zu errichten. Anscheinend hat ihnen der Angriff auf das Nordtor eine derart blutige Schnauze verpasst, dass sie sich zurückgezogen haben, um ihre Wunden zu lecken.« Goda war erleichtert. Sie besaß lediglich einen Diamantsplitter - denjenigen, den sie im Treppenhaus beim Sturz verloren hatte. Doch sie fand ihn nicht mehr, und das trotz der Heerschar von Suchenden, die auf Knien hoch und runter gekrochen waren. Niemand wusste von der misslichen Lage in Sachen magisches Reservoir. »Ich frage mich, wie stark ich den Zwerg verwundet habe. Mag das der Grund sein, weswegen sie sich mit Angriffen zurückhalten?«

»Er hat gesehen, welche Macht du besitzt. Er wird angenommen haben, leichtes Spiel mit der Verteidigung zu haben. Jetzt weiß er es besser.« Die Untergründige rückte am Stirntuch herum, bis es so saß, wie sie es wollte.

Goda schaute auf ihren kahlen Kopf. »Schmerzen?«

»Nein. Nur ein heißes Gefühl und ein Druck, der von der Wunde ausgeht«, schwächte Kiras ab. »Was mir zu schaffen macht, ist der Gedanke, dass ich ein Symbol mit mir herumtrage, von dem ich nicht weiß, was es bedeutet.« Sie sah die Maga an. »Deswegen werde ich später zum Heiler gehen und es mir zerschneiden lassen. Am Ende hat mir der Zwerg etwas eingebrannt, mit dem er Besitz von mir ergreifen kann. Das lasse ich nicht zu.«

»Ich denke zwar nicht, dass es etwas Magisches ist, doch ich verstehe deine Vorsicht.« Sie lächelte. »Du wirst den Offizieren bei der Besprechung von den Nachrichten erzählen. Deswegen habe ich dich rufen lassen.«

»Du wirst nicht dabei sein? Was soll ich ihnen sagen, wenn sie nach dir fragen?« »Einer Sache auf den Grund gehen, das tue ich.« Sie stand auf und brachte Kiras zur Tür. »Und ich kann dir nicht sagen, wie lange es dauert.« Sie sah der Untergründigen an, dass sie zu gern gewusst hätte, was sich hinter der Andeutung verbarg, doch sie wollte nicht weiter darüber sprechen.

Nachdem sie allein war, umwickelte Goda ihre Knie mit dicken Lagen Stoff und polsterte sie, das Gleiche tat sie mit ihren Händenund ließ die Finger frei. Danach machte sie sich ins Treppenhaus auf, um nach dem Diamantfragment zu suchen.

Mehr denn je war sie auf dessen Kraft angewiesen, und den Verlust durfte sie nicht hinnehmen.

Die Zwergin war von der Gewissheit beherrscht, dieses winzige Stückchen zu finden, und wenn es sie viele Umläufe kostete. In der nächsten Schlacht mochte es auf exakt diesen Splitter ankommen.

Aber als sie durch ihre Räume schritt, kam ihr der unschöne Gedanke, dass einer ihrer Leute den Splitter bereits gefunden und an sich genommen haben könnte. Ohne es ihr zu melden. Sanda soll im Treppenhaus gewesen sein.



Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Sangrein, Südwesten, 6492. Sonnenzyklus, Spätfrühling.


Das Blaue Gebirge war nicht mehr ein dunkles, fernes Band am Horizont und einfast unsichtbares Versprechen, dass es die Gipfel überhaupt noch gab, sondern mittlerweile ein kleines, erkennbares Gebirge, das sich am Ende der Wüste in die Höhe schob. Gleich einer rettenden Insel in einem Meer aus Sand.

»Was denkst du, Gelehrter? Achtzig Meilen bis zur Festung?« Ingrimmsch fühlte, dass sein Kettenhemd lockerer saß. Alle hatten an Gewicht verloren; die Nahrung, die sie unterwegs zu sich genommen hatten, war leicht und die Anstrengung groß gewesen. »In etwa. Aber wir werden nicht nach Ogertod gehen.« Er winkte Franek zu sich. »Du meintest, wir sollten einen anderen Weg wählen?«

Der Famulus nickte. »Bumina hat einen bestimmten Pfad genommen, wenn sie unbemerkt von Lot-Ionan die Stollen verlassen und ihren Experimenten nachgehen wollte.«

Ingrimmsch machte eine Grimasse. »Die gleiche Bumina, die uns die Falle im Wüstenstädtchen gelegt hat, weil sie wusste, dass du dorthin zurückkehrst?« »Sie wusste nicht, dass ich ihr Geheimnis kenne«, gab Franek zurück. »Es ist ungefährlich.« »In diesem Land ist nichts mehr ungefährlich«, grollte Ingrimmsch und trat in den Sand. »Sogar die Körnchen hier können einen umbringen.«

»Aber die Zeiten, in denen es friedlich sein wird, kommen wieder.« Tungdil setzte sich in Bewegung und ließ den Famulus vorangehen.

Die Gruppe war stark zusammengeschmolzen, und damit schwand auch ein gutes Stück der Zuversicht, welche sie mit sich geführt hatten. So erschien es zumindest Ingrimmsch. Der Einzige, der unbeirrbar am Erfolg ihrer Mission festhielt, war ausgerechnet derjenige, der zuerst nicht hatte gehen wollen und dem er nicht voll vertraute: Tungdil Goldhand.

Von den Zhadär waren ihnen zwei geblieben; Ingrimmsch hatte sie Stänkerer, Keucher und Knurrer genannt. Der Keucher hatte eines Morgens tot neben dem Lagerfeuer gelegen, seine Hände hielten den Trinkschlauch mit dem besonderen Inhalt umklammert.

Tungdil hatte angenommen, der Unsichtbare sei verdurstet, doch Ingrimmsch wusste es besser. Leider. Ein ähnliches Schicksal befürchtete er für sich, aber der grauenhafte Durst war ausgeblieben. Bislang.

»Was für eine Heldenschar«, murmelte er vor sich hin. Die bis ins Mark erschöpfte Maga musste mehr getragen werden, als dass sie aus eigener Kraft gehen konnte, vermutlich würde man sie später zur Quelle schleifen. Hoffentlich treffen wir vorher weder auf diese Bumina noch auf Vot.

Sie setzten ihren Marsch fort und schwenkten bei Einbruch der Nacht nach Süden ein, um sich in den darauffolgenden Umläufen dicht an den Gebirgsausläufern entlangzubewegen; endlich sahen sie die Festung Ogertod keine zehn Meilen mehr von ihnen entfernt.

Und sie wurde bereits belagert!

Aiphatön hatte seine Truppen in einem Blitzmarsch in den Süden verlegt. Ingrimmsch und Tungdil betrachteten das Heerlager, das in großem Abstand zur Festung errichtet worden war. Auch in den Berghängen rechts und links der Mauern machten sie Unterkünfte der Albae aus.

»Belagerungsgeräte haben sie keine dabei«, sagte Ingrimmsch verblüfft. »Denken sie, dass Lot-Ionan freiwillig öffnet?«

»Aiphatön hat den Magus einmal geschlagen. Also zeigt sich Lot-Ionan nicht in einem offenen Kampf, sondern wird die Albae in die Stollen gehen lassen, um ihn darin anzugreifen«, schätzte Tungdil. »Lot-Ionans Famuli werden die Türwächter spielen müssen, während er in aller Ruhe abwarten kann, was geschieht.« »Wie viele Schwarzaugen sind es?« Balyndar zog die Schlaufe fester, mit der er den Sack über den Kopf der Feuerklinge befestigt hatte. Sie leuchtete von morgens bis abends und fühlte sich durch die Anwesenheit der Zhadär sehr gestört. Um in der Dunkelheit nicht so auffällig wie eine gleißende Blendlaterne zu sein, hatte er sie verhüllt.

»Schwierig. Aber fünfzigtausend werden es schon sein.« Ingrimmsch reichte ihm das Fernglas. »Sie können nicht lange mit dem Angriff warten. Der Proviant und das Wasser werden einer solchen Masse an Kriegern in der Wüste schnell ausgehen.« »Ein Vorteil für Lot-Ionan«, befand Mallenia. »Er kann sie kommen lassen. Und für Aiphatön ist es umso besser. Wenn er die Albae aus dem Süden wirklich nur loswerden möchte, kann er ihre Vorräte vergiften.«

Ingrimmsch lachte. »Du bist gefährlich, Prinzessin.«

»Ich habe für den Widerstand gekämpft. Wir haben vieles getan, um die Feinde zu töten. Egal wie und wo«, erwiderte sie.

Franek sagte Tungdil, in welche Richtung er sehen musste, um den Pfad zu erkennen. »Wir werden ihn heute noch erreichen. Nach einigen Schritten öffnet sich in ihm eine kleine Kaverne. Darin werden wir rasten und können nicht mehr von zufälligen Beobachtern gesehen werden.«

Sie gingen weiter, einer hinter dem anderen, um keine auffällige Spur zu hinterlassen. Die Albae sandten sicherlich ihre Späher weit aus.

Slin summte eine Zwergenweise vor sich hin. Es war die Melodie, die er die ganze Zeit über von Ingrimmsch vorgesungen bekommen hatte. »Es müsste ja mit Tion zugehen, wenn wir unser Ziel nicht erreichen«, sagte er überzeugt und ansatzlos zu Balyndar. »Helden, Waffen, wie es sie sonst nirgends gibt, und der Beistand von Vraccas«, zählte er seine Gründe auf.

Ingrimmsch ahnte, dass der Vierte es sagte, um sich und ihnen allen Mut zu machen. Jede andere Gruppe hätten die zahlreichen Verluste sicherlich verzagt umkehren lassen. »Gewiss«, stieg er darauf ein. »Aber jetzt lasst uns schweigen. Die Spitzohren hören gut, und der Wind steht günstig für sie.« Ohne ein weiteres Wort wanderten sie im Mondenlicht durch die steinige Umgebung und fanden unter Franeks Führung den Pfad. Nach nicht allzu langem Marsch bog er in einen kleinen Durchgang ein und wies ihnen die Unterkunft für diese Nacht. Die Höhle war fast rund, maß sieben Schritt im Durchmesser und war gerade so hoch, dass der Famulus darin stehen konnte.

»Entzückend! Wie für uns geschaffen«, meinte Slin und tätschelte die Höhlenwand. »Es ist schön warm hier drinnen. Frieren werden wir schon mal nicht.«

Sie bereiteten sich auf die Nachtruhe vor und entzündeten zwei Fackeln, um etwas Licht zu haben.

Tungdil teilte die Zhadär, Ingrimmsch und sich selbst zur wechselnden Wache ein. Die erschöpften Menschen sollten sich ausruhen, um genügend Kräfte für die Reise durchs Gebirge zu sammeln. Mit Franek besprach er anhand der Karte ihre Strecke, die in sehr gerader Linie in das Blaue Gebirge führte.

Ingrimmsch kam hinzu und besah die Zeichnung. »Den Weg kenne ich nicht«, räumte er ein. »Er muss angelegt worden sein, nachdem ich ins Jenseitige Land bin, um Übeldamm zu errichten.« Er wies auf die Stelle, wo sich der Eingang in das Stollensystem befand. »Eine solche Schwächung der Verteidigungsanlage hätte unser Volk niemals vorgenommen. Da merkt man gleich, dass den Langen der Sinn für so etwas vollkommen fehlt.«

»Bumina hat ihn nicht angelegt«, widersprach Franek. »Es wäre Lot-Ionan aufgefallen, wenn Steinarbeiten durchgeführt worden wären.«

»Dann war es Aiphatön, als er den Magus überraschte.« Ingrimmsch weigerte sich beharrlich, dem Pfad einen zwergischen Ursprung zugrunde zu legen. »Ich sage es noch einmal: Die Zweiten hätten einen solchen Weg, der zwar nicht ins Herz, wohl aber in den Leib des Reiches führt, niemals angelegt! Niemals!« Er kreuzte die Arme und hatte die Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammengezogen.

»Das ist mir, gelinde ausgedrückt, einerlei«, meinte Tungdil. »Er ist da, wir können ihn benutzen, und das werden wir auch tun. Morgen.« Er sandte die Zhadär hinaus, damit sie die Wache begannen. Sein nächster Blick galt den Menschen, die sich in einer Ecke zusammengekauert hatten. Rodario lag in der Mitte, Mallenia rechts und Coira links von ihm. »Wir haben die Feuerklinge«, sagte er behutsam. »Hätten wir früher gewusst, welches Glück uns zuteilwird, hätten wir die Königin nicht in Gefahr bringen müssen. Balyndar führt die Waffe, die gegen Lot-Ionan besser nicht sein könnte.«

»Aber sie wird vom Falschen gehalten«, ließ sich Ingrimmsch hinreißen. »Das habe ich dir schon erklärt.« Der Einäugige erhob sich. »Und ich bleibe dabei. Die Feuerklinge ist bei ihm gut aufgehoben.« Er ging zur gegenüberliegenden Wand, setzte sich auf seine Decke und schloss das Lid. Seine Art zu zeigen, dass er allein sein wollte. Das wird kein gutes Ende nehmen. Die Axt gehört zu dir, nicht dieses Albae-Ding in deinen Händen. Ingrimmsch wischte sich über das Kettenhemd, kehrte zu Slin und Balyndar zurück. »Da die Zhadär weg sind, kann ich einen Blick darauf werfen, ohne dass wir alle geblendet werden«, sagte der Fünfte und zog die Hülle vom Axtkopf.

Die Intarsien schimmerten noch immer.

Die drei schauten zum schlafenden Tungdil hinüber.

Slin sagte, was er dachte. »Sie will uns doch nicht etwa vor ihm warnen?« Seine Stirn legte sich in Falten. »Wie könnte er ein Feind unseres Volkes sein?«

»Ich wusste es«, grollte Balyndar und verpackte die Feuerklinge wieder. »Von Anfang an habe ich diesem Zwerg, der sich als Goldhand ausgibt, nicht getraut...« »Haltet ein, ihr Gnomenhirne!«, unterbrach Ingrimmsch. »Die Klinge kann genauso gut auch den Famulus meinen.« Oder mich, fügte er in Gedanken hinzu. Er wollte den Verdacht weder auf sich noch auf den Freund lenken. »Ich traue ihm nämlich weniger als meinem Gelehrten.«

»Hm«, machte Slin und war verunsichert.

Sie aßen etwas und teilten sich ihr Wasser, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Ingrimmsch betrachtete Tungdil kauend, das Gesicht, die tiefen Linien, die goldene Augenklappe und die braunen, langen Haare. Ich verliere nicht jetzt meinen Glauben an dich. Die Feuerklinge meldet uns eine andere Gefahr, sie kann nicht dich meinen.

Ein schlanker menschlicher Umriss erschien am Eingang und betrat gebückt die Höhle, in der Linken hielt er einen Speer.

»Schwarzauge!«, brüllte Ingrimmsch, sprang auf die Füße und riss den Krähenschnabel hoch. »Blinde Zhadär! Ich werde sie mir...« »Langsam, Boindil Zweiklinge«, sprach der Alb zu ihnen und trat näher in den Feuerschein. Die in den Körper eingearbeitete Rüstung war einmalig: Aiphatön! »Ich bin nicht hier, um euch zu schaden, sondern euch zu unterrichten, was geschehen wird.«

Tungdil stand bereits, doch er sah sehr entspannt aus. »Ich habe dein Kommen erwartet, Kaiser.«

»So? Hast du das? Ich nicht«, grummelte Ingrimmsch und stellte den Krähenschnabel mit Schwung ab. »Wie hat er uns gefunden?«

Aiphatön deutete auf den Ausgang. »Meine Späher meldeten eine kleine Gruppe, die sich dem Blauen Gebirge von Westen nähert. Ich ahnte, dass ihr es seid, folgte den Spuren und fand euch hier vor.« Er ließ den Blick schweifen. »Mehr sind es nicht?« »Nein. Wir haben viele Zhadär in einem Gefecht verloren, und die Schwarze Schwadron ist nicht zu uns gestoßen«, entgegnete Tungdil. »Hast du etwas von Hargorin Todbringer gehört?«

»Nein. Bei uns kam er nicht an.« Aiphatöns schlankes Albgesicht wandte sich zu Tungdil. »Ich beginne morgen mit dem Angriff. Es hat sich herumgesprochen, dass die Aufstände im Westen des Geborgenen Landes auch auf Gauragar und meine anderen Besitztümer übergreifen. Auch dass die Dritten ihre Posten verlassen haben und sich in ihre Festungen im Schwarzen Gebirge zurückziehen, wurde vernommen. Die Albae wollen daher die Pforte schnell öffnen, um Nachschub an Kriegern zu erhalten und die Lage unter Kontrolle zu bekommen, ehe die Aufstände nur mit einem langwierigen Krieg zu beenden sind.« Er setzte sich, weil ihm das gebückte Stehen nicht länger gefiel. »Stimmt es tatsächlich, dass Lohasbrand tot ist?«

»Ja. Und zwar schon sehr lange.« In aller Kürze erklärte Tungdil dem Alb, was sie in den letzten Umläufen alles erlebt hatten; auch dass sie einen der Dsön Aklän getötet hatten, verheimlichte er nicht.

»Dennoch sind es zwei der Drillinge, die noch leben.« Er sah zu Mallenia, die einen Fluch auf den Lippen hatte. »Tirigon hat Euren Schuss überlebt und sich in Dsön Bharä auskuriert. Ich werde ihn für Euch töten, Prinzessin. Es liegt auf meinem Weg«, sagte er freundlich. »Aber von Firüsha habe ich nichts mehr vernommen. Sie liegt anscheinend wahrhaftig auf dem Grund des Sees.«

»Elria möge sie tiefer sinken lassen als den schwersten Stein und von Fischen zerfressen lassen«, murmelte Ingrimmsch leise. »Ach ja: und Seenstolz auf sie fallen lassen, wenn wir gerade schon dabei sind.« Aiphatön erläuterte seinen Angriffsplan vor ihnen, und er klang furchtbar einfach: »Stürmen. Von drei Seiten gleichzeitig.«

»Er hat noch zwei Famuli zu seiner Verteidigung. Einen haben wir getötet, einer steht auf unserer Seite. Sie werden euch mit Zaubern eindecken.« Tungdil setzte sich dem Alb gegenüber. »Du hast fünfzigtausend Mann mit dir?«

Aiphatön nickte. »Und wenn es nur zehntausend bis in die Stollen schaffen, bin ich nicht unglücklich, wie du weißt. Ich werde den Angriff führen«, er legte die Linke gegen seine Rüstung, »und die Sprüche, die sie gegen mich schleudern, abfangen und zurückschicken, wie ich es seinerzeit mit Lot-Ionan getan habe.«

»Sie werden ihre Magie vielmehr gegen deine Krieger schicken.« Tungdil sah ihn an. »Werden sie nicht flüchten, wenn sie die Ausweglosigkeit ihrer Attacke erkennen?« »Ich habe ihnen gesagt, dass wir schnell sein müssen, um den Tod zu entkommen. Wir Albae sind schnell«, sagte Aiphatön ruhig.

»Kein Wunder, bei den langen Beinen.« Ingrimmsch spielte mit seinem Bart. »Da kann ja jeder schnell sein. Aber dafür schlagt ihr euch im Tunnel den Schädel an!« Der Kaiser bedachte den Zwerg mit einem Grinsen. »Immer noch der Alte.« Tungdil hatte sich anscheinend neue Gedanken gemacht. »Deine Krieger sind genügend angespornt, um in die Tunnel zu gelangen. Aber du hast dann keinerlei Kontrolle mehr über sie. Was ist, wenn sie Lot-Ionan finden und ihn töten? Du weißt, dass wir den Magus lebendig benötigen.«

»Ich sagte ihnen, dass wir ihn lebendig benötigen, um das Tor zu öffnen. Das ist ihnen Anreiz genug.«

Ingrimmsch räusperte sich. »Was geschieht, wenn der Anreiz so gut war, dass es ihnen gelingt? Wie sollen wir den Magus aus den Fängen von Zehntausenden Albae befreien?« Er streichelte seinen Krähenschnabel. »Ho, halte mich nicht für einen Feigling, Kaiser der Schwarzaugen. Ich mag Herausforderungen, und ich mag es auch, viele Gegner gegen mich zu haben. Aber gleich so viele? Und dazu noch mit diesen... Fertigkeiten?«

»Darüber habe ich auch eben nachgedacht«, gestand Tungdil, dessen linker Zeigefinger gegen die Augenklappe pochte und ein helles Klingen verursachte. »Ich habe Vorsorge getroffen, dass die meisten von ihnen den Kampf nicht überstehen. Es gibt giftige Substanzen, von denen ein Tropfen in einem See ausreicht, um jeden, der daraus trinkt, zu töten.« Der Alb sah Tungdil an. »Die Wasservorräte meiner Krieger sind mit diesem Mittel versetzt. Nach zwei Umläufen werden sie sterben und tot in der Wüste oder im Blauen Gebirge liegen. Das wäre dann der Augenblick, in dem ihr den Magus von mir haben könnt.«

»Das ist ein Wort!«, rief Ingrimmsch erleichtert. Aiphatön hatte denselben Gedanken wie Mallenia gehabt. »Und du willst danach wirklich allein nach Dsön Bharä gehen, die Nord-Albae ausrotten und für immer verschwinden?«

Aiphatön fand die Unbekümmertheit des Zwerges unterhaltsam, wie man ihm deutlich ansah. Er nahm ihm die Frage nicht übel. »Das werde ich tun, Boindil Zweiklinge. Ich gehe und nehme dem Geborgenen Land ein Übel.«

»Das wird ein aufregender Umlauf«, freute sich Ingrimmsch und rieb sich die Finger. »Und danach nichts wie nach Norden!«

Der Alb erhob sich und nickte ihnen zu. »Ich kehre zurück und werde meinen Leuten eröffnen, dass ich Händler vorgefunden und getötet habe. Ihr seid zumindest vor Nachstellungen durch meine Krieger sicher.« Er verabschiedete sich mit einem Heben der Hand, dann verließ er die Kaverne.

»Mallenia hat mit ihrer Vermutung und dem Gift genau ins Schwarze getroffen.« Ingrimmsch freute sich, dass der Alb verschwunden war. »Früher oder später bekommen wir Lot-Ionan, Gelehrter.«

Tungdil nickte. »So ist es.« Er legte ihm vertrauensvoll die Hand auf den Rücken, und das Braun seines Auges blickte freundlich auf ihn. »Ruhe dich aus, mein Freund. Du hast den Schlaf so bitter nötig wie Rodario und seine beiden Frauen.«

Nicht einmal der Ansatz von bunten Wirbeln und Sprenkeln. Ingrimmsch unterdrückte ein Gähnen. »Das tue ich. Aber vergiss nicht, mich zu wecken. Den Zhadär die Wache allein zu überlassen, möchte ich nicht. Wir haben ja gesehen, dass sie das gefährlichste Langohr des Geborgenen Landes ohne eine Warnung in unser Lager spazieren lassen«, sagte er übertrieben und gestikulierte dazu. »Die famosen Zhadär! Ha! Zwei haben wir noch, und gegen was sind sie gefallen? Gegen magische Kreaturen.«

»Die Einzigen, die wohl einen derartigen Sieg über die Unsichtbaren erringen konnten«, vermutete Tungdil. Er überlegte. »Wir werden unsere letzten beiden im Kampf schonen.«

»Was? Ich habe mich verhört, Gelehrter!«

»Der Stänkerer und der Knurrer, wie du sie nennst, kennen alle Geheimnisse der Dsön Aklän«, sagte er nachdrücklich. »Wenn Aiphatön scheitern sollte, sind wir auf ihr Wissen angewiesen, um uns die Schwarzaugen vom Hals zu schaffen. Erst dann wird das Geborgene Land Ruhe finden.«

Er blickte bestürzt. »Heißt das, ich muss auf den Stänkerer und den Knurrer aufpassen und nicht umgekehrt?«

Tungdil deutete Beifall an und rutschte auf sein Lager zurück.

»Wenn das so weitergeht, trinke ich freiwillig aus der Wasserflasche eines Albs.« Ingrimmsch bohrte sich im Ohr und stapfte zu Slin und Balyndar, um ihnen zu verkünden, was besprochen worden war.

Загрузка...