XXII

Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Rän Ribastur, Nordwesten, 6492. Sonnenzyklus, Frühling.


Rodario zuckte zurück und sah zu Mallenia. »Da drinnen sitzt ein Mann!« »Sicher?« Er beugte sich noch näher über die Holzverstrebung und musterte das fremde Gesicht. »Ganz sicher. Die Bartstoppeln machen es sehr eindeutig.«

»Dann wird es wohl nicht die Königin sein. Es sei denn, sie hätte sich mithilfe ihrer Magie verwandelt.« Mallenia begab sich zum Fenster, um einen Blick auf ihren Fund zu werfen.

Sie schätzte den Mann auf Ende dreißig; einst musste das, was er um seinen Körper trug, eine sehr teure, malachitfarbene Robe gewesen sein. Doch nun war sie zerrissen und durchgescheuert, Dornen hatten Löcher und der Waldboden Flecken hinterlassen. Den dunkelblonden Schopf hatte er mit einer Lederkappe bedeckt, die speckig und abgegriffen war.

»Wie ist dein Name?«, verlangte sie zu wissen.

Der Mann zuckte zusammen und kroch tiefer in den Raum hinein; Asche raschelte unter seinen Füßen und Händen.

Rodario erkannte vier Ringe an den Händen, die sehr kostbar sein mussten. »Ein armer Schlucker ist er nicht, das steht fest.«

»Vielleicht der Hausherr, der dem Feuer entkommen ist und dem der Verlust den Verstand geraubt hat?« Mallenia trat mit dem Fuß gegen die Wand. »Aber wo ist die Königin abgeblieben?« Sie sah zum Tor, durch das Tungdil an der Spitze der Zwerge gerannt kam; rasch berichtete sie ihm, was vorgefallen war.

Rodario stieg derweil zu dem Mann ins Zimmer und ging langsam auf ihn zu. »Wie ist Euer Name?«, fragte er freundlich. »Keine Angst. Wir tun Euch nichts.« »Wer sagt das?«, kam es von Ingrimmsch, der den Kopf zum Fenster hereinsteckte. »Wenn er ein Halunke ist, dann schon.« »Ihr seid aber kein Halunke, nicht wahr?« Rodario ging vor ihm in die Hocke. »Ihr seid ein reicher Mann, der sich verlaufen hat? Von Räubern überfallen wurde? Magischen Pflanzen zum Opfer fiel? Habt Ihr unterwegs eine Frau gesehen, mit langen schwarzen Haaren und in einem dunkelblauen Kleid?« Hinter ihm krachte es, Metall schepperte, und graue Wölkchen wirbelten an ihm vorbei. Sie legten sich auf das schweißnasse Gesicht des Unbekannten.

Tungdil war ins Zimmer gesprungen und kam an seine Seite. Der Mann wich wimmernd vor ihm zurück und legte die Arme schützend vor den Kopf. Tungdil packte seine rechte Hand und zog sie grob nach vorn, dann wischte er über den verdreckten Ärmel und befreite ihn von der Schmutzschicht, sodass ein eingesticktes Symbol zutage kam. Seine Augenbraue senkte sich, und sein Gesicht wurde düster. »Du bist ein Anhänger Nudins«, sagte er zu dem Unbekannten und griff nach seiner Kehle. »Du maßt dir an, seinen Stil nachzuahmen und sogar Ringe wie er zu tragen!« Rodario erhob sich und legte eine Hand an den Schwertgriff. »Ein Famulus von Lot-Ionan?«

»Ha!«, machte Ingrimmsch überlegen. »Gut, dass ich nicht zugestimmt habe, dass wir ihm nichts tun.«

»Er sieht aus wie einer.« Tungdil zerrte den Mann hinter sich her bis zum Fenster und warf ihn schwungvoll nach draußen auf den Hof. »Wir finden heraus, was er hier will. Und wie viel Magie noch in ihm steckt.« Er gab Anweisungen an die Zhadär, noch aufmerksamer zu sein, und kletterte aus dem Fenster ins Freie. »Hat er schon seinen Namen genannt?«

»Nein.« Rodario folgte den beiden und stellte sich neben Mallenia. »Ich wollte es zuerst mit Freundlichkeit versuchen. Er wirkt sehr verstört, und ich dachte, dass es keine gute Eingebung wäre, mit lauten Tönen und Ruppigkeit vorzugehen.«

Tungdil zog Blutdürster und setzte die Klingenspitze an den Hals des Mannes. »Sprich!«

»Franek«, stammelte er. »Ich bin Franek.«

Ingrimmsch grinste. Dann und wann war gegen die zwergische Weise, eine Unterredung zu führen, wahrhaftig nichts einzuwenden.

»Was hat dich an diesen Ort verschlagen? Wieso kleidest du dich wie Nudin?« Tungdil gab ihm einen Tritt, der ihn mit dem Rücken auf den Boden drückte. »Ich habe nicht viel Zeit. Wir suchen eine Frau...« »Ich habe sie gesehen!«, rief Franek rasch und hob die Hände. »Bitte, nicht! Ich habe sie gesehen! Ich weiß, wohin sie gegangen ist.«

Ingrimmsch hielt seinen Krähenschnabel schlagbereit. »Er könnte von Lot-Ionan geschickt worden sein, um uns in eine Falle zu locken.«

»Woher sollte er denn wissen, dass wir kommen?« Rodario betrachtete Franek. »Sollten wir nicht zuerst seine Geschichte hören?«

»Die Königin ist mir wichtiger«, warf Mallenia ein. »Und sie sollte uns allen wichtiger sein.« Sie sah zu dem vermeintlichen Famulus. »Rede! Wohin ist sie gelaufen?« Er hob langsam den Arm und zeigte nach Osten. »Zu den Votons. Sie wird sicherlich nicht mehr am Leben sein.«

»Die Votons sind wer?« Tungdil nahm Blutdürster nicht von der Kehle. »Scheußlichkeiten, Chimären, geboren aus den Experimenten von Vot, einem Famulus von Lot-Ionan«, erklärte er atemlos vor Furcht. »Es waren einst Menschen, die er mit Gliedmaßen von Tieren ausstattete. Sie haben sich aus seinen Laboratorien befreit und sind hierher geflüchtet.«

Tungdil gab Barskalin Befehle in einer für sie unverständlichen Sprache, und die Zhadär eilten davon; dann sah er Rodario an. »Ihr bleibt hier und bewacht unseren neuen Freund. Er wird bei uns bleiben und einige Fragen beantworten, wenn wir mit der Königin zurückkehren.«

Ingrimmsch wackelte mit dem Kopf. »Ein Mime gegen einen Famulus?« »Wenn er derzeit Magie wirken könnte, würde er dann aussehen wie ein geprügelter Hund?« Der Einäugige deutete als weitere Erklärung für seine Gelassenheit auf seine Runen, die nicht aufgeleuchtet hatten, und wandte sich um. »Slin wird Euch Gesellschaft leisten. Der Rest kommt mit mir.« Er jagte den Unsichtbaren hinterher, und schon bald waren die drei allein auf dem Innenhof.

Slin schloss das Tor und entzündete ein Feuer. Rodario reichte Franek etwas zu trinken und suchte ein paar Balken, auf denen sie sich um die Flammen setzten. Der Vierte legte seine gespannte Armbrust über die Knie unddie Ersatzbolzen in Griffweite. Sein Blick schweifte umher, er hielt Wache. »Also, Franek. Wollt Ihr mir zum Zeitvertreib erzählen, was Euch dazu gebracht hat, Nudins Erbe fortführen zu wollen?« Rodario schnitt sich Brot und Schinken ab. Etwas reichte er Slin, den Rest gab er an den Famulus weiter. »Ihr gingt bei Lot-Ionan in die Lehre.«

Franek betrachtete den Schauspieler. »Eine Gruppe Zwerge in schwarzen Rüstungen, ein Schauspieler und eine blonde Frau, die eine Königin suchen - das erscheint mir sehr, sehr merkwürdig.«

»Versucht nicht, den Spieß umzudrehen, mein Freund. Ihr werdet zuerst berichten«, sagte Rodario. »Sonst nehme ich Euch das Essen wieder weg.«

»Ich schieße es ihm aus dem Mund!«, bot Slin an und hob die Armbrust. »Der Bissen fliegt mitsamt dem Bolzen aus dem Nacken.«

Franek reckte die Hände gegen die wärmenden Flammen. Ohne die Sonne wurde es schnell kühl, der Frühling hatte die Oberhand über die Nächte noch nicht errungen. »Ich erzähle es Euch ja.« Er schöpfte Atem.

»Ich merke, wenn man mich anlügt«, warnte ihn der Vierte vorweg. »Dann zuckt mein Finger, und was mein Bolzen mit deiner Kehle macht, habe ich dir schon gesagt.« Rodario sah ihn mit zusammengekniffenen Lippen an, dann begann Franek zu erzählen.

»Undank, das habe ich von dem Magus erhalten. Eine Freundin und ich haben ihn als Statue aus dem Keller des Palastes in Porista geholt und sind vor den Gardisten geflüchtet. Aber die Statue wurde uns von anderen Famuli gestohlen. Mich hätte es beinahe das Leben gekostet. Nach meiner Genesung machte ich mich auf, in Lot-Ionans Dienste zu treten. Ich wollte ein Magus sein, und dies war es auch, was mir meine Langlebigkeit verschaffte.« Er verlangte nach etwas Wasser und bekam es gereicht. »Immer war ich da, wenn Lot-Ionan mich brauchte. Wir eroberten zusammen das Blaue Gebirge, wir vernichteten die Zwerge...«

»Entzückend. Erzähl was anderes«, knurrte Slin und schwenkte den Lauf. »Mein Finger zuckt bereits ein wenig, wenn ich so etwas anhören muss.«

»... wie auch immer: Wir schlossen das Tor nach Süden. Und ich stand ihm auch bei, als er von dem Herrscher der Schwarzäugen beinahe umgebracht worden wäre. Und wie dankte er es mir?« Er deutete an sich herab. »Verstoßen hat er mich.«

»Nicht ohne Grund, schätze ich?« Rodario lauschte aufmerksam und versuchte herauszufinden, wann Franek log. Noch hatte er nichts bemerkt.

»Ein nichtiger Grund.«

»Welcher Grund?« Slins Finger streichelten die Armbrust. »Ich will es wissen.« Franek seufzte. »Die magische Quelle. Niemand darf ohne seine Erlaubnis in ihre Nähe, um sich neue Kräfte zu holen.«

Rodario nickte. »Aber Ihr tatet es dennoch.«

»Was blieb mir anderes übrig? Er schlief, und ich musste noch...« Er brach ab. »Einerlei. Ein anderer Famulus weckte Lot-Ionan und verriet mich. Daraufhin jagte er mich aus den Höhlen und zur Festung hinaus, und er erlaubte allen anderen seiner Famuli, mich zu hetzen und zu töten. Verrat müsse bestraft werden.«

»Da hat er recht«, brummelte Slin grinsend.

»Ohne mich läge er noch immer als Statue in Porista, dieser alte Narr!« Franek ging nicht auf die Bemerkung ein. »Ich rettete mich durch Sangreins Wüste, bis mir nur noch einer auf den Fersen war, und den habe ich in der Nähe der Votons abgeschüttelt.« Er sah zu Rodario. »Ich habe Euch für ihn gehalten, deswegen bin ich weggerannt.« »Wie viele Schüler hat der Magus noch?«

»Vier. Zwei taugen nichts, was er aber nicht erkennt. Vot und Bumina sind seine besten, wenn man von mir absieht.« Franek zuckte mit den Achseln. »Mehr gibt es nicht zu erzählen.«

Slin sah zu Rodario. »Hat er eben gesagt, dass er einen Famulus in der Nähe der Votons abgehängt hat?«

Der Schauspieler hatte sich so sehr aufs Zuhören und Beobachten von Franeks Zügen konzentriert, dass ihm diese wichtige Kleinigkeit zu spät auffiel. »Bei Palandiell! Wir müssen die anderen warnen!«

Slin sah ihn ungläubig an. »Kannst du sie in der Dunkelheit finden? Ich sehe zwar besser als du, aber ich bin nicht schnell genug.« Er schoss Franek ansatzlos einen Bolzen durch den Unterschenkel. Schreiend sackte der Mann zusammen. »Das hast du davon, heimtückischer Langer! Für jeden Verletzten von uns kriegst du noch einen, und für einen Toten drei. Zum Glück seid ihr so lang, da passt einiges rein!« Er lud nach.

»Nicht, Slin!«, rief Rodario, auch wenn er dessen Groll sehr gut verstand. Franek hatte sie absichtlich im Ungewissen gelassen.

Er half dem Mann, den Bolzen aus dem Fleisch zu ziehen, und verband die Wunde mit einem Stoffstreifen, den sie aus der Robe schnitten.

»Es war mir entfallen«, jammerte der Famulus und hielt sich die Stelle. Der Verband färbte sich bereits rot. »Ich schwöre bei Samusin, dass ich sie nicht absichtlich ohne ein Wort der Warnung gegen Droman gesandt habe!«

»Tja«, machte Slin nur. »Aus Schmerzen lernt man.« Es tat ihm nicht leid, dass er geschossen hatte.

Rodario stand auf und ging zum Tor, öffnete es einen Spalt und sah zu den verkrüppelten Bäumen.

Gerade um die Scheune herum ragten sie bis zu einhundert Schritt in den verfinsternden Nachthimmel und warfen lange Schatten. Es war still zwischen den Stämmen. Weder sah noch hörte er etwas von den Zwergen oder der Ido. »Ist Droman schlecht?«, rief er hinter sich.

»Seine Zauberkunst, meint Ihr?«, ächzte Franek und riss sich einen zweiten Verband aus der Robe, um die Blutung zu stillen. »Gegen mich würde er unterliegen, sofern ich meine Magie besäße. Aber da ich keinerlei Kraft mehr in mir trage und mich nicht einmal mehr heilen kann«, dabei blickte er zu Slin, »wäre ich ein ebenso gutes Opfer wie Ihr oder der Maulwurf hier.«

Rodario sah einen Schatten im Wald, der sich geduckt von Baum zu Baum vorwärtsbewegte und auf die Wehrscheune zuhielt. »Wie unschön«, murmelte er, sowohl zur Antwort auf Franeks Erklärung als auch auf das, was er sah. Das Beunruhigende war: Je länger er hinausschaute, desto mehr Schatten glaubte er, ausmachen zu können. Die Umrisse hatten wenig Menschliches an sich. Rasch schloss er das Tor und kehrte ans Feuer zurück, warf zusätzliche Scheite hinein. »Votons«, sagte er zur Erklärung. »Ich hoffe sehr, sie hassen Feuer. Und es wäre ein gute Gelegenheit, Eure Kunst zu zeigen, Slin.«

»Ganz entzückend!« Der Zwerg nahm seine Bolzen und stand auf. »Solange es nicht mehr als fünfzig sind, sollen sie kommen. Danach ist mein Vorrat zu Ende.« Rodario verkniff sich eine Antwort. Er hatte mehr überschlagen.

Sie rannten durch die Dämmerung, zwei Zhadär hatten die Vorhut übernommen und bald neue Spuren ausgemacht; von der Größe der Sohlen konnten sie durchaus zu Coira gehören.

Allerdings hatten sie auch mehrere unerklärliche Fährten gefunden.

Ohne das Wissen über die Votons hätten sie an einen Viehtrieb geglaubt, doch durch die Worte des Famulus waren sie vorgewarnt. Die Kreaturen, auf die sie treffen mochten, besaßen sowohl Menschen - als auch Viehbeine. Barskalin machte in erster Linie Hornvieh in den Abdrücken aus, es gab aber auch welche, die er als Bären oder ähnliche Raubtiere erkannte.

»Ich weiß, warum ich keine Magie mag«, sagte Ingrimmsch grimmig.

»Widernatürliches Zeugs! Und auch wenn sie Beine wie Kühe haben, wird man sie nicht einmal auf einen Spieß stecken und essen können.«

»Ist dein Weib nicht eine Maga? Und sind es nicht zwei deiner Kinder?« Tungdil sprang über einen umgestürzten Stamm, als bedeute die Rüstung kein zusätzliches Gewicht. Ingrimmsch benötigte etwas länger, um über das Hindernis zu setzen. »Das ist ganz andere Magie«, schwächte er ab. »Zwergenmagie halt. Die hat mir noch niemals geschadet, in all den vielen zweihundertfünfzig Zyklen nicht. Weder mir noch anderen.«

»Aber wenn Goda bei Lot-Ionan geblieben wäre, was denkst du, gegen wen wir im Sommer in die Schlacht zögen?« Tungdils Stimme klang wie die eines Verhandlungsführers, der eine Schwachstelle in den Begründungen der anderen Seite erkannt hatte. »Und du würdest vielleicht eine ähnliche Rüstung tragen wie ich?« »Niemals«, kam es Boindil zu rasch über die Lippen. »Ich meine, Goda hätte sich niemals auf die Seite des Bösen...«

»Schon gut. Es waren nur Gedankenspielereien.« Tungdil schwenkte nach links, weil die Zhadär ihm einen entsprechenden Hinweis gegeben hatten.

Die Bäume lichteten sich, und sie fanden die Königin, die bäuchlings auf der verbrannten Erde lag.

»Vraccas, lass sie nicht tot sein«, betete Ingrimmsch und sprang nach vorn, den Krähenschnabel bedrohlich schwingend. »Ho, ihr Kreaturen eines wahnsinnigen Magus! Bleibt in euren Verstecken!« Er senkte den Kopf. »Oder noch besser: Kommt heraus und lasst euch von mir die Glieder ordnen!«

Tungdil kniete neben der Frau nieder und drehte sie auf den Rücken, die Zhadär umringten sie und ließen die Umgebung nicht aus den Augen. »Sie atmet noch«, sagte er zu Ingrimmsch. »Ich kann keine Wunden erkennen. Vermutlich wird es Erschöpfung gewesen sein, die sie überwältigte.«

Coiras Lider zuckten. »Vorsicht«, flüsterte sie kraftlos. »Sie haben euch eine Falle gestellt... Ein Famulus...«

Ein heller, gelber Strahl aus Magie schwirrte hinter einem Baum hervor und traf einen Zhadär mitten ins Gesicht. Der Kopf wurde in nichts aufgelöst, und der Rumpf stürzte zuckend zu Boden, als versuche der Körper, die angedachte Ausweichbewegung zu vollführen. Das Blut spritzte weit aus dem Stumpf hervor und besprengte die Umstehenden.

»In Deckung!« Tungdil sprang vorwärts und versuchte, den Famulus in den Schatten ausfindig zu machen.

Ingrimmsch dachte gar nicht daran, sich einen Schutz zu suchen. »Das Kerlchen gehört mir!« Er rannte vier Schritte neben Tungdil auf gleicher Höhe, um den heimtückischen Angreifer zu stellen. »Ich klopfe dich platt wie Blatt, Franek!«, versprach er ihm. Seiner Überzeugung nach konnte es kein anderer sein. Er hatte gewiss den Mimen und den Vierten überwältigt und war ihnen gefolgt, um sie hinterrücks anzugreifen! »Nicht mit mir«, zürnte er.

Umso erstaunter war er, als er neben einem Mann auftauchte, der in eine hellgraue, oberschenkellange Kutte gehüllt war; hohe Schaftstiefel reichten bis ans Knie, und um seine Hüfte trug er einen Gürtel mit einem breiten Schwert. Die Finger steckten in hellbraunen Handschuhen, die Arme hatte er halb erhoben. Anscheinend wob der Unbekannte einen weiteren Zauber.

»Wie viele gibt es denn von euch noch in diesem verfluchten Wald?«, schimpfte Ingrimmsch und attackierte ihn. »Ihr seid schlimmer als Pilze!« Da begriff er, dass er den Abstand zum Feind falsch eingeschätzt hatte.

Bevor er den Mann erreicht hatte, lösten sich aus dessem linken Daumen-, Zeige- und Mittelfinger drei schwache fliederfarbene Strahlen, die miteinander zu einem dicken verschmolzen und auf ihn zujagten!

Kurz bevor sie ihn erreichten, schob sich eine schwarze Wand schützend vor ihn, und dann sah Ingrimmsch die vielen verschiedenen Runen vor seinen Augen grell aufblitzen, und eine Hitzewelle rollte über ihn hinweg. Die Helligkeit überlastete seine Augen. Egal, wohin er seinen Kopf drehte, er sah nur mehr schimmernde Abbilder der Zeichen vor sich. Das machte einen Angriff gegen den Famulus recht schwierig. »Gelehrter?«, rief er und horchte. Vor ihm zischte es, und erneut wurde es taghell. »Verflucht, es ist gerade ein bisschen besser geworden!«, beschwerte sich Ingrimmsch. Er vernahm das Klirren von Metall gegen Metall, dann fauchte es, Helligkeit und Dunkelheit wechselten in rascher Folge - bis ein lauter Schrei erklang und ein Körper auf die aschebestreute Erde fiel.

»Tungdil?« Ingrimmsch sah wenigstens wieder Schemen. Den schwarzen, gedrungenen vor sich erkannte er als seinen Freund, vor ihm lag ausgestreckt der Körper eines Menschen. »Vraccas sei Dank«, sagte er erleichtert und enttäuscht zugleich. Zu gern hätte er den Feind erledigt. »Dieser Hokuspokus geht mir ziemlich auf die Nerven. Wo kam der denn her?« Er wischte sich über die Augen und sah fast wieder klar.

Tungdil hatte den Magischen mit einem Hieb quer durch den Rumpf getötet, mehrere Stiche ins Herz hatten ihm sicher das Leben genommen. »Es sind die persönlichen Zeichen von Lot-Ionan, die seine Kutte zieren«, sagte er nachdenklich. »Haben Franek und er uns gemeinsam eine Falle gestellt, oder ist er zufällig hier?« Ingrimmsch gesellte sich zu ihm. Beide betrachteten den jungen Mann. Tungdil rammte Blutdürster in den Boden und durchsuchte den Leichnam und dessen Rucksack. Außer einem Beutel mit Münzen fand er zwei Schlüssel, etwas Proviant, zwei Karten von Rän Ribastur und Sangrein. »Nicht sehr viel.«

»Nein. Nicht sehr viel.« Ingrimmsch stützte sich auf seine Waffe. »Zurück zur Wehrscheune. Franek wird uns erklären können, mit wem wir es zu tun hatten.« Tungdil befahl zwei Zhadär, den Leichnam mitzunehmen, Mallenia stützte die benommene Coira. Sie war zu schwach, um ganze Sätze sprechen zu können, doch ihren Andeutungen nach war sie von dem Famulus überrascht und mit einem Zauber zu Boden gestreckt worden.

»Ach du meine Esse«, murmelte Ingrimmsch und strich sich durch den Bart. »Gegen einen Famulus hält sie nicht stand - wie soll das gegen Lot-Ionan enden?« »Siegreich«, gab Balyndar zur Antwort. »Ich zweifele nicht an ihr. Wenn du einen Pfeil in den Rücken bekommst, was bringen dir Krähenschnabel und Tapferkeit?«

Da konnte Ingrimmsch nicht anders, als ihm recht zu geben. Auch wenn er es nicht gerne tat und lange über eine passende Erwiderung nachsann.

Slin hatte die Scheune erklommen und die Ladeluke über dem Tor geöffnet. Er lag flach auf dem Bauch, die Armbrust vor sich und die Bolzen neben sich.

Vor ihm breitete sich der verbrannte Wald aus, in dem sich etliche Gestalten auf die Ruine zubewegten. Seine Zwergenaugen ermöglichten es ihm, die Feinde im Dämmerlicht recht gut auszumachen.

Wie auch immer Famulus Vot es geschafft hatte, Menschen- und Tierleiber miteinander zu verbinden: Er hatte wahre Scheußlichkeit geboren!

Slin sah einen massiven Männerkörper, der auf seinem Rumpf einen Stierkopf trug; aus der Verbindungsstelle zwischen Fleisch und Fell rann unaufhörlich Eiter. Ein Paar Arme waren gegen die Tatzen eines Bären ausgetauscht worden, andere gingen auf Pferdehinterläufen, und wieder andere hatten anstelle von Armen Tentakel. Und er sah noch schlimmere Experimente. Vot hatte auch Tieren menschliche Gliedmaßen, vornehmlich Köpfe, verliehen; und in drei Fällen besaßen die Chimären zusätzliche Schädel. Die Kleider der einstigen Menschen hingen in Fetzen herab; manche Wesen waren ganz nackt, andere dagegen trugen blutverschmierte Gewandung.

Slin machte der Anblick der misshandelten, vergewaltigten Körper mehr aus als der von Tions schlimmsten Ungeheuern. Das Wissen, dass es einmal echte Menschen gewesen waren und keine von Grund auf bösen Kreaturen, drückte ihn nieder. Während er auf das Herz des ersten Feindes zielte, sagte sein Gewissen, dass er sie schonen und nach einer Heilung für die Menschen suchen musste. Coira kann vielleicht etwas ausrichten, lautete sein erster Gedanke. Doch es brachte nichts. Sie musste ihre Magie hüten, um gegen Lot-Ionan zu bestehen.

Auf hinterher vertrösten, wird nicht klappen. Slin bezweifelte, dass sich die Horde Chimären mit Versprechungen aufhalten ließ, und so blieb ihm keine andere Wahl. »Vraccas, du weißt, es geht nicht anders.« Er drückte ab.

Die Spitze penetrierte die nackte Brust des Stierkopfmannes, er geriet ins Straucheln und fiel der Länge nach in die Asche; Wölkchen stiegen auf.

Slin lud nach. Dreihundert Schritte trennten ihn und die Chimären. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, sie alle zu erschießen. Dazu reichen weder meine Munition noch die Zeit. »Sucht euch ein Versteck und haltet die Waffen bereit«, schrie er in den Hof zu Rodario und Franek, während er nachlud. »Ich werde sie nicht alle aufhalten können.« Als Nächstes erlegte er die Frau, welche die Hinterläufe eines Pferdes besaß und schneller als die anderen vorwärtsgekommen war. Kreischend stürzte sie nieder und verlor ihr Schwert.

Zwei Wolfschimären hetzten zwischen den Bäumen entlang; sie trugen die Köpfe von Menschen, doch Vot hatte ihnen Bestienschnauzen eingepflanzt, was ihnen ein groteskes Äußeres gab.

Slin erwischte einen der beiden, der zweite aber hatte bereits das Tor erreicht. »Passt auf! Einer sitzt vor dem Tor!«, warnte er Rodario und Franek und griff nach seinem Rufhorn. Er benötigte dringend die Unterstützung der Zhadär gegen die Wesen, sonst wäre sein Weg zu Ruhm und Abenteuer in den verkohlten Wäldern von Rän Ribastur zu Ende.

Laut ließ er den Ruf erschallen, und einige der Chimären heulten bei den dröhnenden Klängen auf. Slin verlegte sich darauf, die größten und gefährlich aussehenden aus dem Pulk herauszuschießen. In einigen Fällen traf er ihre Herzen, aber sie fielen erst nach weiteren Bolzen durch ihre Köpfe. Die Magie hatte sie zäher werden lassen. Oder sie haben ihre Herzen nicht am rechten Fleck.

Seine Auswahl führte dazu, dass einige kleinere Chimären unter dem Tor ankamen und sich sammelten. Sie schrien und stöhnten, kläfften und gaben fürchterliche Laute von sich, die dem Zwerg Schauder über den Rücken jagten.

Dann krachte es, und die tierhaften Stimmen erklangen plötzlich vom Hof. Wo soll ich denn noch überall sein? Fluchend wandte sich Slin auf die andere Seite und zielte auf das erste Wesen, das er sah.

Rodario und Franek hatten sich nicht versteckt. Stattdessen loderte ein immenses Feuer in der Mitte des Platzes, und die Männer hatten sich mit brennenden Holzlatten bewaffnet. »Entzückend. Die Langen wollen Helden sein«, murmelte Slin in seinen Bart und erschoss eine der Wolfschimären, die eben angesetzt hatte, den Schauspieler anzuspringen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Tieren ließen sich die Mischwesen nicht vom Anblick und der Hitze der Lohen abhalten.

Hinter ihm peitschte etwas durch die Luft, und eine Schlinge legte sich um sein Bein. Er wandte sich um, dabei legte er einen neuen Bolzen ein.

Der Chimärenmann mit den Tentakeln hatte sich an der Wand nach oben gezogen und hing mit dem Oberkörper in der Luke; ein Fangarm hatte sich um Slins Bein geschlungen, mit dem anderen hielt er sich an einem Stützbalken fest. »Komm zu mir, Zwerg!«, knurrte er, und der Tentakel zog sich zusammen.

»Ich schicke dir lieber was von mir!« Slin drückte ab, doch dadurch, dass ihm das Bein weggezogen wurde, verlor er seinen Stand und verriss den Schuss. Der Bolzen ging dem Wesen nicht wie gewollt durchs Herz, sondern steckte in der Schulter. Der Chimärenmann schrie auf und zog Slin auf sich zu, dabei kletterte er durch das Loch in den Speicher. Der zweite Tentakel brach einen Holzbalken entzwei und riss ein Stück heraus. Der Knüppel sauste auf den Zwerg nieder, der sich zur Seite drehen und ausweichen konnte. Er hielt die Armbrust mit beiden Händen am Kolben gepackt und schwang sie wie einen Pickel gegen den Fangarm, aber es genügte nicht, um ihn zu durchtrennen.

Dann war er vor den Füßen des Chimärenmanns angelangt. Sofort stellte der Gegner den Stiefel gegen Slins Gesicht, der Tentakel ums Bein löste sich und schnürte seine Kehle ein.

Der Zwerg betätigte einen zweiten Mechanismus, und unter dem Lauf der Armbrust schnellte eine verborgene Dolchklinge hervor. Als er den muskulösen Fangarm zerschlitzte, wich der Chimärenmann mit einem Hopser rückwärts.

»Ich brauche keine Bolzen!«, rief Slin und sprang auf, setzte nach und stach mit dem Dolch ein weiteres Mal zu.

Aber sein Widersacher hatte aufgepasst. Er wich aus, der Tentakelstummel fegte die Armbrust zur Seite, und der andere Fangarm zischte auf den Kopf zu. Slin duckte sich weg und zog sein Beil aus dem Gürtel, humpelte nach rechts, um einen Balken zwischen sich und den Chimärenmann zu bekommen. Das Bein, an dem es ihn erwischthatte, fühlte sich geschwollen an. So gelang es ihm nicht, den Attacken auszuweichen. Zwei weitere Mischwesen schwangen sich durch die Luke in den Speicher, sie hatten ebenfalls Tentakelarme; der Frau hatte Vot zusätzlich einen Wildschweinkopf gegeben, der Mann trug den Schädel eines Bären auf seinen Schultern.

Zu dritt machten sie nun Jagd auf Slin und trieben ihn mit peitschenden Fangarmen immer weiter gegen die Wand, um ihm jegliche Fluchtmöglichkeit zu rauben. Slin wusste nicht mehr, was er tun sollte. »Ihr habt es nicht anders gewollt«, sagte er zu den Chimären und zeigte ihnen sein Beil. »Ich werde euch vernichten!« Mit einem lauten Kampfschrei warf er sich gegen die Kreaturen. Ein zweiter Tentakel fiel zappelnd auf den Boden und führte einen makaberen Tanz auf.

Doch dann surrten vier Fangarme heran und umschlangen seinen Oberkörper, die Beine und den Hals.

Slin wurde angehoben, gleich darauf wurde aus dem unangenehmen Druck um den Leib ein Schmerz, der ihn schwindlig werden ließ. Er wollte schreien, doch die Einschnürung um seine Kehle ließ ihn nicht mal einen noch so leisen Ton hervorbringen.

Rodario wich einer heranschnellenden Bärentatze aus und drosch die brennende Dachlattte gegen den Kopf der Chimäre. Rotgelbe Funken flogen nach allen Seiten davon, der Schädel schnappte herum, und das Genick brach mit vernehmlichen Knacken; tot fiel sie auf den Hof. »Neben Euch, Franek!«, warnte er den Famulus. Der Mann wich dem zuschnappenden Wolfskopf aus und schlug mit beiden Holzbrettern gleichzeitig zu, sodass er den Knochen zwischen den Bohlen zerschmetterte.

Rodario sah zum Eingang und dem offenen Tor, durch das neue Wesen hereinströmten. Slin hatte bereits mit dem Rufhorn um Hilfe gebeten, doch wenn Tungdil und die Zhadär sich nicht beeilten, kämen sie zu spät. »Warum schießt er denn nicht?« Da erschien der Zwerg in der Luke, legte an und erlegte eine Wolfschimäre mit einem einzigen Schuss; gleich darauf war er verschwunden.

»Was treibt denn der Bart da oben?« Franek schlug heftig mit den Latten um sich, doch die Angreifer kehrten immer wieder zurück. Die Gier nach Fleisch trieb sie vorwärts und ließ sie jegliche Furcht vergessen. Rodario tauschte eine der Latten gegen sein Schwert. Da Feuer nicht half, musste Stahl her. »Und das alles nur, weil sie mich falsch verstanden hat«, murmelte er vor sich hin und stach einer Frau, die den Kopf eines Pferdes trug, durch den Bauch. Ihre klauenhaft nach vorn gestreckten Finger verfehlten ihn, und sie stürzte an ihm vorbei in die Flammen. »Ich könnte mit ihr am Teich liegen und schöne Dinge tun.« »Teich?« Franek durchbohrte eine Kreatur aus Hund und Mensch. »Doch nicht der am Wasserfall?«

»Doch.«

»Da hattet ihr Glück. Auf seinem Grund lebt ein Ungeheuer, das Vot ebenso erschaffen hat.« Franek musste vor einem Mann zurückweichen, der anstelle von Händen riesige Krebsscheren trug. »Gelegentlich kommt es hervor und frisst alles, was ihm in die Fangarme gerät.«

Rodario stöhnte auf. Dann hätte ich Coira beinahe auf dem Gewissen gehabt. »Ihr seid schon länger in der Gegend, wie mir scheint.«

»Was blieb mir übrig?« Der Famulus sprang durch die Flammen auf die andere Seite des Scheiterhaufens, um seinen Gegner abzuschütteln, der sich prompt Rodario zuwandte.

Der Mime schlug zu, doch die Krebsscherenhand fing die Klinge ab und zerbrach sie mit einem hässlichen Knacken! »Oh, Samusin und Palandiell! Einer von euch beiden sollte mir freundlichst zu Hilfe kommen.« Er schleuderte die zerstörte Waffe und verletzte die Chimäre am Kopf, aber töten konnte er sie nicht.

Der Feind sprang nach vorn, die Scheren weit geöffnet.

Ingrimmsch tauchte plötzlich vor ihm auf und schlug mit dem Krähenschnabel zu. Die flache Seite zertrümmerte die Panzerung, die Scheren wurden in viele kleine Teile zerschmettert. Blut spritzte aus der Wunde. »Ho, ein Fischmensch!« Ingrimmsch rammte ihm den Dorn durch den Hals und zog ihn daran in die Flammen. Eine kurze Handbewegung genügte, und das scharfe Ende der Waffe glitt heraus; der Angreifer stürzte ins Feuer. »Mhh, das riecht lecker! Ein wenig Würze über die Scheren, und es gibt was zu essen!« Er lachte laut.

Rodario sah, wie die Zhadär die Feinde von hinten angriffen und die Chimären nicht einmal verstanden, was über sie herfiel. Sie starben innerhalb weniger Augenblicke. Nur Ingrimmsch hatte es anscheinend nicht mit seinem Stolz vereinbaren können, einer unter vielen zu sein, und sich ganz nach vorn begeben, um genug Auswahl zu haben. Zu Rodarios Glück.

»Slin ist da oben!«, rief er und zeigte auf die Luke. »Und nicht allein.«

»Er wird es schon schaffen«, sagte Ingrimmsch leichthin und beeilte sich, vor einem Zhadär an ein Mischwesen heranzukommen.

»Es sind riesige Biester, die ihn da oben bedrängen. Größer als das, was du hier siehst«, rief Rodario. Daraufhin wandte der Zwerg sich um und sah zur Scheune über dem Tor. »Dann will ich mal nachsehen. Die Vierten sind nicht für ihre Kampfstärke berühmt.« Grinsend hastete er zum Aufgang und schlug eine Luchschimäre im Vorbeigehen nieder, auf die sich eben Barskalin hatte stürzen wollen. »Ha! Erster!«

Rodario war von der Präzision und der Geschwindigkeit der Unsichtbaren beeindruckt. Der Kampf auf dem Hof war beendet, bevor er es überhaupt mitbekam. Ihm fiel die plötzliche Stille auf, und als er sich umsah, lagen die Mischwesen, die ihm eben noch allgegenwärtig und überlegen erschienen waren, tot um ihn herum.

Tungdil hatte sich nicht am Gemetzel beteiligt. Er stand bei Mallenia, die Coira stützte, und redete leise mit ihr. Franek wurde von Balyndar bewacht.

»Königin!« Rodario eilte zu der jungen Frau, die erschöpft wirkte.

Sie hob die Augen und sah ihn verunsichert an; unwillkürlich legte sie den linken Arm enger an den Körper. »Mir geht es gut. Der Angriff des Famulus war nicht tödlich.« »Franek hat uns zu spät davon berichtet. Oder es absichtlich vergessen.« Er blickte zu dem Famulus, dann zu Tungdil. »Ich empfehle Euch, dass Ihr mit ihm sprecht. Er wirkte bei Euch redseliger, und sein Gedächtnis ist inzwischen vielleicht auch etwas besser geworden.«

Ein lautes Zwergenlachen erklang aus dem Speicher, dann traf Stahl auf einen Körper, und ein langer Schrei erklang.

»Was geht da vor?« Tungdil sah zur Luke.

»Ich habe Boindil zum Aufräumen hinaufgeschickt«, erklärte Rodario. »Ich glaube, Slin befand sich in Schwierigkeiten, und Eurem Freund bereitet es offenbar große Freude, ihn zu retten.«

Wieder ertönte Ingrimmschs Gelächter, dann erklangen wütende Rufe, Flüche und das Krachen des einschlagenden Krähenschnabels. Barskalin gab den Zhadär einen Befehl, aber Tungdil hob ihn mit einer Geste auf. »Nein, lasst ihn das allein machen. Er soll sein Vergnügen haben.« Er stapfte auf Lot-Ionans ehemaligen Schüler zu.

Rodario bat Mallenia, ihn und die Maga kurz allein zu lassen. Nach einem raschen Blickwechsel mit der Königin folgte die Ido Tungdil.

Coira sah ihn verschüchtert an. »Habt Ihr...«

»Nein, ich habe niemandem verraten, was ich gesehen habe. Und das werde ich auch nicht.« Rodario nahm ihre linke Hand. »Ihr habt mich am Teich falsch verstanden.« »Was gab es daran falsch zu verstehen?«, begehrte sie verletzt auf. »Ihr nanntet mich scheußlich!« Ihre Wut erlosch, und die Schultern sackten nach vorne. »Aber Ihr habt recht. Lasst mich erklären, was Ihr gesehen habt.«

»Doch zuerst möchte ich, dass Ihr wisst, was ich eigentlich hatte sagen wollen, bevor Ihr davonranntet«, beharrte er. »Welch scheußliche... Sache hat Euch das eingebracht, Coira? Das wäre über meine Lippen gekommen.«

»Nichts anderes?« Sie suchte seinen Blick.

»Nichts anderes. Ihr seid viel zu schön, zu freundlich und liebenswürdig, um etwas anderes über Euch sagen zu können. Ihr werdet ahnen, welche Gefühle ich für Euch hege.« Rodario lächelte sie an und nahm ihre linke Hand. »Jetzt wollt Ihr es mir erklären?«

Ein dumpfer Schrei erklang, und ein Chimärenmann flog durch die Luke; er schlug unmittelbar vor zwei Zhadär auf. Blut quoll aus der Brust, die mehrfach durchlöchert war. Ingrimmsch zeigte sich zwei Herzschläge lang in dem Loch, um zu winken und damit zu verstehen zu geben, dass es ihm gut ging, dann hob er seine Waffe und hüpfte schreiend nach rechts.

»Er lebt für den Kampf«, sagte Coira.

»Kampfrausch. Heißes Blut. Das wurde immer von ihm berichtet - und es stimmt«, meinte der Schauspieler grinsend. Es krachte und rumpelte laut auf dem Speicher, Ingrimmschs Stimme polterte dazu. »Er macht sich einen Spaß daraus, sie zu hetzen.« Die Maga hakte sich bei ihm unter. »Danke«, flüsterte sie. »Danke, dass Ihr geschwiegen habt, und danke, dass Ihr mich wegenmeines Arms nicht verhöhnt.« Ihr schien es schwerzufallen, über den Makel zu sprechen. »Es geschah beim Üben mit Magie. Ein Spruch zerbarst in meiner Hand und entstellte sie schwer. Ihr würdet eine genaue Erklärung nicht verstehen, weil Ihr kein Magus seid und Euch das Empfinden dafür fehlt, deswegen glaubt mir, wenn ich sage, dass sich Überbleibsel des Spruchs mit der Magie in mir und meinem Fleisch verbunden haben. Aus dem Grund kann ich die Wunde nicht dauerhaft heilen, sondern nur so lange, wie ich Magie in mir trage. Je weniger Magie ich habe, desto mehr reißt die Wunde auf. Ein dauerhafter Zauber umgibt die empfindliche Stelle mit dem glasähnlichen Schutz, den Ihr gesehen habt. Damit es keiner sonst bemerkt, trage ich die Handschuhe.«

Rodario empfand großes Mitleid mit der jungen Frau. »Und wenn Ihr gar keine Magie mehr in Euch tragt? Was geschieht dann?«

»Wird mein Arm zerstört.« Coira lächelte tapfer. »Ich würde ihn für immer verlieren.« »Aus dem Zustand Eures Armes glaube ich zu erkennen, dass Ihr nicht mehr allzu viel Magie besitzt?« Er schaute schnell zu den anderen Zwergen, ob sie nahe genug standen, ihr Gespräch mit anhören zu können.

Eine zweite Chimäre kam durch die Luke geflogen und schlug neben der ersten auf. Ihr Schädel war zerschmettert worden, und in der rechten Seite klaffte ein langer Riss. »Einer noch!«, hörten sie Ingrimmsch begeistert schreien. »Einer noch, dann bin ich fertig! Hussa, die halten mehr aus als Schweineschnauzen!«

Die Zhadär lachten.

Coira atmete tief ein. »Das stimmt. Deswegen hatte ich meine ganze Hoffnung auf die angebliche Quelle im Roten Gebirge gerichtet.«

Rodario hatte das Gefühl, seine Gesichtsfarbe zu verlieren. »Seid Ihr denn überhaupt in der Lage, gegen Lot-Ionan zu bestehen?«

»Jetzt habe ich es!«, vernahmen alle Boindil, und ein dritter Chimärenmann stürzte tot aus dem Speicher auf die Erde; gleich darauf erschien der siegreiche Zwerg, der Slin stützte und breiter grinste, als es sein Gesicht hergab. »Das war nach meinem Geschmack«, juchzte er. »Siege, Bestien und einem Kameraden das Leben bewahrt - was will man von einem Umlauf mehr?« Er drückte Slin, der daraufhin aufstöhnte. »Ho, Vierter! Zeig deine Zähne und lache! Du lebst ja noch! Die hier«, stolz zeigte er auf die drei getöteten Tentakelwesen, »nicht mehr.« Er geleitete ihn zum Feuer und ließ ihn neben Balyndar und Franek auf einen Stein sinken. »Ich könnte ein ganzes Fass Schwarzbier leeren.« Er seufzte wehmütig.

Rodario applaudierte und zeigte eine fröhliche Fassade. Dann drehte er sich wieder zu Coira um. »Ich bitte Euch, seid ehrlich zu mir: Könnt Ihr Lot-Ionan besiegen oder nicht?«

Загрузка...