XX

Das Jenseitige Land, die Schwarze Schlucht, Festung Übeldamm 6492. Sonnenzyklus, Frühling.


Der Winter war gegangen und hatte Eis und Schnee rund um die Festung mit sich genommen - der rote magische Schirm dagegen war geblieben.

Goda betrachtete ihn zu Beginn eines Umlaufs, zur Mitte eines Umlaufs, am Ende eines Umlaufs und spät in der Nacht, als könnten ihre Blicke bewirken, dass er in sich zusammenfiel und den Katapulten die Gelegenheit gab, Geschosse gegen die Feinde und deren Bauten zu schleudern.

Sie vermochten es jedoch nicht. Die rötlich leuchtende Barriere, einem dünnen Stoffschleier nicht unähnlich, widerstand Godas Wünschen, Gebeten und Zaubern. Kiras kam zu ihr, um ihr am frühen Morgen einen Becher mit Tee zu bringen. Gemeinsam betrachteten sie die Senke um die Schlucht herum, die sich in ein immenses Heerlager verwandelt hatte.

»Weißt du, was das alles zu bedeuten hat?« Die hochgewachsene Untergründige hielt den Blick nach unten gerichtet.

Goda wusste, was sie meinte. Die Scheusale hatten merkwürdige Markierungen auf dem Felsboden angebracht, die von den Festungen aus ein Muster ergaben. Sie schätzte, dass es sich um magische Vorbereitungen und weniger um Aufmarschhilfen für die Heeresabteilungen handelte. Zwar lagerten mittlerweile mehrere Hundert rings um die Schlucht, doch noch wies nichts auf einen bevorstehenden Angriff hin. Umgeben von ihrem Kriegsgerät, warteten sie. In aller Ruhe.

»Nein«, gab sie langsam zur Antwort. »Es könnten Runen sein, doch ich vermag nicht, sie zu lesen.«

»Dann bereitet es mir noch mehr Sorgen.« Kiras lehnte sich an die Zinne. »Ich habe mich umgehört, und niemand konnte sich die Zeichnungen erklären.«

»Sie kommen aus einem fremden Land. Sie werden unsere Sprache und Schrift ebenso für unverständlich halten.«

»Das Wesen, das sich als Tungdil ausgibt, könnte sie übersetzen.« Kiras sah kurz zu Goda.

»Es ist nicht hier. Wir müssen sehen, wie wir ohne es zurechtkommen. Außerdem würde es uns anlügen.« Die Zwergin nahm ein Blatt hervor, auf dem sie die Zeichen der Fremden exakt aufgemalt hatte, und überprüfte sie auf Vollständigkeit. »Sie haben wieder etwas verändert«, stellte sie fest, legte das Papier auf die Mauer und suchte aus ihrer Tasche Federkiel und Tinte. Säuberlich übertrug sie die neuen Symbole und versuchte, etwas Bekanntes in dem Muster auszumachen. Vergebens.

»Was hat es mit den Versuchen auf sich, die du die Krieger mit den Spiegeln machen lässt?«, fragte Kiras. »Sobald die Sonne kräftig scheint, sieht man sie zusammenstehen.« »Nur eine Spinnerei. Ich möchte eine Sache näher ergründen.«

Ein Ubari brachte ihnen neue Nachrichten sowie einen Zwerg in einer schwarzen Rüstung. Er wartete zwei Schritte hinter dem Ubari und wirkte nicht sonderlich ängstlich. Goda und Kiras tauschten einen raschen Blick. »Herrin, er sagt, dass er von Tungdil Goldhand geschickt worden sei«, stellte er den Besucher vor und winkte ihn näher. »Sprich.«

Der Zwerg verneigte sich. »Ich bin Jarkalin Schwarzfaust, Reiter der Schwarzen Schwadron, die mit dem Großkönig in den Süden zieht, um Lot-Ionan zu töten.« Kiras musterte ihn. »Tragen denn alle, die Goldhand begleiten, neuerdings Schwarz? Er zieht das Schlechte wohl an.«

»Erzähle, wie ihr zu ihm gestoßen seid«, verlangte Goda und ließ sich die Botschaften aushändigen. Jarkalin gab ihr zwei Lederrollen, der Ubari ein gesiegeltes Wachstuch, in das ein Schreiben eingeschlagen war; das Emblem der einen Lederrolle war ihr fremd. »Von wem ist das?«

Jarkalin verneigte sich. »Von Aiphatön, dem Kaiser der Albae.«

Kiras und Goda starrten ihn an, als habe er sich vor ihren Augen in ein Kaninchen mit Reißzähnen verwandelt.

Jarkalin erstattete einen knappen Bericht von den Ereignissen. »... Daraufhin setzte sich der Zug mit Großkönig Tungdil nach Süden in Bewegung. Ich und zwanzig andere wurden als Boten ausgesandt, um unter anderem Euch in Kenntnis zu setzen«, kam er zum Ende. »Auf dem Rückweg zur Festung bekam ich von Aiphatön eine Nachricht für Euch.« Er verneigte sich. »Ich werde warten, welche Nachricht Ihr mir für den Großkönig geben möchtet.« Jarkalin trat drei Schritte zurück, damit die Maga lesen konnte.

»Aiphatön ist zu einem ungewollten Verbündeten geworden.« Goda war von der Entwicklung der Ereignisse überrascht. »Anscheinend ist Vraccas doch mit Tungdil.« »Oder ein anderer Gott, um uns zu täuschen.« Kiras Gesicht sah düster aus. Goda öffnete zuerst die Nachricht von Ingrimmsch an sie, in der in wenigen Worten geschrieben stand, was Jarkalin ihr soeben berichtet hatte. Aiphatön schrieb ihr, dass sich die Albae auf den Marsch begeben und den Feldzug gegen Lot-Ionan begonnen hätten.

»Der Kaiser rechnet nicht vor Ende des Sommers mit dem Abschluss des Krieges. So lange müsste die Schlucht unter allen Umständen gehalten werden«, sagte sie zu Kiras und ließ ihre Blicke über den Schirm schweifen. »Aus dem Gefühl heraus würde ich vermuten, dass unsere Feinde nicht mehr so lange warten. Es ist eine trügerische Ruhe, die uns vorgegaukelt werden soll.« Ihr fiel auf, wie unterschiedlich die Handschriften des Albs und von Ingrimmsch waren: geschwungen, grazil und doch nicht zu verspielt gegen gerade Linien, einen festen Druck auf die Kielspitze und einige schwarze Flecken auf dem Papier, wo der Zwerg nicht ganz achtgegeben hatte.

»Ein Ausfall?«, schlug Kiras vor.

Goda seufzte. Mit diesem Gedanken hatte sie auch des Öfteren gespielt. Es würde ausreichen, die Kriegsgeräte zu vernichten. Die Scheusale hatten lange benötigt, um sie zu errichten, und es kostete sie immens viel Zeit, neue aufzustellen. »Dazu müsste ich die Barriere öffnen. Es wird mich viel Kraft kosten, und ich kann dir nicht sagen, wie lange ich die Lücke halten kann.« Sie öffnete den nächsten Brief. Er stammte von den Freien, die ihr mitteilten, dass sie gleichermaßen ein Kontingent zu Tungdil gesandt hätten. Die Belagerung durch die Albae und die Dritten war beendet worden - durch die Verhandlungen beziehungsweise Anordnung des Großkönigs. »Sie sind froh und glücklich, dass der Held zurückgekehrt ist, um die Zwergenstämme zu einen und gemeinsam zu führen«, lassie Kiras vor, deren Gesicht sich voller Widerwille verzog. »Sie sehen Tungdil Goldhand bereits jetzt als größten aller Zwergenherrscher, der die Stämme einte und nach dem Sieg über Lot-Ionan dauerhaften Frieden unter ihnen bringen wird.« »Warum fühle ich mich so hilflos und zornig?«, rief die Untergründige verzweifelt gegen den Himmel. »Sollte ich bei so viel guten Nachrichten nicht glücklich sein?« Goda drückte sie an sich. »Mir ergeht es genauso. Wir sind die Einzigen, die daran glauben, dass es ein Wesen der Finsternis ist, das aus der Schlucht zurückkehrte.« »Und es vereint die Bösen unter seinem Banner, ohne dass es die anderen merken.« Kiras knirschte mit den Zähnen. »Ich schwöre, dass Tungdils Pakt mit Aiphatön ganz anderer Natur ist.« Ihre Augen leuchteten. »Natürlich! Es geht das Umgekehrte vor!« Goda verstand nicht, was sie meinte. »Erkläre es mir.«

Sie deutete auf den Schirm. »Tungdil sammelt die Schrecken zu einem Heer zusammen: Aiphatön, Lot-Ionan, er und diese Bestien aus der Schwarzen Schlucht mit ihrem magischen Anführer. Er wird sie nicht vernichten, sondern sie zusammenschließen wollen. Ein Heer, das niemand mehr aufhält.« Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Bei Ubar! Bewahre uns davor, dass meine schreckliche Befürchtung Gewissheit wird.«

Goda öffnete eine weitere Nachricht. Verblüfft senkte sie den Brief. »Er ist von Rognor Sterbenshieb, dem König der Dritten... Er schreibt, dass er seine Truppen aus dem Braunen Gebirge und aus den Höhlen der Freien abzieht, um sich gegen Lot-Ionan zu richten.« Sie leerte ihren Becher. »Du siehst mich fassungslos, Kiras. Fassungslos bis ins Mark!«

»Sämtliche Dämonen und bösen Geister stehen Goldhand bei«, giftete sie und schlug gegen die Zinne. »Er muss Sterbenshieb mit einem Zauber belegt haben, um seinen Verstand weich zu machen und seinen Willen zu beherrschen.«

»Es gibt keinen derartigen Zauber.«

»Keinen, den du kennst, Goda.« Die Untergründige stand kurz vorm Weinen - jedoch aus Wut. »Niemand sieht, was wir sehen«, flüsterte sie verzweifelt. »Sie rennen ihm nach. Ins Verderben.« Sie barg den Kopf in ihren Händen. »Das wird er ihnen bringen: Verderben«, sagte sie undeutlich.

Die Maga überflog nochmals die Schreiben, um sicherzugehen, nichts davon falsch verstanden zu haben, danach rief sie den Ubari zu sich. »Trommele die Offiziere zusammen. Sie sollen sich in den Besprechungsraum begeben. Wir werden einen Ausfall unternehmen.«

Kiras richtete sich auf und wischte verstohlen eine Träne von ihrer Wange. »Ich gehe mit«, verkündete sie. »Ich will mit eigenen Augen und aus der Nähe sehen, was sich getan hat.«

Goda warf ihr einen besorgten Blick zu.

Knarrend und rumpelnd setzte sich der Öffnungsmechanismus des großen Südtors, vor dem die vierhundert Mann starke Truppe Aufstellung genommen hatte, in Gang. Die Spitze bildeten einhundert Zwerge, danach folgten zweihundert Ubariu sowie einhundert Untergründige; am Schluss gingen einhundert Menschen, Bogen- und Armbrustschützen, um den Kriegern Deckung zu geben und feindliche Angriffe im Keim zu ersticken.

Goda schaute zu ihrer Tochter Sanda und ihren Sohn Bandaäl, die neben Kiras vorne bei den Zwergen standen. Sie waren die magisch Begabten ihrer Kinder und einigermaßen im Umgang mit Sprüchen und Formeln erprobt. Beide winkten ihrer Mutter.

Die Maga sandte sie deswegen mit, um notfalls einen Schutz gegen feindliche Zauberangriffe sprechen zu können. Es bereitete ihr Unbehagen, ihr Fleisch und Blut auf die andere Seite zu schicken, aber es gab keine andere Möglichkeit. Denn sie selbst würde genug damit zu tun haben, die Lücke im Schirm offen zu halten; das gelang ihren Kindern nicht.

Und noch einer ihrer Nachkommen befand sich unter den Tapferen. Er hatte sich durch nichts an dem Oberbefehl über das Kommando hindern lassen: Boendalin Machtschlag, ihr ältester Sohn, ein herausragender Kämpfer wie sein Vater. Er stand stolz in der ersten Reihe, den Schild und das zweischneidige Beil haltend. Er grüßte seine Mutter mit einem selbstbewussten Nicken, seine Augen leuchteten vor Kampfeslust. Sein heißes Blut kontrollierte er besser als Ingrimmsch, weswegen sie ihm getrost die Führung überlassen konnte. Und er führte seine Waffen besser als jeder Kämpfer in Übeldamm.

Ein Spalt entstand zwischen den Torflügeln, und rotes Schimmern leuchtete hindurch. »Vraccas sei mit euch«, rief Goda laut. »Ihr habt eure Befehle:Geht und vernichtet so viel, wie es euch möglich ist, und kehrt unverzüglich wieder, wenn die Gegenwehr zu stark wird. Sich aufopfernde Helden benötigen wir für einen anderen Umlauf.«

Kiras hob die Hand. Sie hatte eine Lederrüstung angelegt und hielt ein Schwertbeil in der Hand, eine Waffe, welche die Untergründigen in den letzten achtzig Zyklen für sich entdeckt hatten. Auf der einen Seite saß eine Klinge, auf am Ende hingegen ein schmaler Beilkopf, der vor allem gegen Schilde und Helmträger eingesetzt wurde. Sanda und Bandaäl trugen nach guter Zwergensitte Kettenhemden, Helm und Schild; die Äxte blieben im Gürtel. Ihre Aufgabe bestand in erster Linie darin, sich um Magie zu kümmern. Dazu hatte ihnen Goda jeweils zehn Diamantsplitter überlassen. Zuerst sollten sie die fremde Kraft aufbrauchen, ehe sie an die inneren Reserven gingen. Goda hob die Arme und konzentrierte sich. Sie beging nicht den Fehler und versuchte erneut, den Schirm mit Gewalt brechen zu wollen. Stattdessen wollte sie ihn mit ihrem Zauber sanft abschaben, schmirgeln und zerreiben, bis eine Bresche entstanden war. Eine breite Bresche für so viele Krieger.

Sie bewegte ihre Lippen und versuchte eine erste Kombination aus Formeln. Ganz genau wusste sie nicht, wie sie vorzugehen hatte, doch sie hatte eine Ahnung. Weißlich pulsierende Magie verließ ihre Finger und schlängelte sich auf die Barriere zu, schmiegte und drückte sich dagegen gleich einer Katze am Bein eines Menschen. Die Gegenwehr blieb aus.

Aufatmend verstärkte Goda ihren sanften Angriff und breitete ihn über das Tor aus, und zwar so hoch, dass die Ubariu aufrecht durch die Lücke gehen konnten. Funken stoben auf, der Schirm verfärbte sich an dieser Stelle heller, wurde rosa und blass, bis er gänzlich verschwunden und lediglich das Weiß zu sehen war. »Los«, befahl Goda und hielt ihre Magie aufrecht, die gegenüber der übrigen Barriere als Stütze fungierte. Dort, wo Rot und Weiß aufeinandertrafen, zischte und knisterte es, gelegentlich stoben Funken davon. Wenn sie etwas trafen, hinterließen sie einen schwarzen Brandfleck.

Die Truppe stürmte ohne Geschrei auf die andere Seite und fächerte zu einer langen Linie auseinander, während die Fernkämpfer in ihrem Rücken blieben und sich bereit machten, ihre Pfeile und Bolzen zu verschießen. Der Angriff begann.

Die ersten Zelte und Bauten fielen den Kriegern nahezu lautlos zum Opfer. Erst als Flammen emporloderten und von Leinwand zu Leinwand sprangen, um von dort auf das gesamte Lager überzugreifen, erklang das laute Geheul der Scheusale. Laute Trombonen wurden geblasen, Trommeln riefen die Ungeheuer zu den Waffen. Goda hielt die Arme ausgestreckt und fütterte ihren Zauberspruch mit Magie, um ihn aufrechtzuerhalten. Sie fürchtete, dass sie die Lücke nicht mehr öffnen könnte, wenn sie den Strahl abreißen ließ.

»Vraccas, sei mit euch«, sagte sie wieder leise. Und vor allem mit meinen Kindern! Kiras folgte Boendalin auf dem Fuße.

Sie rannten vorwärts, passierten das Loch in der Barriere. Die Untergründige glaubte, in diesem flüchtigen Augenblick einen Schmerz im Körper zu fühlen.

»Zuerst die großen Maschinen nahe der Mauer und die Zelte«, befahl Boendalin und ließ die Bogenschützen die Brandpfeile vorbereiten. Während die Einheit nach rechts eilte, flogen die brennenden Geschosse in die entgegengesetzte Richtung, um einen Teil der Scheusale mit Löschen zu beschäftigen. Dann trafen sie auf die ersten Gegner. Kiras fiel auf, wie leicht es ihnen gelang, unter den Bestien zu wüten. Sie hatten sie bei ihrem Mittagsmahl und vollkommen unvorbereitet erwischt - wie hätten sie auch wissen sollen, dass Goda die Barriere öffnen konnte?

Im Zuge des Durcheinanders, das durch den Angriff ausgelöst worden war, entstanden bald weitere Feuer ohne das Zutun der Angreifer. Kochstellen wurden von Unachtsamen umgeworfen, und die Flammen breiteten sich auch an entlegeneren Stellen aus.

Es dauerte nicht lange, und rund um das Tor gab es keine Maschinen mehr; die größten befanden sich in weniger als dreihundert Schritt Entfernung von ihnen. Doch von dort kam ihnen eine eindrucksvolle Wolke aus den verschiedensten Scheusalen entgegengestürmt.

»Bogenschützen, schießt!« Boendalin ließ den Rest des Kommandos weiterrennen, genau auf den lockeren Verband zu. Pfeileschwirrten über sie hinweg und bohrten sich in die Ungeheuer. Etliche von ihnen fielen verwundet oder tot zu Boden. »Und jetzt macht sie nieder! Dort, zum Katapult«, schrie der Zwerg und schlug seinem Gegner den geschliffenen Rand seines Schildes gegen den Hals. Das scharfkantige Metall durchtrennte den Lederschutz und kappte die Kehle bis zum Rückgrat. So gut wie enthauptet, stürzte die Bestie aus vollem Lauf zu Boden.

Das Kommando schnitt und drosch sich durch die Angreifer, Kiras schickte zahlreiche Feinde in den Tod. Bewundernd musste sie anerkennen, dass Boendalin sein Handwerk verstand, sowohl was das Kommandieren anging als auch das Kämpfen. Ihn würde sie als Gefährten an ihrer Seite schätzen, doch das Traditionsbewusstsein hinderte sie daran, sich näher mit ihm zu befassen. Untergründige und Zwerge passten nicht zueinander. Nicht auf Dauer.

Sie hatten die turmhohe Schleuder erreicht. Während zwei Drittel ihrer Gruppe Deckung gaben, zerschlug der Rest die Halteseile, hackte Stützstreben entzwei und beschädigte die Maschine so heftig, dass ein lautes Krachen zu hören war und ein Zittern durch die Konstruktion lief.

»Weg!«, orderte Boendalin. Er sah wie Kiras, dass sich die Scheusale formierten und eine bessere Gegenwehr organisierten. »Wir ziehen uns zum Tor zurück. Wir haben ein gutes Werk getan.«

Die Untergründige sah zu einer der Streben, die scheinbar sinnlos auf der Ebene stand und von der eine gespannte Kette in die Schwarze Schlucht lief. Sie mussten lediglich weitere zweihundert Schritt vorwärtsstürmen. »Was ist damit, Boendalin?«, rief sie ihm zu. »Sollten wir sie nicht auch zerstören?« Der Erfolg machte sie trunken. »Das schaffen wir!«

Der Zwerg sah nach den Bestien, hinter seiner furchigen Stirn arbeitete es. Sie hatten bislang noch nicht herausgefunden, welchen Sinn die Streben machten, von denen sich inzwischen mehr als vierzig vor dem Ausgang aus der Schlucht befanden. »Wir sind nicht weit von ihnen entfernt«, meinte sie lockend. »Für was auch immer sie gut sind, zerstören können wir sie allemal. Und von ihrem Magus habe ich noch nichts gesehen.«

Boendalin sah zu seinen Geschwistern, die ihm mit einem Nicken deutlich machten, dass sie den Vorschlag guthießen.

Einer der Ubariu protestierte dagegen, weil er einen zu langen Rückweg befürchtete, den man ihnen abschneiden könnte. Die Rüstungen wurden nach einem langen Gefecht und der ständigen Rennerei nicht leichter. Für keinen von ihnen. »Greifen wir sie an«, entschied Boendalin dennoch und hetzte los. »Die Schützen sollen nach rechts und links schießen, die Untergründigen bilden die Nachhut.« In dieser Anordnung erreichten sie die ersten der unerklärlichen Eisenstäbe. Das Fundament bildeten gegossene Eisenklumpen, die sich nicht ohne Weiteres aus der Erde reißen ließen.

»Die Ubariu sollen sie verbiegen. Drückt sie in Richtung der Schlucht, da stehen sie sowieso unter Spannung«, befahl Boendalin und ordnete seinen Truppen neu. Kiras verfolgte aus den Augenwinkeln, wie die gewaltigen Krieger sich um die Strebe versammelten, auf der einen Seite schoben und von der anderen Seite zogen. Metallisch knirschend verbog sich die Halterung, die baumstammdicke Kette über ihnen hing immer weiter durch - bis sie plötzlich die Spannung verlor und zu Boden fiel. Zwei der Ubariu konnten sich nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen und wurden von den manndicken Kettengliedern in ihren Rüstungen insektengleich zermatscht.

»Weiter! Wir nehmen uns noch die Nächste vor!« Boendalin wies zur rechten Seite. Dieses Mal rief der Ubari seinen Widerstand laut hinaus. »Eure Mutter hat gesagt, wir sollen nicht tiefer vordringen als bis zur Markierung, die bereits dreihundert Schritte hinter uns liegt, Herr!« Die rosafarbenen Augen schauten vorwurfsvoll. »Und wir hätten vierzig dieser Masten zu knicken. Das schaffen wir niemals.« Er zeigte nach links, wo sich eine Wand aus Bestien auf sie zuschob. Diese trugen Schilde zum Schutz gegen die Bolzen und Pfeile, sie marschierten geordnet und schwer gerüstet. Kein Vergleich zu ihren bisherigen Opfern. Noch waren sie dreihundert Schritt von ihnen entfernt. »Rückzug, Herr!«

Boendalin tauschte Blicke mit Sanda und Bandaäl. »Haltet sie uns vom Leib«, sagte er zu ihnen. »Wir bringen noch ein Dutzend Träger zum Einsturz, und danach«, er sah den Ubari tadelnd an, »sage ich, dass wir uns zurückziehen, und kein anderer!« Die Zwergen Famuli begaben sich in Position und hoben die Hände. Ihre Finger zeichneten Runen in die Luft; die Diamantsplitter in ihren Händen funkelten gleißend, als sie ihre restlichen Kräfte abgaben und aus den Formeln echte Magie werden ließen. Aus Sandas Innenhand flog ein dunkelblauer Strahl und fegte eine drei Schritt breite Bresche in die Angreifer, und zwar von vorn bis zum letzten Mann im Pulk. Alles, was er traf, verdampfte in einer stinkenden schwarzen Wolke, Rüstungen und Waffen wurden zu halbflüssigen Klumpen.

»Was sagst du dazu, Bruderherz?«, sagte sie schwer atmend und blickte herausfordernd neben sich.

Bandaäl formte mit seinen Händen eine Halbkugel, die Öffnung gegen die Scheusale gewandt. Er blies durch die Finger, und auf der anderen Seite flog sein Atem als ein echter Sturm gegen die Bestien.

Die Hälfte von ihnen wurde von den Beinen geweht, Banner wirbelten davon, und selbst Kreaturen von den Ausmaßen eines Ubari wurden wie leichte Strohpuppen nach hinten geschleudert. Pfeile, die sich auf dem Flug gegen sie befunden hatten, sirrten todbringend zurück in die Reihen der Ungeheuer.

Bandaäl senkte die Arme und grinste seine Schwester an. »Ich fand mich wesentlich besser.«

»Das ist kein Spiel!« Kiras, die ihnen zugesehen hatte, bedeutete ihnen, sich der Truppe anzuschließen, die sich bereits auf dem Weg zur nächsten Strebe befand. »Kommt schon! Wir müssen zusammenbleiben.« Sie sah zum Südtor, das ihr mit einem Mal sehr, sehr, sehr weit entfernt vorkam. Das weiße Schimmern, durch das sie gekommen waren, wirkte für sie leicht rosafarben. Die Untergründige erschrak. »Anscheinend hat Goda Schwierigkeiten, die Lücke in der Barriere zu halten!«

Die Famuli schauten ebenfalls zum Durchgang - und damit entging ihnen, wie sich die Menge der Scheusale teilte und sich ein klein gewachsener Krieger nach vorne schob. Kiras nahm ihr Fernrohr aus dem Gürtel und betrachtete den aufgetauchten Feind genauer.

Ein Zwerg in einer prachtvollen Rüstung aus rotgelbem Vraccasium mit tiefschwarzen Tioniumeinlagen stapfte auf die Magier zu; in seinen Händen führte er zwei Streithämmer, an deren Köpfen es silbern und golden aufglänzte, Edelsteine funkelten und streuten das Licht. Er sah lange nicht so gefährlich und bedrohlich wie Tungdil Goldhand aus, was schon an der Metallfarbe seiner Panzerung lag. Das Visier seines Helms stand offen - und ihr wurde schlecht: Dem Zwerg fehlte der Unterkiefer!

Sie sah die vor langer Zeit schon verheilte Verletzung in aller Schrecklichkeit durch die Linsen vor sich. Ein Schlag musste ihm Knochen und Zähne genommen haben. Der Heiler hatte das lose Fleisch kurzerhand zusammengenäht und nach hinten gestrafft, damit der Zwerg Nahrung aufnehmen und weiterleben konnte, und ihm einen Schlitz unterhalb des Oberkiefers gelassen, durch den sicherlich das Essen geschoben wurde. Kiras vermutete, dass er weder sprechen noch kauen konnte - wie auch? Zwei lange, schwarze Koteletten reichten bis auf die Brust hinab, im vernarbten Fleisch selbst wuchsen keine Haare.

Auch ein Stück von der Nase fehlte, der Knorpel war abgeschlagen und das Loch mit einer silbernen gravierten Platte geschützt. Zwei senkrechte Spalte ermöglichten ihm das Luftholen. Schon allein der totenschädelgleiche Anblick genügte, um Gegner in tiefste Furcht zu versetzen. In den braunen Augen brannten Hass und Schmerz. »Bei den...« Kiras senkte rasch das Fernrohr, während sie ein eisiger Schauder durchlief und sie ahnte, wen sie vor sich sah. Soll das der angebliche Meister sein? Sie machte die Famuli auf die neue Gefahr aufmerksam. Boendalin und die Truppe hatten noch nichts bemerkt, sie widmeten sich gerade der nächsten Strebe.

»Lass mich«, bat Bandaäl seine Schwester. »Ich bin der Ältere.« Er bereitete einen Zauber vor, die rechte Hand nahm einen weiteren Diamantsplitter und hielt ihn umschlossen, um die Kraft zu nutzen. Er murmelte einen Bann, und vor ihm entstand eine menschengroße Säule aus grauem Licht. Mit dem letzten Wort, das Bandaäl über die Lippen brachte, schoss sie in gerader Linie auf den Zwerg zu und verformte sich zusehends.

Sie wuchs in die Breite, fingerlange Stacheln standen unvermittelt aus ihr heraus. Es war Kiras klar, dass nichts, was davon getroffen wurde, überleben könnte. Der Zwerg blieb stehen, wirbelte seine Waffen und kreuzte abrupt die Stiele der Hämmer.

Ein lauter Knall erklang, und eine zweite Lichtsäule erschien - nur dass diese hoch wie ein Katapult war! Sie raste los, dehnte sich ebenso aus und ließ speerlange Dorne aus sich wachsen.

Genau zwischen den Gruppen trafen die Gebilde aufeinander. Bandaäls beschworenes Machwerk verging krachend, während die tödliche Wand aus Licht ihren Weg fortsetzte.

Jetzt hatte sich auch Boendalin umgewandt und sah, was vor sich ging. Er schrie seine Befehle und verlangte den sofortigen Rückzug. Die Disziplin unter seiner Truppe war enorm, niemand brach aus den Reihen aus oder fing vor Furcht an zu schreien. Dennoch rannten sie alle, wie sie es noch niemals hatten tun müssen, um vom Schlachtfeld zu gelangen.

»Bei Vraccas!« Sanda warf einen grünlichen Blitz gegen die näher rückende Mauer, der wirkungslos daran verpuffte.

»Sie hat uns gleich!« Kiras sah zu Boendalin, der ihnen zuwinkte. Es war unmöglich, dem Zauber zu entkommen, dafür bewegte er sich viel zu schnell.

Sanda nahm ihre verblieben acht Diamantsplitter in die Hand und wies ihren Bruder an, das Gleiche zu tun. »Rasch, eine Sphäre«, sagte sie gehetzt und griff seine Hand. Beide gingen auf die Knie.

»Runter mit dir«, verlangte Bandaäl von der Untergründigen, »oder du wirst enthauptet.«

Kiras warf sich hinter den Geschwistern auf den Boden, da summte es auch schon. Eine milchig trübe Halbkugel hatte sich um sie geschlossen, und im nächsten Augenblick prallte die Lichtwand gegen sie.

Knisternd zerbrachen die Spitzen an ihrer Schutzhülle, Blitze zuckten hin und her, ohne dass den dreien etwas geschah. Kiras hatte das Gefühl, dass jedes Stückchen Metall, jede noch so kleine Niete an ihr sich erwärmte und auflud, und sie wurde am ganzen Körper gezwickt.

Dann war der Angriff vorüber.

»Wir haben sie zerstört«, keuchte Sanda erleichtert. Die Sphäre brach zusammen, und sie spürten den starken Wind, der durch den Angriff aufgekommen war. Staub flog ihnen entgegen und bedeckte sie, zwischen ihren Zähnen knirschte es. Die Untergründige drehte den Kopf. »Nein!«, stöhnte sie. Bevor der wallende Dreck ihr die Sicht raubte, sah sie die Lichtmauer, die exakt auf Boendalin und die Truppe zuhielt. Dann war der Staub zu dicht geworden, als dass sie noch etwas hätte erkennen können.

Bandaäl und Sanda zogen sie in die Höhe, und sie hielten sich an den Händen, um nicht in den grauen Schleiern verloren zu gehen. Sie stolperten vorwärts, zurück zum Südtor und dem rettenden Durchlass.

Unvermittelt wendete der Wind und trieb den Staub von ihnen weg. Vor ihnen, keine zehn Schritte entfernt, schälten sich die Umrisse des unbekannten Zwerges aus dem Schmutz. Die Hämmer hielt er rechts und links leicht vom Körper abgespreizt, ihre Köpfe wiesen zu Boden.

Sanda schrie bei seinem Anblick auf und hielt sich eine Hand vor den Mund, Bandaäl sog laut Luft ein.

Kiras dagegen sah an ihm vorbei. Dorthin, wo sich kurz zuvor die Einheit von Boendalin befunden hatte.

Die Männer und Frauen waren auf halbem Weg von dem Zauber eingeholt worden. Ihre Körper lagen lang auf dem Boden ausgestreckt, und nach einer Bewegung innerhalb des Teppichs aus Gliedmaßen hielt sie umsonst Ausschau. Schuldgefühl stieg in ihr auf. Hätte sie Boendalin nicht auf die Streben aufmerksam gemacht, befänden sie sich alle in Übeldamm in Sicherheit.

Der Zwerg hielt den Kopf leicht gesenkt. Eine schwarze Haarsträhne hing ihm in die Stirn und tanzte im leichten Wind. Ohne dass er etwas sagte, flammten schwarze Lohen um die Hammerköpfe auf, und er hob langsam die Arme.

Kiras schob sich vor die Geschwister und packte ihr Schwertbeil. »Versucht, bis zum Tor zu gelangen«, sagte sie. Sie fürchtete sich wie niemals in ihrem Leben zuvor, und sie wusste, dass man es ihr ansah. Bandaäl und Sanda wollten sie nicht allein zurücklassen. »Tut es!«, herrschte die Untergründige sie an. »Ihr seid mehr wert als ich.« Die Geschwister liefen los, und der Zwerg ließ sie passieren. Er hielt die braunen Augen auf Kiras gerichtet. Die Mimik war ausdruckslos, nur auf seinen Wangen zeigte sich Bewegung. Sollte es ein Lächeln sein?

Kiras würgte Speichel die trockene Kehle hinab, er rann zäher als Sirup den Schlund nach unten. »Greif an, wenn du mich tot sehen willst!«, rief sie dem Zwerg entgegen und richtete die Spitze ihrer Waffe gegen ihn. »Du wirst dich wundern...« Mehr konnte sie nicht mehr sagen.

Der Zwerg bewegte sich so schnell, dass sie seine Handlungen nicht nachvollziehen konnte. Unerwartet stand er neben ihr und schlug ihr den brennenden Hammer gegen die Brust. Ihr Panzer stand an dieser Stelle sofort in Flammen, auch wenn es im Grunde nichts daran gab, was derart gut Feuer fing.

Der zweite Hammer traf sie gegen den Hinterkopf, und siebrach nahezu ohnmächtig zusammen. Sie hörte das Knistern der Lohen sehr nah an ihrem Ohr. Es scherte das Metall ihres Helmes offenbar nicht, dass es eigentlich nicht brennen konnte. Wo die Waffen des Zwerges einschlugen, loderte es.

Im Fallen streifte sie sich den Helm ab und rollte sich auf den Bauch, um den Brand auf ihrer Brust zu ersticken.

Ein Fuß drehte sie auf den Rücken, und das fürchterliche Gesicht ihres Feindes war unmittelbar vor ihr. Wieder schaute er sie an, ein Hammer schwebte vor ihr. Das schwarze Feuer um ihn war erloschen, doch die Hitze, die davon ausging, war deutlich spürbar. Er presste ihr den Kopf gegen die Stirn, zischend brannte sich das Metall in ihr Fleisch.

Kiras schrie auf und verlor das Bewusstsein.

Goda sah die leuchtende Wand auf die Flüchtenden zukommen und vergaß alles, was sie sich vorgenommen hatte. Drei ihrer Kinder standen im Begriff, ihr Leben zu lassen. Untätigkeit würde ihr weder Ingrimmsch noch sie selbst sich jemals vergeben können. Sie sprang durch die Lücke und ließ den Zauber fallen, der die Barriere geöffnet hatte, um Boendalin entgegenzueilen und seine Truppe vor dem magischen Angriff zu bewahren.

Goda überlegte fieberhaft, was sie der Wand entgegenzusetzen hatte. Der feindliche Magus beherrschte große Kräfte. Diese schimmernde Mauer aus Dornen raste von hinten gegen die Truppe, die sich auf einen Befehl hin umwandte und sich hinter den Schilden zu schützen versuchte.

Die Maga keuchte, es waren noch gute dreihundert Schritt bis zu ihrem ältesten Sohn. Sie hatte begriffen, dass es ihr niemals gelingen würde, sämtliche Krieger vor dem Angriff zu schützen. Ihre linke Hand hielt zwei Dutzend Splitter in der Hand. Sie würden auch nichts ausrichten.

»Nimm sie gnädig bei dir in der ewigen Schmiede auf«, betete Goda und wob einen Schutzzauber, den sie allein um Boendalin legte. Er verschwand in einem Flimmern. Dann war die Lichtmauer heran und krachte gegen die Truppe.

Es schmerzte sie, den Untergang so vieler tapferer Seelen mit ansehen zu müssen. Die Spieße durchbohrten die Schilde und Rüstungen, schoben sich durch die Leiber und drückten die Toten gegen die Lebenden, bis sie sich vor der Mauer auftürmten wie Sand an einem umgedrehten Schaufelblatt; letztlich erlosch die Wand und löste sich auf, und die Leichen kullerten auseinander, verteilten sich durch den restlichen Schwung auf der Erde.

»Boendalin!«, schrie sie und rannte weiter. Sie sah ihn, umgeben vom Schimmern, vor den Getöteten stehen. Er konnte es nicht fassen, dass er verschont worden war und die anderen nicht. »Komm hier herüber!«, rief Goda. Die Splitter zerfielen zwischen ihren Fingern und verteilten sich im Wind.

Dichte Staubschleier wehten und raubten ihr die Sicht. Aus Furcht vor einer weiteren Attacke fasste sie wieder in die Tasche. Sie überschlug grob die Anzahl der Splitter und merkte, dass die Hälfte ihres Vorrats aufgebraucht war. Wieder rief sie den Namen ihres Sohnes.

»Hier, Mutter«, keuchte er vor ihr und kam durch den Nebel aus Dreck auf sie zu. Er hatte den Arm schützend vor Mund und Nase gelegt, die Augen waren leicht zusammengekniffen. »Was ist geschehen?«

»Der Magus hat...« Goda sah durch die sich lichtenden Schwaden hindurch Bandaäl und Sanda zusammen mit Kiras vor einem Zwerg in einer rötlich-gelben Rüstung stehen, der ihr den Rücken zuwandte, als müsse er sie nicht fürchten. Oder er hatte sie noch nicht bemerkt? »Ist er das?«

Boendalin blickte zwischen seinen Geschwistern und den Leichen der Soldaten hin und her. »Wieso hast du nicht uns alle gerettet?«, fragte er heiser.

Die Hammerköpfe wurden plötzlich von schwarzen Lohen umspielt.

»Er greift sie an!« Goda bereitete in tiefster Sorge einen Zauber vor.

Bandaäl und Sanda liefen rechts und links an dem Unbekannten vorüber, während sich die Untergründige bereit machte, gegen den Zwerg zu kämpfen.

Boendalin wollte zu ihr eilen, aber Goda hielt ihn zurück. »Du kannst ihr nicht gegen diesen Feind beistehen. Dazu bedarf es einzig und allein meiner Kräfte.« Sie hatte sich für einen weiteren Angriffsspruch entschieden, der den Zwerg mit mehrfachen Blitzeinschlägen überschütten sollte. Aber bevor sie den Spruch vollendet hatte, fällte der Gegner Kiras mit zwei Schlägen, dann drückte er der Liegenden den Hammer ins Gesicht; die Untergründige regte sich nicht mehr.

Goda ließ den Energien freien Lauf. Aus allen zehn Fingern zuckten Blitze auf den Zwerg zu, der den Kopf hob, die Stiele seiner Hämmer überkreuzte und sie an den ausgestreckten Armen nach vorn reckte. Bandaäl und Sanda hatten ihre Mutter erreicht und sahen, was sich tat. Die gleißenden Bahnen überbrückten die Entfernung in zackigen Linien, überholten sich gegenseitig, fielen zurück, als wollten sie ein Wettrennen veranstalten, wer den Zwerg zuerst erreichte.

Der erste Blitz schlug in den vorderen Hammerkopf ein und entlud seine Macht. Noch heller als die Energie selbst leuchteten die Symbole auf dem Metall auf, und schon erfolgte der nächste Einschlag.

Der Zwerg wurde durch die Stärke nach hinten geschoben, seine Sohlen zogen tiefe Furchen in den lockeren Boden - aber weder verging noch stürzte er! Nachdem der letzte Strahl gegen ihn geprallt war, senkte er die Arme langsam, drehte den Oberkörper leicht und spreizte erneut die Arme ab. Eine Pose der vollkommenen Überlegenheit.

Dann wandte er sich einfach ab und schritt zu seinen Bestien zurück. Kiras ließ er achtlos auf dem Boden liegen.

Abrupt kreiselte er herum, die Hämmer gegen die Maga gerichtet. Zwei Runen auf seiner Panzerung leuchteten auf und schienen mit ihrem Schimmern einen Edelstein zu speisen, der in Höhe des Sonnengeflechts auf seiner Brust lag. Er erstrahlte, und ein ockerfarbener, armdicker Strahl löste sich daraus. Die Waffenköpfe dienten als seitliche Begrenzung, und es schien, als steuere der Zwerg den Strahl damit.

Mit einem tiefen, gefährlichen Brummen flog er auf Goda und ihre Kinder zu; die Erde, die sich unter ihm befand, verbrannte und färbte sich schwarz.

Goda langte wieder in die Tasche und schuf einen hastigen Gegenzauber, an dem die feindliche Magie mit einem lauten Knistern und Knirschen porzellangleich zerplatzte. Die Hitze, mit der sie dennoch überschüttet wurden, raubte ihnen den Atem und ließ Barte, Brauen und vorwitzige Haarsträhnen versengt zurück. Sie mussten die Lider schließen, um die Augen vorm Austrocknen zu schützen.

Als sie sie wieder hoben, war der Zwerg verschwunden. Die Scheusale standen abwartend in vierhundert Schritt Entfernung am Eingang der Schlucht und sahen zu ihnen herüber. »Holt Kiras«, befahl Goda heiser und sah sich um. Der Magus hatte sich schier unsichtbar gemacht.

Boendalin spurtete davon, warf sich die Untergründige über die Schulter und kehrte mit ihr zurück.

Da schrien die Ungeheuer auf und hetzten auf sie zu.

Rechtzeitig genug gelangten sie an die Barriere, dahinter lag das rettende Südtor. Goda sammelte die letzten Reste ihrer Konzentration und zwang den rötlichem Schirm ein weiteres Mal, eine Lücke für sie zu öffnen.

Mit Mühe und Not gelang es ihr, als Letzte kehrte sie in die Festung zurück. Doch auch als das Tor hinter ihr geschlossen wurde, fühlte sie sich keinesfalls sicher. Die Macht des entstellten Zwerges übertraf ihre Befürchtungen bei Weitem.

Boendalin legte Kiras auf eine Trage. »Sieh nach ihr, Mutter«, bat er und benetzte ihr Gesicht mit Wasser.

Die Soldaten um sie herum und auf den Wehrgängen über ihnen bedachten die Rückkehrer mit mitleidigen Blicken; der ein oder andere hatte seine Vorhaltungen wegen des schlechten Ausgangs und des Todes so vieler Kampfgefährten offen im Gesicht stehen. Der Zwerg seufzte schwer.

Goda prüfte den Herzschlag der Untergründigen. »Es ist alles in Ordnung«, beruhigte sie Boendalin und ihre anderen beiden Kinder, die voller Sorge neben dem Lager warteten. »Außer der Brandwunde im Gesicht hat sie keine weiteren Schäden davongetragen.«

Die Maga kannte das Zeichen nicht, das der feindliche Magus Kiras in die Stirn gebrannt hatte. Sollte es eine Demütigung sein? Weswegen hatte er sie verschont - wegen ihrer dummen Tapferkeit?

»Es ist meine Schuld«, sagte Boendalin neben Goda. Er klang mehr als niedergeschlagen. »Wir hätten uns zurückziehen sollen, nachdem wir die Katapulte vernichtet hatten. Nur weil ich die Truppe unbedingt noch gegen die Masten habe führen wollen, sind sie tot.« Er hob den Kopf. »Es ist meine Schuld«, rief er den schweigenden Kämpfern auf den Mauern zu.

»Unsinn. Es ist Krieg, und dabei sterben Menschen, Zwerge, Ubariu und Untergründige«, widersprach Goda und richtete sich auf. »Jeder von ihnen wusste, dass es ein äußerst gefährliches Unterfangen war. Sie haben sich freiwillig gemeldet, um dich zu begleiten.« Boendalin ließ sich nicht von ihr trösten. »Ich sollte bei ihnen da draußen liegen.« Er senkte die Stimme. »Ich verdanke es deiner Kunst, dass ich noch lebe. Nicht meinen starken Armen oder meinen Fähigkeiten als Kommandant. Darin habe ich heute versagt. Ich werde diesen Umlauf niemals mehr vergessen, mein ganzes Leben nicht. Jeder einzelne Name der Toten wird mich daran erinnern, ein besserer Feldherr zu sein.« Er wollte gehen.

Goda berührte ihn an der Schulter. »Und trotzdem war es ein Erfolg. Das Lager ist abgebrannt, und die Katapulte sind vernichtet. Sie haben ihr Leben nicht umsonst gegeben.«

»Sie hätten ihr Leben gar nicht verloren. Ohne meine zweite Anweisung.« Er ließ sie stehen und ging zu seiner Unterkunft.

Sanda und Bandaäl kamen zu ihr und bedankten sich für ihre Rettung mit langen, tränenreichen Umarmungen. Goda sandte sie weg, damit sie sich ausruhten. Sie stieg in den Aufzug, um sich vom Turm aus einen Überblick zu verschaffen: Sie hatte nicht gelogen, denn der Ausfall hatte ihnen zum einen wertvolle Zeit und zum anderen die Erkenntnis geliefert, dass sie den Magus auf der anderen Seite niemals allein bezwingen würden.

Ihre Blicke schweiften über die Barriere, unter der dicke Qualmwolken hingen. Trotz aller Verluste blieb sie bei der Meinung, dass sie einen Erfolg gegen die Scheusale errungen hatten. Einen zweischneidigen.

Bis zum Sommer müssen wir ausharren, Vraccas, betete sie stumm. Ihre Hand tauchte in die Tasche und fand darin abgesehen von sehr, sehr viel Staub vier Diamantsplitter. Die letzten...

Загрузка...