XXXII

Das Jenseitige Land, die Schwarze Schlucht, 6492. Sonnenzyklus, Frühsommer.


Ingrimmsch hätte zu gern den Angriff befohlen, doch es stand ihm nicht zu, auchwenn er das Duell zwischen Famulus und Meister beendet sah. Slins Eingreifen hatte es gegen die Regeln entschieden, doch er war dem Vierten deswegen nicht böse. Tungdil hatte Blutdürster erreicht und zog ihn mit beiden Händen aus dem Schlamm, da wurden die Krieger des Zwerges in der Vraccasium-Rüstung plötzlich unsichtbar! »Heere, greift an«, befahl der Einäugige. »Greift an und tötet sie!«

Das Zwergenheer stürmte vorweg und eilte dorthin, wo sich eben noch die Gegner befunden hatten. Keiner tat es mit einem guten Gefühl, weil sie jederzeit von unwahrnehmbaren Klingen getroffen werden konnten.

Auch die Ubariu, die Menschen und Untergründigen rannten herbei.

Lot-Ionan sandte dem Meister weiße Energieblitze aus seinen Fingern, doch der Schwerverletzte hob die rechte Hand und fing die Strahlen mit dem im Handschuh eingelassenen Rauchdiamanten ab; der Edelstein glitzerte hell, mehr geschah nicht. Ingrimmsch sah, dass der Magus merklich blasser wurde und etwas zu Coira rief. Verflucht, es wird sogar hart für ihn? Sie nickte zögerlich und richtete ihren linken Arm auf den Feind, Lot-Ionan tat das Gleiche. Anscheinend wollen sie ihre Kräfte vereinen. Die ersten verzauberten Feinde hatten die Reihen der Streitmächte erreicht, wie man an der Wirkung ihres Angriffs sah. Jetzt offenbarte sich die Schrecklichkeit der sensengleichen Waffen, die Ingrimmsch zuvor bei den riesigen Kriegern gesehen hatte: Sie mähten sich regelrecht durch die Soldaten, die Klingen durchtrennten alles und schufen Todeshalbkreis um Todeshalbkreis, in denen jedermann zerteilt auf den Boden fiel. Wie Schnitter marschierten sie quer durch die Linien, als seien die Krieger Korn halme. Wer nicht von den Schneiden, sondern nur von einem dornengespickten Schaft getroffen wurde, erlitt schwere Verletzungen und flog schrittweit umher, ehe er in den eigenen Reihen einschlug. Die Feinde selbst blieben unsichtbar.

Die Wirkung auf die Heere blieb nicht aus.

Der Vormarsch geriet auf allen vier Seiten ins Stocken, und nicht wenige Soldaten wandten sich in ihrer Furcht vor dem ankündigenden Surren der Sensen zur Flucht. Die anderen einhundert Gegner, die mit Äxten und Schwertern bewaffnet waren, hatten sich dem Anschein nach in kleineren Gruppen gegen die Heere geworfen und tobten sich darin aus. Auch sie schufen Breschen, und ihre Schläge überlebte keiner der Getroffenen.

Wie soll man denn gegen diese Feinde kämpfen? Ingrimmsch sah, dass die Soldaten neben Coira unvermittelt davongeschleudert wurden. Heilige Esse! Einer der unsichtbaren Streiter hat sich den Weg zur Maga gebahnt! Lot-Ionan war in seinen Zauber vertieft, während sie mit einem Schrei die Vorbereitung abbrach und zur Seite sprang. Ingrimmsch rannte zu Coira und überlegte, wie er seinen Feind sichtbar machen konnte.

Die Schlacht tobte um ihn herum, die Heere setzten sich gegen die heimtückischen Feinde zur Wehr und töteten auch einige von ihnen. Aber sie waren schwer zu erkennen und noch schwerer zu besiegen. Sie vertrugen unglaublich viele Treffer, ehe sie zusammenbrachen; dazu kamen die dicken Rüstungen und Schilde, die zusätzlichen Schutz verliehen.

Ingrimmsch hatte Tungdil aus den Augen verloren, weil er die Maga retten wollte. Coira besaß zwar die Macht, sich zu verteidigen, aber sie wich einfach nur zurück und schrie voller Todesangst. Ihr Gemüt war nicht das einer Kriegerin.

Lot-Ionan hatte seinen magischen Angriff unterdessen gegen den Meister geschleudert - und die Strahlen prallten gegen eine neuerliche Barriere! Sie leckten um die hellrote Glocke und schlossen sie vollständig ein, um schließlich zu erlöschen.

»Verdammte Närrin! Seht, was Ihr mit Eurem Zaudern angerichtet habt!« Der Magus fluchte und blickte zu Coira, die sich mit dem Fuß im Saum ihres Kleides verhedderte und rücklings in den Morast fiel.

Damit schien sie der Attacke mit der überlangen Sense durch Fügung entgangen zu sein, denn um sie herum fielen Zwerge verletzt und verstümmelt zu Boden. Blut und Gliedmaßen flogen umher.

Ingrimmsch hatte sie fast erreicht und wollte seinen Augen nicht trauen: Lot-Ionan wandte sich einfach ab, anstatt der Frau zu helfen. Er hielt auf den magischen Schild zu, hinter dem sich der Meister den Armbrustbolzen aus dem Kopf zog. Die Wunde schloss sich, sobald die Spitze den Schädel verlassen hatte, und er stellte sich auf die Beine, als sei nichts geschehen. Mit einfachen Waffen war er nicht zu besiegen.

»Vraccas, wir brauchen deinen Beistand!« Ingrimmsch sah weitere Zwerge zerteilt in den Schlamm sinken, Blut und Matsch spritzten auf. Er starrte auf den Boden, um die Fußabdrücke des unsichtbaren Kriegers auszumachen und - tatsächlich! Es waren gewaltige Sohlen.

»Habe ich dich«, grollte er und nahm Anlauf zu einem gewaltigen Sprung, der seinen Schlag ungefähr ins Kreuz oder den Nacken führen sollte. Ingrimmsch drückte sich ab und legte viel Kraft hinein, dabei schwang er den Krähenschnabel über den Kopf und drosch zu.

Der Dorn durchschlug etwas, und ein lauter Schrei erklang. Dann prallte der Zwerg gegen Metall und hielt sich mit aller Gewalt am Griff seiner Waffe fest, während sich sein Gegner drehte und wendete, um ihn abzuschütteln wie ein wildes Pferd seinen Reiter.

Aber Ingrimmsch dachte gar nicht daran, die Finger zu lösen. Er hing mit den Füßen anderthalb Schritte über dem Boden, pendelte hin und her und lachte dabei wild. »Bocke ruhig! Es wird dir nichts nützen!« Er zog rasch seinen Dolch mit einer Hand und klemmte ihn zwischen die Zähne, danach zog er sich beidhändig am Stiel empor, bis er auf der Höhe des Waffenkopfes angelangt war, und stieß die Klinge mit einer Hand in die Wunde, aus der rotes Blut lief. »Wie gefällt dir das, Lulatsch!?«, grölte er und stocherte darin herum, bis er in dem ganzen Fleisch einen Knochen entdeckte. Mit einem Hieb bohrte er den Dolch hinein, dass er festsaß.

»Fahr zu Tion!« Ingrimmsch nutzte nun den Dolch als seine Halterung, zog den Krähenschnabel heraus und schlug damit nach oben.

Ein Scheppern erklang, als der Dorn Metall perforierte, und das Aufbäumen endete. Jäh ging es für den Zwerg vorwärts und nach unten. Ingrimmsch kniete sich erst hin, sobald der Winkel weniger steil wurde, und als der unsichtbare Krieger vor Coira aufschlug, stand er auf dem Rücken des Gegners, die Hände um den Griff des Krähenschnabels geschlossen. »Ho, das war nicht leicht«, rief er der Maga zu. Er riss die Waffe aus dem Feind, der mit seinem Tod Gestalt annahm und sich in seinen ganzen erschreckenden Ausmaßen präsentierte.

Ingrimmsch stieg über den Kopf und hüpfte vor der Maga auf die weiche Erde. »Das Geborgene Land braucht Euch!«, bat er sie eindringlich und hielt ihr seinen verschmierten Handschuh hin. »Überwindet Eure Furcht und besinnt Euch Eurer Kräfte, sonst nimmt es ein böses Ende.« Er deutete zur Barriere. »Helft Lot-Ionan!« Coiras Augen flackerten, sie ängstigte sich unbändig und wagte es nicht einmal, die Hand des Zwerges zu ergreifen. »Ich kann nicht«, flüsterte sie. »Ich fürchte mich so sehr.«

Ein lautes Zischen ertönte, und der Morast fing an zu kochen. Ruckartig stiegen breite Fontänen auf dem gesamten Schlachtfeld in die Höhe und stürzten aus zwanzig Schritt auf die Heere. Der Einschlag warf etliche Kämpfer um, der weiche Matsch legte sich über die Rüstungen, die Helme, die Augen - und über die hünenhaften Feinde! Der Mantel aus Dreck machte aus ihnen endlich bekämpfbare Gegner, und das wussten vor allem die Zwerge zu nutzen.

Das war Godas Werk!, dachte Ingrimmsch und fühlte schon wieder Stolz. Da sich Coira nicht bewegte und ihn gleichgültig anstierte, wandte er sich um und rannte zur Barriere. Menschenweiber! Aus den Augenwinkeln sah er Balyndar ebenfalls darauf zueilen, und auch Tungdil näherte sich ihr ebenso wie Lot-Ionan. Ingrimmsch feixte. Dieses Quartett würde der Zwerg in der prunksüchtigen Rüstung nicht aufhalten können. »Gleich bist du ein Meister gewesen«, versprach er dem Unbekannten.

Nacheinander gelangten sie an den Schirm, hinter dem sie den Meister und den Letzten seiner Krieger sahen.

»Los«, drängte Ingrimmsch den Magus. »Lass sie zusammenfallen, damit wir ihn uns schnappen können!«

Lot-Ionan beachtete ihn nicht weiter. Seine Finger malten Zeichen in die Luft.

Tungdil trat an die Barriere und pochte mit Blutdürster dagegen, und es klang wie Glas. »Unser Zweikampf ist noch nicht beendet. Deine Männer werden besiegt, wie du siehst. Wäre es für dich nicht ein Ansporn, mich wenigstens tot zu sehen, auch wenn du alles andere verloren hast?«

»Der, der viele Namen trägt«, sagte der Krieger neben ihm, »verkündet, dass diese Schlacht nicht vorüber ist. Doch bis dahin«, die Barriere stülpte sich plötzlich über Tungdil und schloss ihn ebenso darunter ein, »wird er mit dir kämpfen und dich strafen.« Dann nahm er sein schwarzes Rufhorn und blies hinein. Die Bohrungen darin erlaubten es ihm, ähnlich einer Flöte verschiedene Melodien zu spielen. »Nein!«, rief Ingrimmsch und schlug mit dem Krähenschnabel gegen den Schirm. Es summte, aber die Barriere verschwand nicht. »Lass mich hinein!«

Balyndar packte ihn an der Schulter und zwang ihn, zur Schlucht zu blicken. »Was tun wir jetzt?«

Ingrimmsch riss sich aus seinem Griff los. »Fass mich nicht...« Er bemerkte, worauf die anderen um ihn herum starrten.

Ein weiterer Kordrion erschien in der Spalte, dessen Kopf wesentlich kleiner war als der eines ausgewachsenen Exemplars - doch dann schob sich ein weiterer Schädel und noch einer und wieder einer aus der Schlucht. Das Biest kam zum Vorschein und zeigte sich dem Heer der Verteidiger des Geborgenen Landes.

»Ein Kordrion mit vier Köpfen«, stöhnte Ingrimmsch.

Tungdil hatte den Kampf gegen seinen Meister wieder aufgenommen, während sich die schimmernde Schutzglocke weiter ausdehnte und ihren Durchmesser auf zehn Schritt verbreiterte. Die Zwerge und Lot-Ionan mussten zurückweichen. Ingrimmsch fluchte und sah zum Magus, der noch immer Magie wirkte, aber anscheinend ohne Beistand nicht gegen den Schirm ankam. »Goda!«, rief er. »Goda, wir brauchen dich.«

»Vergehe!« Balyndar schlug gegen die Energiehalbkugel, doch die Feuerklinge erreichte nichts. Sie federte zurück und hätte ihren Träger beinahe mit den Widerhaken verletzt.

Der Hüne ließ das Horn merkwürdige Laute von sich geben, und der Kordrion warf sich fauchend und zischend vorwärts gegen die Truppe, die ihm am nächsten stand. Das waren die Ubariu, die mit weißem Feuer regelrecht überschüttet wurden.

Die Köpfe spien die Flammen in drei verschiedene Richtungen, sodass der größtmöglichte Schaden unter den Soldaten angerichtet wurde. Nach einem zweiten Signal entfaltete das Scheusal seine Schwingen, flatterte in die Höhe und landete im Herzen des Ubariu-Heeres. Es zermalmte die mächtigen Soldaten unter sich, zwei Köpfe schnappten umher, die anderen beiden sandten erneut Lohen gegen die Feinde. »Mach schon, Zauberer!«, brüllte Ingrimmsch Lot-Ionan an. »Wir brauchen diese Tröte!«

Der Kampf zwischen Tungdil und seinem Meister verlief unterdessen recht ausgeglichen. Keiner gewann die Oberhand, sie fügten sich gegenseitig leichte Schnitte und Beschädigungen an den Rüstungen zu; die Runen darauf schwiegen. Ingrimmsch wusste nicht, warum.

Goda erschien schwer atmend. »Ich habe nur noch Kraft für einen Zauber«, gestand sie. »Und genau diese benötige ich«, sagte Lot-Ionan nach vorne, ohne sie anzusehen. »Du kennst den Spruch der Sarifanie?«

»Du weiß, dass du ihn mir beigebracht hast, kurz bevor ich mich von dir lossagte«, gab sie zurück. »Es ist keine gute Magie.«

»Darauf kommt es nicht an«, fuhr Ingrimmsch sie an. »Nicht jetzt, Goda! Hilf ihm, die Barriere zu durchbrechen, oder der Kordrion vernichtet ein Heer nach dem anderen!« Ungeduldig schwang er seine Waffe und merkte, wie das Blut an ihm trocknete. Die Zwergin tat sich sichtlich schwer, neben ihren einstigen Lehrer zu treten und ihre linke Hand in seine Rechte zu legen. Beide richteten die Zeigefinger der anderen Hand gegen den Schirm, dann schlossen sie die Augen.

Da bekam Tungdil einen Hieb mit dem Hammer gegen den Kopf, und er wurde keine zwei Handbreit von Ingrimmsch entfernt gegen die Barriere geschleudert. Der Helm flog davon, Blut rann aus der klaffenden Platzwunde über der Stirn.

Was ...? Ingrimmsch sah mit schreckensgeweiteten Augen auf das Gesicht des Freundes: Es war voller schwarzer Linien, ganz in der Weise eines erzürnten Albs, und sie gingen von der goldenen Augenklappe aus. Er erwartete jeden Moment, dass das Gesicht zerfiel wie eine geborstene Schüssel.

Tungdil schüttelte sich und wehrte den nächsten Hieb ab, schlug zu und erwischte seinen Meister mit Blutdürsters gezahnter Seite im Gesicht. Die Spitzen stachen durch die Haut in die Knochen und steckten fest.

Blindlings schlug der Zwerg in der Vraccasium-Rüstung um sich, und Tungdil packte die Hand, brach das Gelenk und nahm sich den Hammer, um gleich danach zur Seite zu weichen. Er führte einen mächtigen Hieb gegen Blutdürsters Schneide und trieb damit die geschliffenen Eisenspitzen tiefer in das Gesicht seines Widersachers. Der Meister fiel auf den Rücken und versuchte, von Tungdil wegzukriechen, während sein Blut aus den Wunden den Hals entlang auf den Boden tropfte.

Der Krieger blies ein weiteres Zeichen.

Der Kordrion ließ von den beinahe gänzlich ausgelöschten Ubariu ab, um sich mit einem Schwingenschlag und einem Sprung auf die Menschen zu werfen. Die Krieger versuchten nicht einmal, Widerstand zu leisten, sondern rannten um ihr Leben. Die Katapulte auf den Wehrgängen hatten den Beschuss aufgenommen. Die eigenen Verluste durch fehlgegangene Geschosse wogen zwar schwer, doch ein vierköpfiger Kordrion durfte nicht lebend davonkommen. Wolken aus Speeren und Pfeilen verdunkelten das Schlachtfeld, auf dem sich die Heere ein erbittertes Gefecht gegen das Biest lieferten.

Ingrimmsch hatte kaum ein Auge dafür. Er wollte zu seinem Freund, und es war sein Freund, der unter der Glocke aus Magie stand und um den Zwerg am Boden lief, bis er oberhalb des Kopfes angekommen war. Ich muss es schaffen!

Der Scheusalkrieger zog sein Schwert und wollte in den Zweikampf eingreifen. Tungdil ließ sich nicht stören und hob den Hammer. Er drosch mit aller Kraft auf Blutdürster, einmal, zweimal, dreimal. Dabei trieb er die Waffe quer durch den Schädel des zappelnden Feindes, bis er ihn zerteilt hatte. Die heftigen Bewegungen der Arme und Beine hörten auf, erschlafft fielen sie herab und rührten sich nicht mehr. Der Famulus hatte seinem Meister das Leben genommen.

»Hussa!«, schrie Ingrimmsch außer sich. »Er hat es geschafft!«

Grimmig lächelnd zog Tungdil Blutdürster aus den Überresten und richtete die Spitze auf den letzten Feind, dessen Schritte sich verlangsamten.

Es gab ein lautes, helles Geräusch, als schieße ein heftiger Sturm durch ein zerklüftetes Gebirge, und die Barriere verschwand flackernd. »Gelehrter, lass den Lulatsch mir!«, brüllte Ingrimmsch und spurtete mit erhobener Waffe auf den Krieger zu, der das Ende seines Herrn nicht hatte verhindern können. Er sah, dass der Feind das Horn an die Lippen führte, und tat, was man als Zwerg nur dann tat, wenn man eine zweite Waffe mit sich führte: Er schleuderte den Krähenschnabel!

Surrend flog die Waffe dem Hünen entgegen, und just in dem Augenblick, als er den ersten Ton spielen wollte, krachte der Dorn durch den Helm in die Stirn und zerstörte das Gehirn. Der Krieger stürzte nieder, das Horn fiel zu Boden und zersprang in viele kleine Stücke.

»Ha!« Ingrimmsch riss die Fäuste in die Höhe und wandte sich zu seinen Freunden um. »Habt ihr gesehen, was ich...« Der Mund blieb ihm offen stehen.

Goda war vor Lot-Ionan auf die Knie gesunken, und noch immer waren sie an den Händen miteinander verbunden. Sie wand sich unter Schmerzen, ihr Gesicht war verzerrt, und sie atmete sehr schnell.

Lot-Ionans anderer Arm war nach vorne gereckt, über der Handfläche schwebte ein lilafarbener Energieball, aus dem kleinere Strahlen hervorzuckten und gleich wieder zurückschnellten; dann änderte sich die Farbe zu einem tiefen Grün.

»Ich wusste, dass es die Zwerge auch ohne meine Kräfte meistern können«, sagte er lachend. »Ich sparte sie mir für jetzt auf.«

Balyndar wollte sich auf den Magus stürzen, doch vor ihm erhoben sich unvermittelt herrenlose Waffen aus dem Schlamm und richteten sich auf ihn.

»Niemand kommt an mich heran, wenn ich es nicht erlaube.« Lot-Ionan sah hinüber zu dem Kordrion. »Ein schönes Tier. Es beschäftigt die Heere für mich, damit ich danach weniger Todesarbeit zu verrichten habe, bevor ich ins Geborgene Land zurückkehre. Mein Traum von der alleinigen Herrschaft wird wahr.« Er deutete eine Verbeugung vor Tungdil an. »Dank dir, Ziehsohn. Ohne dich hätte ich es niemals geschafft.« »Da seht ihr es!«, rief Balyndar. »Er ist ein Verräter!«

»Nein. Ganz im Gegenteil.« Ein Blitz flog aus der Kugel und traf Tungdils Rüstung. Keine Rune schimmerte zur Verteidigung auf, die Energie traf seine Brust und schleuderte ihn nach hinten, wo er neben seinem toten Meister niederstürzte. »Er hatte es ernst gemeint. Nur ich halte nichts von Abmachungen mit Kreaturen, die weit unter mir stehen. Aber es gab mir die Gelegenheit, mich näher mit den Schutzzaubern auf der Panzerung zu beschäftigen.« Lot-Ionan schmunzelte. »Mit Erfolg.«

»Ich schlage dich aus deiner Kutte!« Ingrimmsch setzte einen Fuß nach vorn. »Noch einen Schritt, und deine Gefährtin verteilt sich mit einem großen Knall über das Land«, warnte ihn der Magus ruhig.

Sofort blieb Ingrimmsch stehen. »Auf was wartest du? Warum tötest du uns nicht gleich?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich euch vielleicht nicht noch brauche.« Lot-Ionan verfolgte, wie der Kordrion sich durch die Reihen der Untergründigen wühlte und sie mit schnellen Bissen tötete. »Andererseits wird es genügen, wenn ich euch ausstopfe.« Die Schwerter, die vor Balyndar schwebten, stießen vorwärts. Drei Klingen konnte er abwehren, dann fuhren sie ihm durch den Leib, die Arme und Beine; einzig Kopf und Hals blieben verschont. Aufstöhnend kippte er in den Morast und verlor das Bewusstsein.

»Genug!«, dröhnte eine klare Stimme. »Ich kann dich aufhalten, Lot-Ionan. Die Zeiten von dir als verbrecherischem Magus sind vorüber!«

Ingrimmsch staunte nicht schlecht, als er Rodario auf dem Schlachtfeld stehen sah. In der rechten Hand hielt er einen Rauchdiamanten... den Rauchdiamanten, den er Tungdil damals zurückgebracht hatte, als er ihn in Übeldamm verloren hatte! »Dieses Artefakt besiegelt deinen Untergang!« Der Mime sprach stark betont, wie es sich für einen solchen Auftritt gebührte, und kam langsam auf die Gruppe zu. »Ich weiß um seine Macht und werde sie einsetzen und dabei keinerlei Rücksicht auf dich und deine alten Verdienste nehmen.« Wie einen Schild hielt er den Stein vor sich. Lot-Ionan hob die Augenbrauen, dann lachte er laut auf. »Ein Schauspieler, habe ich recht? Er sieht aus wie Rodario und spricht wie er. Eine gelungene Vorstellung. Doch leider nutzlos.« Er sandte ihm einen Strahl zu, der exakt in den Stein einschlug. Der Rauchdiamant leuchtete auf und zerfiel in den Fingern des Mannes zu schwarzem Kohlenstaub. »Bei Samusin! Ich hätte schwören können, dass er etwas Besonderes ist«, sagte Rodario enttäuscht.

»Nein, war er nicht«, höhnte der Magus. »Bringen wir es zu Ende, bevor...« Knisternd schössen ein halbes Dutzend rote Blitze in seinen Rücken. Lot-Ionan wurde nach vorn geschoben und stürzte über Goda, die sich von ihm losriss und einen Dolch zog, um ihn dem Magus durch die Kehle zu stoßen.

Doch Lot-Ionans Energiekugel hielt sie mit einer Entladung gegen die Stirn auf, lautlos brach sie zusammen.

»Goda!« Ingrimmsch rannte los und vergaß dabei, dass sein Krähenschnabel noch immer in dem Gegner steckte.

Eine verdreckte Coira stand keine zehn Schritte von ihnen entfernt und bewegte die Hände für einen weiteren Zauber. Sie hatte ihre Furcht zum rechten Zeitpunkt überwunden.

Lot-Ionan blieb auf den Knien und formte ebenso einen Zauber.

Es sirrte, und ein Armbrustbolzen fuhr dem Magus durch den Rücken ins Herz. Slin hatte wieder zugeschlagen, doch noch hielt sich Lot-Ionan. Es bestand die Gefahr, dass er einen letzten, gewaltigen magischen Schlag führte.

Schreiend packte Ingrimmsch im Vorbeirennen die Feuerklinge, ließ sie einmal um den Kopf kreisen und drehte sich in den waagrechten Schlag, der auf Lot-Ionans Hals zielte. Der Schweif entstand glühend hinter dem Axtkopf, Wärme schlug dem Zwerg entgegen - und dann traf er!

Die geschliffenen Diamanten trennten den Kopf und die Bartsträhnen ab, der Leichnam stürzte neben Goda zusammen, während der Schädel einen Bogen beschrieb und mit dem Stumpf nach unten im Dreck landete.

»Vraccas!«, rief Ingrimmsch keuchend und begriff seine heldenhafte Tat zunächst nicht. Er starrte auf den Kopf, auf das Gesicht des Magus und sah deutlich, dass sich die Lippen noch immer bewegten und danach ein Lächeln auf den Zügen entstand; dann drehten sich die Augen nach oben weg und verloren den lebendigen Glanz. »Was? Hat er noch...?«

Plötzlich stand Tungdil neben ihm. Nichts in seinem Gesicht erinnerte an die schwarzen Striche. »Brich ihn auf!«, verlangte er verzerrt, die rechte Hand hielt sich das Loch in der Rüstung in Höhe der Brust. »Hörst du nicht?« Als der immer noch verwun derte Zwerg nichts unternahm, griff Tungdil den Dolch, ließ sich nieder und schlitzte den Toten brutal auf.

Ein grünes Leuchten im Körper des Magus, dessen Stärke zunahm, machte das rote Fleisch von innen durchsichtig. Rauch kräuselte, es stank verbrannt.

»Bei den Infamen!« Tungdil wühlte sich durch das Gewebe, das Blut reichte bis an die Ellbogen. Dann schloss sich seine Faust, und er riss sie mitsamt dem Fleisch heraus. Ingrimmsch hörte das Zischen aus dem Innern des Handschuhs. Wie Wasser auf einer glühenden Herdplatte. »Was, bei Vraccas, ist das?«

»Der Malachitsplitter«, gab sein Freund hastig zurück und stemmte sich auf die Beine. »Lauft zur Festung«, befahl er und rannte auf die Schlucht zu.

»Was? Warum, Gelehrter?«

»Lauft einfach so schnell und so weit ihr könnt!«, rief Tungdil und hetzte den Weg in die Spalte entlang, bis ihn die Schatten verschluckten.

Ingrimmsch versuchte Goda aufzuhelfen, doch weil sie sich nicht rührte, warf er sie sich über die Schulter. »Heda, Schauspieler! Schnapp dir Balyndar!« Er nahm sein Rufhorn vom Gürtel und gab den Zwergen den Befehl zum Rückzug.

Coira sah ungläubig in die Schlucht. »Er hat uns zum Narren gehalten!« »Was meinst du damit?« Ingrimmsch sah zum Kordrion, der von den Pfeilen und Speeren schwer gezeichnet war und ihnen dennoch enorme Verluste zugefügt hatte. Er spannte die Schwingen aus und erklomm den Felsen der Schwarzen Schlucht, um sich von dort in die Tiefe gleiten zu lassen und weiter in die Luft zu schwingen. Wie es aussah, würden sie ihn nicht daran hindern können.

»Er hat sich die Macht des Magus genommen!« Die Maga schluckte. »In diesem Kristallsplitter befand sich unglaubliche Kraft. So hat er sie gespeichert!« Rodario zerrte Balyndar in die Höhe und wuchtete ihn wie einen Sack Mehl über den Rücken. »Ihr und eure Rüstungen«, murrte er und lief los. »Sie machen euch einfach zu schwer.«

Das Zwergenheer folgte dem Befehl, den Ingrimmsch gegeben hatte, und die verbliebenen Soldaten wandten sich zum Rückzug. »Was sollte er damit anfangen?«, verteidigte er seinen Freund gegen die Königin und die inneren Zweifel. »Er hat bewiesen, dass er für uns...« Bevor Coira eine Erwiderung geben konnte, tat es einen gewaltigen Schlag in der Schlucht, gefolgt von einem Beben, das alle, die sich auf dem Schlachtfeld befanden, von den Füßen holte; erst dann vernahmen sie die laute Explosion.

Ingrimmsch wälzte sich herum, damit er sah, was geschah.

Teile der Festungsmauer stürzten in sich zusammen, ganze Stücke kippten heraus und rissen die Männer darauf mit sich.

Die Schlucht war erfüllt von dunkelgrünem, gespenstischem Leuchten. Ein breiter Strahl stieg senkrecht empor und stach in den Himmel, dann erklang eine zweite Detonation, welche die Felsen rund um die Schlucht anhob. Schließlich sackte der Boden ein und riss den Stein mit sich.

Es ging so schnell, dass der Kordrion sich nicht mehr in Sicherheit bringen konnte. Er flatterte und wurde von Trümmerstücken getroffen, die ihn auf den Boden drückten. Kreischend verschwand er in der einstürzenden Schlucht, und als er mit dem Leuchten in Berührung kam, verging er zu Asche.

Eine dritte Explosion schleuderte an fünf Stellen flüssiges Gestein empor, das bis zu den Heeren flog und neuerliche Opfer forderte. Rauch und Wasserdampf stiegen auf und verdeckten letztendlich die Sicht.

Es wurde still auf dem Schlachtfeld.

Nein. Ingrimmsch stierte in die Nebel- und Dreckschleier. »Coira, könnt Ihr sie wegwehen? Ich muss wissen, was sich ereignet hat.« Ächzend stand er auf und bettete Goda auf ihren Mantel. Da sie atmete, waren seine Sorgen im Vergleich zu denen um Tungdils Wohl geringer.

Die Maga tat ihm den Gefallen und beschwor eine milde Brise, welche die Sicht aufklarte, auch wenn es noch immer umherziehende Qualmwolken gab. Die Schwarze Schlucht existierte nicht mehr; an ihrer Stelle brodelte flüssiger Stein, schwarzes Bergblut, das den Durchgang versiegelt hatte. Übeldamm war zu einem guten Drittel eingestürzt, und soweit er es durch die wabernden Schleier erkannte, waren von den Heeren der Ubariu und Menschen nur mehr wenige Kriegerinnen und Krieger am Leben geblieben. Die Zwerge hatten am wenigsten Verluste erlitten, weil der Kordrion nicht bis zu ihnen vorgedrungen war. »Er hat sich geopfert«, flüsterte er kehlig. »Der Gelehrte hatte gewusst, was geschehen würde, und hat sich für uns geopfert!« Die Tränen schössen ihm in die Augen. »Vraccas, du hast heute deinen größten Helden in der ewigen Schmiede empfangen.« »Da!«, rief Rodario und lachte glücklich. »Seht ihr, was ich sehe?«

Ingrimmsch blickte nach links - und stieß einen Freudenschrei aus: Durch Rauch und Asche wankte ein Zwerg in einer ramponierten Tioniumrüstung heran, Blutdürster benutzte er als Stütze. Grüßend hob er die Hand, als er die Freunde bemerkte, und hinkte auf sie zu.

»Gelehrter!«, jubelte Ingrimmsch. »Oh, Vraccas, sollte ich jemals zu Reichtum gelangen, opfere ich ihn dir sofort wieder! Das ist es mir wert! Tausendfach wert!« Auch die Heere und die Soldaten auf den Mauern der Festung hatten Tungdil bemerkt. Der Stimmorkan, der nun einsetzte und den Zwerg hochleben ließ, übertraf alles, was Ingrimmsch in seinem langen Leben an Freude vernommen hatte. Er weinte vor Rührung.

Tungdil hatte Brandverletzungen davongetragen, erkaltende Lava klebte quer vor der Brust, und durch das Loch in seiner Seite verlor er unaufhaltsam Blut. Dennoch schritt er mit einem Lächeln aus dem Inferno und winkte den überlebenden Menschen, den Ubariu, den Untergründigen und seinem Volk zu.

»Das ist er: mein Gelehrter«, schluchzte Ingrimmsch verschämt.

»Ich wusste, dass wir es schaffen«, sagte Slin unvermittelt neben ihm und reichte ihm die Hand. »Wir taten gut daran, nicht an ihm zu zweifeln.«

Die Zwerge, ganz gleich ob verletzt oder nicht, sanken vor ihrem Großkönig auf die Knie; auch Ingrimmsch und Slin, der noch immer einen Bolzen im Schaft eingelegt hatte, bezeugten ihren Respekt.

Und die Welle breitete sich weiter aus.

Menschen, Elben, Ubariu und Untergründige verbeugten sich unter lautem Hörnerklang vor Tungdil Goldhand, der weiter und weiter marschierte, bis er seinen Freund fast erreicht hatte.

Ich wusste es! Ingrimmsch erhob sich als Erster, vor der Königin und den Königen der Kinder des Schmieds, und breitete die Arme aus, um Tungdil überschwänglich zu umarmen, Großkönig hin oder her. Plötzlich sprang Kiras an ihm vorbei, es gab einen Ruck an seiner Hand, und sie hielt auf den Gelehrten zu. Zu spät bemerkte er, dass die Untergründige ihm die Feuerklinge entrissen hatte.

»Das ist nicht Tungdil Goldhand! Diese Waffe lässt sich nicht täuschen wie ihr«, schrie Kiras und hielt die legendäre Axt mit beiden Händen. »Seht, wie die Diamanten funkeln! Gibt es einen besseren Beweis?« Sie führte einen Hieb.

Slin stieß eine Verwünschung aus und hob die Armbrust, legte in einer fließenden Bewegung an und schoss.

Der Bolzen traf Kiras von hinten ins Herz, doch die Axtschneide fuhr im selben Moment durch Tungdils Tioniumrüstung, durch die Rippen und durch dessen Herz. Sterbend fielen sie einander in die Arme und sanken in den Morast.

Die Hörner verstummten abrupt, und ein Entsetzensruf gellte von allen Seiten zu ihnen.

»Nein!« Ingrimmsch rannte los. Er zerrte die Untergründige runter von Tungdil, hebelte die Feuerklinge aus der Lücke und betrachtete die grausige Wunde, aus der das Blut lief. Ein herkömmlicher Heiler würde nichts mehr für seinen Freund tun können. »Coira!«, schrie er wie von Sinnen. »Kommt her, Maga, und rettet ihn!« Sie trat langsam neben ihn und schüttelte bedauernd den Kopf. »Es geht nicht, Boindil. Ich habe keine Kraft mehr«, erwiderte sie mit tränenerstickter Stimme. »Ich gab sie für den Wind, den Ihr verlangt hattet...«

Ingrimmsch hob den Kopf des Freundes an und befreite das Gesicht mit Wasser aus dem Trinkbeutel von dem Morast. »Das darf nicht sein, ihr Götter!«, schrie er laut. »Ihr könnt den Helden des Geborgenen und Jenseitigen Landes nicht sterben lassen!« »Es... war... nicht Tungdil«, hauchte Kiras, krümmte sich und ächzte. »Die Steine an der Axt... Ich musste es...« Ihre Pupillen brachen.

»ER WAR ES!«, rief Ingrimmsch und blickte auf die Feuerklinge. Die Diamanten glühten, doch er wusste, dass sie es seinetwegen taten. Wegen des Elbenfluchs. »Er war es dennoch«, sagte er leiser und weinte über den Tod des Freundes. Goda schlug die Augen auf.

Sie hatte genau vernommen, was geschehen war, und ihre Ohnmacht vorgetäuscht, damit ihr Gemahl sie nicht bitten konnte, das Leben der Kreatur zu retten. Als sie sich aufrichtete, bemerkte sie ein Glitzern in ihrem Ärmelaufschlag. Sie fasste hinein und zog den letzten Diamantsplitter heraus. Er hatte sich die ganze Zeit über bei ihr befunden!

Goda sah Ingrimmsch über den Leichnam des toten Zwerges gebeugt. Damit wäre es ihr ein Leichtes gewesen, ihn vor dem Tod zu bewahren...

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