XV

Das Geborgene Land, Dsön Bharä (einst das Elbenreich Lesintei'l), Dsön, 6491 ./6492. Sonnenzyklus, Spätwinter.


»Wer hätte gedacht, dass wir uns ausgerechnet in Dsön Bharä wieder sehen?« Tirigon betrachtete Tungdil voller Freude. Das zeigte Ingrimmsch, dass es sich um mehr als um eine bloße Bekanntschaft geha hatte, was ihn nicht eben glücklicher machte. Sein Gelehrter und einer der schlimmsten Albae der vergangenen zweihundert Zyklen, der Sage nach der Vernichter der letzten Elben des Geborgenen Landes. Das kann ja was werden. Wie gern hätte er sich in die Unterhaltung eingemischt, doch er durfte nicht. Jetzt schon gar nicht mehr. Tungdil lachte dunkel. »Du weißt, dass Zwerge Wasser hassen wie ihr die Elben. Ich wäre niemals mit euch durch den Mondteich geschwommen. Elrias Fluch hätte mich ersticken lassen.«

»Du musstest dafür lange warten, um zurückzukehren.« Der Alb sah zur Ehrengarde, und Ingrimmsch fand den Blick aus den blauen Augen, der auch auf ihm ruhte, sehr unangenehm. »Aber ich sehe auch, dass du uns die Begehrer abspenstig gemacht hast.« »Sie folgen mir, weil ich Großkönig bin.« Er lächelte. »Du musst mich nicht fürchten, Tirigon. Ich bin hier, um dir und den Dsön Aklän ein Angebot zu unterbreiten.« »Das vernehme ich mit Freude. Zu bedauerlich, dass meine Geschwister nicht hier sind. Sie sind in Gauragar unterwegs und jagen die Frau, die mir das«, er zeigte auf sein Gesicht, »angetan hat.«

»Du lässt dir deine Rache nehmen?«

»Ich rang mit dem Tod, Balo... Tungdil. Es war Mallenia von den Ido, die mir feigerweise einen Bolzen durch den Hals schoss, nachdem unser kleiner Zweikampf längst beendet war.« Ingrimmsch merkte sehr wohl, dass der Alb verschwiegen hatte, wer den Zweikampf gewonnen hatte. Du wohl nicht, Narbengesicht.

Tirigon gab den Albae ein Signal, und man brachte Sessel, einen Tisch mit Getränken und Essen darauf. Sie nahmen vor dem Thron Platz. »Außerdem musste einer von uns nach Dsön Bharä sehen. Wie gefällt dir die Stadt?«

»Sie sieht anders als das wahre Dsön aus.« Tungdil zog die Brauen zusammen. »Man sagte uns, dass mein Name voller Hass hier ausgesprochen wird.«

»Nur von denen, welche dich nicht von der anderen Seite kennen. Sei unbesorgt.« Tirigon winkte, und eine Menschensklavin eilte herbei, um ihnen einzuschenken. Sie begann bei dem Alb und kam schließlich auch zu Ingrimmsch.

Ingrimmsch vermutete, dass sie nach menschlichen Maßstäben makellos und bezaubernd war, er selbst bevorzugte handfestere Frauen wie seine Goda. Die hier sah mehr wie ein Alb denn wie ein Mensch aus: dünn, schlankes Gesicht und anmutige Tanzbewegungen, was immer sie auch tat.

»Da ich dich vor mir sitzen sehe, gehe ich davon aus, dass du uns weiterhin gewogen bist.« Tirigon klang neugierig. »Wir haben damals Hand in Hand gearbeitet, und das sehr erfolgreich.«

»So soll es auch bleiben.« Tungdil trank von dem Wein. »Die Zwerge haben mich zu ihrem Großkönig erwählt, und der Stamm der Dritten wird mich daher als ihren obersten Herrscher anerkennen. Es hat sich einiges gewandelt, was mein Ansehen bei den Dritten angeht, wie mir Hargorin berichtete.«

»Eine schlagkräftige, beachtliche Hausmacht.« Der Alb hatte die versteckte Botschaft verstanden. »Damit verhandeln wir mit dir, wenn wir auf die Unterstützung der Dritten bei der Überwachung der drei Königreiche zählen möchten. Das ist gut.« Tirigon prostete ihm zu. »Auf die alten Zeiten!«

»Auf die ganz alten Zeiten!« Tungdil stieß mit dem Alb an. »Ich bin selbstverständlich auf deiner Seite. Und ich hörte von den Unstimmigkeiten mit Angehörigen deines Volkes, die aus dem Süden kommen.«

Ingrimmsch hatte den Trinkspruch seines Freundes als Nachricht an ihn verstanden: die ganz alten Zeiten. Die guten Zeiten.

Tirigons gute Laune verschwand, er leerte seinen Pokal und verlangte mehr. »Es ist nicht erwiesen, dass sie mit uns verwandtsind«, sprach er barsch. »Aber es ist wahr: Wir mögen sie nicht und sie uns auch nicht.« Tungdil leckte einen Weintropfen vom Rand seines Pokals. »Aber sie sind in der Überzahl.«

Wieder eine versteckte Nachricht. »Wir nehmen deine Hilfe gern an. Meine Geschwister werden sich freuen.« Tirigon hob andeutungsweise den Pokal. »Da ich jedoch weiß, dass du nichts ohne einen Sinn oder einen Hintergedanken tust, würde ich gern erfahren, was du im Austausch dafür haben möchtest.«

»Alle Zwergenreiche«, kam es wie von der Armbrust geschossen.

Tirigon senkte den Kopf. »Tungdil, das kann ich dir gern zusichern, doch es liegt nicht in meiner Macht, sie dir zu überlassen.«

»Wenn wir mit unserem gemeinsamen Feldzug fertig sind, schon.«

Ingrimmsch sah das wachsende Erstaunen beim Alb, aber keinen Zweifel in den Augen. Er muss Tungdil einiges zutrauen. »Ich habe einen Plan...«

Tirigon lachte auf. »Der kluge Zwergenkopf! Du hattest schon auf der anderen Seite stets einen Plan. Sie liefen alle zu gut, als dass ich dir ausgerechnet jetzt misstrauen würde.« Er lehnte sich entspannt in seinem Sessel zurück. »Erzähle mir davon.« Grob umriss Tungdil das Vorhaben, den Drachen gegen Lot-Ionan auszuspielen; den Kordrion und den Stamm der Fünften wollte er in einem Aufwasch durch eine Streitmacht der Dritten vernichten. »Die Marschwege sind bereits gesichert. Du und deine Albae halten sich bereit, um gegen die Albae aus dem Süden...«

Tirigon hob die Hand. »Nein. Sie werden unter Kaiser Aiphatön, diesem Narren, gegen Lot-Ionan kämpfen. Mit Sack und Pack stürmen sie ins Blaue Gebirge.« »Umso besser für uns!« Tungdil tat so, als wüsste er nichts von dem Angriff. »Dann kann sich der Drache auf denjenigen stürzen, der als Sieger aus dem Krieg hervorgegangen ist. Ihr marschiert heimlich hinterher, wir stoßen zu euch, sobald wir die Fünften und den Kordrion ausgelöscht haben. Danach gehört das Geborgene Land euch.« Er neigte sich nach vorn. »Wenn ihr mir dafür die Zwergenreiche überlasst.« »Ich bin soeben im Begriff, mich gegen meinen Kaiser, denletzten Nachfahren der Unauslöschlichen, mit einem Zwerg zu verbünden«, sagte Tirigon nachdenklich und blickte in seinen Pokal. »Das ist so widersinnig, dass es gelingt. Ich vertraue dir und deinem hellen Verstand, Balodil.« Er verzog verärgert das Gesicht. »Tungdil, wollte ich sagen.«

Bei Vraccas! Er hat sich bei den Scheusalen nach seinem Sohn benannt! Ingrimmschs angeschlagene Überzeugung, dass es sich um seinen echten Freund und keinen Doppelgänger handelte, festigte sich aufs Neue. Woher hätte er den Namen sonst wissen können? Und er fand, dass es Tungdil sehr geschickt anging, wobei ihnen die Vorsehung dabei sehr entgegengekommen war.

»Deine Geschwister werden dir folgen, oder muss ich auch noch gegen dich und sie ins Gefecht ziehen, wenn ich im Norden und Süden mit dem Erobern fertig bin?« Tungdils Frage hatte einen heiteren Unterton, doch sie barg Wahrheit.

Tirigon nahm sich von den Speisen, schnitt sich kleine Bissen, die er langsam in den Mund schob. »Sie werden unseren Pakt gutheißen.« Genießerisch schloss er die Augen. »Das war mir schon lange nicht mehr vergönnt. Die Wunde in der Wange hat mich behindert.« Er forderte seinen Gast auf zuzulangen. »Wir werden dich wissen lassen, wann Aiphatön mit seinen falschen Anhängern gen Lot-Ionan zieht. Wohin sollen wir den Boten senden?«

»Zu Hargorins Gehöft im Norden. Da werde ich am ehesten anzutreffen sein, solange die Vorbereitungen für den Feldzug laufen. Und wenn nicht, weiß dort jemand, wo man mich finden kann.« Tungdil kostete von dem Fleisch.

Lass es ein Tier gewesen sein, Vraccas, und nicht irgendwas anderes, was sie nicht mehr für ihre Kunst gebrauchen konnten, betete Ingrimmsch. Der Anblick von rosa Gebratenem machte ihn hungrig. Es roch sehr gut, auch wenn er die Zähne niemals in etwas schlagen wollte, von dem sich die Schwarzaugen ernährten.

»Ich werde am besten sofort zu Aiphatön reisen und ihm meine Aufwartung machen«, erklärte Tungdil und trank wieder vom Wein. »Der Kaiser soll nicht denken, dass ich gegen ihn wäre. Meine letzte Begegnung mit ihm verlief friedlich, und ich möchte ihm zum Schein sagen, dass es so bleiben kann.«

»Du wirst ihm ebenso einen Pakt anbieten?«

»Ja. Aber gegen Lot-Ionan, meinen schändlichen Ziehvater.« Tungdil grinste. »Danach werde ich mich zurückziehen und ihm die Rückkehr mit einem immensen Heer versprechen.«

»Er wird sich wundern, was auf ihn zukommt.« Tirigon legte das Besteck zur Seite. »Das wiederum bedeutet, dass ich dich nicht mit meiner Gastfreundschaft locken kann?«

Heilige Esse! Keine einzige Nacht in Dsön! Ingrimmsch hoffte sehr, dass der Gelehrte ablehnte.

»Leider, alter Freund, nein. Wir müssen sofort weiter, wenn wir den Kaiser noch antreffen wollen, schätze ich?«

»Ja. Du findest ihn im einstigen Älandur. Er hat es seinen Freunden aus dem Süden geschenkt.« Der Alb sprach mit unverhohlener Abneigung.

»Und was ist mit Dsön Baisur? Ist es neu errichtet worden?«

Tirigon zuckte mit den Achseln. »Es ist mir gleich, solange die anderen darin hausen. Es wird uns viel Zeit kosten, alles von ihrem schrecklichen Einfluss zu befreien. Sie haben kaum eine Ahnung von Kunst, Schönheit, der Dichtung, Malerei oder anderen schöngeistigen Dingen.« Er schüttelte sich. »Tion kann sie nicht erschaffen haben.« »Es sei denn, er war besoffen«, ergänzte Ingrimmsch vorschnell.

Tirigon und Tungdil drehten die Köpfe in seine Richtung. »Ich höre, du hast Leute unter deiner Gefolgschaft, die einen guten Scherz zu schätzen wissen«, meinte der Alb belustigt.

»Einer von denen, die sonst niemals gute Witze kennen.« Tungdil schüttelte tadelnd das Haupt. »Vielleicht ein lichter Augenblick.«

»Er sollte ihn besser nicht Kaiser Aiphatön vortragen. Es könnte sein bester und letzter Spaß sein.« Der Alb erhob sich. Einer der robenbekleideten Albae näherte sich ihm und wisperte in sein Ohr. »Ich möchte dich gar nicht länger aufhalten, Tungdil Goldhand.« Sie umarmten sich wieder. »Unser Pakt ist geschlossen. Du bekommst die Zwergenreiche, wir das Geborgene Land.« Er lachte kalt. »Es hat unsere Art von Kunst dringend notwendig. Es wird mir ein Vergnügen sein, es umzugestalten.« »Du warst von zweihundert Zyklen schon herausragend als Künstler. Ich bin gespannt, was du heute alles vermagst.« Tungdil hielt die rechte Hand des Albs umfasst und strahlte ihn wieder an. »Spätestens in drei Zyklen sind wir die Herrscher und niemand sonst! Richte deinen Geschwistern einen Gruß von miraus.« Er wandte sich um und ging auf den Ausgang zu. Die Zhadär umschlossen ihn, Ingrimmsch lief unmittelbar hinter ihm.

»Tungdil«, rief Tirigon, als sie die Tür erreicht hatten. Sie hielten an, der Einäugige sah nach dem Alb. »Was ist mit der Barriere? Hält sie wieder?«

»Ja«, log Tungdil eiskalt.

»Das ist gut. Es wäre schlecht, wenn dein Meister bei uns erschiene, um sich seine Rüstung zurückzuholen, die du an deinem Leib trägst.« Tirigon ließ die Arme locker am Körper herabhängen. »Oder hast du ihn am Ende sogar getötet?«

»Ich hatte es versucht. Es ist missglückt. Deswegen will ich die Zwergenreiche haben: Niemand wird durch das Tor gelassen.« Tungdil schaute wieder nach vorn und marschierte weiter. »Tion ist mit uns, Tirigon. Sei unbesorgt.«

Sie verließen die Halle und gelangten unter der Führung der schweigsamen sieben Albae durch den Palast wieder hinaus an die Luft.

»Endlich«, atmete Ingrimmsch erleichtert auf und schob sein Visier in die Höhe. »Ich hätte es kaum länger ausgehalten. Ich weiß zwar nicht, was ich gegessen habe, aber es riecht auf Dauer nicht gut, wenn ich es ständig selbst einatmen muss.« Slin lachte und klappte seinen Sichtschutz ebenfalls auf. »Zwiebeln und eingekochtes Gugulhack? Ich habe gesehen, dass du ein Glas in deinem Gepäck hattest. Ein kleiner Vorrat von Goda, was?«

»Und du hast uns nichts abgegeben.« Tungdil sah ihn strafend an. »Wie konntest du nur?« Dann grinste er. Man sah ihm an, dass er erleichtert darüber war, in den Palast hinein- und unversehrt wieder herausgekommen zu sein. Zumal mit einem solchen Erfolg. »Ingrimmsch, achte besser auf deine Zunge. Wir hatten Glück, dass Tirigon es komisch fand, was du sagtest.« Nach kurzem Schweigen sagte er: »Ich übrigens auch.« Es war dunkel geworden. Doch als Ingrimmsch den Kopf in den Nacken legte und nach den Sternen schauen wollte, sah er - nichts! »Bei Vraccas!«, rief er entsetzt. »Was haben die Albae getan?«

Alle Zwerge hoben die Köpfe und starrten hinauf.

»Die Gestirne sind verschwunden«, raunte Balyndar fast schon ängstlich. »Sie werden sich weigern, auf eine Stadt der Albae zu scheinen«, steuerte Slin seinen Vorschlag zur Erklärung bei. Ingrimmsch bezwang seine Ungläubigkeit und drehte sich nach dem Turm um, von dessen Spitze zahlreiche Seile nach allen Richtungen abgegangen waren. »Er hat damit was zu tun.«

Tungdil folgte seinen Blicken und überlegte. »Gehen wir weiter, sonst fallen wir auf. Und macht die Visiere runter, falls uns jemand begegnen sollte.«

Sie liefen die Treppe hinab zu ihren Ponys. Unterwegs hörten sie ein leises Rascheln hoch über ihren Helmspitzen.

»Ich glaube es nicht«, sagte Slin beeindruckt, der als Erster wieder zum Himmel blickte. Über ihnen war ein Sternenhimmel entstanden, aber nicht der, welchen die Zwerge kannten. Es gab andere Konstellationen, kleinere und größere, und dazwischen schimmerten Monde, drei- und vierfach so gewaltig wie das eigentliche Hauptnachtgestirn über dem Geborgenen Land.

»Ich weiß nicht, wie sie es gemacht habe, doch die Stadt muss sich an einen anderen Ort bewegt haben.« Boindil konnte sich kaum an der Schönheit sattsehen.

Balyndar schnaubte. »Wieso denn das?«

»Du magst deinen Kopf selten aus den Höhlen stecken, aber ich bin viel im Geborgenen Land herumgekommen. Egal an welchem Ort ich mich befand, die Sterne«, er zeigte nach oben, »waren überall die gleichen.«

»Welch scharfsinnige Beobachtung«, sagte Slin heiter. »Nur hier passt sie nicht, obwohl wir uns noch immer im Geborgenen Land befinden.«

»Eben. Daraus schließe ich, dass wir uns aus dem Geborgenen Land bewegt haben, so unwahrscheinlich das auch klingen mag.«

»Und wie kommen wir wieder zurück?« Slin stieg in den Sattel und sah zur Serpentine. »Wer weiß, wo wir rauskommen?«

»Gelehrter, was sagst du dazu?«

Tungdil saß ebenfalls auf. »Leinwände.«

»Leinwände.« Zuerst verstand Ingrimmsch nicht. »Ach, wie Vorhänge, nur eben... der Länge nach?« Er sah wieder hinauf. »Sie ziehen sie an den Tauen quer über den Krater und geben den Albae, die hier leben, einen künstlichen Nachthimmel zum Bewundern - willst du das sagen?«

»Richtig, Ingrimmsch. Das will ich sagen. Vermutlich wird Dsön an besonders hellen und heißen Tagen unter ihnen verborgen bleiben wie unter einem Schirm.«

»Ein unglaublicher Aufwand.« Balyndar hörte sich beruhigt an.

»Aber es sieht schön aus. Das muss man ihnen lassen.« Tungdil ritt voran, die Zhadär und der Rest folgten ihm.

Niemand geleitete sie, wie Ingrimmsch zufrieden bemerkte. Offenbar vertraute Tirigon seinem Zwergenfreund so sehr, dass er ihn unbewacht durch die Straßen reiten ließ. Vertrauen und Schwarzaugen, das passt doch nicht. Dieser Tirigon plant sicherlich etwas. Vor den Serpentinen glaubte er, Ütsintas und die Albae auf den Feuerstieren auszumachen. In eine Falle werde ich mich gewiss nicht locken lassen. »Das ist die Gelegenheit, die Kordrionbrut loszuwerden«, raunte er Tungdil zu. »Schon geschehen«, antwortete ein Zhadär. »Wir haben sie auf der Treppe vor dem Palast gelassen, am äußersten Rand einer Säule. Man wird den Kokon nicht finden - außer man besitzt die Nase eines Kordrion.«

Ingrimmsch war beeindruckt. »Und jetzt?«

»Reiten wir auf dem schnellsten Weg zum Drachen und plündern seinen Hort«, eröffnete Tungdil. »Da vorn ist ein Bote bei Ütsintas. Sehe ich das richtig?« »Wenn du es sagst. Ich erkenne nur hagere Schwarzaugen und fette Kampfkühe.« Ingrimmsch hatte es sich bereits abgewöhnt, sich über die gute Sicht des Gelehrten zu wundern.

Tungdil hatte sich nicht geirrt.

Als sie den Alb und ihre Eskorte erreicht hatten, wartete ein kaiserlicher Bote auf sie, der ihnen eine Einladung überreichte. Nach Älandur, das nun Phöseon Dwhamant hieß. Von Kaiser Aiphatön daselbst. Ablehnen konnten sie nicht.

Und so wurde aus einer Lüge doch die Wahrheit.

Tirigon saß wieder auf seinem Thron und beobachtete die Sklavin, die den Tisch abräumte. Es waren niedere Dienste, für die ein Alb zu schade gewesen wäre. Die Menschenfrau erfüllte ihre Aufgabe gut. Sie war nicht so hässlich, dass die Augen schmerzten. Es hatte ihn viel Zeit gekostet, eine halbwegs annehmbare Sklavin für den Palast zu finden.

»Sag, warum sind die meisten von euch nur so abstoßend?«, sinnierte er und nahm einen Schluck aus dem Weinglas.

Die Sklavin sah ihn erschrocken an. Er hatte in seiner Sprache gesprochen, und nun hatte sie Angst, eine Anweisung nicht verstanden zu haben. Was das bedeutete, wusste jeder, der einem Alb diente. »Es ist nichts«, beruhigte er sie im Zungenschlag Gauragars. »Tu deine Arbeit.« Ein Robenträger kam zu ihm. »Dsön Aklän, es ist, wie Ihr vermutet habt.« Er kniete vor dem Thron nieder. »Sie hatten die Brut des Kordrion dabei.«

»Diese elenden Zhadär! Dachten sie etwa, dass ich sie unter den Rüstungen der Begehrer nicht erkenne? Niemand täuscht mich! Sie sind unsere Kreaturen und wir ihre Meister! Wir haben sie erschaffen«, tobte er und schleuderte das Weinglas durch den Raum. »Fahnenflüchtlinge wie Hargorin Todbringer. Dafür werden sie sterben!« Er atmete tief ein. »Habt ihr den Kokon?«

Der Alb nickte. »Wir mussten lange suchen, doch wir haben ihn entdeckt.« »Dann packt ihn gut ein, tarnt ihn als Proviant und sendet ihn zusammen mit dem Boten und Goldhand nach Phöseon Dwhamant. Das ist das richtige Geschenk für den Kaiser«, ordnete er an. »Ist der Kordrion nochmals gesichtet worden?« »Ja, Dsön Aklän. Keine vier Meilen von hier. Er hat die Spur seiner Brut wieder aufgenommen.«

Tirigon nickte zufrieden. »Gut. Hat Goldhand Verdacht geschöpft, oder hält er den Boten für echt?«

»Für echt. Sie machen sich auf den Weg nach Südwesten.«

»Dann sorge dafür, dass sie meinen Proviant bekommen.« Tirigon winkte die Sklavin zu sich und verlangte Wein in einem neuen Pokal. »Und gib die Anweisung an die Patrouillen aus, dass jeder Zhadär, der sich nach Dsön Bharä verirrt, sofort getötet werden soll. Falls einige von ihnen den kommenden Angriff des Kordrion überstehen.« Er setzte sich wieder. Alles verlief in geregelten Bahnen.

»Ja, Dsön Aklän.« Der Alb eilte hinaus.

Zufrieden seufzte Tirigon. Damit war er Aiphatön, einen Großteil seiner Gefolgschaft und Tungdil mitsamt den verräterischen Zhadär los. Er hatte sie auf den ersten Blick an der Haltung erkannt, Rüstungen hin oder her. Außerdem kannte er keine Begehrer, die einen Krähenschnabel als Waffe führten.

»Das Gute ist, dass alle glauben werden, es sei eine Falle von Tungdil Goldhand gewesen, um den Kaiser der Albae auszuschalten«, sagte er zur Sklavin, die wieder keines seiner Worte verstand. Sie schaute ihn an und deutete fragend auf die Weinkaraffe und einen Pokal; er winkte sie zu sich.

»Selbst wenn Aiphatön überlebt und Rache will, darf er seine Wut auf die Dritten richten. Sollte er sterben, trete ich gern seine Nachfolge an.« Er sah am nackten Arm der Frau entlang, und sein Blick blieb am Ellbogen hängen. »Du hast sehr schöne Knochen, meine Liebe. Weißt du das?« Er streckte die Hand aus und berührte sie zärtlich am Unterarm. »Unglaublich schöne Knochen für einen Menschen.« Er lächelte sie an. »Anscheinend muss ich mir eine neue Sklavin suchen. Du taugst zu Besserem. Die Kunst wird dich erhöhen.«

Die Frau zuckte zusammen und lächelte schüchtern zurück.



Das Geborgene Land, Phöseon Dwhamant (einst das Elbenreich Älandur), Phöseon, 6491./6492. Sonnenzyklus, Spätwinter.


»Wir hätten den Boten doch einfach erschlagen und ins Rote Gebirge reiten können«, murmelte Slin. »Als wären wir unterwegs angegriffen worden. Vom Widerstand.« »Welche Schwachsinnigen greifen bitte sehr die Schwarze Schwadron an, die zudem von einer Truppe Albae begleitet wird?«, zischte Balyndar ihn verständnislos an. »Das hätte nicht einmal ich dir geglaubt.«

Ingrimmsch lauschte dem Streit, der seit dem ihrem Besuch in Dsön zwischen den Zwergen hin und her ging. Der Vierte machte Vorschläge, wie man nicht zu Aiphatön reiten musste, und der Fünfte zerriss sie der Reihe nach in der Luft. Unerträglich! »Haltet beide den Mund! Ihr könnt froh sein, dass ihr in der Mitte reitet und das Klappern der Hufe euren Zwist übertönt. Wenn die Albae das mitbekommen...« Er hoffte, dass die Andeutung Eindruck machte.

Es wäre gelogen zu sagen, dass er sich bei dem Gedanken, von einem Albae-Reich ins nächste zu reisen, wohlfühlte. Zumal er mit den Süd-Albae gar nichts anzufangen wusste. Und es war ihm schleierhaft, was Aiphatön von ihnen wollte. Auf der einen Seite genoss es Ingrimmsch, unterwegs zu sein, das alte Gefühl von Abenteuer in sich zu spüren, wie damals, als er noch ein recht junger Zwerg gewesen war. Auf der anderen Seite zerrte ihn ein Teil von ihm zurück ins Jenseitige Land, zu Goda und seinen Kindern. Er sorgte sich um ihre Sicherheit, um die Festung. Der feindliche Magus schien sehr mächtig zu sein, wenn er die Andeutung von Tirigon richtig verstanden hatte.

Sie ritten durch Phöseon Dwhamant, das einst Älandur geheißen hatte, bevor es von den Albae übernommen worden war. Wer hätte sich ihnen auch entgegenstellen sollen?

Die Albae aus dem Süden teilten die Vorliebe für Düsteres und Vergängliches. Die Haine der Elben waren niedergebrannt worden, wie Ingrimmsch an der Ebene erkannte, durch die sie sich bewegten. Anscheinend wurde mit einiger Regelmäßigkeit dafür gesorgt, dass sich kein Baum in Phöseon Dwhamant erhob. Wohin er auch blickte, er sah karge Hügel, auf denen der Schnee schmolz. Es gab nicht einmal Büsche. »Wer gute Augen hat, kann von einem Ende des Albae-Reichs zum anderen sehen«, meinte Slin. »Gutes Gelände für mich und meine Armbrust.«

»Da vorn ist doch was!«, rief Balyndar. »Sieht aus wie ein großer brauner Klotz, der aus dem Himmel gefallen ist.«

Sie blickten alle nach vorn. Das Erste, was Ingrimmsch in den Sinn kam, war ein Bienenstock, nur in quadratischer anstatt in halb ovaler Korbform. Er schätzte die Abmessungen auf neunhundert Schritt in der Breite und dreihundert in der Höhe; wie tief sich das Gebilde nach hinten erstreckte, vermochte er nicht zu sagen. Türmchen ragten an den Seiten wie Schornsteine hervor, oben auf dem Klotz flatterten Fahnen an langen Stangen im Wind. Ingrimmsch zählte dreißig Geschosse, die unterschiedlich hoch errichtet waren. Mal handelte es sich um geschlossene Wände, dann waren darüber offene Arkadengänge mit bunten Malereien an den Decken und hohe Räume zu sehen; die Front des nächsten Stockwerks hingegen bestand aus vielen kleineren Fenstern, die in der Sonne wie Spiegel leuchteten.

»Was ist das?«, fragte Slin.

»Eine Stadt«, erwiderte Balyndar. »Ein künstlicher Berg mit einer künstlichen Stadt.« »Das ist Phöseon«, sagte Ütsintas laut, der neben Tungdil ander Spitze des Trosses ritt. »Hier leben etwa zehntausend von ihnen. Die Albae aus dem Süden mögen diese Art von Gemeinschaft.«

Tungdil betrachtete den Klotz. »Wie sieht es im Innern aus?«

»Es ist schwierig zu beschreiben. Ich kenne es nur aus Erzählungen, denn sie haben mich damals nicht hineingelassen.« Der Alb klang nicht enttäuscht. »Es muss senkrechte Durchbrüche mit tiefen und sehr langen Schächten geben, aber auch hängende Gärten, in die man über Brücken gelangt. Sie schwingen angeblich im Wind, der durch die künstlich angelegten Schluchten bläst.«

»Klingt ein bisschen nach einem Zwergenreich«, raunte Slin Ingrimmsch zu. »Hast du deine eigene Armbrustsehne beim Spannen an den Kopf bekommen?«, gab der zurück. »Daran ist nichts Zwergisches!«

»Habt ihr denn hängende Gärten?«, wunderte sich der Krieger. »Unser Gemüse kommt aus der Erde, und das soll es auch weiterhin schön tun.«

Sie waren eine Meile vom Eingang entfernt, als das riesige Tor aufschwang und eine Reiterei ausspie.

Der Bote wechselte ein paar rasche Worte mit Ütsintas und ritt den Albae entgegen. Auf halber Strecke trafen sie zusammen, sie unterhielten sich; dann winkte der Bote. Ütsintas wandte sich an Tungdil. »Ab sofort reitet ihr allein weiter. Meine Mission endet hier.« Er gab seinen Begleitern einen Befehl und wendete den Feuerstier, gleich darauf donnerten die Albae zurück nach Dsön Bharä.

Tungdil musterte die Fassade. »Das wird ein sehr aufschlussreicher Besuch, den wir dem Kaiser abstatten«, sagte er zu Ingrimmsch. »Wir reiten geschlossen ein. Niemand greift zur Waffe, weder die Zhadär noch die Begehrer«, befahl er laut. »Wir sind Gäste von Kaiser Aiphatön, und entsprechend werden wir uns benehmen.« Er trabte an, und der Zug folgte ihm.

Ingrimmsch versuchte, Besonderheiten an der Gruppe der Albae auszumachen, die auf ihren Nachtmahren aus Phöseon herausgeritten kam. Härte ich mir denken können. Sie sehen für mich aus wie alle anderen.

Sie trugen sogar die schwarzen Tioniumrüstungen, auch wenn ihm die Runen darauf ein wenig anders vorkamen. Da er jedochkein Gelehrter war, nahm er an, dass er sich durchaus täuschen konnte. Der Bote redete mit Tungdil. »Wir dürfen hinein. Der Kaiser erwartet uns, wurde mir gesagt«, übersetzte der Gelehrte für die Zwerge. »Denkt an das, was ich euch befohlen habe.« Dann ließ er sein Pony hinter den Albae hertraben.

Ingrimmsch konnte nicht verleugnen, dass er das Gebäude, die Stadt, die Festung oder wie immer man den Klotz bezeichnen wollte, spannend fand. Nicht, dass er darin hätte leben wollen, doch er war neugierig. Sein Stammesblut verlangte nach weiteren Eindrücken. Da er von den Zweiten stammte, deren Kunstfertigkeit vor allem in der Steinmetzerei lag, fand er seinen Wissensdurst durchaus verständlich. Die Wände waren verputzt worden, sodass er nicht erkannte, welches Material sich darunter verbarg. Er fragte sich, wie sie den Untergrund derart hart bekommen hatten, um ihn mit einem solchen Gewicht zu belasten, ohne dass sich das Gebäude absenkte und zerbrach.

Der Bogen, unter dem sie durchritten, maß nicht mehr als sieben Schritt in der Höhe und fünf in der Breite. Ingrimmsch erkannte drei Gatter, die über ihnen schwebten und jederzeit zur Verteidigung herabgelassen werden konnten; die Unterseiten waren geschliffen scharf.

»Sie legen weitaus weniger Wert auf Pomp und Tand«, flüsterte Slin. »Es ist... nüchtern und schmucklos. Bis auf die eingearbeiteten Ornamente in den Wänden.« »In den Putz geritzt«, sagte er. »Aber sie sind unglaublich vielfältig und abwechslungsreich. Dazu benötigt man schon eine ruhige Hand.«

Sie gelangten in einen großen Innenhof; die Wände liefen senkrecht nach oben, und wieder blickten sie auf offene, hohe Gänge, Fenster sowie Mauerwerk. Neugierige Albae sahen zu ihnen hinab, unterhielten sich oder aßen etwas; hier und da verliefen Außentreppen, woanders surrten Aufzüge, um die verschiedenen Stockwerke miteinander zu verbinden. Über ihnen zogen die Wolken wie an einem Fenster vorüber.

»Bei allem, was recht ist: Ich muss sagen, ich bin schwer beeindruckt von den Schwarzäuglein.« Ingrimmsch streichelte sein Pony und sah hinter sich, wo die Gatter eines nach dem anderen herabgelassen wurden und sich das Tor schloss. »Etwas Vergleichbares habe ich noch niemals gesehen.« »Sie mögen die Natur nicht sonderlich - es sei denn, sie können sie kontrollieren, wie in ihren Gärten«, mutmaßte Slin. »Ist es euch aufgefallen? Sie haben aus dem Elbenreich fast eine Wüste gemacht. Nichts als flaches Land.«

»Man sieht Feinde besser kommen, man gibt ihnen kein Material, um Belagerungsgeräte zu bauen, und bietet ihnen keinerlei Schutz vor Pfeilen und Speeren«, sagte Balyndar. »Es macht durchaus Sinn, da es sich in dieser... Stadt anscheinend sehr gut leben lässt.«

»Der Kaiser erwartet Tungdil Goldhand in seinen Audienzgemächern«, sagte der Bote zu ihnen. »Nicht mehr als fünf Gardisten, der Rest wartet im Hof und wird sich nicht von der Stelle bewegen.«

Tungdil nahm Slin, Ingrimmsch, Balyndar und zwei Zhadär mit. »Was immer geschieht: Ihr tötet keinen einzigen Alb«, schärfte er Hargorin und Barskalin ein. Ein anderer Alb übernahm die Führung, während der Bote bei den Zwergen zurückblieb. Sie marschierten zu einem der Aufzüge und schössen in die Höhe; bedient wurde er über einen Hebel, den man in zwei Richtungen schieben konnte. Kordrionmist! Doch ähnlich unseren Konstrukten, dachte Ingrimmsch. Es ging weit hinauf, bis sie anhielten und ausstiegen. Sie standen in einer Säulenhalle, deren Höhe Ingrimmsch auf mindestens zehn Schritt schätzte. Die Wände waren in gedecktem Weiß gehalten und wurden von schwarzen Umrisszeichnungen geschmückt, die an Scherenschnitte erinnerten: Szenen aus Kämpfen, von Stadtgründungen, von der Liebe.

So sehr sich Ingrimmsch umsah, während sie auf den Thron zuschritten, die morbide Kunst, welche die Albae des Nordens zelebrierten, entdeckte er nicht.

Auf dem Thron saß Aiphatön.

Er ist nicht gealtert! Ingrimmsch erkannte das Kind der Unauslöschlichen sofort wieder, denn seine Einmaligkeit war unübersehbar: Brust, Bauch, Unterleib, Schultern und Oberarme waren von einer Rüstung bedeckt, die mit dem weiß schimmernden Fleisch verwachsen war. Der Kopf war kahl, was die spitzen, länglichen Ohren mehr betonte; schwere Panzerhandschuhe umgaben die Hände. Den Unterleib hatte Aiphatön mit einer Art schwarzem Wickelrock verhüllt, nackte Zehen schauten darun ter hervor. In der Rechten hielt er einen schmalen Speer mit einer dünnen Klinge, dessen Runen grünlich leuchteten.

»Tungdil Goldhand ist Großkönig der Zwergenstämme«, rief Aiphatön durch die Halle und sah sie an. Das vermutete Ingrimmsch wenigstens, denn die Augenhöhlen waren von unergründlicher Schwärze ausgefüllt. »So wurden aus uns beiden die größten Herrscher unserer Völker.« Er wartete, bis die Zwerge vor ihm standen, und neigte den Kopf. »Willkommen in Phöseon.«

»Meinen Dank, Kaiser.« Tungdil deutete eine Verbeugung an.

»Ich dachte oft an die Unterredung auf dem Schiff mit dir. Ich hatte dir erklärt, warum ich mir meinen Namen ausgesucht hatte.«

»Nach dem Lebensstern der Elben«, sagte Tungdil. »Er ist verschwunden, wenn ich den Himmel des Nachts richtig beobachtet habe.«

»Ja. Die Dsön Aklän leisteten bei ihrer Rückkehr ganze Arbeit.«

»Was mich nicht verwundert.« Der Einäugige richtete den Blick fest auf den Alb. »Aber als ich vernahm, welchen Weg du einschlugst, war ich sehr überrascht. Du wolltest zuerst zu den Elben, um mit ihnen zu leben. Dann sprachst du auf dem Schiff davon, dass du kein Alb sein möchtest wie deine Eltern.« Er hob die Arme, deutete auf die Mauern. »Nun finde ich dich hier, in dieser Stadt, als Kaiser der Albae und Gebieter über ein gewaltiges Reich!«

»Und du gabst mir den Rat, mich vor den Menschen, Zwergen und Elben zu verbergen. Weil mich keiner von ihnen ohne Furcht und Hass betrachten würde.« Aiphatön lächelte. »Nicht zuletzt meintest du, ich sollte das Geborgene Land verlassen. Deine genauen Worte waren: Suche deinesgleichen.« Er schabte mit der linken Hand über die Metallplatten. »Ich dachte lange darüber nach und wusste nicht: Wie genau sollte ich meinesgleichen finden? Aber ich befolgte deine Worte und verließ das Geborgene Land nach Süden. Ich hegte die Hoffnung, dass ich andere Albae auflesen würde, die von ihrem Wesen her den Elben näher sind. Ich war ein Geschöpf, das keinen Platz fand und nur Feinde hatte.« Er sprach leiser und leiser.

Ingrimmsch stutzte. Dann war der Rat des Gelehrten schuld, dass Aiphatön mit den Albae zurückkehrte!

»Du sagtest zum Abschied, dass du dir einen Platz schaffen würdest.« Tungdil legte den Kopf leicht schief. »War dies das Ergebnis deiner Überlegungen? Die gewaltsame Eroberung des Geborgenen Landes?«

Auf Ingrimmsch wirkte Aiphatön müde. Müde und bedrückt, als laste etwas auf seiner Seele. Durch die schwarzen Augenhöhlen war es unmöglich, auf seinen Gemütszustand zu schließen, doch die Linien in seinem Antlitz berichteten umso mehr. Es erinnerte ihn an den Gelehrten kurz nach seiner Rückkehr aus der Schlucht. »Was führt dich zu mir, Tungdil Goldhand?«, sprach er, und ein Ruck verlief durch seinen Körper. Aufrecht und stolz saß er auf seinem Thron. Keine Spur mehr von Niedergeschlagenheit. »Was könnte mir der Großkönig der Kinder des Schmieds vorschlagen wollen? Möchtest du mir drohen, mich um etwas bitten oder ein Bündnis eingehen?«

Tungdil runzelte die Stirn. »Wir sind auf deine Einladung hin nach Phöseon gekommen.«

Aiphatön schüttelte den Kopf und sah verwundert aus. »Nein. Ich wusste bis kurz vor eurer Ankunft nicht, dass du wieder im Geborgenen Land verweilst. Man sagte mir, dass du mit mir sprechen und verhandeln möchtest.«

»Wir wurden von deinem Boten hierhergebracht«, hielt Tungdil dagegen. Aiphatön verzog den Mund. »Da ich keinen geschickte habe, sollten wir ihn befragen, wem ich das Vergnügen eurer Anwesenheit zu verdanken habe.« Er rief eine Wache zu sich und gab Anweisungen. »Wo seid ihr dem Alb begegnet?«

»Er kam nach Dsön Bharä, als wir uns bei den Dsön Aklän vorstellten. Ich dachte, wir träfen dich dort«, antwortete Tungdil mit einer Halbwahrheit.

»Entzückend«, murmelte Slin. »Ganz entzückend! Wir sind reingelegt worden.« »Verdammter Tirigon!«, entfuhr es Ingrimmsch laut.

Ein lautes, melodisches Scheppern erklang, das in schneller Folge wiederholt wurde. »Alarm?« Boindil sah sofort nach recht und links zu den Albae-Wachen. »Haltet euch bereit«, gab er die Losung aus. »Wenn das Schwarzauge zuckt, mähen wir es nieder.« Aiphatön erhob sich von seinem Thron und sah zum Fenster. »Wir werden angegriffen«, stellte er ungläubig fest und sah dann fragend auf Tungdil. »Jemand ist dumm genug, uns nach einhundertachtzig Zyklen anzugreifen!« »Ich habe damit nichts zu schaffen«, sagte er erstaunlich ruhig. »Vermutlich hat...« Da erklang ein lauter, lähmender Schrei, und ein großer Schatten verfinsterte für einen Lidschlag das Fenster.

Ingrimmsch schluckte und wischte unbewusst über seine Rüstung, als könnte er den für ihn nicht wahrnehmbaren Geruch des Kokons abstreifen. Der Kordrion ist mir anstatt seiner Brut gefolgt!

Загрузка...