XVI

Das Geborgene Land, Phöseon Dwhamant (einst das Elbenreich Älandur), Phöseon, 6491./6492. Sonnenzyklus, Spätwinter.


Der erschütternde Schrei des Kordrion erklang erneut, doch da hatten sich Ingrimmsch und die Zwerge schon lange ihre Wachspfropfen in die Ohren geschoben. Somit wurde aus der lähmenden Stimme des Scheusals nichts weiter als Lärm. Tungdil zog Blutdürster. »Wir sind Opfer der gleichen Heimtücke von Tirigon geworden, Aiphatön. Nur er kann uns den Kordrion auf den Hals gehetzt haben. Was er damit bezweckte, werden wir ihn danach gemeinsam fragen«, sagte er hart. »Wir, meine Männer und ich, stehen dir bei, um zu zeigen, dass wir nicht schuldig sind.« Wieder ein schlauer Zug vom Gelehrten, wie Ingrimmsch befand.

Der Kaiser hatte seinen Speer gepackt und hielt ihn halb erhoben, die Spitze zielte auf Tungdils Leib. »Ich sehe an deiner Rüstung, dass du den Albae in den letzten Zyklen sehr nahe gewesen sein musst. Näher, als dir lieb sein konnte«, erwiderte er. »Wer verspricht mir, dass du nicht mit Tirigon gemeinsame Sache machst? Du könntest das Durcheinander nutzen wollen, um mich zu töten.« Aiphatön ließ keinen der Zwerge aus den Augen - vermutlich. Genau konnte es Ingrimmsch nicht sagen. Er fühlte sich zumindest beobachtet.

»Erinnere dich an die Unterredung auf dem Schiff. Ist dir das nicht Beweis genug, dass ich es ehrlich mit dir meine?«

Die Türen flogen auf, und bewaffnete Albae stürmten herein. Sie hielten die traditionellen, langschaftigen Speere mit den schmalen Klingen in den Händen und richteten sie auf die Zwerge.

Aiphatön stand statuenhaft starr. »Wir haben uns beide verändert, Tungdil Goldhand.« »Nicht so sehr, wie es den Anschein hat.« Tungdil wies mit Blutdürster auf das Fenster. »Gewähre mir, dich in dem Kampf zu begleiten. Du wirst die Wahrheit erkennen.«

Der Alb senkte den Speer, und Ingrimmsch atmete unter seinem Helm auf. »Ich gewähre es dir.« Er wandte sich um und rannte hinaus, Tungdil folgte ihm, ohne sich um die Zwerge zu kümmern. Plötzlich standen Ingrimmsch, Slin und Balyndar zusammen mit den Zhadär mutterseelenallein im Thronsaal. Einer nach dem anderen klappte das Visier nach oben, bis auf die Zhadär.

»Was, bei Vraccas, machen wir denn nun?« Slin nahm seine Armbrust vom Rücken und lud sie vorsichtshalber.

»Den beiden beizustehen, werden wir uns sparen können«, meinte Balyndar und ging zum Fenster, um nach dem Kordrion zu sehen. Ab und zu huschte sein Schatten über Phöseon, dann stieß vor dem Fenster eine breite, weiße Lohe senkrecht nach unten. Schreie erklangen, und schwarzer, stinkender Rauch stieg auf. »Er hat die Schwarzaugen zwei Stockwerke unter uns weggebrannt«, meldete er nach hinten. »Ich kann mir gut vorstellen, dass sie gegen einen solchen Feind kein Gegenmittel haben.« Slin tätschelte seine Armbrust. »Damit fühle ich mich gleich wohler.« Ingrimmsch grummelte vor sich hin, bis er sich entschieden hatte: »Los, alle zum Aufzug. Ich möchte aufs Dach dieser seltsamen Stadt. Die eingeschränkte Sicht hier behagt mir nicht.«

»Entzückend! Da kann ich besser auf den Kordrion zielen.« Der Vierte lief neben Boindil her, Balyndar und die Zhadär folgten ihnen zögernd.

Sie rauschten nach oben und standen auf dem leicht abschüssigen Dach der Stadt. Von hier aus betrachtet, sah es aus wie ein glatter Felsboden, der von unnatürlich geraden, symmetrischen Schluchten durchzogen war. Dazwischen erhoben sich in unregelmäßigen Abständen rechteckige Türmchen mit senkrechten Schlitzen. Der Wind pfiff durch die Spalten und erzeugte ein leises Säuseln. Kaminschächte? Schwarze Leinensegel spannten sich an manchen Stellen, und darauf lag Nahrung zum Dörren; an anderen Stellen hatten die Albae schwarze Ledersäcke von gewaltigem Ausmaß ausgebracht.

Ingrimmsch vermutete, dass sich darin Wasser befand, das von der Sonne aufgewärmt wurde. Ihm stockte der Atem, als er gewahr wurde, wie weit sich Phöseon in die Länge erstreckte. »Das müssen nochmals... zwei Meilen sein!« Slin machte sie auf Geschütztürme aufmerksam, die auf fahrbaren Rampen standen und an jede Ecke des Daches manövriert werden konnten.

Aber mit der Wendigkeit und der Geschwindigkeit eines Kordrion hatten die Erbauer nicht gerechnet: Drei der drehbaren Kuppeln waren bereits besetzt und schleuderten unablässig Pfeile und Speere nach dem Monstrum. Zu langsam! Gegen ein Heer am Boden wären sie vernichtend gewesen, schon allein weil die Geschosse viele hundert Schritt fliegen würden, bis sie aufschlugen. Aber gegen einen solchen Feind wie den Kordrion richteten sie - von zufälligen Treffern abgesehen - so gut wie nichts aus. Slin sah auf seine Armbrust. »Ich glaube, mein Bolzen ist ein wenig zu klein«, seufzte er.

»Das hört ihr von euren Frauen sicherlich ständig«, kam es unter einem Zhadärhelm hervor, der andere lachte.

Erbost wandte sich der Vierte um, die Armbrust halb im Anschlag. »Für dich wird er reichen, Schandmaul!«

»Wie hat er das gemeint?«, fragte der Zhadär scherzhaft. »Behalte ihn. Ich will deinen Bolzen nicht.«

»Ruhe, ihr Gnomenhirne! Wie könnt ihr jetzt anfangen, euch gegenseitig zu verhöhnen?«, rief Ingrimmsch erbost und rückte den Helm zurecht, spannte den Kinnriemen nach, bis er unangenehm fest, aber sicher saß. »Der Kordrion will mich? Dazu muss er sein Leben aufs Spiel setzen: Ich werde ihn vor die Geschütztürme locken.« Er befahl den Zhadär, den Albae in den Türmen Bescheid zu geben, was er beabsichtigte. »Mutig«, meinte der Vierte nur. »Aber sehr gefährlich.« »Oh, mir macht das nichts! Ich mag Herausforderungen«, wiegelte Ingrimmsch ab und packte den Krähenschnabel, dann bleckte er die Zähne. »Komm schon, Drecksvieh! Hier ist der Mörder deiner Brut!«

Die Zhadär eilten von Turm zu Turm. Als sie sieben davon über das Vorhaben des Zwerges unterrichtet hatten, war es so weit. »Er kommt zurück«, warnte Balyndar sie. »Er hält auf uns zu!« »So soll es auch sein!« Boindil hetzte los und rannte auf einen Punkt des weitläufigen Daches zu, an den alle sieben Geschütztürme feuern konnten. Die Schwingen des Kordrion erzeugten ein dunkles Rauschen und Pfeifen, das Ingrimmsch sehr genau zeigte, wie schnell das Scheusal heranflog - aber nicht in seine Richtung! Er blieb keuchend stehen und wandte sich um. »He! Du hässliche Missgeburt mit den Glubschaugen!« Er reckte den Krähenschnabel, um auf sich aufmerksam zu machen. »Ho! Hier steht der Vernichter deiner Nachkommen! Bist du blind?«

Ungläubig verfolgte er, wie sich der grauhäutige Kordrion auf dem Dach niederließ und mit dem Kopf voraus in einen Schacht schlüpfte. Vier hundeähnliche Läufe trugen den breiten Leib, die vorderen beiden glichen mehr Armen, die Klauen waren kräftig und sehr beweglich. Der Beschuss durch die Katapulte ließ ihn kalt, die wenigen Speere und Pfeile bedeuteten keine tödlichen Wunden. Seine Krallen gruben sich in das Mauerwerk und hinterließen tiefe Löcher.

»Nein, nein, nein!«, schrie Ingrimmsch. »Komm zurück!« So ein dämliches Vieh! Schritte näherten sich ihm, und dann standen Balyndar und Slin neben ihm. »Was macht er denn da?«, ächzte der Vierte und sah auf die Schwanzspitze, die eben verschwand.

Balyndar hielt sich die Seite und rang nach Luft. »Er kriecht hinein wie ein Bär in einen Bienenstock.«

Slin sah Ingrimmsch beinahe vorwurfsvoll an. »Hätte er sich nicht auf dich stürzen sollen?«

»Schon. Eigentlich.« Boindil nahm den geflochtenen Zopf und rieb sich den Schweiß aus dem Gesicht. »Es muss sich etwas in Phöseon befinden, was ihn mehr interessiert als ich.« Dann lachte er. »Los! Den kaufen wir uns. Wenn Vraccas mit uns ist, bleibt die Bestie stecken, und dann schneiden wir sie in aller Ruhe in Scheibchen!« Er lief zu dem Schacht und sah, dass sich der Kordrion eben an dem hängenden Garten vorbeischob und in den Wänden nach einem waagrechten Durchgang suchte, der breit genug für seinen massigen Leib war.

»Mir nach!« Ingrimmsch - sprang.

Sein Flug war kurz, und er landete in einer blühenden Hecke, die ihn sofort von Kopf bis Fuß mit weißem Blütenstaub überzog. Jetzt sehe ich aus wie eine Fee, dachte er und musste grinsen. Eine bärtige, hübsche Fee. Niesend kämpfte er sich frei und rannte auf die Brücke zu, die in das Stockwerk führte, in welches sich der Kordrion mit Macht presste. Was, bei Tion ...

Balyndar und Slin prasselten rechts und links von ihm in kleinere Bäume, die mit ihrem dichten, schwarzen Laub wie eine Matte waren und den Sturz abmilderten. Fluchend krochen sie aus den abgebrochenen Ästen und Zweigen hervor; ein paar Blätter hatten sich zwischen den Rüstungselementen verfangen. Doch ihnen blieb keine Zeit, sie zu entfernen. Rasch hängten sie sich an die Fersen des Zweiten.

Ingrimmsch schloss bald zu dem Kordrion auf, den er nun aus nächster Nähe sah. Die Schwingen trug er eng am breiten, muskulösen Leib, weil er sie in dem Geschoss nicht entfalten konnte. Die eine war ein wenig kürzer als die andere, als sei sie nachgewachsen. Er nutzte die langen Klauen, um seinen zwanzig Schritt hohen und sechzig Schritt langen Körper mit der grauen, faltigen Haut durch Phöseon zu ziehen, während die Beine ihn anschoben.

Dabei machte er sich flach wie eine kriechende Katze, und dennoch schabte der Rücken die Decke des Bogengangs entlang. Teile davon lösten sich, knisternd bildeten sich Risse darin, und auch der Boden ächzte unter der Last, für die er niemals erbaut worden war.

Ingrimmsch hatte die Schwanzspitze erreicht und war sich uneins darüber, wie er vorgehen sollte. Ihn überholen und von unten attackieren? In die Spitze schlagen und ihn angreifen, wenn er sich umdreht?

Bevor er sich entscheiden konnte, rutschte der Kordrion plötzlich in den nächsten senkrechten Schacht und verschwand abwärts.

»Was suchst du nur, Glubschauge?« Ingrimmsch hatte die Kante erreicht und sah das Ungeheuer einige Stockwerke unter sich wieder in das Gebäude kriechen. »Du suchst sicherlich etwas.« Er wandte sich um und entdeckte eine lange Fahne, die von der Wand hing. Kurzerhand riss er sie aus der Halterung, wickelte sie um eine Säule und ließ sich daran hinab in das Stockwerk, in welches der Kordrion eingedrungen war. Dort landete er auf den Füßen und zückte wieder den Krähenschnabel. »So leicht wirst du mich nicht los.«

Slin und Balyndar rutschten die Fahne hinab und landeten hinter ihm. Die Anstrengung raubte ihnen die Worte; zu dritt hetzten sie dem Kordrion hinterher. Widerstand wurde dem Scheusal kaum geboten. Die Albae hatten niemals damit gerechnet, dass eine solche Kreatur in ihre Stadt einbrechen könnte. Die Zwerge kamen an abgebissenen Gliedmaßen und Blutlachen oder zerschmetterten und verstümmelten Körpern vorüber; es waren einfache Bewohner, wie sie an der Kleidung erkannten, und sie hatten weder Waffen noch Rüstungen getragen.

»Er ist nach rechts!«, rief Balyndar. »Da vorn, in dem großen Gang.«

»Das sehe ich selbst«, knurrte Ingrimmsch, dem die Rennerei lästig wurde. Er wollte kämpfen, nicht seine Ausdauer verbessern.

Sie kamen um die Ecke und standen vor einer Mauerflucht, welche eine breite Schneise schuf, die bis nach vorne zum Tor führte, durch das sie geritten waren. Genau dorthin rannte der Kordrion, immer dicht an den Boden gepresst. Der Rücken streifte einige der hängenden Gärten, sie pendelten und rissen aus ihren Verankerungen. Erde und Pflanzen regneten vom Himmel. Die Klauen schleuderten Albae zur Seite, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten, andere fraß er nebenbei oder kaute auf ihnen herum, um sich das Blut zu nehmen; die Überreste spie er aus.

»Ho!«, schrie Ingrimmsch und eilte weiter, so schnell ihn seine Beine zu tragen vermochten. »Ho, du mit dem hässlichen Gesicht: Bleib endlich stehen!« »Was will er am Tor?« Balyndar schien das Laufen nicht so viel auszumachen. »Anscheinend ist er doch nicht dir gefolgt, Zweiklinge.«

Slin fiel weiter zurück. »Lauft«, hechelte er. »Ich komme nach. Die Rüstung ist ungewohnt schwer...«

Ingrimmsch packte ihn am Armschoner. »Du bist ein Kind des Schmieds! Streng dich an, um dir den Ruhm am Tod des Kordrion zu sichern. Wann wird ein Vierter so etwas jemals wieder ernten dürfen?« Insgeheim fragte er sich, wo Tungdil und Aiphatön blieben.

Es ging über die Trümmer und Sandhügel der hängenden Gärten hinweg; immer wieder mussten sie größeren Mauerbrocken ausweichen, die sich aus den Fassaden um sie herum lösten. Die Erschütterungen, die der Kordrion verursachte, und die peitschenden, unbändigen Schläge seines Schwanzes brachten Zerstörung nach Phöseon. »Er... hat das... Tor... erreicht.« Slin war kaum mehr zu verstehen, so heftig rang er nach Atem. Bis zu ihrem Ziel waren es noch einhundert Schritt. »Ich... kann nicht mehr.« Er blieb stehen und legte die Armbrust auf einen Baumstamm auf. »Ich... decke euch von... hier aus.«

Ingrimmsch und Balyndar beeilten sich.

»Hast du einen Plan?«, fragte der Fünfte.

»Ja. Ihn umbringen«, erwiderte Ingrimmsch. »Einfache Pläne sind die besten.« Sie gelangten endlich an den Platz vor dem Tor.

Der Kordrion drehte und wendete sich dort wie besessen, machte sich klein und krümmte sich, während seine Klauen auf die Ponys der Schwarzen Schwadron niederstießen und sie zerfetzten. Die Tiere wieherten grell, keilten aus, rannten durcheinander, doch sie konnten dem Feind nicht entkommen. Es war ein Abschlachten, es stank nach Blut, rote Schlieren und Spritzer hafteten an den Wänden, und der sandige Boden hatte sich vollgesogen.

Die Zwerge hatten sich in die Arkadengänge zurückgezogen und beschossen das Scheusal aus der Deckung heraus. Unterstützt wurden sie von einigen Albae Soldaten, die aus verschiedenen Stockwerken herab ihre Pfeile, Lanzen und Speere gegen das Ungeheuer schleuderten.

»Er mag keine Pferdchen?«, stellte Ingrimmsch verwundert fest. »Das soll der Grund sein, weswegen er den Mörder seiner Brut...«

Balyndar hatte umhergeschaut und ein Packpferd entdeckt, auf das der Kordrion soeben sein Augenmerk richtete. »Schau dir das an: Dieses bekommt seine Hiebe nicht zu spüren.«

»Dann mag er Pferde lieber?«, versuchte Ingrimmsch einen Scherz, wurde dann aber schlagartig ernst. »Ich weiß, was du meinst. Das hat uns Tirigon gegeben. Mit Proviant.« Er rannte auf den Platz hinaus, auf das Pferd zu. »Hat der Alb Proviant mit Kordrion-Futter verwechselt? Ich schaue, was wirklich drin ist.« Balyndar folgte ihm. Inzwischen waren drei der Geschütztürme auf dem Dach nach vorne an die Kante gerollt worden. Jetzt wurde der Beschuss auch für das mächtige Wesen gefährlich; immer mehr Albae standen auf den Ebenen rund um den Hof, und bald verlor auch der Kordrion sein Blut aus unzähligen tiefen Wunden. Er brüllte wütend, schlug mit dem Schweif um sich und richtete weitere Verwüstung an.Aber er flieht nicht, obwohl er wissen muss, dass längeres Verweilen seinen Tod bedeutet. Ingrimmsch war schon sehr nahe heran.

Eine der Klauen griff nach dem Packpferd, und zwar sehr behutsam.

Doch da war Ingrimmsch zur Stelle. Mit einem heftigen Schlag trieb er den Dorn des Krähenschnabels in die fingerartigen Gebilde. »Das bleibt hier!«, schrie er dabei wütend und zog am Griff. Mit einem reißenden Geräusch schlitzte die eiserne Klinge die bleiche, graue Haut auf. »Es ist unser Pferd!«

Balyndar sprang herbei, sein Morgenstern zerschmetterte eine Kralle, und noch mehr Blut strömte hervor.

Kreischend neigte der Kordrion seinen Leib nach vorn und versuchte, die Schwingen auszubreiten. Doch die Mauern ringsherum machten das unmöglich. Dennoch genügte allein schon der Versuch, um verheerenden Schaden anzurichten.

»Vorsicht!« Ingrimmsch riss Balyndar zur Seite, gleich darauf krachte ein breites Stück Putz an der Stelle nieder, an der er sich eben befunden hatte. »Dagegen nützt dir auch dein schöner Helm nichts.«

Der Kordrion schnappte nach ihnen, und die Zwerge duckten sich unter dem hässlichen Maul weg.

Dabei drosch Ingrimmsch zu und traf eines der unteren Augen. Es platzte auf der Stelle, und der Schmerz rang der Bestie einen weiteren, dröhnenden Schrei ab. Sie hob den Kopf.

Der Dorn hatte sich in einem Knochen verhakt. Ingrimmsch hatte den Griff nicht losgelassen und wurde daran in die Höhe gezogen. Die schnelle Bewegung verursachte ihm Schwindel, die Luft schoss ihm aus der Lunge und ließ ihn wie einen Karpfen schnappen - aber er klammerte sich an den Griff seiner Waffe. »Das schüttelt mich nicht ab!«, rief er. »Ist das alles, was du zu tun vermagst? Noch ein bisschen weiter hinaus, du widerliche Hässlichkeit! Das schreckt mich nicht! Ich ertrage Höhenluft!« Da traf ihn ein Pfeil in den rechten Fuß.

»Verdammte Schwarzaugen!«, brüllte er. »Könnt ihr nicht zielen wie eure Verwandten aus dem Norden?« Die Arme wurden allmählich schwer, das eigene Gewicht und das der Rüstung zerrten daran. Loslassen bedeutete jedoch den Tod.

Da sah er, wie Aiphatön aus einem Stockwerk sieben Schritte über dem Rücken des Kordrion gesprungen kam, den Speer mitbeiden Händen zum Stoß nach unten gehalten; die Spitze zielte auf den Nacken. »Damit?«, schrie Ingrimmsch ungläubig. »Oh, Vraccas! Mit einer Nadel! Mit einer Nadel kommt er angeflogen!«

Das Scheusal duckte sich, und schüttelte das Haupt. Der Dorn löste sich, und der Zwerg flog wie ein Geschoss vier Schritt über dem Boden nach rechts, ehe er in einem Stapel zerfleischter Ponys landete; die offen liegenden Gedärme dämpften seinen Sturz. Rasend wühlte er sich aus den stinkenden Innereien, brach den Pfeil unterhalb der Sohle ab und erhob sich. »Jetzt bin ich richtig wütend!« Die rote Maske des Kampfwahns kündigte sich an, einzig der Kordrion blieb unverändert. »Ich verpasse dir einen Hieb, der dich zerspringen lässt!«

Aiphatön war auf dem Rücken des Scheusals gelandet und stach mit dem Speer zwischen die mannslangen Wirbel, die sich unter der Haut abzeichneten. Kreischend bäumte sich der Kordrion auf - da sprang Tungdil aus einem niedriger liegenden Stockwerk auf ihn und rammte ihm Blutdürster an einer anderen Stelle durch das Rückgrat, woraufhin das rechte Bein des Ungeheuers erlahmte. Es knickte ein und fiel gegen die Ostfassade und durchbrach die Mauer. Darüberliegende Teile stürzten mit ein und bedachten den Kordrion mit einem Hagel schwerer Steine. Aiphatön und Tungdil hatten sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht und verharrten nebeneinander auf einem Balkon an der Westseite.

Doch das Wesen war noch lange nicht am Ende seiner Kräfte.

Es schlug mit dem Schwanz um sich und zerstörte das Tor, das Mauerwerk darüber und tötete Dutzende Albae. Sie stürzten mit den Trümmern auf die Erde und wurden von den Steinquadern zermalmt, andere waren vom Schweifhieb getroffen worden und wurden puppengleich davongeschleudert, um zerschmettert zu Boden zu fallen. Schreiend stemmte sich die Bestie aus dem Schutt empor, geriet ins Taumeln und krachte mit dem Kopf voraus in die nächste Wand.

Ingrimmsch hatte den Kordrion beinahe erreicht. »Gleich liegst du still!« Er holte aus und schlug den Krähenschnabel nahe dem, was er für die Genitalien hielt, in den weichen Unterbauch. Die Haut riss auf der Stelle, und das Scheusal kreischte. »Ha! Das höre ich doch gern!«, brüllte Ingrimmsch fröhlich. »Lass es noch mal erklingen!« Er drosch wieder zu. »Dieses Lied gefällt mir!«

Da waren Tungdil und Aiphatön heran und halfen dem Krieger, dem Feind endgültig den Garaus zu machen. Immer wieder mussten sie den zuckenden Beinen und Krallen ausweichen, die Schwingen spannten sich und falteten sich wieder zusammen, und noch mehr von Phöseon ging zu Bruch.

»Wirst du wohl aufhören?« Ingrimmsch erklomm übermütig lachend den Hals, dann den Kopf und schlug den Dorn durch die Schädeldecke senkrecht nach unten. »Still, Drecksvieh!«

Und wirklich erschlaffte der Leib des Kordrion. Mit einem letzten Stöhnen bäumte er den Schwanz noch einmal auf, dann fiel er zurück und zertrümmerte weitere Gebäudeteile. Staubwolken wirbelten umher.

Ingrimmsch wischte sich den Schweiß und die Flüssigkeiten, die in seinem Gesicht und in seinem Bart hafteten, mit dem Zopf ab, stellte jedoch fest, dass die Haare nicht ausreichten. Er verschmierte es wie mit einem Pinsel. Ein Bad stand an. Mit wenig Wasser.

»Vraccas, das haben wir gut gemacht!«, sagte er und hob den Krähenschnabel, an dem das Blut des Kordrion hinablief. Nicht weit von sich sah er den Einäugigen auf der Seite des Wesens stehen, der ihm zunickte. Aiphatön hatte sich auf den Erdboden begeben und betrachtete den Berg von Bestie, der vor ihm aufragte.

Um sie herum rumpelte es gelegentlich, wenn sich weitere lose Mauerstücke aus Phöseon lösten und niederstürzten; das Wiehern von verletzten Ponys und das Stöhnen der Verwundeten mischte sich darunter.

Dann erklang ein einzelner, erleichterter Ruf, in den mehr und mehr Albae einstimmten, bis es um sie herum ohrenbetäubend schallte.

Ingrimmsch stieg über den Hals auf den Bauch und gesellte sich zu Tungdil. »Ich verstehe zwar nicht, was sie sagen, aber es klingt so, als könnten sie uns gut leiden«, meinte er beschwingt, ließ den Krähenschnabel sinken und legte beide Hände auf den Griff. Er sah sehr zufrieden aus. »Endlich ein Gegner nach meinem Geschmack. Und es wird wenig Zwergenkrieger geben, die mich damit überbieten können.« Er sah sich um und erkannte durch die sich lichtenden Staubschwaden jubelnde Albae.

Tungdil klopfte ihm auf die Schulter. »Gut gemacht, Ingrimmsch. Sie rufen...« »Sag mir lieber nicht, was sie rufen, Gelehrter«, unterbrach er ihn. »So kann ich mir einbilden, dass mir die Schwarzaugen zum ersten Mal in meinem Leben zujubeln, anstatt mich umbringen zu wollen.« Er sah auf seinen schmerzenden Fuß, der schwarz gefiederte Schaft ragte noch oben aus dem Stiefel. »Versucht haben sie es auch heute wieder.«

Tungdil lachte und machte sich an den Abstieg. »Komm. Ich möchte erfahren, was Aiphatön von unserem Beistand hält.«

Tungdil, Ingrimmsch, Slin, Balyndar, Hargorin und Barskalin trafen am Abend im Thronsaal des Kaisers ein; fünf Zhadär begleiteten sie.

Sie wurden an einen Tisch gebeten, auf dem Pokale und verschiedene Amphoren standen. Noch wurde nichts ausgeschenkt. Vorher hatte Aiphatön ihnen allen Gemächer zuweisen lassen, in denen sie sich vom Kampf erholt hatten. Mit Sonnenuntergang trafen sie im Saal ein, in dem sie bereits bei ihrer Ankunft gewesen waren. Die Malereien an den Wänden hatten sich verändert. Aus den schwarzweißen Scherenschnittmotiven waren bunte Gemälde geworden, die vom Boden bis an die hohe Decke reichten. Sie zeigten Landschaften von absurder Schönheit, und wenn man genau hinsah, erkannte man, dass es keine echten Bäume, Sträucher und dergleichen waren, sondern in kleinem Maßstab gezeichnete Leichname, wie die durchschnittenen Kehlen und Wunden an den Leibern deutlich machten. »Sie sind doch so verrückt wie ihre Verwandtschaft«, meinte Ingrimmsch angewidert. »Aber ihre Salben sind gut. Ich spüre das Loch in meinem Fuß fast nicht mehr.« »Wer weiß, woraus die gemacht ist«, brummte Slin. »Aber ich will mich nicht beschweren. Sie haben mich herrschergleich behandelt.«

»Nur das mit dem Bad war unnötig«, murmelte Ingrimmsch. »Ich habe Wasser rausnehmen lassen. Es reichte fast bis ans Knie!«

»Wegen Elrias Fluch?« Slin hatte ein breites Grinsen im Gesicht. »Ich habe noch von keinem Zwerg gehört, der in der Wanne ertrunken ist.«

»Und da wollte ich nicht den Anfang machen.« Er hob die Hand, deutete von der Fingerspitze bis zum Handgelenk. »Das ist die Höhe für ein sicheres Bad!«

Slin prustet los. »Das reicht ja gerade aus, um die Männlichkeit zu wässern.« »Die Vierten sind in vielen Bereichen schwächer und kleiner als die anderen Stämme«, warf Balyndar trocken ein.

»Aber mein Bolzen erreicht sein Ziel immer. Ich höre es jedes Mal genau«, gab Slin zurück und zeigte auf den Morgenstern. »Du dagegen wirst sein wie deine Waffe: viel zu viel Kraft in den Kugeln und ein armer, kleiner Stab.«

Ingrimmsch lachte schallend.

Aiphatön betrat den Saal und beendete den Streit der Zwerge. Er reichte allen - außer den Zhadär - die Hand, dann setzte er sich zu ihnen an das Kopfende der Tafel. Jetzt kamen zwei Albae und schenkten verschiedene Weine aus.

Der Kaiser betrachtete die Besucher eingehend, die Augenhöhlen waren schwarz wie die Nacht.

Anscheinend will er den Makel nicht ablegen - oder kann er es nicht mehr? Ingrimmsch grübelte.

»Du und deine Freunde haben bewiesen, dass ihr nicht zu den Feinden von Phöseon gehört«, sprach Aiphatön mit ruhiger Stimme und hob seinen Kelch. »Dafür und für euren Beistand bedanke ich mich bei euch.« Er prostete ihnen allen zu, dann trank er. »Die Kordrionbrut, die wir im Packpferd gefunden haben, wurde uns untergeschoben«, erwiderte Tungdil. »Meiner Meinung nach kommt dafür nur Tirigon infrage. Das wiederum bedeutet, dass mindestens einer der Dsön Aklän gegen dich ist.« Er sah den Kaiser abwartend an.

Aiphatön stellte den Kelch langsam auf den Tisch zurück. »Deine Betonung zeigt mir, dass du mehr weißt, Tungdil.« Er wies die Albae an, den Raum zu verlassen, danach ließ er den Blick über die Gesichter der Zwerge schweifen. »Bevor wir weitersprechen, möchte ich, dass nur diejenigen im Zimmer verweilen, welche jede Wahrheit hören dürfen.«

Tungdil nickte. »Da manche mir immer noch nicht vertrauen, weil ich nach zweihundertfünfzig Zyklen aus meiner unfreiwilligen Verbannung zurückgekehrt bin und sie an mir zweifeln, werde ich niemanden anhalten hinauszugehen. Jeder soll hören, was der Kaiser der Albae und der Großkönig der Zwergenstämme zu bereden haben.« Ingrimmsch atmete innerlich auf. Er hatte damit gerechnet, dass nur er bei der Unterredung bleiben dürfte. Das hätte zu neuem bösem Blut geführt. »Unser eigentlicher Plan sah etwas ganz anderes vor«, begann Tungdil nach einem Schluck Wein und legte dem Alb dar, was sie mit dem Gelege des Kordrion vorgehabt hatten, was in der Schwarzen Schlucht lauerte, dass sie Lot-Ionan benötigten und was sie mit dem Drachen und seinem Hort vorhatten: ihn zum Magus zu bringen, um einen Angriff herauszufordern. Aiphatön lauschte ohne eine Regung.

»Vieles ist anders gekommen, als wir es beabsichtigten«, schloss Tungdil. »Und es ist gut, dass es so gekommen ist, weil ich denke, dass die Albae des Südens besser als Verbündete denn als Gegner sind. Beim Marsch gegen Lot-Ionan. Das hattet ihr ohnehin vor.«

»Ein Marsch gegen den Magus ist reiner Selbstmord«, antwortete Aiphatön gelassen. »Das hat den Ausschlag gegeben, dem Drängen meiner Untertanen aus dem Süden nachzugeben.« Er goss sich Wein nach und lächelte. »Ich sehe euch überrascht?« Ingrimmsch sah nach rechts und links. Als niemand etwas sagte, sprach er: »Ich hätte deine Worte um ein Barthaar so verstanden, dass du absichtlich in den Tod gehst?« Aiphatön beugte sich nach vorn, stützte das Kinn auf die Hand. »Ich wollte niemals sein wie meine Schöpfer, das hatte ich damals gesagt. Und doch bin ich es geworden. Es wäre zu einfach, eine Ausrede dafür zu erfinden, und so stehe ich zu dem, was ich dem Geborgenen Land angetan habe. Deswegen führe ich sie in den Süden und reibe sie gegen Lot-Ionan auf.«

»Hussa! Das ist die richtige Einstellung!«, stimmte Ingrimmsch unwillkürlich zu und räusperte sich wegen seines Ausbruchs verlegen.

»Ich lebte zu viele Zyklen in Verblendung, berauscht von meiner eigenen Macht. Ich habe Länder unterworfen, Leben genommen und den Willen der Menschen gebrochen. Nicht weil es notwendig war. Weil ich es konnte. Weil ich ihnen überlegen war«, erklärte der Kaiser nachdenklich. »Der schreckliche Rausch ist verflogen, doch die Erinnerung an meine Verfehlungen ist geblieben. Mit jedem Umlauf sehe ich das Leiden, das ich nach Idoslän, Urgon und Gauragar gebracht habe. Damit muss Schluss sein. Und ich beende es.« »Die Dsön Aklän und die Nord-Albae werden dir nicht folgen«, warf Tungdil ein. »Deswegen kehre ich als Einziger aus dem Blauen Gebirge zurück und bereite Dsön Bharä mit eigenen Händen den Untergang. Es sind nur ein paar Hundert, die durch den Zufluss des Mondteichs einen Schlupfweg ins Geborgene Land gefunden haben. Damit werde ich allein fertig.« Wie zum Beweis leuchteten die Runen auf seiner Rüstung auf. »Dein Auftauchen und dein Plan, Tungdil, haben mich in meinem Vorhaben bestärkt. Wenn auch noch der Drache tot ist, steht der Freiheit des Geborgenen Landes nichts mehr im Weg.« Er schloss die Augen, und eine rote Träne sprang über das rechte Lid und zog ihre Bahn die helle Wange entlang. »Ich wollte nie sein wie die Unauslöschlichen. Meinen Worten werden endlich Taten folgen.«

Ingrimmsch suchte Tungdils Blick, und der Gelehrte blinzelte ihm zu. »Es könnte nicht besser laufen«, sagte er lautlos.

»Wärst du bereit, uns gegen die Feinde in der Schwarzen Schlucht beizustehen?«, fragte Tungdil. »Einen Kämpfer wie dich...«

Aiphatön schüttelte das kahle Haupt. »Wenn ich mein eigenes Volk ausgerottet habe, ist meine Schuld gegenüber dem Geborgenen Land beglichen. Ich habe die Albae hineingeführt, ich erlöse die Menschen auch wieder von ihnen. Ohne diese Unterdrückung werden die Menschen bereit sein, dir und den Zwergen ins Jenseitige Land zu folgen und ihre frisch gewonnene Freiheit zu verteidigen.« Er öffnete die Augen wieder. »Ich schlage vor, dass ich den Albae verkünde, dass wir mit sämtlichen Zwergenstämmen einen Friedensvertrag geschlossen haben und nicht nur mit den Dritten. Ihr müsst mir schwören, dass nichts von dem, was ich euch gesagt habe, an andere weitergetragen wird.«

»Schon aus eigenem Schutz«, versprach Ingrimmsch ungefragt für alle. »Wenn die Schwarzaugen Wind von deinem Vorhaben bekommen und doch lieber hierbleiben, anstatt gegen den Magus zu ziehen, hätten wir viel mehr Arbeit, um sie zu vernichten.« Er grinste und dankte Vraccas. Es lief so gut, wie er es niemals beim Antritt der Reise vermutet hätte.

Balyndar sah Aiphatön an. »Was ist mit dir? Wenn alle Albae tot sind, was machst du dann?«

Er holte tief Luft. »Gehen. Nach Osten und sehen, was ich da finde. Ich schwöre, dass ich niemals mehr ins Geborgene Land zurückkehren werde - es sei denn, man lädt mich ein.« Er lächelte Tungdil an. »Aus welchen Gründen auch immer. Und wenn ich und ihr sehr viel Beistand welcher Götter auch immer haben«, er hob seinen Pokal wieder, »werden der letzte Nord-Alb und ich gemeinsam sterben.«

Tungdil verbeugte sich. »Meine Hochachtung vor deinem Mut, Aiphatön. Ich sehe, dass ich mich nicht in dir getäuscht habe.« Er stand auf. »Mit deiner Erlaubnis ziehen wir uns zurück. Wir werden morgen in Richtung Rotes Gebirge aufbrechen und dem Drachen auf den Zahn fühlen. Wir legen ihm und seinen Orks eine Spur, die er nicht übersehen kann.«

»Bis er eingetroffen ist, sollte ich mit dem Heer bereits im Blauen Gebirge sein. Lot-Ionan und seine Famuli werden zwar kein allzu leichtes Spiel mit meinen Truppen haben, aber sie werden sie besiegen. Da kommt der Drache mit seinen Orks gegen die Magi gerade recht.« Aiphatön erhob sich ebenfalls. »Aber gebt acht, dass Lohasbrand Lot-Ionan nicht in eine Fackel verwandelt, denn der Geschuppte ist mächtig. Immerhin hat er Königin Wey die Elfte unterworfen, und sie besitzt den Ruf, eine ausgezeichnete Maga zu sein. Sonst steht ihr vor der Schwierigkeit, die Schwarze Schlucht aus eigenen Kräften reinigen zu müssen.«

Tungdils Augen verengten sich. »Lebt sie noch?«

»Königin Wey? Ja. Soweit ich weiß. Und sie hat eine Tochter, der man Zauberei nachsagt.« Der Alb hatte den Hintergrund der Frage verstanden. »Sie müssten gute Verbündete abgeben, wenn der Drache besiegt ist. Falls Lot-Ionan stirbt, wären sie meine Wahl, um gegen die Scheusale im Jenseitigen Land zu ziehen.« Er reichte den Zwergen wieder die Hand. »Möge euch Vraccas beistehen. Wenn es die Fügung vorsieht, sehen wir uns noch einmal wieder.« Aiphatön verließ den Thronsaal. Es geht aufwärts! Vraccas, wir vollbringen Heldentaten! Ingrimmsch schenkte sich Wasser ein, trank es und rülpste, dabei klopfte er sich mit einer Hand auf den Bauch. »Ab ins Bett, oder, Gelehrter? Wir brechen morgen früh auf, um einen Drachen um seine Schätze zu erleichtern. Und einer Maga unsere Aufwartung zu machen - habe ich recht?«

Tungdil lachte. »Ab ins Bett.«



Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Weyurn, Seenstolz, 6491./6492. Sonnenzyklus, Spätwinter.


Coira saß im Arbeitszimmer ihrer Mutter vor dem großen, runden Fenster und starrte auf den See hinaus. Der weiße Trauerschleier auf ihrem Haar und das Schwarz des hochgeschlossenen Kleides, das sie trug, machten sie älter, wie Rodario fand. Er verharrte schräg neben ihr auf dem Stuhl und spielte mit einem Federkiel. Mallenia lief mit den Händen auf dem Rücken im Raum auf und ab. Der Teppich dämpfte das Geräusch der Stiefel, doch das regelmäßige, unaufhörliche Klack-klack war dennoch deutlich zu vernehmen.

Der Mime legte den Kiel weg und versuchte, der jungen Maga in die Augen zu schauen, in denen wieder Tränen standen. Ein dünner Verband lag um seinen Hals, mehr eine Zier und eine Erinnerung an die Wunde, die er gegen Sisaroth davongetragen hatte. Die Klinge war von seinem Ahnen-Anhänger abgerutscht und hatte den Stoß abgefangen. »Prinzessin, es war nicht Eure Schuld. Die Albae hatten Euch in die Falle gelockt«, sagte Rodario behutsam. »Wärt Ihr eine Schwertkämpferin, wäre Euch etwas Ähnliches mit einem Schwert oder einem Dolch geschehen. Die Albae wissen, wie man Hinterhalte legt. Ihr hättet es nicht verhindern können.« »Das«, sagte sie erstickt, »ist nun Euer fünfter Versuch, mich davon zu überzeugen, dass meine Mutter nicht wegen meiner Unfähigkeit gestorben ist. Und wieder gelingt es Euch nicht, meine Meinung zu ändern.« Sie hob die Arme und betrachtete ihre Hände. »Damit habe ich sie getötet. Damit und mit der verdammten Magie, die sie mich selbst lehrte.«

»Ihr wolltet den Alb vernichten...«, setzte er an, doch sie fuhr herum.

»Aber wer liegt nun in der Gruft meiner Familie neben dem Leichnam meines Vaters? Das Schwarzauge etwa?«, schrie sie ihn verzweifelt an. »Ich darf niemals mehr Magie benutzen.«

»Ihr habt Mallenia damit das Leben gerettet«, versuchte er einen anderen Kniff. »Und wer soll Eure Untertanen gegen den Drachen verteidigen, falls er auftauchen sollte? Schwört der Magie nicht ab, Prinzessin!«

»Doch, das sollte ich«, raunte sie und verlor ihre Wut, dann sahsie wieder zum Fenster hinaus. »Um sicherzugehen, müsste ich die Quelle unzugänglich machen. Bevor die Albae oder Lot-Ionan sie nutzen können.« »Den Schacht einreißen?« Mallenia war stehen geblieben, ihre Augen funkelten. »Ich weiß, dass Ihr trauert. Aber auch ich habe viele Angehörige verloren, ich habe es jedoch nicht als Ausrede benutzt, mich in eine Ecke zu verkriechen und bei den Göttern zu beschweren.«

Coira sah sie nicht einmal an. »Geht nach Idoslän, Mallenia«, riet sie tonlos. »Mit Eurer Ankunft hat alles Unglück auf Seenstolz begonnen. Hätte ich nicht auf den Rat dieses drittklassigen Schauspielers gehört, wärt Ihr von den Albae eingeholt und getötet worden. Dann wäre alles anders gekommen.«

»Es ist müßig, darüber nachzudenken«, sagte Rodario und warf Mallenia, die etwas Geharnischtes antworten wollte, einen beschwichtigenden Blick zu. »Ihr seid die neue Königin von Weyurn...«

»Lohasbrand ist der Herrscher, falls Ihr das vergessen haben solltet«, unterbrach sie ihn kalt. »Ich bin nichts weiter als eine schlechte Maga auf einem Felsen in einem versiegenden See, die das Leben ihrer eigenen Mutter ausgelöscht hat.« Rodario seufzte. »Der Alb hat sie enthauptet.«

»Aber ich habe sie so schwer verletzt, dass sie nichts dagegen tun konnte. Begreift es endlich!«

»Was ist mit den Albae? Gibt es Spuren?« Mallenia sah zu dem Mann. »Ihr wisst, dass heute erst der zweite Umlauf ist, an dem ich wieder auf den Beinen stehe. Die Genesung hat lange gedauert.«

»Sisaroth hat die Insel verlassen. Zumindest tauchte er nicht mehr auf, um uns umzubringen. Und wo seine Schwester abgeblieben ist, wissen nur die Wellen.« Rodario klang ungehalten. Er wollte Coira aufbauen und ihr die Selbstvorwürfe nehmen, anstatt der Ido Bericht zu erstatten. Sie war die letzte Maga des Geborgenen Landes und durfte diese Verantwortung nicht einfach so wegwerfen. Auf diese Weise konnte er es ihr in dieser Phase der Trauer jedoch nicht sagen, sonst hätte sie ihm womöglich gar nicht mehr zugehört. Seit dem Tod ihrer Mutter war sie nicht mehr in die Quelle gestiegen, ihr innerliches Reservoir musste durch die Schlacht gegen die Albae und Mallenias Rettung beinahe vollkommen aufgebraucht sein.

Er wagte es, näher an sie heranzurücken. »Prinzessin, was denkt Ihr, wie es mir ergeht?«

»Habt Ihr auch Eure Mutter durch Dummheit umgebracht?« »Nein...« »Dann habt Ihr keine Ahnung, was ich durchlebe«, sagte sie mit bebender Stimme. »Ich höre ihre Schreie, sobald es still um mich herum ist. Und wenn ich in den Spiegel blicke, sehe ich ihr brennendes Gesicht darin. Entzündet jemand ein Feuer, und ich bemerke den Rauch, muss ich mich übergeben.« Sie schloss die Augen und hielt sich die Hände vors Gesicht. »Der Alb hätte mich statt ihrer umbringen sollen«, brachte Coira weinend hervor.

Rodario pfiff auf die Standesunterschiede und Titel: Er nahm sie in die Arme und zog sie an sich, drückte ihren Kopf gegen seine Brust. Sie schlang die Arme um ihn und schluchzte hemmungslos.

Mallenia setzte sich in einen Sessel nahe der Tür und schwieg. Sie wusste, wie gut ein solcher Trost tat - und spürte zu ihrer Verwunderung ein wenig Eifersucht. Aus irgendeinem Grund hatte ihr Herz sich den weichen Schauspieler auserkoren. Vermutlich, weil er so herrlich unmännlich war und sich von all denen unterschied, die sie bislang kennengelernt hatte. Der Kuss, den er ihr gestohlen hatte, bestätigte lediglich, was ihr Innerstes schon länger gewusst hatte.

Sie betrachtete Rodario, der die Prinzessin hin und her wiegte. Ich kann es ihm niemals sagen. Er würde mich auslachen. Alle würden uns auslachen, dachte sie unglücklich. Seht, da kommen die Kriegerin und ihr reimendes Schoßhündchen. Was ihre Schwerter nicht besiegen, redet sein Mund tot. Trotz allem musste sie bei der Vorstellung grinsen. Sie versuchte, sich mit Überlegungen zu den Zwillingen abzulenken. Mallenia hatte den Leichnam der Albin vor Augen. Sie hatten ihn treibend im See entdeckt, doch bevor sie ihn erreicht hatten, war er gesunken. Firüshas Bauchdecke und die Brust, das hatte sie deutlich gesehen, waren aufgeplatzt gewesen. Den Angriff der Maga hatte sie, wenn überhaupt, mit schwersten Verletzungen überstanden, durch den Aufprall aber war sie gestorben.

Vermutlich hatte sich Sisaroth auf die Suche nach seiner Schwester oder ihrer Leiche gemacht. Vielleicht befahl ihm das irgendeine Albae-Tradition, die ihnen wiederum einen Aufschubbis zu seinem nächsten Angriff gewährte. Und wie der Drache reagieren würde, war ihr immer noch nicht klar. Seine Antwort stand aus.

Es klopfte, und ohne eine Aufforderung abzuwarten, öffnete der Besucher die Tür: Loytan kam herein, machte einen Schritt ins Zimmer und erstarrte, als er Rodario und die Prinzessin umschlungen sah. »Wie könnt Ihr es wagen, Schauspieler?«, sagte er heiser vor Empörung. »Auf der Stelle lasst Ihr die Königin los! Wenn Ihr ein Mann seid, kommt Ihr mit mir auf den Gang, damit ich Euch Benehmen einprügeln kann.« Mallenia räusperte sich. »Das ist der falsche Augenblick, Standesdünkel zu zeigen, Graf Loytan«, meinte sie zu ihm. »Regt euch nicht auf.« Sie sah den Brief in seiner Hand. »Ist der von Lohasbrand?«

Er wandte sich zu ihr. »Was geht Euch das an?«

Falten, der Ungehaltenheit entsprungen, entstanden auf ihrer Stirn. »Wenn Ihr Euch sammelt und überlegt, wird Euch wieder einfallen, dass ich dem hoheitlichen Geschlecht der Ido entspringe, Graf«, gab sie forsch zurück. »Mir stünde der Regententitel von Idoslän zu. Wenn Ihr so auf Etikette besteht, wie Ihr uns glauben machen möchtet, werdet Ihr in Zukunft jedes Mal, wenn Ihr mich seht, eine tiefe Verbeugung vollführen und mich mit Hoheit ansprechen müssen.« Sie beobachtete sein Gesicht, das sich noch roter färbte. »Wollt Ihr das, Graf?«

Seine Kiefer pressten sich auf einander. »Ich habe den Brief nicht geöffnet«, erwiderte er. »Und er ist tatsächlich von Lohasbrand.« Er ging auf den Schreibtisch zu und legte ihn ab.

Coira ließ Rodario los, rieb sich die Tränen vom Gesicht. »Danke«, sagte sie und öffnete den Umschlag. Ihre Augen huschten über die Zeilen, dann fiel das Fragment einer Drachenschuppe auf die Holzoberfläche. Der Beweis, dass es sich wirklich um die Anweisungen von Lohasbrand handelte.

»Und?« Rodario versuchte, etwas vom Inhalt zu erhaschen, auch wenn es sich nicht schickte. Loytan warf ihm mörderische Blicke zu, die Rechte ballte sich verheißend zur Faust.

»Er erteilt mir den Auftrag, den Alb zu suchen und gefangen zu nehmen. Dazu sendet er mit einhundert Orks zu meiner freien Verfügung«, fasste sie zusammen. »Und er verlangt den Treueid auf ihn.«

»Das bedeutet, dass Ihr den gleichen Ring um den Hals wie Eure Mutter tragen werdet«, sagte Rodario entsetzt. »Umgeben von vier Wärtern? Eine Abschwur von der Magie?«

»Es ist mir gleich. So werde ich niemals in Versuchung geraten, auf den Boden des Sees zu tauchen und die Quelle zu nutzen«, sprach sie müde.

»Königin, das dürft Ihr nicht!«, rief auch Mallenia aufgebracht. »Ihr seid die letzte Maga...«

Coiras Gesicht verschloss sich. »Ja, und?«

Rodario fluchte leise. Mallenia hatte das getan, was er absichtlich vermieden hatte - und er erkannte sofort, dass die Königin damit nicht zu bekehren war. »Es war ein aufregender Umlauf, und die Gemüter sind erhitzt. Wir sollten in die Betten steigen und morgen in aller Ruhe besprechen, was zu tun ist.«

»Wie redet Ihr mit der Königin?«, brauste Loytan auf. »Ihr werdet schon mal gar nichts besprechen.« Daraufhin sah er zu Mallenia, weil er eine Maßregelung fürchtete. »Rodario hat recht.« Coira trocknete sich neue Tränen ab. »Ich bin erschöpft und möchte schlafen. Treffen wir uns morgen wieder und reden darüber, was die Zukunft bringt. Wir alle«, wiederholte sie nachdrücklich und ging dicht am Mimen vorbei. Er hörte sehr genau, dass sie ihm ein »Danke« zuflüsterte, dann war sie verschwunden; gleich darauf folgte ihr Loytan.

Rodario sah noch eine Weile zum Fenster hinaus, ehe er sein Gemach aufsuchte und dabei den Umweg über den Wandelgang im Freien nahm. Er liebte den frischen Geruch des Wassers.

Niemals hätte er geglaubt, dass er den Alb mit seinen brennenden Bärlappsamen in die Flucht schlagen würde. Er fand es wahrscheinlicher, dass sich das Schwarzauge in Sorge um seine Schwester zurückgezogen hatte. Achtzehn Männer hatte Sisaroth getötet, bevor er gegangen war. Möge Firüsha am Grund des Sees vermodern, wünschte er sich.

In Gedanken versunken, hatte er den Mann nicht bemerkt, der vor ihm aus dem Schatten eines Türmchens trat. Erst als dieser absichtlich hustete, richtete Rodario seine Aufmerksamkeit auf ihn. »Loytan. Mit Euch habe ich gar nicht gerechnet«, log er heiter. »Kommt jetzt die Abreibung?«

Der Graf näherte sich ihm. »Als ich dich über die Spundwand geworfen habe, hätte ich dir Gewichte an die Füße binden sollen, du Schande der Bühne!« Er deutete nach rechts, über den Rand der Mauer. »Heute wird es nicht nötig sein. Der Sturz aus achtzig Schritten sollte genügen, dir das Genick zu brechen. Dann hat es sich ausgeschauspielert! Dir wird niemand nachweinen.«

»Ihr habt mich damals mit dem Angriff überrascht, Graf. Denkt Ihr, dass es Euch heute gelingen wird?«

Loytan lachte ihn aus. »Ohne deine Tricks und Apparate für die falschen Zauber bist du wehrlos. Wertlos ohnehin.« Er streifte sich schwere geschliffene Schlagringe über die Hände.

Rodario grinste. »Aber anscheinend verlasst Ihr Euch nicht allein auf die Härte Eurer Knochen, wie mir scheint. Denkt Ihr, mein Kinn ist so widerstandsfähig?« »Ich möchte so etwas wie dich nicht noch einmal berühren müssen, das ist alles«, gab der Graf zurück.

»Wie genau habe ich mir denn Eure Eifersucht verdient? Ich habe Coira lediglich Trost gespendet. Weiß Eure Gemahlin von Euren geheimen Gelüsten nichts, die Ihr für die neue Königin hegt?« Rodario goss gerne Öl ins Feuer. Aufgebrachte Gegner waren leichter zu schlagen. »Ich werde es ihr gern sagen.«

»Von dir wird nichts bleiben, was einen Satz zustande bringt!« Loytan ging schneller, aber der Schauspieler marschierte rückwärts. »Bleib stehen!«

»Gut. Wenn Ihr es unbedingt wünscht.« Rodario seufzte. »Aber ich warne Euch: Wenn Ihr mich jetzt angreift, wird Euch niemand mehr zu Gesicht bekommen. Nicht einmal mehr Eure Gemahlin.«

»Das träumst du, Schwachkopf! Abgesehen davon: Sie hasst mich sowieso.« Loytan schlug zu - und hieb in die Luft!

»Auf der Bühne ist es wichtig, flink und beweglich zu sein.« Rodario hatte eine Rolle vorwärts zwischen den Beinen des Mannes hindurchgemacht und war hinter ihm in die Höhe gefedert. Er trat dem Grafen ins Gesäß, sodass dieser nach vorne taumelte. »Was ist? War das alles?«

Loytan griff erneut an.

»Zu offensichtlich.« Rodario blockte seinen Schlag, ohne dass sein Arm zitterte, und ließ den Ellbogen in sein Gesicht krachen. Er langte in die Haare des Mannes und riss ihn daran nach unten; gleichzeitig schnellte sein Knie in die Höhe und traf die Nase; krachend brach sie. Dann gab er den Grafen frei und trat ihm in den Bauch. Ächzend fiel er auf die Knie. »Dafür stirbst du«, würgte er. »Hattet Ihr das nicht ohnehin mit mir vor?« Rodario tat ver wundert. »Außerdem habe ich noch den nächsten Mordversuch an Euch frei, und nicht umgekehrt. Für die Sache auf dem Schacht.« Er sah zu, wie Loytan die Schlagringe wegwarf und einen Dolch zog.

Zwei Attacken wich Rodario aus, dann unterlief er die dritte und deckte den Grafen mit einer Kette von Hieben und Schlägen ein, dass ihm das Blut aus vielen Platzwunden im Gesicht strömte. Keuchend brach Loytan auf dem Gang zusammen. »Wisst Ihr, man benötigt als Mime zahlreiche Talente. Um einen Krieger beispielsweise darstellen zu können, genügt es nicht, eine Rüstung zu tragen«, erklärte er dem Geschundenen. »Ich muss auch ein bisschen sein wie er. Kämpfen wie er, versteht Ihr? Ich will gar nicht leugnen, dass mir das soeben von Nutzen war.«

Hustend zog sich Loytan an der Mauer hoch. »Das lernt man nicht in wenigen Stunden«, brabbelte er, drei ausgeschlagene Zähne lagen vor seinen Schuhen. Rodario verneigte sich. »Vielen Dank für das Lob. Ihr solltet mal meine Fechtkunst sehen. Darin bin ich meisterlich.« Er lachte. »Ein andermal vielleicht? Wenn Euch der Sinn wieder nach einem Zweikampf steht und Eure Blessuren verheilt sind.« Er überlegte. »Was wolltet Ihr mich eigentlich fragen?«

Loytan langte unter seinen Rock und warf einen Klumpen Watte auf den Boden. »Das habe ich in deinem Zimmer gefunden.«

»Ah, meine Requisiten. Welch eine Entdeckung!«

»Du polsterst dir das Gesicht unentwegt aus, habe ich recht? Und deine Bärtchen am Kinn und unter der Nase sind angeklebt«, setzte Loytan nach, das Blut um den Mund abputzend. »Wer bist du wirklich? Aus welchem Grund trägst du von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang eine Maskerade?«

Rodarios Augen veränderten sich und blickten entschlossen, ohne jegliche Belustigung. »Die Neugierde hat schon vielen Menschen das Leben gekostet.« Er machte einen plötzlichen Schritt auf den Grafen zu, eine Hand packte den Gürtel, die andere den Kragen. »Ihr seid also in guter Gesellschaft.« Er hob den nicht eben schmalen Mann an und beförderte ihn kraftvoll über die Mauer.

Der Schrei blieb aus.

Habe ich ihn nicht weit genug geschleudert? Rodario beugte sich über die Brüstung und sah Loytan in vier Schritt Entfernung mit einer Hand an einem tönernen Wasserablauf hängen. »Mit Eurer Geistesgegenwart kommt Ihr leider nicht weit. Nur tief.« Er blickte nach rechts und links den Wandelgang entlang und entdeckte einen Feuerkorb, in dem die Flammen erloschen waren. Rasch eilte er hin, hob ihn an und schleppte ihn bis zu Mauer. Der Graf versuchte noch immer, sich an dem Rohr in die Höhe zu ziehen. »Wartet! Ich werfe Euch etwas zu, an dem Ihr Euch festhalten könnt.« Grinsend rollte er das Behältnis aus geschmiedeten Eisenbändern über die Brüstung. »Fangt! Es trägt Euch sicher und rasch nach unten.«

Rodario sah, wie der Feuerkorb die Rinne zerschmetterte. Loytan stürzte dem See entgegen und schlug nach einem langen Flug auf der Wasseroberfläche auf; der Feuerkorb folgte an der gleichen Stelle. Das Platschen vernahm er nicht, der Wind trug den Laut davon. »Bestellt der Albin einen schönen Gruß«, rief er und richtete sich auf. Erst dann vergewisserte er sich, bei seinem Treiben von niemandem beobachtet worden zu sein. Die Fenster, von denen aus man den Teil des Ganges einsehen konnte, waren dunkel und unbewohnt. Rodario erlaubte sich ein noch breiteres Grinsen, während er den Wattebausch aufhob und ihn unter seinen Mantel schob. Er mochte es, unterschätzt zu werden.

Er wollte sich eben umdrehen und seinen Weg fortsetzen, als er einen Schemen am Abendhimmel fliegen sah, den er zuerst für einen Vogel gehalten hatte. Aber als die Umrisse näher kamen und immer weiter wuchsen und sie sich auf den Schacht zur Quelle zubewegten, war sich Rodario sicher, dass es sich um alles, nur nicht um einen harmlosen Vogel handelte, sondern...

»Lohasbrand«, schrie er und rannte los. »Zu den Waffen! Der Drache kommt!«

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