II

Das Geborgene Land, Protektorat Nordwest-Idoslän, 6491. Sonnenzyklus, Winter.


Die Schwadron schwarzer Ponys war bekannt in Idosläns Nordwesten, und ihre einhundertfünfzig Reiter waren es noch viel mehr: Begehrer. Die Bewohner verbanden mit den bis an die Helmspitzen gerüsteten Zwergen nichts als Leid und Verlust. Die Menschen der kleinen Stadt Hangenturm, auf die sich der Tross zubewegte, bildeten da keine Ausnahme.

Der Name der Einheit leitete sich keinesfalls von einem romantischen, sondern von einem einfachen Umstand ab: Was immer sie begehrten, mussten sie erhalten, ohne Wenn und Aber.

Die Alarmglocke des Wachturms wurde geschlagen, um die Einwohner zu warnen, und Bürgermeister Enslin Rötha eilte mitsamt den Oberen zum Haupttor, um die Schwadron zu empfangen. Die Nachricht von der Ankunft hatte ihn während seines Mittagsschlafs überrascht, deswegen verbarg er seine unordentlich angelegte Kleidung unter dem geschlossenen Mantel aus grob gekämmter Schafwolle. Er legte wenig Wert auf Gehabe.

»Sie sind doch viel zu früh«, murmelte er und stellte sich vor das geschlossene Tor, um zu warten, bis die Ratsmitglieder versammelt waren.

Auf sein Winken hin wurde der Wagen mit den Zehntabgaben herbeigerollt und hinter ihm positioniert. Zum einen sahen die Zwerge auf den ersten Blick, dass sie ihre Steuern bekommen sollten, zum anderen verhinderte dies auf unauffällige Weise, dass die Schwadron so ohne Weiteres in die Stadt einreiten konnte.

Rötha schwitzte, obwohl es sehr kalt war. Die Winter hatten in den letzten Zyklen mehr an Kälte gewonnen. Er sah es als Zeichen dafür, wie schlecht es den Leuten des Geborgenen Landes ging. Wobei Hangenturm es als Protektorat des Zwergenstammes der Dritten noch gut getroffen hatte. Die Gebiete in Gauragar, in denen die Albae selbst herrschten oder die Regentschaft an machtgierige Menschen abgegeben hatten, waren weitaus schlimmer dran - wenn man den Nachrichten Glauben schenken durfte. Rötha hatte keinen Grund zum Zweifeln. Jede grausame Einzelheit entsprach sicherlich der Wirklichkeit.

An seiner Seite erschien Ratsfrau Tilda Küferstein, mit der ihn eine herzliche Freundschaft verband. Sie war groß wie er, die blonden Haare sahen unter ihrer Kappe hervor, und die grünen Augen wirkten besorgt. So besorgt wie seine. »Sie sind viel zu früh«, sagte sie mit einem Nicken in seine Richtung. Sie gürtete ihren Mantel aus weißem Bärenfell und stellte den Kragen auf.

»Meine Worte«, gab Rötha zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war Angst, reine Angst, die ihm das Wasser aus den Poren jagte. Ein Wunder, dass es an der Luft nicht zu Eis gefror.

Küfersteins Gesicht wurde noch besorgter. »Wir haben uns doch nichts zuschulden kommen lassen?«

Rötha schüttelte den braunen Schopf. »Nein. Seit ich Bürgermeister bin, erfüllen wir die Bestimmungen, die uns die Dritten auferlegt haben. Bis ins Kleinste.« Er hob den Arm, und das Tor wurde von den Wachen aufgeschoben. Kühler Wind wehte herein, fuhr durch die Schlitze in ihren Mänteln und brachte die Männer und Frauen zum Frösteln. Die Torflügel gaben ihnen den Blick frei. Die Schwadron der Dritten befand sich höchstens einhundert Schritt von ihnen entfernt. Und sie wurden an diesem Umlauf begleitet.

»Albae!«, entfuhr es Küferstein erschrocken. Die schwarzen Rüstungen der drei hochgewachsenen Reiter fielen umgeben vom reinen, weißen Schnee noch mehr auf. Jedes Mal, wenn der Huf eines Nachtmahrs auf den Boden traf, tanzten Flämmchen, und das Weiß verpuffte zischend.

Der Alb ganz links außen hielt eine lange Lanze in der Hand, an deren Ende ein Wimpel mit einer einzigen, merkwürdigen Rune im Wind flatterte. Das blutrote Zeichen machte Küferstein Angst, ohne dass sie wusste, wieso. Ein stoffgewordenes Grausen.

»Denkt Ihr, der Alarm wurde zum Spaß gegeben?« Rötha biss sich auf die Unterlippe. Die Anspannung machte ihn der Frau gegenüber ungerechterweise patzig. »Verzeiht...« Sie lächelte ihm zu. Ein schwaches, unsicheres Lächeln. »Es sei Euch verziehen, Bürgermeister.« Küferstein verfolgte, wie die restlichen sieben Ratsmitglieder Aufstellung nahmen und darauf achteten, hinter ihnen zu stehen. »Ich habe meinen letzten Alb vor...«, sie rechnete nach, »ich denke, vierzehn Zyklen zu Gesicht bekommen. Das war, als sie uns einen neuen Schwadronführer vorstellten.«

»Den Grund würde ich mir noch gefallen lassen«, grummelte Rötha und versuchte, den Dritten zu erkennen, der vorneweg ritt. »Ich fürchte aber, das ist nicht der Anlass des Besuchs«, meinte er nervös. »Ihr Anführer ist nach wie vor Hargorin Todbringer.« Die Gesichter der Albae sagten ihm nichts; sie waren hübsch, vollkommen, schmal, bartlos - und grausam. Wie alle ihrer Art.

Ihre Augenhöhlen schienen leer zu sein. Daran unterschied man die Albae von ihren freundlichen Verwandten, den Elben. Bei Tageslicht färbte sich das Augenweiß schwarz wie die finsterste Nacht. Das konnten sie nicht verbergen.

Er hob den Kopf und sah zu den Torwachen hinauf. »Keiner von euch wird seine Waffe gegen die Albae erheben«, rief er. »Oder gegen die Zwerge, ganz egal, was sie mit mir oder den anderen Räten anstellen.«

Die Krieger salutierten.

Küferstein, die immer noch erschrocken wirkte, musterte den Bürgermeister. »Ihr denkt, sie wollen uns Böses?«

»Es wären die ersten Albae, die Gutes brächten«, hielt er dagegen und schluckte. Umso mehr Schweiß von seiner Stirn und unter der Kleidung hinabrann, desto trockener fühlte sich seine Kehle an. »Sollen sie uns für eine Verfehlung zur Rechenschaft ziehen, wenn sie nur die Stadt und ihre Einwohner am Leben lassen.«

»Sehr edel. Doch manche würden Euch erwidern, dass man für die Freiheit kämpfen muss«, sagte die Rätin leise, weil der Anfang des Trosses dichter heran war. »Nicht wieder dieses Gerede!« Rötha starrte sie an. »Ihr kennt meine Meinung dazu. Wir würden gegen diese einhundertfünfzig Dritten niemals bestehen, und selbst wenn - was dann?« Er seufzte und beugte das Haupt vor den Herren Ost-Idosläns. »Sie würden die Nächsten schicken, und das würde Hangenturm nicht überleben. Diesen Preis ist die Freiheit nicht wert. Wer nicht dienen will, soll gehen oder sich umbringen und anderen die Entscheidung für den Heldentod nicht aufzwingen.« Küferstein biss die Zähne zusammen und verneigte sich ebenfalls vor den Dritten und den Albae, die vier Schritte vor ihnenihre Tiere zum Stehen brachten; somit verschwanden sie aus ihrem Blickfeld. Leder knarrte, das Zaumzeug klingelte, das Schnauben der Ponys erklang, und gelegentlich hörte man das Rasseln eines Kettenhemdes, die unter den schwarzen Fellen der Krieger verborgen lagen.

Aber niemand, weder die Albae noch Hargorin, sprach zu den Räten. Und solange das nicht geschehen war, durften sie die Köpfe nicht heben.

Rötha und Küferstein vernahmen, dass jemand aus dem Sattel sprang und schwer auf dem Boden landete. Schnee knirschte; dann näherten sich ihnen Schritte, die mit dem rhythmischen Klirren vom Metall einhergingen.

Der Bürgermeister sah eisenbeschlagene Stiefelspitzen, die Größe passte zu einem Dritten. Außerdem, sagte man sich, verursachten die Albae keine Geräusche beim Laufen und hinterließen keine Spuren. Eine von ihren vielen erschreckenden Künsten. Er schwitzte noch mehr; das Schweigen zehrte furchtbarer an seinen Nerven als jedes Geschrei und jede Vorhaltung, mochte sie noch so irrwitzig sein.

Schleifend wurde eine Waffe gezogen, dann surrte etwas durch die Luft. Rechts neben ihm gab es ein knirschendes Geräusch, gefolgt von einem erstickten Luftholen. Ein zweiter Schlag erklang, Blut spritzte vor ihm in den reinen weißen Schnee, dann fiel der Kopf von Rätin Küferstein zwischen seine Schuhe, und Rötha schrie vor Entsetzen und Bestürzung auf. Im gleichen Moment stürzte der enthauptete Körper der Frau der Länge nach nieder.

Er konnte sich nicht länger dagegen wehren, er musste aufschauen.

Hargorin Todbringer, ein Zwerg von stattlicher Größe und Achtung gebietendem Körperbau, hatte den Mantel zurückgeschlagen, damit er besser ausholen konnte. In der Rechten hielt er ein langstieliges Beil, an dessen Klinge Blut haftete. Sein mit Eisenplättchen verstärktes Kettenhemd hatte einige rote Spritzer abbekommen, auch das tätowierte Gesicht sowie der hellrote Bart mit den schwarzen Strähnen darin war getroffen worden.

Die roten Brauen zogen sich zusammen, als der Zwerg Rötha anblickte. »Wer hat dir erlaubt, die Augen zu heben?«, blaffte er ihn an. Der Bürgermeister öffnete den Mund, doch das Grauen lähmte seine Stimme. Er bemerkte, dass die Sättel der Nachtmahre leer waren, rings um die einstigen geschändeten Einhörner gab es keinerlei Fußspuren. Es stimmte also! Der Wimpel mit der grauenvollen und zugleich faszinierend schönen Rune stak in einer Halterung am Sattel.

»Sieh es ihm nach, Hargorin«, sagte eine sanfte Stimme neben seinem linken Ohr, und er zuckte zusammen. Der Atem, der seine Nase streifte, roch nach nichts. »Ein schwacher Mensch! Verlust und Angst rauben ihm die Geisteskraft und machen ihn dumm.«

Rötha wollte sich umwenden, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Der Alb stand hinter ihm, ohne ein Geräusch verursacht zu haben, und nur die Götter wussten, wo sich die anderen beiden befanden.

Hargorin wischte sein Beil an der Kleidung der Toten sauber. »Wenn ihr darauf besteht, Tirigon«, sagte er leichthin und überkreuzte die Arme vor der Brust. »Er wird wissen wollen, weswegen ich der Rätin das Leben nahm. Da ich es auf Eure Anweisung hin tat, erklärt Ihr es ihm.«

»Schuldig war sie«, drang es geflüstert an Röthas rechtes Ohr, und er meinte zu hören, dass es ein neuer Sprecher war. »Küferstein machte gemeinsame Sache mit einer verurteilten Mörderin und Aufrührerin. Nicht zuletzt gar war sie verwandt mit ihr. Welch Torheit!«

»Wenn auch die Verwandtschaft sehr entfernt reichte«, sprach ein Alb neben seinem linken Ohr, und der Bürgermeister war sich sicher, dass es der dritte war. »Wusstet du das nicht, schwacher Mensch?« Rötha krächzte ein Nein und starrte auf Küfersteins Kopf. Ein Augenlid hing halb herab, der letzte Blick der Toten schien ihm zu gelten. Vorsichtig scharrte er Schnee darüber, er ertrug den Anblick der ermordeten Freundin nicht.

Hargorin brummte die Erlaubnis an die Versammelten, ihre Häupter heben zu dürfen. »Ich sehe, dass der Zehnt bereitsteht. Das ist gut. Wir haben von Hangenturm auch nichts anderes erwartet.« Er steckte das Beil in die Rückenhalterung und gab ein Zeichen; fünf Zwerge stiegen daraufhin von ihren Ponys, schlossen zu ihm auf und begleiteten ihn zum Wagen. Rasch schauten sie in die Truhen und Säcke, in denen Münzen und Goldbarren verstaut lagen.

Rötha schaffte es endlich, die Körperbeherrschung zurückzuerlangen, und er wandte sich um. Die Albae standen im Torbogen beisammen und unterhielten sich leise. Er sah, dass es sich um zwei Männer und eine Frau handelte, deren Alter er unmöglich schätzen konnte. Wären sie Menschen gewesen, hätte er ihnen nicht mehr als siebzehn Zyklen gegeben, doch sie waren mit Sicherheit wesentlich reifer.

Auffällig war die Gleichheit ihrer Gesichter. Der Bürgermeister vermutete, dass es sich um Geschwister handelte. Die Rüstung nahm der Albin jegliche weiblichen Attribute, und gleichzeitig lenkte sie die Aufmerksamkeit auf die betörend anmutigen, ebenmäßigen Züge. Ein männlicher Gegner konnte sich von einem Augenaufschlag ablenken lassen - und den Tod durch ihre Waffen empfangen.

Die Albae trugen lange, schlanke Schwerter auf dem Rücken. Rötha fielen die massiven Parierstangen auf, die weit nach rechts und links herausragten und geschliffen schimmerten; Dolche mit doppelten Klingen waren an den Oberschenkelpanzerungen befestigt. Die Rüstungen waren bei allen dreien entlang der Wirbelsäule mit einem zusätzlich schützenden Eisengrat versehen worden. Etwas oberhalb des Steißbeins erkannte er bei einem der Männer handtellergroße Eisenscheiben, die Frau hatte sie an den Metallschienen ihrer Oberarme angebracht. Wurfgeschosse?

Die Albin löste sich aus der Gruppe und kam mit einem bezaubernden Lächeln auf ihn zu, das ihn jede Gefahr vergessen ließ - bis er die schwarzen Augenhöhlen sah. All die Bewunderung für die Schönheit wandelte sich in Furcht.

»Firüsha bin ich«, stellte sie sich mit einer melodiösen, leisen Stimme vor und blieb stehen. Rötha verneigte sich erneut vor ihr, als sei sie eine Königin. Nahm man es genau, war sie nichts anderes für ihn. Sie entschied über Leben und Tod. Über Gedeih und Verderben der Stadt. »Eine Aufgabe gilt es zu erfüllen. Nicht gegen Hangenturm und nicht gegen seine Bewohner ist sie gerichtet, und doch gelte: Sollte sich jemand uns in den Weg stellen, mag er tapfer oder töricht sein, wird die Stadt den morgigen Tag nicht mehr erleben.« Firüsha hatte die Freundlichkeit in ihren Worten nicht verloren. »Wir möchten zur Familie der Ratsherrin gebracht werden, und zwar so schnell wie möglich. Von dir, schwacher Mann.«

Rötha schluckte und würgte den Speichel hinab. Seine Kehle schien enger als ein Nadelöhr geworden zu sein. »Was...«

»Nein, Bürgermeister. Nicht was«, unterbrach sie ihn liebenswürdig und legte ihm den behandschuhten Zeigefinger gegen die Lippen. »Wo. Führe uns. Hargorin und seine Leute schaffen den Zehnten weg.« Sie zog ihm die Kappe ab und strich durch sein Haar. »Fürchte mich nur, wenn du dich nicht an meine Anweisungen hältst.«

Hargorin hatte sich nach alter Gewohnheit auf den Bock des Wagens geschwungen und lenkte ihn zum Tor. Einer der Albae raunte ihm etwas zu, und der Dritte nickte. Er fuhr zur Stadt hinaus, die Schwadron nahm ihn in die Mitte, und die Zwerge rückten langsam ab.

Die drei Nachtmahre standen schnaubend vor dem Tor und beobachteten die Wachen aus ihren glutroten Augen. Ab und zu fuhren sie sich mit ihren Zungen über die Nüstern, dabei blitzten Reißzähne auf.

Die Männer gingen weiter auf Abstand. Niemand wollte von ihnen gepackt und zerrissen werden. Es gab schreckliche Geschichten über die Reittiere der Albae. Dass sie Menschen bei lebendigem Leib fraßen, wenn ihnen danach war, gehörte zu den harmlosen Berichten.

Währenddessen schritt Rötha voran und führte die Drillinge. Dabei dachte er unentwegt darüber nach, wie er der Familie helfen konnte, ohne dass es auf jemanden zurückfiel. Es war eine gute, anständige Familie mit sehr vielen Leben. »Drei Töchter und zwei Söhne nennt sie ihr Eigen«, sagte Firüsha hinter ihm, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Ihre Mutter lebt bei ihnen. Und ihre Halbschwester, ist es so?«

Rötha nickte betroffen. Es gab keine Geheimnisse. Alles, was er zu tun vermochte, war, die Albae länger durch die Gassen zu führen, als es bedurfte. Er betete zu Palandiell, dass sich die Kunde von den drei gnadenlosen Mördern rasch bis zu ihnen verbreitete und der Familie die Flucht gelang.

»Zu Narren werden wir uns nicht halten lassen, Bürgermeister«, hörte er einen Alb sprechen, dann legte sich eine Klinge auf seine rechte Schulter. Rötha schielte auf die Spitze. »Versuche es, und wir pochen an die Tür deines Hauses.«

»Nein«, stammelte Rötha, »nein, nur das nicht! Ich schwöre, dass wir gleich dort sind!« Tränen liefen ihm die Wangen herab, als er um die Ecke bog und auf das große, schöne Haus zeigte, zu dem er den Tod in dreifacher Gestalt geführt hatte. Was hätte er anderes tun sollen?

Die Albae schritten geräuschlos an ihm vorbei, und er sank gegen die Mauer, sonst hätten seine Beine nachgegeben. Firüsha lief an der Spitze, ihre Brüder flankierten sie. Nacheinander zogen sie ihre Dolche mit den Doppelklingen und hielten auf den Eingang zu.

Die Albin klopfte, einer ihrer Brüder verschwand in die Seitengasse, um zur Rückseite zu gelangen; der zweite Bruder drückte sich kraftvoll vom Boden ab und sprang aus dem Stand auf den Sims, katapultierte sich von dort auf den Balkon und federte aufs Dach, um sich in den Kamin gleiten zu lassen; gleichzeitig trat Firüsha die Tür auf. Enslin Rötha schluchzte auf, als er die ersten Schreie vernahm, und legte eine Hand über die Augen. Er wollte nichts sehen.

Doch das entsetzliche Kreischen der Sterbenden, das bald durch die Gassen hallte, brannte sich in seinen Verstand. Unauslöschlich und auf ewig anklagend. Hargorin lenkte den Wagen weg von der Stadt, die Schwarze Schwadron umgab ihren Befehlshaber und den wertvollen Zehnten.

Das Ende ihrer Reise lag für den heutigen Umlauf nicht weit von Hangenturm entfernt in Morgental, einem Dorf, das dem Dritten gehörte. Er hatte es von den Albae wegen seiner Treue zu ihnen geschenkt bekommen, und der Zwerg hatte es gern angenommen.

Hier stand eine seiner Festungen, Vraccastrotz.

Fünfzig Zyklen hatte es gebraucht, um sie nach seinen Plänen und Wünschen erstehen zu lassen. Ein vergleichbares Mauerwerk von solcher Härte und Dicke fand sich nirgends sonst mehr im Geborgenen Land, auch in keinem der Zwergenreiche. Oder in dem, was davon übrig geblieben war. Seine Feste hatte zur Verwunderung bei den Albae geführt, doch er hatte ihnen erklärt, dass der Zehnt Begehrlichkeiten weckte und man ihn davor schützen musste. Dagegen ließ sich nichts einwenden.

Als der Tross nach Osten schwenkte und ein Wäldchen umrundet hatte, kam die Befestigung in Sicht, die sich an ihrer höchsten Stelle stolze dreißig Schritt emporstemmte und jedem Reisenden signalisierte, wo der Herr dieses Landstrichs lebte. Und derjenige Reisende, welcher sich ein wenig mit Zwergenrunen auskannte, wusste darüber hinaus, dass der Burgherr alle Kinder des Schmieds hasste, bis auf die vom Stamm des Dritten: Weithin sichtbar verhießen die Schriftzeichen am großen Bergfried den übrigen Zwergen Tod und Verderben, und in den Mauern prangten eingemeißelte Schmähungen. Was für die Unbedarften nach bloßem Schmuck aussah, würde ein Kind des Schmieds zur Weißglut reizen und zum sofortigen Angriff veranlassen. Hargorin grinste breit, als er sein Zuhause betrachtete.

Aus den Schloten der Häuser und Hütten rund um Vraccastrotz quollen Rauchfahnen. Die menschlichen Bewohner Morgentals hatten sich vor der Kälte in ihre warmen vier Wände zurückgezogen. Er ließ sie gewähren. Im Augenblick gab es keine Frondienste für ihn zu erledigen.

Das Reißen von Stoff unmittelbar in seinem Rücken, das er deutlich trotz der Fahrtgeräusche und des Donnerns der Hufe vernahm, weckte seine Aufmerksamkeit. Hargorin drehte den Kopf und sah nach dem Sack, der durch das Gewicht seiner Ladung gerissen war. Er wollte nicht, dass auch nur eine Münze zu Boden fiel. Alles, was vom Zehnten fehlte, musste er aus eigenem Säckel begleichen, und das ging gegen seine zwergische Natur.

Umso überraschter war er, als eine Armbrustbolzenspitze aus dem Sack ragte, der sich genau in seinem Rücken befand.

»Schau wieder nach vorn und bieg auf den Pfad zum Wald ein«, befahl eine Frauenstimme.

Hargorin dachte gar nicht daran, ansatzlos warf er sich nach rechts. Es sirrte beinahe gleichzeitig, und er spürte einen dumpfen Schlag in der linken Schulter. Erst ein, zwei Lidschläge später nahm er den Schmerz wahr.

Der Zwerg kauerte nun am äußeren Rahmen des Wagens und war damit sicher vor weiteren Schüssen. Die Pferde hatten sich durch seine schnellen Bewegungen und die Geräusche erschrocken, die Zügel schleiften durch den Schnee, und sie und trabten mit lautem Wiehern los.

Rücksichtslos drängten sie sich durch die Ponys vor ihnen, liefen Kurven und brachten den Wagen zum Schlingern. Dabei änderten sie die Richtung und hielten geradewegs auf das Wäldchen zu, wie es die Frau von Hargorin verlangt hatte.

Die Dritten, die unmittelbar neben ihm ritten, sahen ihn alarmiert an und gaben ihren Ponys die Sporen, um mit den durchgegangenen Pferden überhaupt mithalten zu können. Der blutige Schaft, der aus Hargorins Rücken ragte, zeigte ihnen, dass es sich bei seinem Sprung vom Bock nicht um ein bloßes Missgeschick handelte. »Aufrührer!«, rief er und hangelte sich seitlich am Wagen entlang. »Mindestens einer.« Trotz seiner Schmerzen schwang er sich auf die hintere Ladefläche, landete sicher auf einer Truhe und zog sein langstieliges Beil; gleich darauf trieb er es mit Wucht schräg in den Sack, in dem er die Frau vermutete.

Zwei Zwerge versuchten in der Zwischenzeit, sich mit ihren Ponys vor die Pferde zu setzen und das Geschirr zu greifen, aber die Geschwindigkeit war zu hoch. Einer nach dem anderen aus der Schwarzen Schwadron fiel zurück; unterdessen rumpelte das Gefährt weiter auf das Wäldchen zu. Hargorin war allein.

Die Beilklinge hackte in etwas Hartes, und ein gedämpftes Stöhnen war zu hören. Der Sack kippte nach vorn; umgeben von Silbermünzen und Holztrümmern, fiel eine junge blonde Frau auf den Boden. Der Zwerg mutmaßte, dass sie mit dem Holz die Füllung des Sacks nachgeahmt und einen Hohlraum für die Schützin geschaffen hatten. Hargorin erkannte sie sofort. »Mallenia«, schnaufte er zufrieden. »Also haben sich die Schwarzaugen nicht umsonst nach Hangenturm begeben. Du warst dort!« Er drosch zu, doch sie wälzte sich seitwärts. Die Klinge fuhr dicht neben ihr nieder. Mallenia, Nachfahrin des berühmten Helden Prinz Mallen von Idoslän, trat nach dem Dritten und traf ihn gegen die Brust. »Ich werde die Albae eines Umlaufs töten, wie ich dich heute endlich töte, Hargorin!«, rief sie. »Freiheit für Idoslän, Gauragar und Urgon!«

Der Zwerg stürzte rücklings auf einen weiteren Sack, der Armbrustbolzen bohrte sich tiefer in sein Fleisch und drückte sich vorne durch; das Kettenhemd beulte sich aus. Er spürte deutlich, dass etwas im Gelenk durchtrennt worden war; aufstöhnend ließ er den Arm herabhängen.

»Die Dritten und die Albae haben keine Gnade von mir zu erwarten«, sagte sie aufgebracht. »Zu viel Leid kam durch euch.«

Die Kiste, auf der er eben noch gestanden hatte, klappte auf, und ein Vermummter kam in einer Explosion aus Münzen zum Vorschein. Er hielt einen Säbel in der Hand und legte die Schneide an den Hals des Dritten. »Bleib!«, befahl er.

»Feigling!«, spie Hargorin aus. »Habe wenigstens den Mut und zeige dein Gesicht wie die Mörderin hier.« »Wer gegen Unterdrückung kämpft und Besatzer tötet, vollbringt ein gutes Werk, Zwergenabschaum! Ihr seid die Mörder!« Mallenia sah durch den aufgewirbelten Schnee zur Schwarzen Schwadron, welche die Verfolgung noch lange nicht aufgegeben hatte. Die Dritten gaben niemals auf, und schon gar nicht die Eliteeinheit der Begehrer. Diese Zwerge waren im Gegensatz zu den übrigen Stämmen hervorragende Reiter, die ihre Künste über mehr als einhundert Zyklen hinweg vervollkommnet hatten. Da die sonstigen Kinder des Schmieds lieber auf Ponys verzichteten, besaßen die Begehrer von daher eine Überlegenheit, die sich vor allem auf den Schlachtfeldern erwiesen hatte. Schmerzlich erwiesen, sowohl für die Menschen, gegen welche die Dritten geritten waren, als auch für die Zwerge.

»Uns bleibt nicht viel Zeit«, sagte sie zu ihrem Begleiter und öffnete eine weitere Truhe, aus der ebenfalls ein maskierter Mann stieg. Das Schloss hatte sich verhakt, weswegen er nicht aus eigener Kraft aus seinem Versteck hatte steigen können.

Die Pferde preschten auf den schmalen Waldweg, dichte Schneewolken stoben hinter ihnen auf. Kaum waren sie in den Schutz der Bäume gelangt, als gleich sieben Stämme hinter ihnen mit lautem Krachen auf den Pfad stürzten und ein Weiterkommen für die angaloppierenden Zwerge unmöglich machte. Sie müssten durch dichtes Unterholz, und das würde sie aufhalten. Es war alles vorbereitet worden - und es funktionierte. Der eine Mann stieg aus seiner Kiste und lief seiltänzergleich zum Bock, fischte nach den Zügeln und übernahm das Fahren, der andere hielt Hargorin noch immer seine Waffe an die Kehle.

Mallenia stieg zum Dritten und setzte sich auf den Sack neben ihn. Ihre Augen musterten das faltige Gesicht ihres Gefangenen; dabei langte sie neben sich und zog eine Decke heran, die sie sich um die Schultern legte.

Mallenia trug dünne, dunkle Kleidung anstelle einer schützenden Panzerung, was ein ausgesprochenes Wagnis war, wenn man ihre Mission bedachte, doch es war nicht anders gegangen, damit sie überhaupt in den Sack gepasst hatte. Ihre langen, blonden Haare waren zu einem Zopf geflochten. Die schwarzen Schnürstiefel gingen ihr bis an die Knie, zwei Dolchgriffe ragten aus den Schäften. In ihrer anderen Hand hielt sie eine schmale Handarmbrust, und sie zielte wieder auf Hargorin. »Und jetzt?«, fragte der Dritte abfällig.

»Werden wir den Zehnten in Sicherheit bringen und bei Gelegenheit an Idosläns Bürger verteilen, denen er gehört. Und nicht dir oder deinen Herren«, erwiderte sie wütend. »Ihr seid nichts weiter als Besatzer! Euch gebührt der Tod und keine einzige Münze!« Hargorin schien etwas sagen zu wollen, doch er überlegte es sich anders. Er sah kurz zu dem Mann mit dem Säbel, dann senkte er seine Stimme. »Was immer du tust, denke an deine Familie«, flüsterte er ihr plötzlich zu.

Mallenia durchfuhr ein Schrecken. Er klang nicht mehr eisig oder überheblich, sondern aufrichtig. Ohne Zweifel eine List des Dritten, um sie einzuschüchtern und zu verwirren. Sie lachte absichtlich laut, um ihm zu zeigen, dass sie ihm nicht glaubte. Er kniff die Augen zusammen. »Du hast den Tod von Ratsherrin Küferstein in deinem Sack nicht mitbekommen?«

Sie schüttelte den Kopf, ihre Finger klammerten sich an den Griff der Armbrust. »Ich musste sie auf Geheiß der Albae töten, und sie wird nicht das einzige Opfer unter deinen Verwandten bleiben. Die Albae suchen sie.«

»Albae?«

»Und zwar nicht irgendwelche. Die Dsön Aklän sind nach Hangenturm gekommen, um sie auszulöschen. Drillinge: dreifach böse und dreifach grausam.« Hargorins braune Augen sahen sie eindringlich an. »Ich dürfte es dir nicht verraten, aber sie töten sämtliche Menschen, die auch nur im Entferntesten der Linie von Prinz Mallen entspringen. Es spielt keine Rolle, wie lange sie dazu reisen müssen und wohin. Doch sie geben vor, dass deine Taten, deine Aufrührerei der Grund für das Abschlachten sei. Damit du den Rückhalt beim Volk von Idoslän, in Urgon und Gauragar verlierst. Dein Anliegen wird scheitern, und die Länder werden niemals die Freiheit erlangen. Nicht, solange es die Albae gibt.«

Mallenias Sichtfeld zog sich zusammen, sie sah vor Schreck nur noch Hargorins Gesicht vor sich. Sie hatte in ihrem Versteck wirklich nichts vom Tod ihrer Verwandten mitbekommen. Mehr als undeutliches Gemurmel war nicht bis zu ihr durchgedrungen, und durch den Schlitz im Sack hatte sie nichts gesehen. Sie schluckte. »Du sprichst nicht die Wahrheit«, sagte sie mit unsicherer Stimme und trat ihn gegen die Schulter, wo der Bolzen steckte. »Ihr Dritten seid alle Lügner!«

Hargorin biss die Zähne zusammen, um nicht aufzustöhnen, dann fluchte er hart. »Zu Tion mit dir, Weib! Dann glaube mir nicht, es ist mir auch gleich.«

»Gib gut auf ihn acht«, wies sie den Mann mit dem Säbel an, dann ging sie nach vorne. »Wie weit ist es noch?«

»Wir haben den Wald gleich verlassen, und dahinter warten unsere Boten«, erklärte er und zeigte auf den hellen Punkt, der den Ausgang zwischen den dunklen Bäumen markierte. Davor bewegten sich Gestalten hin und her.

»Ausgezeichnet«, murmelte sie und klopfte ihm auf die Schulter. Doch sie konnte ihren Sieg über die Begehrer nicht genießen, die Worte von Hargorin waren bei ihr auf fruchtbaren Boden gefallen. Noch wusste Mallenia nicht, was sie unternehmen sollte. Zurückreiten? Oder die Männer begleiten?

Der Wagen verließ gleich darauf den Schutz des Waldes, und der Fahrer brachte ihn vor zwei Dutzend Reitern zum Stehen.

Sie jubelten ihnen zu, riefen Mallenias Namen und machten sich sofort ans Umladen der Schätze. Die Begehrer würden vierundzwanzig verschiedenen Spuren gleichzeitig folgen müssen, um die Münzen und die Barren wiederzuerlangen. Mit kurzbeinigen Ponys ein Ding der Unmöglichkeit, trotz ihrer Reitkunst:

Jemand reichte der groß gewachsenen Frau ihre leichte Plattenrüstung mit dem eingravierten Wappen ihres Ahnen, Prinz Mallen von Ido, und sie legte den Schutz an. Ihre Gedanken wanderten beim Anblick des Signums in die Vergangenheit zu ihrem Vorfahren, der sich gegen Nödonn gestellt hatte, der gegen die Eoil geritten war und sein Leben mehr als einmal für das Geborgene Land gewagt hatte. Ein wahrer Streiter für das Gute und die Gerechtigkeit, dessen Erbe sie fortführte, bis die Menschen von den Albae und ihren Verbündeten befreit waren. Ihre Kurzschwerter hängte sie sich an den Waffengurt um die Hüfte, warf sich einen weißen Kapuzenmantel über und stieg auf ihren Schimmel.

Mallenia ritt neben den Wagen, auf dem der Dritte immer noch bewacht wurde. Um seine Schulter hatte sich eine Blutlache gebildet, das Rot tropfte durch einen Spalt in den Brettern hinunter in den Schnee.

»Was tun wir mit ihm?«, wollte der Mann wissen.

Sie sah den Zwerg lange an. »Töten. Wer mit den Albae gemeinsame Sache macht, verdient nichts anderes«, sagte sie bedächtig und gab dem Pferd die Sporen, um nach Hangenturm zurückzukehren. Sie wollte sehen, ob sie ihren Verwandten noch beistehen konnte, und betete zu den Göttern, dass sie nicht zu spät kam. »Wir treffen uns in vier Umläufen am gewohnten Ort«, rief sie und verschwand hinter einem Ausläufer des Wäldchens. Der Zehnt war verteilt, die Boten waren überwiegend aufgebrochen. Vier von ihnen verstauten die letzten Säcke an ihren Sätteln, als das leise, schnelle Trampeln zu hören war. Die Schwarze Schwadron näherte sich.

»Weg hier!« Hargorins Bewacher sah zu den Männern. »Ich nehme mir eines von den Kutschpferden...« Er bekam einen Tritt gegen den Oberkörper, sodass er zurückfederte und gegen den Kistendeckel prallte. In der Rückwärtsbewegung zog er die Säbelklinge jedoch von rechts nach links, um dem Zwerg die Kehle aufzuschlitzen, und spürte Widerstand...

... der Zwerg hatte die Waffe mit der Hand aufgehalten! Blut quoll aus dem Schnitt und lief ihm in den Bart, aber er grinste böse und die Augen funkelten.

Hargorin trat gegen den Korpus der Kiste und brachte sie zum Kippeln. Während sein Wächter noch mit dem Gleichgewicht rang, sprang er auf und drosch dem Mann die blutige Faust gegen den Unterkiefer; ächzend sackte er zusammen, der Deckel klappte über ihm zu.

»Ha!« Der Zwerg packte sein langstieliges Beil, rannte über den Wagen und nahm Anlauf zu einem gewaltigen Satz, der ihn genau auf einen der Boten zutrug. Die Klingenspitze bohrte sich seitlich in den Hals des Mannes; röchelnd stürzte er in den Schnee, während Hargorin seinen Platz im Sattel einnahm. Ohne lange zu warten, lenkte er das Pferd gegen den nächsten Gegner und drosch mit dem Beil zu. Der Mann konnte den brachialen Hieb nicht parieren, sein erhobener Schwertarm wurde zwischen Ellbogen und Handgelenk durchtrennt. Die schwere Schneide setzte ihren Weg fort, und tödlich in den Nacken getroffen, sackte er in den Schnee, während sein Blut weithin aus der Wunde sprühte, als wolle es den Namen des Sterbenden in das Weiß schreiben.

Die verbliebenen zwei Männer trieben ihre Pferde an, um dem Feind zu entkommen. Hargorin nahm Maß und schleuderte sein Beil mit einem wilden Schrei. Surrend schoss die Waffe durch die Luft und durchtrennte das Rückgrat des rechten Boten bei vollem Galopp. Ohne einen Laut stürzte er und überschlug sich mehrmals.

»Du entkommst mir auch nicht!«, versprach der Zwerg seinem letzten Gegner und jagte sein Pferd hinter ihm her.

Auf Höhe des Toten, der sein Beil im Rücken stecken hatte, neigte er sich weit zur Seite und griff den Stiel. Ein kurzer Ruck, und er hatte seine Waffe wieder. Lachend schlug er die flache Seite gegen den Hinterleib seines Reittiers, um es anzuspornen; wiehernd preschte es vorwärts.

Hargorin hatte den Boten eingeholt, der in seiner Not sein Pferd Haken schlagen ließ, doch es gelang ihm nicht, den zornig blickenden Zwerg abzuschütteln. Nach und nach schnitt er die Säcke mit den Münzen ab, um das Gewicht zu verringern. Es half alles nichts.

Hargorin kam nach einer gekonnten Täuschung und einem schnellen Schwenk nach rechts auf die gleiche Höhe des Mannes und verpasste ihm einen Schlag gegen den Oberkörper, der Zügel, Rüstung und Kleidung gleichermaßen durchtrennte. Aufschreiend kippte der Bote rückwärts aus dem Sattel und prallte auf die verschneite Erde.

Der Dritte brachte sein Pferd brutal zum Stehen und wendete es. Er sah, dass die Schwarze Schwadron sowohl durch den Wald als auch rechts und links um das Wäldchen geritten kam. Seine verwundete Schulter klopfte schmerzhaft, der tiefe Schnitt in seiner Hand brannte, doch es kümmerte ihn nicht, solange sich die Finger bewegen ließen. Sehnen und Knochen waren heil geblieben.

Hargorin ließ das schnaubende Pferd antraben, genau auf den Mann zu, der sich schwankend erhob und die Arme hob. Er wollte aufgeben. »Was hat denn das zu bedeuten?«, rief der Zwerg missmutig. »Du kämpfst nicht um dein Leben?« »Ich möchte verhandeln«, ächzte er.

»So? Was kannst du mir bieten?«

»Lass mir mein Leben, und ich verrate dir, wo sich unsere geheimen Sammelpunkte befinden«, hustete er und senkte eine Hand, um sie gegen die Bauchwunde zu pressen. »Du verrätst deine Anführerin, die Heldin von Idoslän, um ein Leben in Schmach und Schande zu führen?«, lachte ihn Hargorin aus. »Weswegen sollte dein Leben so viel mehr wert sein als ihres?«

Er stöhnte und rang mit sich. Es war keine leichte Entscheidung, die er gefällt hatte. »Ich habe Familie«, stieß der Mann verzweifelt hervor. »Vier Kinder und eine Frau, die auf mich warten. Ich kann sie nicht allein lassen. Nicht in diesen Zeiten.« Er sank auf die Knie, während sich der Zwerg ihm weiter näherte. »Bitte, verschone mich und lass mich zu ihnen zurückkehren!«

Hargorin betrachtete ihn vom Sattel herab und sah die ehrliche Sorge und die Verzweiflung, die Seelenpein. »Wie heißt du?«

»Tilman Berbusch«, antwortete er.

»Und ist es eine sehr weite Reise, die du nach Hause antreten musst?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich schaffe es, trotz meiner Wunde. Ich bin aus Hügelblick.« Tilman atmete schwer, die Schmerzen mussten ihn quälen. »Die geheimen Orte sind in...«

Hargorin hob sein Beil und spaltete den Schädel des Mannes, bevor er weitere Worte zu sagen vermochte. Es knackte, Blut schwappte aus dem Spalt, aus der Nase und dem Mund. Als der Dritte die Klinge herauszog, kippte der Leichnam nach links. »Ich werde mich um deine Familie kümmern, Tilman Berbusch aus Hügelblick«, versprach Hargorin ohne Bosheit in der Stimme und lenkte das Pferd am Toten vorbei zurück zum Wagen und zur Schwarzen Schwadron. »Vraccas, vergib mir mein Handeln, doch du allein weißt, warum ich es tue«, flüsterte er, ehe er seine Truppe erreicht hatte.

Dieser Umlauf endete teuer für ihn und plünderte seine Schatzkammer gehörig. Die Albae bestanden auf ihrem Zehnten, und so musste er an seine eigenen Güter gehen, um sie zufriedenzustellen.

Hargorin hob die braunen Augen; sein Blick richtete sich nach Westen, wo eine dunkle, breite Rauchwolke gegen den Himmel stieg und auseinanderfächerte.

Die Dsön Aklän schienen mit ihrer Arbeit in Hangenturm zu Ende zu sein. Mallenia blickte hinter sich und erkannte eine Abteilung der Schwarzen Schwadron, die das Wäldchen umrundete. Sie befand sich weit genug von den Zwergen entfernt. Durch die Begehrer drohte ihr keine Gefahr mehr.

Doch als sie den Blick wieder nach vorn richtete, stockte ihr Herz. Eine gewaltige Rauchfahne stand über Hangenturm, undzusammen mit den Worten von Todbringer ergab sie einen schrecklichen Sinn. Sie spornte den Schimmel zu noch höherer Geschwindigkeit an und lenkte ihn zu guter Letzt sogar vom freien Feld auf die Straße, um rascher vorwärtszukommen. Die Stadttore standen weit offen, davor lagen menschliche Umrisse ausgestreckt im Schnee. Mallenia erkannte, dass es sich um die Stadtwachen handelte, und sie zügelte ihren Schimmel.

Lautes Prasseln und Knacken von tobendem Feuer erklang, Stimmengewirr näherte sich ihr, und das Pferd schnaubte aufgeregt.

Die Wachen waren mit präzisen Stichen getötet worden. Mitten auf dem Weg lag die enthauptete Leiche einer Frau, die Mallenia als Tilda Küferstein kannte. Tränen schössen ihr in die Augen, Kummer und Hass beherrschten ihre Gedanken und zwangen sie dazu, durch die Gassen zum Haus ihrer Verwandten zu preschen. Obwohl sie genau wusste, dass sie zu spät kam.

Auf den Straßen liefen rufende und schreiende Menschen umher, die ihr Hab und Gut an sich gepresst hielten; einige trugen lediglich ihre Kinder, andere hatten das Notwendigste oder Kostbarste auf Pferde, Esel oder Rinder geladen und strömten dem Ausgang zu.

Der Brand tobte in dem Viertel, in dem Küfersteins Haus gestanden hatte, und das Gebäude ihrer Verwandten stand mitten in dem Inferno.

Mallenia hielt an, während sich der Strom der Flüchtenden rechts und links an ihr vorbei ergoss; manche prallten in ihrer Kopflosigkeit gegen die Brust des Schimmels, der aufgeregt tänzelte. Niemand versuchte, die Lohen einzudämmen - vielleicht hatte man es probiert und aufgegeben. Wenn kein Wunder geschah, würde Hangenturm ein Opfer des Feuers werden.

Ihre Gedanken rotierten. Sie hatte Tilda nicht besonders gut gekannt und ihr sich dennoch wegen ihrer aufrichtigen Art verbunden gefühlt. Auf etwas mehr als zehn Begegnungen in ihrem Leben waren sie nicht gekommen, und vor allem hatte sie keinerlei Ahnung von dem Plan zum Raub des Zehnten gehabt. Zumal die Albae zu diesem Zeitpunkt noch nichts vom Verlust der Schätze gewusst haben konnten. Einzig ihre gemeinsame Abstammung war ihr zum Verhängnis geworden.

Die Strafe, welche Tilda und Hangenturm ereilte, war ungerechtfertigt. Völlig ungerechtfertigt. Mallenia gab sich nicht der Illusion hin, dass es die Albae kümmerte. Sie merzten Mallens Nachfahren aus, mehr wollten sie nicht. Zumindest diese Wahrheit war aus Hargorins Mund gekommen.

Jemand packte ihren rechten Fuß und den Steigbügel.

»Ihr seid es, Mallenia!«, sagte ein Mann, dessen Gesicht sie unter dem Ruß und den Brandblasen zuerst nicht erkannte. Sein wollener Mantel und die Schuhe waren größtenteils verbrannt, als wäre er in den Flammen umhergelaufen.

»Enslin?« Sie wollte absteigen, doch er hinderte sie mit einer Geste daran. »Flieht! Die Dsön Aklän sind noch in der Nähe«, rief er voller Furcht und sah sich um. »Sie suchen nach Euch.« Er griff in das Geschirr des Schimmels und zerrte ihn um die eigene Achse, richtete ihn auf das Tor auf. »Ihr müsst am Leben bleiben, Mallenia. Fahrt fort, Widerstand zu leisten, und gebt niemals auf, hört Ihr?! Ich war ein Narr, Eure Sache nicht zu unterstützen.«

»Ich...« Ihre Blicke schweiften über die vielen flüchtenden Menschen, die im Begriff standen, alles zu verlieren, was sie in den vorangegangenen Zyklen aufgebaut hatten. Ihr Kampf erschien ihr sinnlos, wenn er Unschuldige ins Verderben riss. Rötha berührte sie am Bein, seine verbrannte Hand hinterließ einen wässrigen Abdruck auf dem Stiefel, und sie meinte, die Hitze spüren zu können, welche von ihm ausging. »Die Albae und die Dritten sind die wahren Feinde unseres Volkes, nicht Ihr«, schärfte er ihr ein. »Ihr seid die Hoffnung, die uns geblieben ist. Wenn Ihr sterbt, ist alles vorüber.« Er gab dem Schimmel einen harten Klaps, und das Pferd ritt los. So sehr sie sich anstrengte, es ließ sich nicht mehr bändigen. Das Gewusel in den Gassen, das Geschrei, der Geruch von Rauch und das Prasseln des Feuers hatten seine Furcht übermächtig werden lassen.

Mallenia verließ Hangenturm und fühlte sich hilfloser und besiegter als jemals zuvor, und das trotz ihres Erfolgs, den sie über die Begehrer errungen hatte. Auch der Triumph über deren Anführer verblasste.

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