XIII

Das Jenseitige Land, die Schwarze Schlucht, Festung Übeldamm, 6491./6492. Sonnenzyklus, Spätwinter.


Goda betrachtete den flackernden roten Schirm, dessen wabernde, zuckende Ränder sich gegen die Mauern von Übeldamm drückten. Es erinnerte sie ein wenig an die Wellen eines Sees oder eines Meeres; und wie bei einem Meer lauerten unter der Oberfläche schreckliche Ungeheuer. Sie wusste, weswegen ihr Volk kein tiefes Wasser mochte.

Die Maga zog ihren Mantel enger um die Schultern. Sie machte sich Sorgen. Große Sorgen. Es war nicht gut, dass die rote Energie sich unmittelbar bis zu den Steinen ausgedehnt hatte - doch sie war nicht imstande, etwas dagegen zu unternehmen. Kiras, mit einem Harnisch, Arm- und Beinschienen über der dicken Kleidung gerüstet, stand neben ihr. Sie betrachtete die Barriere, welcher der Feind dieses Mal zum eigenen Schutz errichtet hatte, durch ihr Fernrohr. »Die Mauern haben keinen Schaden genommen. Ich sehe weder Risse noch Verwerfungen. Anscheinend tut ihnen dieses Leuchten nichts. Die Einschätzung der Krieger war falsch, dass Übeldamm dadurch gesprengt werden könnte.«

»Aber die Scheusale können bis an die Mauer herankommen. Das ist nicht gut. Ich muss mir etwas ausdenken, um die Ausbreitung der Sphäre rückgängig zu machen.« Goda steckte die Rechte in die Tasche mit den Diamantsplittern und spielte damit. Aber was?

»Er hat sie umgebracht«, sagte sie mit fester Stimme zu der Maga.

Goda wusste, wovon die Untergründige unvermittelt sprach. »Ich weiß. Ingrimmsch hat die Wunden an den Ubariu auch bemerkt«, erwiderte sie nach einer Weile. Wenn beide Frauen nebeneinanderstanden, sah man die Unterschiede zwischen den verschiedenen Zwergenarten sehr deutlich. Kiras mit ihrer größeren, schmaleren Statur konnte man beinahe für einen zu klein geratenen Menschen halten; Goda dagegen war eine waschechte, gedrungene Zwergin des Geborgenen Landes. Noch dazu war ihr Gesicht rundlich und wies an den Wangen einen deutlich sichtbaren, dunklen Flaum auf, der Kiras gänzlich abging.

»Aber gesagt hat er nichts.« Kiras betrachtete die Scheusale, die sie unter der roten Decke aus Magie erkannte. Sie liefen über die Ebene rund um die Schwarze Schlucht und markierten Stellen am felsigen Boden mit Fähnchen.

»Nein. Das wird er auch niemals. Es sei denn, dieser Zwerg, der sich als Tungdil Goldhand ausgibt, bekennt sich aus freien Stücken zu seiner Hochstapelei.« Der Versuch, ihn zu zwingen, war gescheitert. Goda blickte nach rechts und links, die Wehrgänge entlang. Sie waren zu jeder Zeit besetzt, die Mannschaften der Katapulte stets an ihren Maschinen, um bei einem Angriff der Ungeheuer sofort handeln zu können.

»Das wird er niemals tun. Die Leichen in der Festung machen deutlich, dass er sein Vorhaben mit allen Mitteln verfolgt.« Sie setzte das Fernrohr ab, um Goda anzusehen. Ein gleißendes Funkeln traf ihre Augen, und als sie in dessen Richtung blickte, sah sie, dass es vom Wehrgang östlich von ihr stammte. Eine der Wachen hatte die Beschläge seines Schildes derart poliert, dass sie blendeten. Sie meinte gar, die Wärme des Sonnenlichts auf der Haut gespürt zu haben. »Stimmt es, dass sie ihn zum Großkönig gewählt haben?«

Die Maga nickte. »Und ich danke Vraccas, dass ich in Übeldamm sitze! So muss ich seinen Befehlen nicht gehorchen.«

Die Untergründige lehnte sich gegen die Zinne. »Ich frage mich, was dem wahren Tungdil zugestoßen ist: tot, gefangen oder gar noch schrecklicher als das, was zu uns gekommen ist und sich als der Held ausgibt?«

Goda seufzte. »Es gibt keine Antwort darauf.«

Kiras wirkte plötzlich munterer und blickte über die Mauer auf den Schirm. »Wenn wir eines der Scheusale entführen und befragen? Kannst du nicht ein Loch schaffen, das groß genug für mich und ein paar Ubariu ist?«

Goda fand den Vorschlag zuerst unsinnig, doch dann gar nicht einmal so verkehrt. »Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?«

»Weil du an zu viele Dinge denken musst. Als Kommandantinder Festung und Maga, die sich jederzeit bereithalten muss, einen weiteren magischen Angriff abzuwehren«, bot ihr Kiras lächelnd eine Ausrede und hielt ihr beide Hände hin, die Goda ergriff. »Ich sage es dir viel zu selten: Du bist wie eine Mutter zu mir. Ich kann dir niemals für alles danken, was du mir hast angedeihen lassen.« »Deswegen fällt es mir nicht leicht, dich durch den Schirm zu schicken. Nicht nur, dass es dort vor Scheusalen nur so wimmelt - es springt ein Magus umher. Und wer weiß, ob ich die Lücke lange genug offen zu halten vermag?« Godas Bedenken mehrten sich. »Nein, wir lassen es lieber.«

Ein Fanfarenstoß erklang und lenkte die Aufmerksamkeit auf die Senke. Beide Frauen nahmen ihre Fernrohre zur Hand.

Ameisengleich rannten die unterschiedlichsten Kreaturen umher, schleppten Steine zu den Stellen, wo sich die Wimpel erhoben, und schufen Brocken für Brocken kleine Schutzwälle. Dabei beeilten sie sich so sehr, als müssten sie ihr Werk mit Untergang der Sonne beendet haben.

An anderer Stelle tauchten große, feiste Wesen auf, die mit ihren langen Klauen und breiten Pranken Löcher in den Boden gruben. Sobald eine gewisse Tiefe erreicht war, hetzten andere mit Bottichen voll flüssigem Metall herbei und füllten die Vertiefungen damit aus, um gleich darauf überlange Eisenstangen in einem bestimmten Winkel hineinzustellen.

»Das sieht verdächtig nach Verankerungen aus. Belagerungsmaschinen?« Kiras schwenkte das Fernrohr umher.

»Eher Katapulte. Vermutlich wie dasjenige, welches in der Schlucht stand und von mir vernichtet wurde.« Goda rief einen der Ubariu zu sich und fragte ihn nach seiner Meinung; er bestätigte ihre Einschätzung.

Noch während sie redeten, rannten weitere Bestien hervor. Zu mehreren Dutzend schleppten sie gewaltige, zurechtgehauene Holzbalken an. Eines der feisten Scheusale übernahm es, das Zusammensetzen in geordnete Bahnen zu lenken; Stück für Stück erwuchs aus dem Holzwirrwarr eine Art Belagerungsturm.

»Du hattest recht«, sagte die Maga zu Kiras. »Da drüben montieren sie eine fahrbare Halterung für einen Rammbock.« Sie ließ ihre beiden Kinder zu sich rufen, Sanda und Bandaäl, die eine magische Ausbildung bei ihr durchliefen. »Wir können nicht länger warten. Der magische Schild muss auf Abstand gebracht werden, ehe die Maschinen an die Mauern gelangen.« Kiras starrte nach unten. »Was tun sie denn jetzt?« Goda sah in die angegebene Richtung.

Die Scheusale hatten die ersten vier Belagerungstürme zur Hälfte errichtet, als sie dazu übergingen, neue Steinquader heranzuschleppen und sie auf die Plattform der Konstruktionen zu legen; andere brachten lange Seilrollen, deren eines Ende bis in die Schwarze Schlucht reichte.

»Gegengewichte«, meinte die Untergründige. »Wofür, weiß ich noch nicht, aber es sieht aus wie Gegengewichte.«

»Sie werden ein noch größeres Katapult in der Schlucht aufbauen«, mutmaßte der Ubari und kniff die rosafarbenen Augen zusammen. »Da unten kommt eine der Bestien und hält eine weiße Fahne in der Hand. Er geht auf unser Tor zu.«

Für Goda sah es nach einem Unterhändler aus. Ohne die Barriere und den feindlichen Magus hätte sie das hässliche Wesen mit Pfeilen in den Boden nageln und unter einem Felsbrocken von der Größe eines Hauses begraben lassen, damit die Tionsbrut wusste, was die Zwerge mit ihr anstellen würden. Aber das wäre in der jetzigen Lage alles andere als klug.

Verhandlungen, auch wenn Goda niemals vorhatte, die möglichen Resultate umzusetzen, brachten Zeit. Und von der benötigten sie schatzkistenweise, bis Ingrimmsch mit genug Verbündeten gegen den feindlichen Magus zurückkehrte. Dass es kein leichtes Unterfangen war, was sich ihr Gemahl und der einäugige Zwerg, der sich als Tungdil ausgab, vorgenommen hatten, wussten alle. Goda teilte im Gegensatz zur Besatzung von Übeldamm die Zuversicht kaum, Lot-Ionan in die Knie zwingen zu können.

Der Gang der Kreatur wurde langsamer, je weiter sie sich dem Tor näherte, bis sie drei Schritte davor stehen blieb und etwas mit zittriger Stimme rief. Die Wachen gaben weiter, was sie gesagt hatte.

»Das Biest will eine Liste mit Forderungen überreichen?« Goda sah zwischen dem Ubari und Kiras hin und her. »Jetzt bin ich gespannt.«

Sie eilten hinab. Es ging durch Korridore, vorbei an Wehrgängen und Katapulten zum Fahrstuhl. Als die offene Kabine nach kurzer Fahrt hielt und sie das Tor erreichten, kam ihnen ein Soldat entgegen, der eine Pergamentrolle in den Händen hielt. »Es hat sie durch die Barriere ins Guckloch geworfen, Maga«, erklärte er. »Leg sie hin«, befahl Goda. »Vorsichtig.«

Der Wächter sah überrascht aus. »Es ist nur ein Pergament.«

»Tu es!«, schnauzte Kiras. »Wer weiß, welchen Zauber sie darauf gesprochen haben. Es kann eine List sein.«

Der Mann tat, wie ihm befohlen wurde.

Goda näherte sich der Rolle und wob einen Enthüllungszauber darüber, um zu erkennen, ob der gegnerische Magus das Pergament mit einem Spruch versehen hatte, der beim Öffnen von selbst losbrach. Sie entspannte sich, als sich das grüne Flirren nicht verfärbte - ein sicheres Zeichen, dass alles in Ordnung war.

Sie hob es auf, rollte es auseinander und las:

Verteidiger, ich, Träger vieler Namen diesseits und jenseits der Schlucht, verlange von euch die sofortige Aufgabe der Festung. Zieht euch zurück und öffnet zuvor die Tore! Des Weiteren verlange ich die sofortige Unterwerfung des Umlandes unter meine Herrschaft. Ich bin milde gestimmt, wenn dies rasch geschieht. Ansonsten werde ich keine Gnade gegenüber Soldaten und Bürgern gewähren und meinen Streitern befehlen, alles zu vernichten, was sie vorfinden.

Ich, Träger vieler Namen, verfüge über eine Kraft, der euer Magus nicht gewachsen ist. Er soll sich mir freiwillig überstellen. Werde ich jedoch gezwungen sein, ihn erst mit meinen Mächten davonzufegen, werde ich meine Truppen noch mehr im Umland wüten lassen.

Die Antwort auf dieses Schreiben muss innerhalb von sieben Sonnenbahnen erfolgen und nicht eine weniger.

Tut sie das nicht, sehe ich meine Forderungen als abgelehnt und weiß, wie ich vorgehen muss, um meine berechtigten Ansprüche durchzusetzen.

Nichts und niemand wird euch vor meinem Zorn retten, wenn ihr mich herausfordert. Goda reichte das Schreiben an Kiras weiter. »Frech ist zu harmlos für das Geschmiere dieses Größenwahnsinnigen!«

»Anmaßend«, meinte die Untergründige, nachdem sie es überflogen hatte. »Anmaßend und dummstolz. Da hat jemand sehr große Hosen an.« Die Maga ging zum Tor und ließ sich das Guckloch öffnen. Genau vor ihr flimmerte das Rot des Energieschirms, den die Gegenseite geschaffen hatte, um unter ihrem Schutz Vorbereitungen zum Sturm auf die Festung zu treffen. Wer so etwas beschwor, besaß Macht, daran gab es nichts zu rütteln. »Mag sein, dass er die wirklich anhat.« Sie umfasste einen Diamantensplitter und hob zu einem Zauber an, um ihn gegen den Schild zu schleudern.

Ein kleiner Blitzstrahl verließ ihren Mittelfinger, jagte durch die Öffnung und prallte gegen die Barriere.

Es summte tief wie ein friedlicher Bienenstock, und die getroffene Stelle verfärbte sich dunkler. Dann wurde sie heller und heller, das Summen lauter und greller. Das Rot wandelte sich in ein Orange und allmählich zu einem gleißenden Gelb. »Schließt das Loch!«, befahl Goda und ging weg vom Tor.

Zwar sahen sie, Kiras und die Wächter nicht mehr, was auf der anderen Seite vor sich ging, aber sie hörten deutlich, dass es eine krachende Entladung gab.

Das mit Eisenplatten, Bolzen und Riegeln verstärkte Tor erbebte unter dem Einschlag, die Angeln in den Mauern ächzten und warfen Rost als rotbraune Wölkchen ab. Die Kraft war so gewaltig, dass der Eingang einen Spalt geöffnet wurde; einzelne metallene Bügel und Halterungen am Tor zerprangen und flogen den Verteidigern in Splittern um die Ohren. Der Ubari neben Goda ging mit einem Ächzen zu Boden, die Untergründige schrie auf und hielt sich den Kopf. Ein Schrapnell hatte sie am Ohr getroffen und es zur Hälfte eingerissen.

Goda beschloss, während sie sich mit versteinerter Miene um die Verwundeten kümmerte, derartige Experimente nicht noch einmal zu wagen. Nicht auszudenken, wenn ich einen mächtigen Zauber gegen den Schild geworfen hätte!

Denn nun wusste sie, dass die Barriere jeden Angriff mit zehnfacher Stärke erwiderte.



Das Geborgene Land, Protektorat Gauragar, 20 Meilen südlich des Eingangs zum Grauen Gebirge, 6491. 6492. Sonnenzyklus, Spätwinter.


Ingrimmsch verfolgte, wie die Vorhut der Schwarzen Schwadron - was immer sie auch sein mochte - um die Biegung des Tälchens geritten kam und zehn Schritt von Tungdil entfernt in die Senke einritt. Dagegen tun konnte er nichts. Er erkannte Ponys und Zwerge in dunklen Rüstungen, die denen der Unsichtbaren verblüffend ähnlich waren.

Kaum hatte die Schwadron die Schlitten bemerkt, fächerte sie auseinander und nahm die gesamte Breite des Beckens ein; zwischen den Pferdehufen gab es kein Durchkommen.

Tungdil hielt sein Gefährt an, ein Zhadär nach dem anderen verringerte die Geschwindigkeit, dann sprangen sie ab und bildeten einen Kreis, die Schlittenschilde stellten sie als Schutz vor sich und bildeten eine kleine Burg, in dessen Mitte sich Barskalin und Tungdil befanden. Slin und Balyndar stießen erst jetzt zu ihnen. Verflucht! Das wird nichts mehr. Ingrimmsch bezweifelte, dass er es rechtzeitig schaffen würde, bevor die Schwarze Schwadron ihren Ring um die Zhadär geschlossen hatte. Ach, was solls. Ich schlage mir schon eine Bresche. »Nichts klappt bei diesem Vorhaben. Nicht einmal dann, wenn wir keinen Plan haben«, fluchte er und machte sich noch kleiner, um dem Wind weniger Widerstand zu bieten.

Mit einem halsbrecherischen Manöver jagte er zwischen den Ponybeinen vorbei, erwischte die letzte Lücke in der Reihe der Schwadron und krachte dann mit seinem Schlitten gegen einen Zhadär-Schild.

Ingrimmsch hob es in die Luft, er prallte gegen den Schutz und rutschte in den Schnee; doch er sprang sofort auf die Füße, den Krähenschnabel zur Verteidigung erhoben. »Zurück!«, schrie er den Reiter vor sich an, den er vor lauter Tauwasser vor den Augen nur undeutlich wahrnahm. »Ich schwöre, dass ich dir meinen Krähenschnabel dorthin schlage, wo es sehr wehtut!«

Daraufhin erklang vielstimmiges, dröhnendes Lachen.

»Es gibt nicht viele Kinder des Schmieds, die eine solche Waffe führen und so alt aussehen wie du«, sagte jemand spöttelnd und doch mit einem Hauch Achtung in der Stimme. Der Zwerg sprang aus dem Sattel, Ketten klirrten.

Schnell wischte sich Boindil übers Gesicht und klärte seinen Blick: Ein Bild von einem Zwergenkrieger stand vor ihm und hielt ein langstieliges Beil in der Rechten. Ein dicker Mantel lag über dem mit Eisenplättchen verstärkten Kettenhemd, im hellroten Bart waren schwarzen Strähnen gefärbt worden. Die grünen Augen musterten ihn, sein Körper war angespannt und der Krieger auf der Hut vor einem Verzweiflungsangriff. »Sich mit dir zu messen, wäre mir eine Freude«, sagte der unbekannte Zwerg. »Boindil Zweiklinge.« Dann richtete er seinen Blick auf die Zhadär. »Was soll das, Barskalin? Seit wann fürchtest du mich und meine Krieger?«

»Ich fürchte weder dich noch sie. Doch ich war mir nicht sicher, ob du noch immer ihr Anführer bist, Hargorin Todbringer.« Die Schilde wurden auf sein Kommando gesenkt, und Barskalin trat dem Freund gegenüber. »Ich hätte nicht gedacht, dich und die Begehrer unterwegs zu treffen.«

Ingrimmsch sah zwischen ihnen hin und her. »Was - beim Schmied - geht hier schon wieder vor?« Er sah auf die schwarzen Rüstungen der Reiter. »Begehrer?« »Sie sammeln den Zehnten für die Albae bei den Menschen des einstigen Idoslän ein.« Balyndar sprach voller Verachtung. »Räuber und Mörder, mehr sind sie nicht.« »Nicht so voreilig.« Barskalin reichte Hargorin die Hand und stellte Slin, Balyndar und Ingrimmsch vor. »Jetzt beugt eure Knie vor dem neuen Großkönig der Zwergenstämme des Geborgenen Landes«, kündigte er theatralisch an. »Denn er ist einer von euch, ein Dritter: Tungdil Goldhand!«

Hargorin machte vor Überraschung einen Schritt zurück und starrte den Einäugigen an, der zwischen den Zhadär hervortrat; dann wanderten seine Blicke über die Rüstung, über Blutdürster und wieder hinauf zu den harten, unnahbaren Zügen. Er hatte die Insignien des Großkönigs gesehen. »Da soll mich...« Seine Stimme versagte vor Überwältigung, dann ließ er sich auf ein Knie sinken und beugte den Nacken; sein Beil streckte er Tungdil entgegen.

Die Schwarze Schwadron saß ab, einhundertfünfzig Kriegerinnen und Krieger huldigten dem Herrscher über alle Zwerge. Ingrimmsch schaute grinsend umher. »Wenn uns das alle zehn Meilen passiert, bis wir in Dsön Bharä sind, haben wir ein Heer zusammen, das die Albae ohne Hilfe aus dem Geborgenen Land wirft«, sagte er lachend. »Gelehrter, sieh dir das an! Die Dritten haben Ehrfurcht vor dir.«

Tungdil befahl Hargorin und der Schwadron, sich zu erheben. »Habe ich Barskalins und deine Worte so zu verstehen, dass ihr die gleiche Einstellung teilt, was die Albae anbelangt?«

Hargorin warf einen kurzen Blick zum Syträp, der ihm mit den Augen die Erlaubnis gab, offen zu sprechen. »Herr, viele von uns haben darauf gewartet, dass du zurückkehrst und deinen Stamm zum Sieg über sämtliche Feinde führst«, sagte er und wirkte beinahe verklärt vor Glück. »Du weißt es nicht, doch es gibt Legenden bei uns über dich.«

Tungdil sah zu Barskalin, der entschuldigend die Schultern hob. »Dazu war keine Zeit.« Das werden schöne Runden am Lagerfeuer. Ingrimmsch griente breit. »Mein Gelehrter. Jetzt ist er bei den Dritten zu einer Märchengestalt aufgestiegen.«

»Wenn er so beliebt bei den Dritten ist, eröffnet uns das doch vollkommen neue Möglichkeiten«, warf Slin ein.

»Er ist es nicht bei allen von uns«, schränkte Hargorin unverzüglich ein. »Aber sehr, sehr vielen.« Er strahlte Tungdil an. »Eine dieser Legenden beschreibt dich und deine Heldentaten jenseits der Schwarzen Schlucht. Wenn ich dich betrachte und diese Rüstung an dir sehe, könnte ich es glatt für eine Prophezeiung halten. Du wurdest beinahe genauso beschrieben, wie du vor mir stehst.«

Barskalin gab zweien seiner Zhadär den Befehl, den Himmel abzusuchen, um vor dem möglichen Auftauchen des Kordrion gewarnt zu sein. »Wir sollten uns eine ruhige, sichere Bleibe suchen, um die Dinge zu besprechen«, schlug er vor. »Hast du ein Gehöft hier in der Nähe, alter Freund?«

Hargorin nickte. »Einen halben Umlauf von hier liegt eine meiner Festungen. Wir binden die Schlitten hinter die Ponys und ziehen euch dorthin.«

»Kann sie einem Kordrion standhalten?«, wollte Ingrimmsch wissen.

Hargorin verzog keine Miene. »Sicherlich eine Weile. Und wenn der Turm einstürzen sollte, können wir uns durch den Tunnel in Sicherheit bringen.« Er schaute Barskalin an. »Was habt ihr getan, dass euch dieses Viech auf den Fersen ist?« Der Syträp lachte. »Später. Bring den Großkönig in dein Heim und bewirte uns anständig. Dann ist Zeit für einen Plausch.« Schlagartig wurde er ernst. »Du wirst dich entscheiden müssen«, sagte er feierlich.

»Das habe ich bereits vor zahllosen Zyklen getan.« Der Dritte verneigte sich vor Tungdil. »Was immer dich ins Land der Albae führt, von nun an gehorchen ich und die Schwarze Schwadron einzig und allein dir, Großkönig. Du wirst uns eine glorreiche Zeit bringen. Wie die Legenden es beschreiben.«

Balyndar rollte mit den Augen. Slin dagegen sah sehr zufrieden und glücklich aus. »Ganz entzückend, wie ich finde.«

»Entzückend klingt... weibisch. Aber ausnahmsweise finde ich das auch.« Ingrimmsch freute sich zwar darüber, dass aus dem befürchteten Kampf eine unverhoffte Waffenbrüderschaft geworden war. Doch ihn beunruhigte gleichermaßen, dass das Schwarz um ihn herum mehr und mehr wurde. Es erinnerte ihn an eine wachsende Gewitterfront, die beständig wuchs, bis sie zu einem furchterregenden Sturm wurde; den Mittelpunkt dieses Sturmes bildete sein Freund.

»Sie saugt uns mit ein«, sagte er leise vor sich hin, weil er sich entsann, dass auch er bald zur Tarnung in einer schwarzen Rüstung der Zhadär stecken würde. »Vraccas, lass mich nicht werden wie sie, nur weil ich ihre Panzerung teile.«

Wieder war es Slin, der seine Worte mitbekam. Der Vierte besaß ein ausgezeichnetes Gehör. Leider. »Du hast Angst davor, einer von ihnen zu werden? Boindil, es ist nichts weiter als schwarzes Eisen, in das wir steigen.« Er pochte zuerst gegen die Brust, dann den Kopf. »Herz und Verstand, die gehören immer noch uns. Sieh es als eine harmlos Verkleidung.« Er warf dem Reiter ein Seil zu, das andere Ende hatte er an seinem Schlitten festgeknotet. »Wenn du möchtest, pass ich auf dich auf, armer kleiner Zwerg.« Ingrimmsch lachte. »Du hast recht: Verspotte mich nur wegen meiner kindischen Gedanken.« Er machte sein Gefährt ebenfalls bereit.

Gleich darauf wurden sie von den Ponys in schneller Fahrt über den Schnee gezogen. Den Nachteil dieser Reisemethode erfuhren sie sehr rasch: Die Hufe schleuderten den Schnee hoch und wirbelten Wolken auf, durch welche die Schlitten sausten. Schon bald ähnelten sie bärtigen, griesgrämigen kleinen Schneemännern. Ingrimmsch sah den mehr als zwanzig Schritt hohen Bergfried der Festung durch den flirrenden Schnee vor sich; und ebenso gut sah er die Schmähungen daran, die jedes rechtschaffene Zwergenherz vor Empörung schneller schlagen ließen. Nichts anderes als in Runen gefasster Hass auf Vraccas stand dort zu lesen. Die Schriftzeichen schworen allen Stämmen die Vernichtung bis in die Kinderwiege hinein, und auf den Wänden aus dicken, grob behauenen Steinquadern gingen die Schmähungen und Beleidigungen weiter: Vraccas der Krüppel, Vraccas der machtlose Gott, Vraccas der Gemächtlose...

Ingrimmsch war mit seinen Erkenntnissen nicht alleine.

»Ich werde keinen Fuß hineinsetzen«, rief Slin ihm zu, und Balyndar nickte unterstützend. »Das da ist nicht rechtens. Vraccas wäre zornig auf uns, wenn wir die Gastfreundschaft von Hargorin Todbringer annehmen würden. Und ich werde den Verdacht nicht los, dass wir den Großmut unseres Schöpfers in den kommenden Umläufen dringend benötigen.«

Ingrimmsch stimmte zu. »Wir werden uns in einem der Häuser um die Festung eine Unterkunft suchen.«

Der Tross ritt durch die Siedlung, genau auf das Tor von Vraccastrotz zu. Weil die Schwadron trotz der Rufe der drei Zwerge nicht stehen blieb, zerschnitten sie kurzerhand die Taue und stiegen ab. Erst jetzt wandten sich Hargorin und Barskalin um; Tungdil befahl das Anhalten.

»Was soll das, Ingrimmsch?« Der Einäugige sah ihn erstaunt an. »Wieso möchtest du nicht hinter die sicheren Mauern?«

»Dir mag es nichts ausmachen, Gelehrter.« Er zeigte auf die Inschriften. »Aber mir! Ich bete Vraccas an, und daher kann ich diese Festung nicht betreten, die seinen Namen verunglimpft und seine Worte in den Schmutz zieht.« Er stand von seinem Schlitten auf und wischte die Schneeschicht von seinem Mantel und dem Gesicht. »Wir schlafen bei einem der Dorfbewohner.«

»Du weißt, dass der Kordrion auftauchen kann und dich durch den Geruch der Brut als den vermeintlichen Mörder erkennt?«, mahnte Tungdil. »In einer zierlichen Hütte wirst du nicht einmal vor deinem Tod wach, wenn er sie mit weißem Feuer überschüttet.« Boindil deutete auf die Unsichtbaren. »Die Zhadär sind auch in dem Blut und den Innereien der Brut umhergelaufen.«

Barskalin schaute beinahe verlegen drein, als er sagte: »Unsere Rüstungen sind aus Tionium.« »Verdammter Orkdreck! Das passiert wieder nur mir!« Er hob die Augenbrauen. »Es ist mir einerlei. Vraccas wird mich beschützen, weil ich da«, er deutete auf das Tor, »nicht hineingehen werde. Unter keinen Umständen.« Slin und Balyndar stellten sich rechts und links neben ihn.

Boindil wurde bewusst, dass sich zwei Fronten gebildet hatten. Auf der einen Seite die Schwarze Schwadron und die Zhadär mit Barskalin und Hargorin Todbringer samt Großkönig Tungdil, auf der anderen Seite er und zwei Zwerge, die er nicht besonders gut kannte und von denen er wenigstens einen mäßig leiden mochte.

Und wieder schien es ihm, als passte Tungdil auf die Seite der finsteren Zwerge und nicht auf seine.

Hargorin wies seine Schwadron an, mit Tungdils Erlaubnis in die Festung zu reiten, und die Zhadär folgten ihnen hinein. Todbringer selbst ging langsam auf das Trio der Verweigerer zu. »Ich verstehe dich zu gut, Boindil. Aber vertraue mir, wenn ich dir sage, dass der Schein meines Zuhauses trügt.« Er zog einen Anhänger unter dem Kettenhemd hervor: ein Hammer aus Vraccasium mit dem Zeichen des Schmieds darauf. »Ich bin sein«, flüsterte er. »Die ganze Schwadron ist sein. Doch wir mussten uns verstellen wie die Zhadär, um vor dem Misstrauen der Albae sicher zu sein. Das brachte uns den Vorteil, überall frei in dem Land unterwegs zu sein, in dem die Schwarzaugen herrschten. Wir wissen vieles über Idoslän und den Widerstand, den es gegen die Besatzer gibt. Auch wenn die Menschen uns für schreckliche Kreaturen halten, sind wir doch auf ihrer Seite. Eines Umlaufs werden wir das Wissen benötigen, um die Herrschaft des Bösen zu brechen.« Hargorin lächelte. »Glaube es mir ruhig, Boindil. Für jeden Stein, auf dem ich Vraccas verhöhnte, habe ich den Schöpfer um Verzeihung gebeten, und ich weiß, dass ich mit Nachsicht zu rechnen habe, wenn ich in die Ewige Schmiede einfahre. Die Täuschung musste sein. Es waren keine Zeiten des offenen Kampfes.« Er sah über die Schulter zu Tungdil. »Aber mit seinem Erscheinen hat er begonnen.«

Ingrimmsch sah zu Balyndar, dann zu Slin. Sie scheinen sich nicht überreden lassen zu wollen. »Ich bleibe im Freien«, wiederholte er, wenn auch nicht mehr ganz so angriffslustig. »Eine Schmähung bleibt eine Schmähung. Kannst du uns eine Unterkunft empfehlen?«

»Vielleicht eine nicht ganz so teure. Unsere Kriegskasse ist eher dürftig zu nennen«, fügte Slin an. »Sagt, dass ich euch schicke, und es wird euch nichts berechnet werden.« Hargorin gab es auf. »Für die Besprechung unserer weiteren Reise treffen wir uns in dem Haus, in dem ihr schlafen werdet. Lasst mich wissen, welche Wahl ihr getroffen habt.« Er wandte sich ab und wechselte einige Sätze mit Tungdil und Barskalin. Der Einäugige hob die Hand zum Gruß. »Wir sind da, wenn der Kordrion nach deinem Leben trachtet«, rief er. »Schlaft gut.« Dann verschwand er mit den beiden in der Festung; dumpf rumpelnd schloss sich das Tor und raubte den dreien die Sicht auf den Großkönig.

»Drei gegen drei«, merkte Slin an. »Was?« Balyndar blinzelte.

Der Vierte zeigte auf den Spalt, durch den sie einen letzten Blick auf die Tioniumrüstung werfen konnten. »Wir drei gegen die drei. Ich nehme Hargorin. Er ist ein gutes Ziel für meine Armbrust. Ingrimmsch wird wohl gegen Tungdil in den Kampf ziehen, und Balyndar schnappt sich diesen Barskalin.«

»Ich würde Tungdil als Gegner wählen«, sagte der Fünfte.

»Was redet ihr denn wieder für einen Schwachsinn, dass sich mir die Barthaare spalten?«, wetterte Ingrimmsch los. »Niemand von uns wird gegen einen anderen von uns kämpfen müssen!«

»Es war nur ein Gedanke, der mir durch den Kopf schoss. Verzeih mir das Geschwätz.« Slin sah auf seine Stiefelspitzen, und es war ihm wirklich peinlich. »Es wird nicht mehr vorkommen, Boindil.«

Ingrimmsch hatte an Balyndars Tonfall zu erkennen geglaubt, dass er sich durchaus solcherlei Gedanken gemacht hatte. Ernsthafte Gedanken. »Suchen wir uns eine Herberge. Irgendwelche Vorlieben?«

Slin drehte sich auf der Stelle und betrachtete die kleinen Fachwerk- und Steinhäuser rund um die mächtigen Mauern von Vraccastrotz. »Sie sehen alle gleich aus. Ich kann mich nicht entscheiden.«

»Dann nehmen wir das, welches am weitesten von den Beleidigungen unseres Gottes entfernt ist.« Balyndar ging los und zerrte seinen Schlitten hinter sich her, geradewegs auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren.

Sie erreichten ein Bauernhaus mit einer großen Scheune und klopften an die Tür. Es dauerte nicht lange, bis ihnen geöffnet wurde. Eine junge Frau stand auf der Schwelle und betrachtete sie von Kopf bis Fuß. »Ihr seid keine von Todbringers Leuten?« wunderte sie sich. Sie beugte sich nach vorn und warf einen Blick zur Festung. »Rasch, kommt herein, ehe man euch sieht! Sie werden euch erschlagen, wenn sie euch bemerken!«

Ingrimmsch fand es rührend, wie sie sich um das Wohlergehen von ihr völlig unbekannten Zwergen kümmerte. »Gutes Weib, keine Sorge wegen uns...« Balyndar drückte sich an ihm vorbei ins Haus. »Vraccas segne euch! Danke für Eure Warnung.« Er zwinkerte Ingrimmsch versteckt zu. Offenbar hatte er vor, so zu tun, als sei er fremd und habe nichts mit dem Dritten zu schaffen. Geschwind nannte er ihre Namen. »Wir hielten es für eine Zwergenfestung, die den Albae trotzt, aber als wir die Runen erblickten, wussten wir, dass wir uns getäuscht hatten. Aber wir sind zu müde, um reisen zu können.«

Slin hatte verstanden und tat so, als fürchte er sich. »Verfluchte Zwergenhasser.« Ingrimmsch verharrte noch immer vor dem Eingang; ihm war nicht wohl dabei, die Menschen im falschen Glauben zu lassen. Andererseits erfuhren sie auf diese Weise Dinge über Todbringer, die er ihnen als seine Gäste gewiss nicht offenbaren würde. »Nochmals meinen Dank«, sagte er und trat ein. »Vraccas soll das Herdfeuer für deine Großmut und deine Tapferkeit niemals erlöschen lassen.«

Ingrimmsch, Slin und Balyndar wurden von der Frau in die große Küche geführt, wo der Rest der Familie saß. Ingrimmsch zählte elf Köpfe, vom Greis bis zum Säugling, die sich um den Topf mit dem Essen versammelt hatten; es roch nach gekochtem Getreide und deftigem Speck.

»Grolf und Lirf! Rasch, hinaus und zerrt die Schlitten in die Scheune, danach fegt ihr über die Spuren«, ordnete sie an. Zwei junge Kerle sprangen auf. »Wir haben Gäste«, stellte sie die Zwerge vor. »Wahre Kinder des Schmieds und keine Dritten.« »Bei Palandiell, da habt ihr euch den beschissensten Ort in ganz Gauragar für eine Rast ausgesucht«, rief der alte Mann, in dessen Mund nur noch zwei Zähne standen, dann lachte er scheppernd wie eine Büchse.

»Sie werden die Nacht hier verbringen. Bis dahin können wirüberlegen, wie wir sie morgen bei Anbruch des Umlaufs ungesehen von hier wegbringen. Der Herr wird sie nicht am Leben lassen, wenn er sie findet.« Die junge Frau legte eine Hand an die Stirn. »Ihr Götter! Ich habe vergessen, mich vorzustellen. Ich bin Rüde, die Großbäuerin.« Danach ging sie jeden Einzelnen am Tisch durch. »Boindil Zweiklinge?« Eine ältere Frau, die Rüde als Mila vorgestellt hatte, sah ihn an. »Der Boindil, der etliche Schlachten für das Geborgene Land geschlagen hat?« Ingrimmsch hatte das Gefühl, vor Stolz mehrere Handbreit zu wachsen. »Dann ist er gekommen, um Hargorin zu töten«, jubelte das Mädchen namens Xara. »Sei still!«, fuhr sie Lombrecht an, der zahnlose Greis und Altbauer des Hofes. »Hargorin ist ein guter Herr. Wer weiß, was nach ihm kommt.«

Ingrimmsch sah, dass Lombrecht einen Anhänger mit Sitalias Zeichen um den Hals trug. »Ein Mensch, der die Elbengöttin verehrt«, sagte er zu ihm, während eine Bank vom Ofen an den Tisch gerückt wurde und sie Platz nahmen. »Das ist selten.« »Und sehr mutig.« Slin nickte auf das Fenster, um zu zeigen, dass die Dritten die Elben noch weniger mochten als die anderen Stämme.

»Jemand muss ihr Andenken wahren«, antwortete der Altbauer, während Rüde ihnen hölzerne Schüsseln füllte. »Sie waren ein Teil des Geborgenen Landes und dürfen nicht in Vergessenheit geraten.«

Die drei Zwerge sahen sich erstaunt an.

»Meines Wissens sind die Elben doch an einen geheimen Ort geflüchtet«, meinte Ingrimmsch und aß den ersten Löffel. Es schmeckte nicht schlecht, wenn auch kein Vergleich zu Godas Gugulhack. »Sie sitzen irgendwo in einem Hain und warten darauf, dass wir Kinder des Schmieds mal wieder die Diamanten aus der Esse holen, ehe sie verbrennen. Oder?«

Rüde setzte sich neben sie, Xara brachte drei Becher und einen Krug mit hellem Bier. »Schön, wenn es so wäre«, seufzte sie. »Aber die Legenden meines Volkes berichten etwas anderes.«

»Ich glaube, ich muss öfter unter die Langen«, raunte Slin Balyndar zu, während er voller Hunger sein Essen in sich hineinstopfte. »Hier erfährt man die wahren Neuigkeiten.« Ingrimmsch sah Rüde an. »Lass hören, was ihr wisst. Wo sind die letzten Elben abgeblieben?«

»Dann erzähle ich euch die Geschichte, wie die Albae wieder zurück ins Geborgene Land kamen und wie sie die letzten Elben vernichteten.« Lombrecht räusperte sich. »Es war vor etwa zweihundert Zyklen, als sich ein elbisches Liebespaar an einem Teich traf, dem Mondteich, der dort lag, wo es einst das Elbenreich Lesinteil war. Sie hörten auf die Namen Fanaril und Alysante...«

Die Kinder hörten mit großen Augen zu; und auch die Zwerge lauschten auf die Worte des Alten, die sie alsbald so sehr in den Bann gezogen hatten, dass sie vergaßen, wo sie sich befanden, und die Geschichte vor ihrem inneren Auge geschehen sahen. »Mein Leben wird dein Leben sein. Von nun an und ohne Ende«, wisperte die Elbin und neigte den Kopf nach unten, um ihren Liebsten zu küssen. Wasser rann aus ihren nassen, hellen Haaren und troff auf seine entblößte Brust, lief den Bauch entlang und rollte ins weiche Gras.

Fanaril lachte und erwiderte ihre Zärtlichkeit. »Man könnte meinen, du seiest eine Nixe und keine Elbin«, neckte er sie und richtete sich auf.

Alysante hockte nackt vor ihm, das letzte Sonnenlicht fiel gedämpft durch die Blätter der Bäume und zauberte einen Glanz in ihr Gesicht, der ihre Schönheit noch steigerte. Der Elb nahm ihre Hand und küsste sie behutsam, zuerst außen, dann die Innenfläche. »Mein Leben für dein Leben«, sprach er ernst. »Ohne dich werde ich nicht mehr sein.« Alysante umarmte ihn zärtlich. Sie spürten die Wärme ihrer jungen Körper, und Leidenschaft erwachte; am Ufer des verträumten Teichs liebten sie sich. Danach liefen sie Hand in Hand zu dem eiskalten Gewässer, um sich zu erfrischen. Kopfüber und übermütig warfen sie sich hinein.

Ihr ausgelassenes Planschen ließ Wellen entstehen, die blauen und weißen Seerosen schaukelten auf der aufgebrachten Wasseroberfläche; der Teich schwappte das flache Ufer hinauf bis zum grünen, satten Gras.

»Sieh, Fanaril, wie sie tanzen!«, lachte sie und schwamm zu ihrem Liebsten, umfing ihn und küsste ihn. »Für uns.«

»Aber sie blühen nur für dich«, antwortete er und streichelte ihr Gesicht, um sich sanft von ihr zu lösen. »Ich hole dir einen Strauß.« Fanaril schwamm los.

»Nein!«, versuchte Alysante ihn zurückzuhalten. »Dort ist ein Sog! Gib acht, sonst zieht es dich hinab.«

Die Elbin ließ sich auf der Stelle treiben, um ihren Gefährten nicht aus den Augen zu lassen, aber die Sonne schien ungünstig auf die Wellen; das rote Glitzern blendete sie, und sie musste wegschauen. Sie hörte das leise Klatschen, wenn seine Arme in das Wasser eintauchten, das Platschen, das seine Füße verursachten...

Plötzlich waren die regelmäßig erklingenden Laute verstummt.

»Fanaril!?«, rief sie voller Sorge, und ihre Stimme hallte über den Teich, ohne eine Antwort zu erhalten.

Schnell schwamm Alysante zurück an Land und erklomm einen Steinbrocken, um einen besseren Überblick zu erhalten.

Drei Seerosen fehlten, doch den Elb sah sie nicht.

Die Sorge um Fanaril wuchs.

Das klare Wasser des Mondteichs, den die übrigen Elben ihrer kleinen Siedlung mieden, war unvermittelt düster wie Tinte. Die Schönheit des Ortes verging mit der sinkenden Sonne, die Schatten verliehen der traumhaften Umgebung schwermütige Düsternis. Aus den Fluten, in denen sie eben noch sorglos gebadet hatten, könnte sich ebenso ein Ungeheuer erheben. Alysante war von ihrem Vater stets gewarnt worden, dass der Teich nach Einbruch der Nacht böse wurde. Nun sollten sie den Preis für ihre Unachtsamkeit und Einfältigkeit zahlen.

Ihre hellen Nackenhärchen stellten sich auf. Die Elbin wagte sich nicht mehr nahe ans Ufer, sondern lief eilig an die Stelle, an der ihre Kleider lagen, und zog sich an. Sie schaute noch einmal über die Oberfläche und wölke sich umdrehen, um in der Siedlung Hilfe zu holen - als ein Körper drei Schritte vor ihr das Wasser durchbrach und sich brüllend gegen sie warf.

Schreiend wich Alysante zurück, die Hand legte sich an den Griff des Dolches. Sie stach mit der Klinge zu und traf das Scheusal, das nach ihrem Leben trachtete. »Nein! Hör auf!«, bat das Ungeheuer und hielt ihr drei Seerosen hin. »Ich bin es doch: Fanaril!«

Der Schrecken wich, und ihr von Angst verklärter Blick erkannte den Liebsten, der aus einem Schnitt über der Brust blutete. »Bei Sitalia! Verzeih mir!«, stieß entsetzt hervor. »Ich dachte...« Fanaril betrachtete die flache Wunde. »Nur ein Kratzer«, beruhigte er sie und reichte ihr die Blumen. »Ich bin selbst schuld. Ich hätte dich nicht erschrecken sollen.« Alysante drückte ihm einen erleichterten Kuss auf die Lippen, ehe sie ihm seine Kleidung im Austausch für sein Geschenk gab. »Tu das nie wieder«, bat sie ihn. »Du weißt, was sie trotz seiner Schönheit über den Teich sagen.« Sie zitterte, als sie ihren Dolch verstaute. »Ich dachte, eine Bestie hätte dir unter Wasser aufgelauert und wollte nun mich fressen, bevor ich Hilfe holen konnte.«

Fanaril lachte schallend. »Es ist nur ein Teich, über den die Alten Geschichten erzählen, die nicht wahr sind, nichts weiter.« Plötzlich starrte er auf die Wellen, seine Augen wurden größer. »Da!«, rief er aufgebracht. »Schau! Da ist etwas!«

Die Elbin schnellte herum. »Wo?«

Und schon stieß ihr Liebster sie kopfüber ins Wasser!

»Da ist eine Nixe!«, lachte Fanaril von Neuem, während sie in den schwarzen Fluten versank.

Die Seerosen trieben an der Oberfläche, hüpften auf und ab. Alysante erschien nicht wieder.

»Ich weiß, was du vorhast«, grinste der Elb. »Aber mir wirst du keinen Schrecken einjagen.« Er trat nahe ans Ufer und spähte in das finstere Wasser, um sie zu entdecken. Tatsächlich konnte er ein helles, schmales Oval ausmachen. Ein Gesicht, das sich rasch näherte.

»Ich sehe dich!«

Fanaril hielt sich bereit, sie bei den Schultern zu packen und sie gleich wieder nach unten zu drücken.

Das Wasser spritzte hoch, als sie die Oberfläche durchstieß und aus den Fluten auftauchte. Fanaril empfing sie mit einem Gelächter, damit seine Liebste sofort merkte, dass ihr Versuch, ihm einen Schrecken einzujagen, misslungen war.

Aber seine Hände trafen nicht auf nackte Schultern. Sie ertasteten hartes Leder! Einen Atemzug lang blickte er in das hübsche, aber kalte Gesicht einer unbekannten Elbin, dann fuhr ihm ein eisiger Blitz durch den Magen, und Wärme breitete sich in ihm aus. Fanaril erkannte das lange Schwert, das sie ihm durch den Leib gerammt hatte, und brach tödlich verletzt zusammen.

Die Elbin erhob sich aus dem Mondteich und wischte sich mitder Linken die langen schwarzen Haarsträhnen aus dem Antlitz, blickte sich am Ufer um und verschwand lautlos im nahen Wald.

Im gleichen Augenblick sprang Alysante aus dem Weiher. Ihr kläglicher Versuch, den schrecklichen Schrei einer Bestie nachzuahmen, ging in ihrem eigenen Lachen unter. »Ich kann das nicht«, prustete sie und rieb sich das Wasser aus den Augen. »Hat sich mein Liebster zu Tode erschrocken?«, fragte sie kichernd, als sie Fanaril da liegen sah. Erst als sie das Rot und den Schnitt in seinem Gewand bemerkte, verstand Alysante, dass seine Gleichgültigkeit nicht vorgetäuscht war.

Sie sank neben ihm auf die Knie und untersuchte seine Verletzung, dabei schaute sie sich immer wieder um, ob sich der Angreifer in der Nähe befand. »Sitalia, rette ihn! Fanaril, öffne die Augen! Du musst wach bleiben...«

Das Plätschern von herabtropfendem Wasser in ihrem Rücken warnte die Elbin, dann fiel ein breiter Schatten über sie, und ein Pferd schnaubte.

Alysante sah über die Schulter und zückte zum zweiten Mal an diesem Abend mit fliegenden Fingern ihren Dolch.

Hinter ihr standen zwei gewaltige schwarze Hengste mit dunklem Sattelzeug, die rot leuchtenden Augen funkelten sie hasserfüllt an. Mitten auf der Stirn sah sie den Stumpf eines abgesägten Horns, und als die Nachtmahre weiter aus dem Wasser schritten, blitzte es unter ihren Hufen auf, und der Teich leuchtete ringsherum.

Alysante wusste, wem sie gegenüberstand.

Auf den Rücken der Nachtmahre saßen zwei schwarzhaarige Albae-Zwillinge in finster-prächtigen Rüstungen, die rechte Hand des Vordersten hielt ein gewaltiges langes Schwert. So schnell, dass sie seinen Bewegungen nicht zu folgen vermochte, senkte er die Waffe, die Spitze legte sich auf Herzhöhe gegen ihren Rücken. Die Feuchtigkeit lief an der Waffe herab und gegen ihr dünnes, nasses Leibchen; nun wurde ihr kalt vor Furcht.

»Sag, wer du bist, Elbenweib«, verlangte er barsch zu wissen. Sie nannte ihm zitternd ihren Namen. »Ist deine Siedlung weit von hier?« Jetzt schwieg sie und bekam prompt das Schwert zu spüren, das ihr schmerzhaft in die Rippen stach. Warmes Blut lief aus der schmalen Wunde hervor und färbte den Stoff rot. »Antworte!« Alysante drehte sich unter dem Schwert weg und rannte auf den nahen Wald zu. Sie musste die Freunde warnen!

Unter Tränen der Verzweiflung und der Angst hetzte sie durch das Dickicht. Ihre Gedanken wirbelten umher. Sie sah den toten Fanaril vor sich, spürte seinen klebrigen Lebenssaft an ihren Fingern und konnte sich nicht erklären, woher die Albae kamen. Hatten sie auf dem Grund des Mondteichs geschlafen? Hatte sie Tion über die Berge an den Zwergen vorbeigeschleudert?

Sie keuchte schwer und dachte vieles durcheinander - bis ihr bewusst wurde, dass sie die Reiter geradewegs zu den Letzten ihres Volkes führte!

Alysante erklomm den nächsten Baum, um ihre Flucht in den Ästen und Zweigen fortzusetzen und keine Spur auf dem Boden zu legen; sie sprang von einem Baum zum nächsten.

Endlich gelangte sie nach Atem ringend und mit schmerzenden Armen an den Rand der Siedlung. Sie sah den rettenden Schein der Laternen, welche die filigran gearbeiteten Häuser am Boden und in den uralten Palandiellbuchen in warmes Licht tauchten.

Erleichtert stieg sie von dem Baum herab und wollte auf die Gebäude zugehen. Eine starke Hand packte sie im Nacken, schleuderte sie hart zu Boden, ein Stiefel stellte sich in ihr Genick und drückte sie gnadenlos in den Waldboden.

»Du wurdest vorhin von Tirigon gefragt, ob deine Siedlung weit entfernt von dem Teich sei«, raunte ihr die Angreiferin ins Ohr. »Ich werde ihm deine Antwort überbringen, Elbenweib.« Ein Dolch glitt mit einem schleifenden Geräusch aus der Scheide. »Nun sende ich dich zu deinem Liebsten. Sei dir gewiss, dass der Rest deiner Verwandtschaft noch in dieser Nacht folgen wird.«

Alysante versuchte, einen letzten Schrei auszustoßen, um die Freunde zu warnen, da zuckte die Doppelklinge herab und führte sie in das Land, in dem Fanaril mit Tränen der Verzweiflung auf sie wartete...

Es war sehr still in der Küche geworden.

Ingrimmsch wunderte sich, wie gut Lombrecht erzählen konnte, und das trotz der wenigen Zähne.

»Auf diese Weise«, sprach Lombrecht getragen, »gelangten die Albae wieder in das Geborgene Land.« »Kamen sie nicht unter Führung ihres Kaisers Aiphatön aus dem Süden?«, wandte Slin ein und gab den anderen beiden Zwergen durch einen Blick zu verstehen, dass er sehen wollte, wie viel die einfachen Menschen über die Albae wussten.

Ingrimmsch machte sich seinen eigenen Reim auf die Erzählung. Barskalin hatte angedeutet, dass die Albae aus dem Norden eingefallen waren. Lombrecht hatte ihnen wiederum die Sage zu ihrer Rückkehr berichtet. Ein wahrer Kern.

Lombrecht stieß schnaubend die Luft aus. »Es wird behauptet, dass sie aus dem Süden kommen. Aber ich kenne diese Sage, und sie gefällt mir sehr gut. Aiphatön hat die andere Geschichte sicherlich erfunden, um seinen eigenen Ruhm zu mehren. Wir wissen doch alle, dass der Magus nicht zu schlagen ist.«

»Hat die Sage denn auch eine Erklärung, weswegen die Schwarzaugen so einfach aus dem Wasser steigen, als könnten sie darin atmen wie die Fischlein?« Der bloße Gedanke an einen schwarzen Teich ließ ein mulmiges Gefühl aufkommen.

»Mein Großvater erzählte mir, dass ein unterirdischer Fluss, der einer Grotte im Jenseitigen Land entsprang, in den Mondteich mündete. Er spülte Bosheit ans Ufer und ließ die meisten Menschen schaudern, die ihn fanden und darin baden wollten. So erklärte er mir die schlechte Aura und die vielen bösen Legenden um den Teich.« Lombrecht nutzte seinen Löffel, um auf dem Tisch herumzukratzen und Linien zu besseren Veranschaulichung zu ziehen. »Die Albae waren der Röhre des Flusses gefolgt, unterliefen das Graue Gebirge mitsamt den Fünften und stiegen aus den Fluten des Gewässers. Später gründeten sie Dsön Bharä neu und nannten sich Dsön Aklän.« Ingrimmsch schob seinen leeren Teller von sich. »Aber das Geborgene Land müsste vor Albae überquellen. Der Zugang ist doch sicherlich noch offen.«

»Nein, er ist eingestürzt. Das nehmen wir an, denn der Mondteich ist für immer versiegt. Dort, wo er sich befand, ist nichts weiter als ein tiefes felsiges Loch, in dem nichts wachsen möchte. Dort haben die Albae ihre Stadt errichtet. Aber einen Tunnel hat es dort nicht mehr, sagt man«, sagte Rüde erleichtert.

»Es gibt auch so schon zu viele von ihnen.« Lombrecht ließ sich von Xara einen Krug Bier holen und leerte ihn fast aus dem Stand. Sein Rülpsen war sehr laut. Slin klatschte Beifall. »Gut gebrüllt, Alter! Jetzt weiß ich, wie erseine Zähne verloren hat«, sagte er zu Ingrimmsch. »Wir könnten ihn fast ehrenhalber als einen Zwerg bezeichnen.«

Balyndar schüttelte den Kopf. »Wir sollten uns hinlegen. Wer weiß, was wir morgen wieder leisten müssen.« Er erhob sich.

Rüde stand auf. »Sicher. Ihr könnt in der Scheune schlafen. Oder in der kleinen Futterkammer über den Kühen, wo es sicherlich wärmer ist.«

»Futterkammer«, sagte der Fünfte sofort. »Lieber rieche ich nach Stall und habe es warm.«

Sie bezogen ihr Quartier, Grolf und Lirf brachten ihnen einen Nachttopf sowie einen weiteren Krug mit Bier für die Nacht, dazu einen Stapel alte Pferdedecken gegen die Kälte.

Der Geruch nach Kühen und Wärme stieg durch die Dielen zu ihnen, und schon bald döste Ingrimmsch satt und erschöpft ein.

Sein letzter Gedanke war, dass sie vergessen hatten, Hargorin zu sagen, wo sie eingekehrt waren.

Das bedeutete, dass sie früh aufstehen und an den Toren der Festung klopften mussten.

Er wollte, dass Rüde und ihre Familie nichts davon mitbekamen. Sie sollten die aufrichtigen Zwerge des Geborgenen Landes weder mit der Schwarzen Schwadron noch mit den Zhadär in einen Topf werfen.

Ingrimmsch, Slin und Balyndar schafften es, unbemerkt von der Bauersfamilie ihre Sachen zu packen und den Hof zu verlassen.

Sie liefen hinter der Ansiedlung entlang und näherten sich dem zweiten Tor der Festung, wo sie anklopften. Auch wenn sie der Wächter sofort erkannte und sie auf Geheiß von Hargorin Todbringer hineinbat, kamen sie nicht in den Innenhof. Also sandte die Wache einen Diener aus, der dem Dritten Bescheid geben sollte. Es dauerte sehr lange, bis er zurückkehrte. Hinter ihm folgten drei weitere Diener, die einen gedeckten Tisch und eine Bank schleppten.

»Ihr sollt euer Morgenmahl davor einnehmen, wenn ihr möchtet«, bekamen sie ausgerichtet. »Und sputet euch. Die Truppe bricht nach Dsön Bharä auf.« Die drei Zwerge sahen sich an und machten sich vor den Toren schweigend über ihr Essen her. Damit war Ingrimmschs Absicht, ihre Anwesenheit geheim zu halten, so gut wie dahin. Noch war die Sonne nicht richtig aufgegangen, aber es würde nicht lange dauern, bis es sich in der Siedlung herumgesprochen hatte. »Wir hätten ihnen falsche Namen nennen sollen«, sagte Balyndar und nahm einen Schluck vom heißen Tee. »Jetzt werden wir mit den Unehrenhaften in Verbindung gebracht.«

»Das wird sich in den Liedern über uns nicht gut machen«, seufzte Slin und nickte in den Innenhof, wo die Diener Rüstungsständer brachten, an denen schwarze Panzerkleider hingen. »Die sind wohl für uns.«

»Ich werde mich sicherlich nicht vor aller Augen in diese Schalen klemmen.« Ingrimmsch suchte verzweifelt nach einer Gelegenheit, sich zurückziehen zu können. Dennoch würde er Vraccastrotz nicht betreten, komme, was da wolle. Sie behalfen sich damit, dass jeweils zwei ihre Mäntel wie einen Windfang ausbreiteten, während der dritte sich gürten und wappnen konnte; schließlich hatten sie ihre neuen Rüstungen angelegt.

Ingrimmsch fand, dass Balyndar seinem Vater noch ähnlicher sah als zuvor. Es lag förmlich offen, wessen Sohn er wirklich war.

Slin dagegen passte nicht richtig in seine Verkleidung, einzelne Teile saßen etwas zu locker am Leib des Armbrustschützen; unglücklich spielte er damit, und das Metall quietschte leise. »Ihr beide seht wenigstens aus wie Krieger«, sagte er zu Ingrimmsch und Balyndar.

»Dich könnte man mit einem verkleideten Gnom verwechseln«, zog ihn Boindil auf. Auf dem Hof erschien die Schwarze Schwadron, vorneweg ritten Tungdil, Hargorin und Barskalin, der eine Rüstung der Reiterei trug. Ein eindrucksvolles, einschüchterndes Bild. Knechte eilten mit drei weiteren Ponys herbei und führten sie zu den Zwergen am Tor.

»Guten Morgen«, grüßte Tungdil sie. »Wir haben euch vermisst.«

»Gab es einen Grund, weswegen ihr uns nicht wissen ließet, wo ihr die Nacht verbracht habt?« Die Frage aus Hargorins Mund klang harmlos, und doch vermutete Ingrimmsch, dass sie Argwohn entsprungen war.

»Wir haben uns die Namen nicht gemerkt«, kam er Slin zuvor, der zu einer Antwort angesetzt hatte.

Der Festungsherr ließ sich dadurch nicht zufrieden stellen. »Welches Haus war es dann?«

Ich verrate sie nicht. Ingrimmsch schwang sich in den Sattel und drängte sich neben Tungdil; Hargorin musste ihm Platz machen. »Keine Ahnung. Irgendeines, in dem die Möbel alle zu groß für mich waren.« Er grinste unschuldig.

Slin lachte lauthals, Balyndar stimmte mit ein. Sie stiegen auf, und der Tross setzte sich in Bewegung.

Ingrimmsch schaute zu den Berittenen, deren Zahl etwas mehr als einhundertfünfzig betrug. »Ich nehme an, die Zhadär haben sich unter die Schwarze Schwadron gemischt?«

»Gut gedacht, Ingrimmsch!« Tungdil klang nicht spöttisch. »Die Dsön Aklän sollen denken, dass sie weiterhin damit beschäftigt sind, das Gelege des Kordrion zu stehlen.« »Was ist mit der Besprechung, Gelehrter?«, fragte Ingrimmsch und schob das Visier seines Helmes hinab. »Wo halten wir sie ab?«

»Sie fand bereits statt. Wir haben sie vorgezogen.« Tungdil sah ihn freundlich und strafend zugleich an. »Wir wussten ja nicht, wohin wir den Boten mit der Einladung schicken sollten.«

Das sah Ingrimmsch noch ein. »Dann lass mich hören, wie wir vorgehen.« Der Einäugige richtete den Blick nach vorn und hob den Arm. Eine Standarte schnellte hinter ihm in die Höhe und zeigte eine unbekannte Rune, die eine Mischung aus Zwergisch und Albisch darstellte. »Unterwegs ist genügend Zeit dafür.« Er neigte den Kopf leicht. »Was sagst du zu meinem Wappen, Ingrimmsch? Ist es nicht schön?« Boindil nickte. Allerdings, es war nicht schön.

Загрузка...