XXIII

Das Jenseitige Land, die Schwarze Schlucht, Festung Übeldamm, 6492. Sonnenzyklus, Frühling.


Goda schreckte aus dem Schlaf hoch. Die Alarmhörner dröhnen?

Schon wurde ihre Tür aufgerissen, und Boendalin rief sie auf die Zinnen. »Die Barriere ist verschwunden! Die Biester versuchen einen Ausfall durch das Nordtor!« Die Maga sprang aus dem Bett, warf sich ihre Robe über das Nachthemd, schlüpfte in die Stiefel und folgte ihrem Sohn. Es musste mitten in der Nacht sein, sie hatte sich kaum hingelegt. Ihren Mantel und die Tasche mit den letzten vier Diamantsplittern nahm sie ebenso mit.

Sie hatte niemandem offenbart, wie es um ihre magische Verteidigung bestellt war, nicht einmal ihren Kindern.

Der Ausfall war trotz der hohen Verluste als Sieg gefeiert worden, schon allein um den Tod der Kriegerinnen und Krieger gebührend zu würdigen. Zwar hatten die Ausgeburten der Schwarzen Schlucht damit begonnen, die Kriegsgeräte von Neuem aufzubauen, doch sie arbeiteten langsamer als vorher. Es machte den Anschein, als wären sie erschöpft. Und das wiederum hatte den Verteidigern Hoffnung gegeben. Der Anschein hat getrogen, dachte Goda und fuhr mit dem Zwerg zusammen im Aufzug zum Turm hinauf. Sie haben uns getäuscht und nachlässig werden lassen.

Genau gegenüber von ihnen sah Goda die Wehrgänge und den breiten Turm über dem Tor hell erleuchtet. Sämtliche Fackeln waren entzündet worden, aus den Ausgusslöchern im Mauerwerk schwappten Ströme von kochendem Pech und glühender Schlacke auf die belagernden Bestien herab; Pfeile und Speere sowie Steinbrocken, die von den Katapulten ausgespien wurden, konnte Goda nur erahnen. Sie befand sich zu weit weg, um sie zu erkennen. Brennende Säcke voller Petroleum folgen in die Tiefeund zerbarsten unter den Scheusalen, um sie zu lebendigen Fackeln werden zu lassen. Brandpfeile schwirrten zwischen den Angreifern und Verteidigern hin und her, durchstießen die tiefschwarzen Wolken. Es war ein beeindruckendes Bild. Doch die Ungeheuer ließen sich durch den Beschuss nicht abschrecken. Kleinere, bewegliche Rammböcke waren bereits an verschiedenen Abschnitten in Stellung gebracht worden, deren Rumpeln durch die Entfernung in Godas Ohren wie ein leises Pochen klang. Auch das Geschrei der Scheusale wurde zu einem halblauten, eintönigen Geräusch, das sie an das Rauschen eines Baches erinnerte.

Der magische Schirm war verschwunden, aber gleichzeitig befanden sich auch keine Bestien mehr in der Ebene. Sie rannten alle gegen das Nordtor an, und das sogar mit ihren halbfertigen Belagerungstürmen.

»Verstehe ich das?«, sagte Goda zu sich selbst. Warum ausgerechnet das Nordtor? Um vom Südtor abzulenken? Sie beugte sich nach vorn und sah in die Tiefe.

»Wir hielten es zunächst auch für eine Täuschung«, sagte Boendalin. »Aber die anderen Türme melden nichts. Die Bestien stürzen sich wie verrückt geworden gegen den Norden und bringen die Mannschaften in Bedrängnis. Ich habe befohlen, Krieger und jede Art von Munition hinüberschaffen zu lassen.«

»Das möchte ich mir aus der Nähe ansehen.« Goda betrachtete die Schwarze Schlucht, während sie mit ihrem Sohn auf dem Wehrgang zuerst zum westlichen Durchgang und von dort zum nördlichen rannte. Die Strecke zog sich sehr.

In der Felsspalte war es finster, die Wege hinaus verlassen. Sämtliche Scheusale hatten sich bereits im Norden versammelt.

»Entweder der Nachschub wartet in der Deckung ab, was geschieht, oder sie haben keine weiteren Kämpfer mehr«, sagte Boendalin zu ihr, nachdem er ihre Blicke gesehen hatte. »Das Nordtor ist insofern keine schlechte Wahl, weil wir dort am wenigsten mit einem Angriff gerechnet hatten.«

»Aber sie wissen doch, dass wir die Verstärkung auf den Wehrgängen und durch die Korridore in der Mauer schnell verschieben können«, widersprach sie ihm. »Es ist ein Scheinangriff.« Sie betrachtete den Kampf, der an Heftigkeit zugenommen hatte. Ohne ihre tiefste Überzeugung, dass es sich um eine Finte handelte, hätte sie auch geglaubt, dass die Bestien einen Ausfall wagten und eine Entscheidung erzwingen wollten. »Wo ist ihr Magus?«

»Wir haben ihn nicht entdeckt«, erwiderte Boendalin angespannt. »Du meinst...« »Sie führen den Angriff für ihn«, sagte Goda. »Er hat etwas vor. Er möchte unsere Kräfte auf einer Seite binden.« Sie blickte zum Südtor und blieb stehen. »Ich eile zurück. Geh du an den Nordturm und befehlige die Truppen. Sobald du den Magus siehst, schick mir eine Nachricht.« Sie umarmte ihn kurz und lief los.

Boendalin stürmte in die andere Richtung davon.

Bandaäl schnürte seine Stiefel und warf sich das Kettenhemd über, griff seine Axt und eilte auf den Korridor hinaus. Auch wenn ihn niemand zur Verteidigung gerufen hatte, der Famulus wollte dabei sein. Vielleicht wurde bald jeder Arm gebraucht. »Warte!« Die Tür zu Sandas Gemächern stand offen, und seine Schwester kam heraus. Auch sie trug Rüstung und ein Beil. Zwar waren sie magisch begabt, was sie aber nicht davon abhielt, durchaus die Klingen sprechen zu lassen. Noch waren sie nicht so gut wie ihre Mutter, um allein der Magie zu vertrauen.

»Haben sie dich auch nicht geweckt?« Bandaäl richtete ihren Helm. Sie bedankte sich, indem sie die Schnürung seines Kettenhemdes korrigierte. »Nein. Mutter wollte uns schlafen lassen.«

Er sah sie an. »Oder ob es wegen des misslungenen Ausfalls ist?«

»Er ist nicht misslungen«, antwortete sie trotzig. »Wir haben zahlreiche Bestien und deren Gerätschaften vernichtet.«

Er seufzte. »Du weißt, wie ich es meine.« Er lief los, und sie rannte neben ihm her. »Du denkst, dass sie unseren kriegerischen Geschwistern und Bruder Boendalin den Vorrang gibt. Das mag sein.« Sanda nahm das Beil in die Hand, im Gürtel störte es sie beim Laufen. »Deswegen finde ich es wichtig, dass wir uns zeigen.«

Sie eilten den Korridor entlang, in dem die Türen zu den Räumen ihrer Familie lagen. Hier ruhten sich die Zwerge aus, hier lebten sie gemeinsam. Letztlich war Übeldamm nichts anderes als ein künstlicher, symmetrisch angelegter Berg mit einem System voller Stollen und Kammern.

Sie liefen durch den großen Wohnbereich, in dem die Zweiklingens sich oft trafen und zusammensaßen, um den Umlauf zubesprechen; weiter ging es an der Küche vorbei, und schließlich standen sie vor dem Aufzug, dessen Schacht vom Boden bis zur höchsten Zinne reichte. Eine Erleichterung sondergleichen.

Bandaäl betätigte den Hebel, um die Gewichte in Gang zu setzen und den Aufzug zu ihnen zu rufen. »Was die Scheusale wohl ausgeheckt haben?«

»Es muss so gefährlich sein, dass sie Alarm für die gesamte Festung gegeben haben«, meinte Sanda nachdenklich.

»Außer für uns.« Bandaäl beschloss, nach dem Angriff - oder was sonst vor den Mauern geschah - einige Worte mit ihrer Mutter zu wechseln. Selbst wenn sie keine ihrer Famuli in der Nähe haben wollte, mussten er und seine Schwester bei weiteren Angriffen Bescheid bekommen. Wie sah es aus, wenn die Kinder des Generals in den Federn lagen und gleichzeitig das Blut der Verteidiger vergossen wurde?

Die Kabine tauchte vor ihnen auf, sie schoben das Sperrgitter zur Seite und stiegen ein. Zur ihrer beider Überraschung ging die Fahrt jedoch nach unten und nicht nach oben, wie der Famulus es mit der Hebeleinstellung von der Maschine gefordert hatte. »Ist das Ding kaputt?« Bandaäl bewegte den Hebel mehrmals hintereinander, und tatsächlich wurde die Fahrt langsamer und langsamer.

»Vielleicht noch andere, die mit uns möchten?« Sanda zählte die Markierungen an der vorbeigleitenden Schachtwand; sie hatten das Erdgeschoss erreicht. Ruckend kamen der Fahrstuhl zum Halt - aber in dem Gang stand niemand.

»Wo sind wir?«

»Am Ausgang.« Sanda spähte nach vorne. »Heda? Möchte jemand mit uns nach oben fahren?«

Durch die Kabine lief unvermittelt ein heftiger Ruck. Eine der dicken Transportketten war gerissen und gegen das Dach geprallt; laut klirrend wickelte sie sich darauf ab. Das käfigartige Gebilde ächzte und verbog sich unter dem zunehmenden Gewicht, die Kabine senkte sich allmählich ab.

»Raus!«, befahl Bandaäl und gab seiner Schwester einen Stoß. Bevor er ihr folgen konnte, riss die zweite Kette, und der Aufzug schoss in die Dunkelheit. Sanda taumelte zwei Schritte vorwärts in den Gang, hörte den infernalischen Krach hinter sich und wandte sich um. Sie sah diezweite Kette vorbeifliegen und vernahm das Scheppern des Aufschlags; immer noch spulte die Trommel über ihr die Kette ab und begrub den Aufzug samt ihrem Bruder, der bis ganz nach unten in die Fundamente der Festung gestürzt war.

»Bandaäl!«, schrie sie entsetzt und trat zum Schacht, an dem die Kettenenden eben vorbeischnellten. Ein letztes Klirren, und es wurde ruhig. Weit unten erkannte sie das stahlgraue Schimmern der zerborsteten Kabine und der Ringe. »Bandaäl!« Die Zwergin wandte sich um und wollte zur Treppe eilen - als jemand ihren Namen rief. Es drang aus dem Schacht.

Schnell drehte sie um, beugte sich in den Schacht hinab und legte die Hände als Trichter um den Mund. »Bandaäl! Halte durch!«

Beigefarbener Lichtschein, der von oben auf sie fiel, ließ sie verwundert den Kopf heben. Erstarrt vor Furcht konnte sie Augen nicht mehr abwenden.

Fünf Schritte über ihr schwebte der Anführer der Ungeheuer. Unzählige tanzende Lichtfinger schössen aus seiner Vraccasium-Rüstung und trafen die Wand, während er sich langsam weiter nach unten senkte. Die Hämmer steckten in seinem Gürtel; der rechte Panzerhandschuh leuchtete und hielt ein aufgerissenes glühendes Kettenglied in der Hand. Der Absturz war kein Unfall gewesen.

Die Strahlen hielten ihn weiterhin in der Luft und ließen ihn bis auf die Höhe von Sanda sinken, dann bewegte er sich auf sie zu. Mit einem leisen metallischen Klicken trafen die Stiefelsohlen auf den Stein, und er ging neben der Zwergin in die Hocke. Die andere Hand hob sich, packte Sandas Kinn und zwang es herum, sodass sie in die entstellte Fratze ihres Gegners blicken musste. Sie bemerkte, dass auf der Innenseite des Handschuhs ein türkisfarbener, rauchtrüber Diamant eingelassen war. Das Entsetzen stand in ihrem rundlichen Antlitz, aber der befreiende Schrei wollte ihrer Kehle nicht entweichen.

Das Gesicht des Zwerges bewegte sich, die Falten um die Augen schienen ein Lächeln zu weisen, auch wenn die Verstümmelung es ihm unmöglich machte, Regungen zu zeigen oder zu sprechen. Achtlos warf er das Kettenstück in den Schacht, der gepanzerte Handrücken strich durch ihre braunen Haare, den Hals entlang, über ihre Brust bis zur Taille. Dann stand er auf, ohne ihr Kinn loszulassen, und zog sie auf die Beine. Sanda vermochte nicht, sich zu wehren. Der Anblick, der Geruch nach altem Schweiß und schwärenden Wunden und das leichte Pulsieren, das sie seit seiner Berührung durchfuhr, lähmten sie. Seine magische Kraft, das registrierte sie unterbewusst, überbot alles, was sie jemals fühlen durfte. Nicht einmal das Artefakt konnte ihn übertrumpfen. Der Zwerg gab einen stöhnenden Laut von sich, dann schaute er in den Schacht und reckte die freie Hand. Aus dem Rauchdiamanten löste sich ein rostbrauner Strahl und brachte den Überresten des Aufzugs die totale Vernichtung. Das Metall schmolz in der magischen Attacke, verbog sich und fiel in glühenden Tropfen auf den Boden. »Nein!«, schrie Sanda in höchster Sorge um ihren Bruder.

Der Zwerg ließ ihr Kinn los und versetzte ihr einen derben Hieb gegen die rechte Wange, der sie gegen die Wand fallen und daran zu Boden rutschen ließ. Gleichzeitig hob er den anderen Arm, ohne den Strahl zu unterbrechen, und sprengte gewaltige Teile aus dem Schacht heraus, bis ein warnendes Zittern ringsum durch das Gemäuer lief.

Er packte Sanda im Nacken und stellte sie auf die Beine, schob sie vor sich her, und sobald sie sich auch nur ansatzweise sträubte, erteilte er ihr einen magischen Schlag, der jedes einzelne Organ in ihrem Körper mit Schmerzen flutete.

Die Famula schluchzte, Blut lief ihr aus der Platzwunde über das Kinn und troff auf den Boden. Sie wusste nicht, was der Zwerg mit ihr vorhatte, warum er sich nicht tötete - oder wollte er sie etwa...?

Als er sie in einen Seitengang drückte und sich an ihrem Gewand zu schaffen machte, wurden ihre schlimmsten Befürchtungen wahr.

Goda hatte den Südturm erreicht, da zitterte die Mauer unter ihren Füßen - schwach zwar und für einen Menschen nicht wahrnehmbar, aber ihre Zwergennatur besaß ein Gespür dafür.

»Ahnte ich es doch!« Sie rannte zum Aufzug und stand vor einem leeren Schacht. So sehr sie an den Hebeln riss, es geschah nichts. Als sie zu den Steinwalzen sah, auf denen sich die Ketten üblicherweise aufwickelten, sah sie lediglich blanken Stein. Ein Zwerg kam die Treppen hinaufgestürmt. »Herrin, der Fahrstuhl ist abgestürzt!«, sagte er atemlos. »Beide Ketten sind abgerissen.« »Das ist unmöglich! Sie halten mehr aus, als es Platz für so viele Lasten in der Kabine hat.« Sie nahm einen Edelstein in die Hand. »Rufe die Wachen. Sie sollen Stockwerk für Stockwerk durchsuchen. Ich fange bei den Fundamenten an.«

Der Soldat stutzte. »Nach wem?«

»Nach Eindringlingen.«

»Das Tor ist verschlossen, und niemand...«

»Tu es!«, herrschte sie ihn an und flog die Treppen hinab. Es würde sie viel Zeit kosten, bis unter die Mauerlinie zu gelangen.

Die Festung einfach auf Sand oder Erde zu setzen, wäre sträflich gewesen, weil sie sich durch das Gewicht hätte senken und verschieben können, wodurch das gesamte Bauwerk in Gefahr geraten wäre. Aus diesem Grund besaß Übeldamm ein Fundament aus Steinquadern, die mit viel Technik und Muskelkraft an Ort und Stelle gerückt worden waren. Zur Schwarzen Schlucht hin waren die Fundamente zusätzlich verstärkt und mit Fallen gegen eine Unterwanderung abgesichert worden: Fläschchen mit Gift, mit Säure, mit Gas, Scheinmauern, die einstürzten, und vieles mehr warteten auf Grabwütige und würden ihnen den Tod bringen. Niemand unterhöhlte eine Zwergenfestung.

Goda kam trotz eines Sturzes über sieben Stufen hinab unverletzt im Erdgeschoss an und hätte beinahe die feinen Blutflecke am Boden übersehen. Sie blieb stehen und lauschte vorsichtig in den Gang hinein.

Ein leises Wimmern erklang. Es war die Stimme ihrer Tochter!

Die Maga schlich den Korridor entlang, die Geräusch wurden lauter und schienen aus einem abknickenden Gang zu kommen.

Vorsichtig spitzte sie um die Ecke und sah den gegnerischen Magus, der versuchte, Sanda zu entblößen.

Goda schluckte und drückte den Splitter so fest in ihrer Hand, dass er die Haut durchstach. Sie durfte ihre eigene Angst nicht die Oberhand gewinnen lassen. Es stand zu viel auf dem Spiel. Vraccas, dein Schicksal und das meiner Tochter liegt in deinen Händen! Sie sprang um die Ecke und schleuderte einen Zauber gegen den gegnerischen Zwerg. Er bemerkte sie zu spät, um einen Gegenspruch wirken zu können. Stattdessen schleuderte er Sanda auf den Gang, nahm die Arme nach hinten und bot dem heranschießenden lavaroten Strahl die gerüstete Brust zum Einschlag. Die Energie traf, und die Rüstung des Zwerges glühte gleicheiner feurigen Kohle im Luftzug. Das Vraccasium wechselte die Farbe zu flammendem Gelb und sog die Magie in sich auf, während die Runen schwarz wie die Nacht wurden. »Töte ihn, Sanda!«, brüllte Goda und hatte nichts als Staub zwischen den Fingern. Geschwind nahm sie den nächsten Splitter heraus, um entweder nachzusetzen oder einem Angriff begegnen zu können. Doch was sie eben hatte beobachten müssen, ließ ihre Hoffnung schwinden, den Zwerg auf magische Weise bezwingen zu können. Das Leuchten erlosch, und Goda sah, wie Sanda hinter dem Gegner stand, ihr Beil zum Schlag erhoben. Ihr Hieb fuhr dem Zwerg zwischen Halsbeuge und Helmansatz in die winzige Lücke, und dann prallte die Klinge gegen eine rettende Lage Kettenhemd; der Zwerg ging leicht in die Knie, röchelte dabei furchtbar.

»Rette Bandaäl«, schrie Sanda und holte ein weiteres Mal aus, »er liegt im Schacht...« Der Zwerg schlug nach hinten. Er traf Sanda mit dem Panzerhandschuh gegen die rechte Schläfe, und sie brach zusammen.

Goda zögerte keinen Lidschlag. Jetzt, da ihre Tochter sich nicht mehr in unmittelbarer Gefahr befand, beschwor sie einen ihrer stärksten Sprüche. Damit hatte sie den Berg oberhalb der Schlucht gesprengt, und das sollte hoffentlich gegen den Zwerg genügen. Es musste!

Sie konzentrierte sich und sandte den Blitz gegen ihren Feind.

Der Zwerg blieb zusammengekauert und reckte ihr den ausgestreckten Arm entgegen, als verlange er Gnade. Aber die Energien strömten in den Rauchdiamanten, der im Panzerhandschuh saß, und machten aus ihm einen funkelnden, blaugrünen Stern. Das Eisen erhitzte sich durch die Magie, es stank nach brennendem Fleisch, und der Zwerg kreischte, wie Goda noch niemals ein Lebewesen hatte kreischen hören. Dennoch senkte er den Arm nicht, um den Spruch absorbieren zu können.

Wieder zerfiel ein Splitter zwischen ihren Fingern zu schwarzgrauem Schmutz, und der Strahl riss ab. »Ich lasse dich nicht mehr lebendig aus Übeldamm«, drohte sie ihm und langte in die Tasche. Ihre Finger tasteten umher und fanden nichts - abgesehen von einem Riss. »Nein!« Der Sturz!

Der Magus stöhnte und ächzte, Qualm drang aus den Gelenkstellen seines Handschuhs, aber er hatte den Schlag überstanden. Unvorstellbar, welchen Fertigkeiten er befahl! Goda besaß nichts weiter als das eigene magische Reservoir, aus dem sie gegen ihn schöpfen musste. »Ich besiege dich!«, knurrte sie und hob die Arme. »Wir brauchen weder einen falschen Tungdil noch einen Lot-Ionan, um dich...«

Der Zwerg legte die rauchende Hand auf Sandas Brust, seine Augen richteten sich hasserfüllt auf die Maga. Mit der Linken berührte er eine Rune auf der Rüstung, und eine durchsichtige, dunkelgelbe Sphäre umschloss die beiden. Mit dem nächsten Blinzeln waren sie samt der Kugel aus Magie verschwunden!

»Vraccas, nein!«, flüsterte Goda entsetzt und rannte an die Stelle, wo sich der Magus eben noch befunden hatte. Das Blut ihrer Tochter, das Beil, ein Fetzen ihres Untergewands und verkohlte Stückchen, mehr gab es nicht mehr. »Wie hat er das gemacht?« Sie rannte den Gang weiter hinein, wieder zurück, in den Hauptgang, zum Schacht - nichts.

Fußschritte erklangen, und eine Abteilung Zwergenkrieger eilte die Treppen herab. »Herrin, was ist geschehen?«

»Sucht meine Tochter«, befahl sie zuerst stammelnd, dann erinnerte sie sich an die Worte. »Nein! Lauft hinunter zu den Fundamenten und seht im Schacht nach meinem Sohn Bandaäl! Los, los!«, schrie sie außer sich und stürzte die Treppe hinauf. Sie suchte dort, wo sie gefallen war, und entdeckte wenigstens einen der Splitter; den anderen fand sie auf die Schnelle nicht. Notfalls würde sie eine ganze Einheit der Soldaten nachforschen lassen.

Mit dem Diamantfragment hetzte sie bis nach ganz unten, wo die Krieger sich durch die Trümmer der Kabine wühlten. Die Wände waren größtenteils mit den Ketten verschmolzen, eine ungeheuere Hitze hatte den Stahl miteinander verschweißt, und obenauf lagen zwergengroße Bruchstücke aus den Schachtwänden.

»Lasst mich durch!« Ihre Stimme überschlug sich. Rasend vor Sorge wühlte sie im Schutt, verbrannte sich die Finger am heißen Metall und ließ dennoch nicht nach, bis sie eine blutverschmierte Hand erspähte. »Bandaäl!« Sie zerrte an den schweren Trümmern, die ihn unter sich begruben. Das geschmolzene Metall hatte ihn durch eine Fügung verfehlt.

Noch mehr Zwerge und Ubariu sprangen ihr bei, brachten Brecheisen, Speere und Seile mit.

Gemeinsam gelang es ihnen, eine Nische in das Gemisch aus Eisen und Stein zu schlagen, durch das Goda eine Kerze hineinschob und spähte. »Er lebt noch!«, weinte sie vor Erleichterung. »Ich sehe, wie er atmet!« Ein lautes Krachen kam von oben, Staub rieselte herab und kleinere Steinchen folgten. Der angeschlagene Schacht drohte in einem Abschnitt einzustürzen.

»Wir müssen hier weg, Herrin!« Ein Ubari ergriff ihre Schulter.

Doch sie funkelte ihn an. »Rühr mich nicht an! Wir müssen erst meinen Sohn befreien.« »Vorsicht, da unten!«, erschallte es über ihnen. »Die Stützen halten nicht länger!« Goda sah auf den Diamantsplitter. Ich habe keine Wahl. Er istfast ein Magus. Und mein Sohn. Sie schloss die Augen und sprach einen Zauber.

Wie von Geisterhand bewegt, hoben sich die Trümmerstücke eines nach dem anderem, kleine und große, schwere und leichte, bis Bandaäls Körper freigelegt war. Drei Zwerge zogen den schwer verletzten Famulus aus dem Schacht und brachten ihn eilends auf einer Bahre in Sicherheit. Auch Goda wich zurück, bevor sie den Zauber fallen ließ. Über ihnen grollte es, sodann brausten weitere Steinbrocken nieder, die sich auch nicht von den schwebenden Trümmern aufhalten ließen. Sie drückten sie nach unten oder zerschmetterten sie, rollten bis in den Gang vor die Füße der Zwerginnen und Zwerge. Eine gräulich Staubwolke folgte der eingestürzten Schachtwand und schoss den Gang entlang, in dem sie standen. Die Soldaten und die Maga wurden von Kopf bis Fuß mit einem schmutzig weißen Schleier überzogen.

Goda öffnete ihre Hand und ließ das Pulver, das einst ein Stückchen Diamant gewesen war, sich mit gewöhnlichem Staub vermengen. Beides besaß nun den gleichen Wert für sie. Dann lief sie hinter den Zwergen mit der Bahre her und wusste nicht, um wen sie sich zuerst sorgen sollte: Bandaäl oder Sanda?



Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Rän Ribastur, Nordwesten, 6492. Sonnenzyklus, Frühling.


Coira schlug die Augen nieder. »Wenn Lot-Ionan nicht furchtbar durch Aiphatön und die Albae geschwächt worden ist, nicht«, flüsterte sie. »Ich habe zu den Göttern gebetet, dass sie uns unterwegs eine wilde, unentdeckte Quelle senden mögen! Vielleicht haben sie ein Einsehen und lassen ein anderes Wunder geschehen.« Rodario deutete heimlich auf Franek, der von Zwergen umringt war und sich mit Tungdil und Ingrimmsch unterhielt. Er sah eingeschüchtert aus und verteidigte sich mit halb erhobenen Händen gegen Anfeindungen. »Er könnte dieses Wunder sein.« Sie setzten sich, und er berichtete ihr, was der verstoßene Famulus ihm erzählt hatte. »Eben diesem Droman bin ich begegnet«, sagte sie und lehnte sich gegen Rodario, froh darüber, dass sich das Missverständnis zwischen ihnen aufgeklärt hatte. »Er jagte mir einen Betäubungszauber in den Rücken und zerrte mich auf die Lichtung, als er merkte, dass ich nicht allein war. Aber sie haben ihn besiegt.«

»Es ist schlecht für ihn ausgegangen, wie ich gehört habe.« Er legte tröstend einen Arm um ihre Schulter.

Coira nickte. »Das ist es.« Zwar genoss sie seine Nähe, aber ihre Augen suchten Mallenia, die sich eben neben die Zwerge begab. Sie hatte ein wenig ein schlechtes Gewissen, weil Rodario sich um sie bemühte. Weil sie um die Gefühle ihrer Freundin wusste. Er sollte die Wahrheit erfahren und von der Verlegenheit der Frauen wissen. »Rodario, ich möchte Euch etwas sagen«, setzte sie an, doch da drehte sich Tungdil um und winkte sie herüber.

»Vergesst es nicht«, sagte Rodario, »doch jetzt werden wir von unserem Anführer erwartet.« Er half ihr beim Aufstehen, und gemeinsam gingen sie am Lagerfeuer vorbei zu den Zwergen.

Tungdil machte ihnen Platz. »Franek tut es sehr leid, dass er vergessen hat, uns von dem Famulus zu berichten, der ihn verfolgt hatte«, eröffnete er.

»Es tut ihm so leid, dass er uns führen möchte«, fügte Ingrimmsch heiter an. »Nicht, dass wir dem angehenden Hexenmeisterlein hier blind vertrauen, doch wenn er uns in eine Falle lockt, stirbt er vor uns.« Er schlug Franek ins Kreuz. »Ho, das ist dir doch recht, was?« »Ja«, gab der Famulus hustend von sich. »Ich werde alles tun, um Lot-Ionan für seinen Verrat und seine Undankbarkeit mir gegenüber büßen zu lassen.« Er sah in die Runde. »Da ich weiß, dass Ihr keinem meiner Schwüre trauen würdet, versuche ich es erst gar nicht. Es sei Euch gesagt: Der Hass auf ihn verbindet uns. Das ist fester als alles andere.«

»Hass?« Rodario machte ein verwundertes Gesicht. »War unser Vorhaben...« »Auf meinen Ziehvater, dass er sich zu einem solch schlechten Menschen entwickelt hat und meiner Heimat so etwas antun konnte«, sagte Tungdil. »Ich habe ihm den Tod geschworen, erinnere dich, Schauspieler. Gegen euren Willen.«

Rodario schlug sich auf der Stelle an den Hinterkopf, weil er die Komödie bemerkte, die sie für den Famulus aufführten. »Es entfällt mir ständig, dass Ihr ihn unbedingt töten wollt«, rief er. »Wo Ihr doch allen Grund dazu habt.«

Franek ließ sich täuschen, oder zumindest zeigte er seine Zweifel nicht deutlich. »Und es bleibt dabei, dass ich Zugang zur Quelle erhalte?«

»Erst nach Coira, Zaubererlein«, betonte Ingrimmsch drohend. »Du wirst schön warten, bis du an der Reihe bist.«

»Das macht mir nichts. Sie besitzt genügend Energie für Tausende von uns.« Franek kratzte sich über das stoppelige Kinn. »Es wird ein gutes Gefühl sein. Nach so langer Zeit.«

»Leg dich schlafen. Wir brechen in aller Frühe auf.« Tungdil stellte einen Zhadär zur Wache ab, dann entfernte er sich mit Ingrimmsch, Rodario, Barskalin, Mallenia und Coira ein ganzes Stück vom Famulus und setzte sich auf einen Stein. »Ihn hat die Vorsehung gesandt.«

Mallenia faltete die Hände zusammen und suchte sich ebenso einen Platz zum Hinsetzen; einer nach dem anderen ließ sich nieder. »Ihr denkt nicht, dass es eine raffinierte Falle des Magus ist?«

»Nein. Er hat keine Ahnung, dass wir kommen«, widersprach Tungdil. »Wenn dem so wäre, hätte er uns all seine Famuli auf den Hals gehetzt anstelle des einen.« »Droman. So war doch sein Name?« Coira legte eine Hand auf den Rücken, wo sie der Zauber des Mannes getroffen hatte. Sie bildete sich ein, Wärme zu fühlen. »Er war nicht schlecht.«

»Aber auch nicht gut genug«, meinte Ingrimmsch grinsend. »Der Gelehrte hat ihn auseinandergenommen.« Ihm fiel wiederein, dass er das Ende des Famulus gar nicht gesehen hatte. Wegen der geblendeten Augen.

»Ich habe mich mit ihm unterhalten, und seine Geschichte klang glaubwürdig. Franek gehörte zu denen, welche die Statue aus den Kellern des ehemaligen Palastes in Porista geborgen haben. Allerdings haben wir niemals eine Bekanntschaft gemacht«, erklärte Tungdil weiter. »Wir hatten es damals mit drei anderen zu tun: Risava, Dergard und Lomostin.«

Ingrimmsch staunte, wie gut sich Tungdil erinnerte. Ausgerechnet an solche Nichtigkeiten! Auch wenn er selbst noch alles von der Jagd auf die Statue wusste und wie das Fröschi aufgetaucht war, um sie zu stehlen, er hätte sich für alles Gold des Geborgenen Landes nicht mehr der Namen der Famuli entsinnen können. Tungdil betrachtete seine Fingerspitzen. »Ich habe ihn gefragt, ob er mir eine Erklärung liefern kann, weswegen sich Lot-Ionan verändert hat. Als er mir beschrieb, wie der Magus sich kleidet, wie er sich benimmt und wie er spricht, musste ich an Nödonn denken.«

»Nicht schon wieder! Wir haben dieses Übel besiegt. Der Dämon kann unmöglich zurückgekommen sein.« Ingrimmsch tat so, als schwinge er eine Axt. »Du hast die Feuerklinge genommen und den Nebel gespalten... ich meine, das Wesen, das aussah wie eine Wolke.«

»Weißt du noch, dass wir uns alle gefragt haben, wer denn ein Loch in Lot-Ionans Statue gebohrt haben könnte?«

»Jemand, der versucht hat, ihn... zu töten? Seine Magie abzuzapfen?« Ingrimmsch hob die Schultern, doch dann wurden seine Augen groß. »Nein, man hat etwas in ihn hineingesteckt! Bei Vraccas! Sie haben ihm den Keim des Bösen eingepflanzt, als er sich nicht zu wehren vermochte, und als wir ihn erweckt haben, ging die Saat in ihm auf!« Tungdil nickte. »Franek sagt, dass Risava ihn beinahe umgebracht hätte, als er sich gegen ihren Plan stellte. Sie wollte, dass Lot-Ionan nach seiner Befreiung böse wird.« Boindil machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich versuche gerade, mir vorzustellen, was man in einen Menschen schieben muss, damit er böse wird. Es klingt so... einfach? Aber das dürfte es mich Sicherheit nicht sein.«

Coira nickte. »Ich kann es mir auch nicht vorstellen.« »Zerbrecht euch nicht den Kopf. Ihr kämt nicht darauf.« Tungdil hob ein Steinchen vom Boden auf. »Risava hatte in Porista einen Splitter des Malachitkristalls gefunden, der einst Nödonn gehörte. Sie nahm ihn an sich und verwahrte ihn. Als Franek ihr den versteinerten Lot-Ionan brachte, wusste sie, was sie damit versuchen wollte. Sie bohrte ein Loch und setzte den letzten Überrest des Übels in ihn ein. Lot-Ionan bekam niemals eine Gelegenheit, sich dagegen zur Wehr zu setzen.«

Ingrimmsch scharrte mit dem Fuß über die aschebedeckte Erde. »Das würde ja bedeuten, dass Lot-Ionan unschuldig ist. An dem, was er tut. Weil er... besessen ist.« Wie ärgerlich. Dann können wir ihn nicht so einfach über die Klinge springen lassen. »Das hätte man von Nudin auch annehmen können, als er von dem Dämon zu Nödonn gemacht wurde«, warf Mallenia ein. »Es entbindet uns nicht davon, gegen ihn vorzugehen.«

»Das müssen wir auch. Unbedingt. Wir brauchen ihn gegen Vraccas«, bekräftigte Tungdil.

»Gegen deinen Meister, Gelehrter, nicht Vraccas. Vraccas ist mein Schöpfer, aber der Zwerg, den wir töten wollen, hat nichts Göttliches.« Ingrimmsch blickte seinen Freund an. »Ich habe mir etwas überlegt: Können wir Lot-Ionan nicht zuerst diesen Splitter rausreißen? Damit er wieder gut ist?«

»Wir brauchen einen bösen Magus, um meinen einstigen Meister zu bezwingen«, widersprach er. »Mir wäre es auch lieber, wir könnten ihn vorher von dem Fluch befreien.«

Coira wischte sich die Nase mit einem Taschentuch. »Ich hoffe, dass es uns überhaupt gelingt. Ihn vom Splitter zu befreien.«

»Ich weiß, wo er sitzt. Es wird für Lot-Ionan schmerzhaft, aber er wird es überleben. Mit Goda und Euch, Königin, haben wir zwei Magae, die mit Heilzaubern zur Stelle sind, wenn es nach dem Eingriff zu schlecht um ihn steht.« Tungdil sah sie der Reihe nach an. »Kein Wort über unsere wahren Absichten zu Franek. Er soll denken, dass wir Lot-Ionan töten wollen, um das Geborgene Land zu befreien. Wenn wir ihm diese Aussicht rauben, könnte er sich entschließen, uns nicht weiter zu unterstützen.« Ingrimmsch runzelte die Stirn. »Das ist schön und gut, doch wir werden ihn nicht in die Quelle steigen lassen, Gelehrter! Wer weiß, welche Niederträchtigkeiten sich in ihm verbergen? Es kann den Malachitsplitter ebenso in den Magus geschoben haben. Auf das Wort eines Verräters verlasse ich mich nicht.« »Ich bin dagegen«, sagte auch Rodario und bekam die Zustimmung von Mallenia. »Wir sollten ihn niederschlagen und fesseln, sobald wir am Ziel angelangt sind. Danach sollen die Zweiten über ihn richten: Er hat sich am Untergang ihrer Heimat beteiligt und schuldig gemacht.« Er sah zu Ingrimmsch. »Ich nehme nicht an, dass Ihr das ungesühnt lassen möchtet.«

»Ho, sicherlich nicht!« Der Zwerg pochte auf den Krähenschnabel. »Auge um Auge.« Tungdil musterte seinen Freund. »Du wirst ihn beobachten, Ingrimmsch. Franek hat ebenso wenig Vertrauen in uns wie wir in ihn. Er möchte unsere Zweckgemeinschaft sicherlich eher aufkündigen als uns lieb ist. Sollte er versuchen zu fliehen, weißt du, was du zu tun hast.« Er sah zu Coira. »Für Euch gilt nach wie vor: kein Einsatz Eurer Magie. Ihr habt gesehen, dass wir es auch ohne Euch schaffen, uns die Feinde vom Leib zu halten.«

Sie nickte. Er hatte offenbar nicht vor, ihr Geheimnis auszuplaudern, und damit Rodario es nicht tat, nahm sie seine Hand und drückte sie fest. Er blickte verwundert, sagte aber nichts.

Tungdil deutete auf das Haus hinter ihnen, während er einen Zhadär zu sich winkte und sich den Rucksack des getöteten Famulus bringen ließ. »Ruht euch aus. Wir gehen morgen früh weiter. Leider zwingt uns der Zusammenstoß mit Droman dazu, schneller zu reisen. Lot-Ionan wird sich wundern, wo sein Famulus abgeblieben ist, und etwas auf den Weg schicken, um ihn zu suchen. Dass er etwas schicken kann, was uns alle in Bedrängnis bringt, wissen wir seit dem Untergang von Seenstolz.« Er rollte Karten auf seinen Knien auf und bedeutete Barskalin, zu ihm zu kommen. »Wir suchen die schnellste Route.«

Mallenia erhob sich. »Und wenn wir vor den Albae ankommen?«

Tungdil überflog bereits die Zeichnungen. »Gehen wir dennoch in Lot-Ionans Reich. Uns läuft die Zeit davon.«

»So plötzlich?«, fand Rodario.

»So plötzlich.« Mehr sagte der Einäugige nicht mehr und vertiefte sich in die Karten. Ratlos zog sich die Gruppe in das Torhaus zurück.

Coira kam zu Mallenia, die sich im Speicher eine Ecke ausgesucht hatte und ihre Decke als Unterlage ausbreitete. »Ich wollte Euch noch danken, dass Ihr mit ausgezogen seid, um mich zu suchen.« »Ihr hättet das Gleiche für mich getan.« Die Ido legte sich hin und suchte eine bequeme Position, dann breitete sie ihren langen Mantel über sich aus. Sie betrachtete die Maga lange. »Ihr denkt doch etwa nicht, ich würde Euch wegen unserer Rivalität um Rodario im Stich lassen?«

Coira versuchte ein Lächeln.

»Seht«, Mallenia stützte sich auf die Ellbogen, »Ihr habt einen Vorsprung, was das Erobern angeht. Ich sah, dass Ihr vorhin seine Hand genommen habt und er sich nicht dagegen sträubte.« Ihre Augen fixierten die Maga. »Als ich an dem Teich sagte, dass wir ihn uns teilen können, meinte ich es ernst. Es hängt von Euch ab.« »Und von Rodario«, warf Coira ein.

»Er ist ein Mann. Es würde ihm gefallen, zwei Frauen zu haben«, hielt Mallenia grinsend dagegen und ließ sich auf ihr hartes Lager sinken. »Um ihn mache ich mir da weniger Sorgen.« Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Es gibt einige Landstriche in Tabain, wo es durchaus üblich ist, dass ein Mann so viele Frauen haben kann, wie er möchte, solange er sie ernähren und versorgen kann. An dem Gedanken an sich ist nichts Unredliches. Oder seht Ihr es anders? Wir werden dazu nicht gezwungen.«

Coira wusste nicht, was sie sagen sollte. Natürlich kannte man in Weyurn die Gebräuche des Nachbarn Tabain, doch sie hatte diese Art des Zusammenlebens stets für schwierig gehalten. Außerdem war sie sich über ihre eigenen Gefühle zu Rodario nicht im Klaren. Schwärmerei oder große Liebe? Wäre sie bereit, ihre große Liebe mit einer anderen zu teilen - und warum eigentlich?

»Ich hatte nicht den Eindruck, dass Rodario Euch anziehend findet. Nicht so, dass er bei Euch bleiben würde«, sagte sie daher und klang zu ihrer Verwunderung schnippisch. Eifersucht.

Mallenia, die bisher freundlich gewirkt hatte, verzog den Mund. »Ich verstehe. Ihr möchtet es auf einen Versuch ankommen lassen, zu wem er sich mehr hingezogen fühlt.«

Coira seufzte. »Was tun wir, wenn er keine von uns beiden will?«

»Kein Mann würde eine Prinzessin und eine Königin als seine Geliebten ablehnen. Außerdem teilen wir ihn uns. Wir haben unsere Absprache zuerst getroffen. Ihn lassen wir ihm Glauben, dass er es geschafft hätte, uns beide um den Finger zu wickeln.« Mallenia schaute zu Rodario, der sich mit Slin unterhielt. »Also, seid Ihr mir böse, wenn ich ihn nochmals küsse und sehe, was er danach tut? Es könnte auch gut für Euch laufen.« »Wenn er Euch sagt, dass er nur mich liebt, werdet Ihr ihn dann nicht länger bedrängen?«, hielt Coira dagegen.

»Wenn er das aus freien Stücken zu mir sagt und es schwört, lasse ich ihn Euch ganz allein.« Die Ido nickte und hielt ihr die rechte Hand entgegen. »Abgemacht?« Die Maga zögerte. »Es wird kein schlechtes Gefühl zwischen uns bleiben, wenn eine von uns als Verliererin vom Feld geht?«

»Nein.«

»Und wir werden uns deswegen auch nicht entzweien?«

»Nein, Königin von Weyurn«, sagte Mallenia lächelnd. »Wir bringen unsere Mission erfolgreich zu Ende, und danach werden unsere beiden Reiche noch enger im Austausch stehen als jemals zuvor. Das schwöre ich bei meinem Ahnen, Prinz Mallen von Ido.« Sie hielt ihr die Hand nochmals hin.

»Und Rodario wird niemals etwas von unserer Absprache erfahren?«

Die Ido lachte. »Nein, bei den Göttern! Sonst fühlt er sich in seiner Männlichkeit verletzt.«

Endlich schlug Coira ein. »Dann soll es so sein.« Die beiden Frauen umarmten sich und wünschten sich eine gute Nacht.

Rodario warf einen Blick zu ihnen hinüber. »Was geht denn da vor?«, wunderte er sich. Slin spannte seine Armbrust und lehnte sie gegen die Wand, neben der Luke, damit er sie jederzeit greifen und nur einen Bolzen in den Lauf zu legen brauchte, um zu schießen. »Weiber. Sie hecken immer irgendwas aus. Und wir Männer bekommen es ab.« Er grinste und hielt dem Mann seinen Trinkbeutel mit Branntwein hin. »Ihr seid ein weiser Zwerg, Slin«, meinte Rodario, nahm den Beutel und trank.

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