»Lieber Freund«, sagte Athos mit ernster Stimme. »Vergeßt nicht, daß die Toten die einzigen sind, denen man hinieden mit Sicherheit nicht noch einmal begegnet.«
A. Dumas, Die drei Musketiere
Lucas Corso bestellte einen zweiten Gin und lehnte sich genüßlich in seinen Korbsessel zurück. Er saß an einem Tisch des Straßencafes Atlas in der Rue de Buci und genoß die Sonne, die um ihn herum ein helles Rechteck aus der Gasse schnitt. Der Morgen war klar und kalt, und das linke Seineufer wimmelte von desorientierten Samurais, Amerikanern mit Turnschuhen und Metrofahrscheinen zwischen den Seiten eines Hemingway-Buches, eleganten Frauen mit Körben voller Baguettes und Salatköpfen, grazilen Galeristinnen mit gelifte-ten Nasen, die ihrem Pausencafe zustrebten. Eine attraktive junge Dame betrachtete die Schaufensterauslagen einer Luxusmetzgerei am Arm ihres Begleiters, eines stattlichen Herrn in fortgeschrittenem Alter, der aussah wie ein Antiquitätenhändler oder Ganove - möglicherweise war er beides. In Corsos näherer Umgebung gab es eine Harley Davidson mit glänzenden Verchromungen, einen knurrigen Foxterrier, der an der Tür einer teuren Weinhandlung angebunden war, und einen jungen Burschen mit Husarenzöpfchen, der vor dem Eingang einer Boutique Blockflöte spielte. Am Nachbartisch knutschte ein vornehm gekleidetes Afrikanerpaar, als hätte es die Ewigkeit vor sich. Aids, Ozonloch und Plutonium schmuggel nahmen sich an diesem sonnigen Pariser Morgen aus wie belanglose Nebensächlichkeiten. Corso erkannte sie sofort, als sie am Ende der Rue Mazarine um die Ecke bog und zielstrebig auf sein Café zusteuerte. Sie war unverwechselbar mit ihrem jungenhaften Aussehen, dem offenen Kapuzenmantel über der Jeans, ihren Augen, die wie Leuchtsignale aus dem braungebrannten Gesicht strahlten und auch auf große Entfernung zu erkennen waren, ja selbst inmitten der vielen Menschen, die durch die mittlerweile sonnenüberflutete Gasse schwirrten. Verteufelt hübsch, hätte Flavio La Ponte wahrscheinlich mit einem Räuspern bemerkt und ihr die gute Seite seines Profils zugedreht, die, wo sein lockiger Bart ein bißchen dichter sprießte. Aber Corso war nicht La Ponte. Er beschränkte sich darauf, dem Kellner, der in diesem Moment ein Glas Gin auf den Tisch stellte - pas d’Bols, m’sieu -, einen feindseligen Blick zuzuwerfen und ihm den Betrag des Kassenzettels genau abgezählt in die Hand zu drücken - service compris, mein Freund -, bevor er wieder dem Mädchen entgegensah. Nein, was diese Art von Stories betraf, so hatte Nikon ihm schon eine Ladung mit dem Bärentöter in den Bauch verpaßt, und das reichte ihm. Corso war sich auch gar nicht sicher, je ein Profil besessen zu haben, das auf einer Seite vorteilhafter war als auf der anderen. Und das kümmerte ihn auch einen Dreck.
Er nahm seine Brille ab, um sie mit dem Taschentuch zu putzen, worauf sich die Straße in einen Strom schemenhafter Silhouetten mit verschwommenen Gesichtern verwandelte. Eine Gestalt hob sich weiterhin von den anderen ab und wurde deutlicher, je näher sie kam, obwohl er bis zuletzt Mühe hatte, ihr kurzes Haar, ihre langen Beine und die weißen Tennisschuhe mit eigenen Konturen zu versehen, selbst als sie sich ihm gegenüber niederließ.
»Ich habe den Laden gefunden. Er ist ganz in der Nähe ... ein paar Straßenecken weiter.«
Corso klemmte sich seine Brille auf die Nase und betrachtete sie, ohne etwas zu erwidern. Gemeinsam waren sie nach Paris gekommen. Der alte Dumas hätte vermutlich den Ausdruck »spornstreichs« gewählt, um zu beschreiben, wie sie in Sintra aufgebrochen und zum Flughafen gehetzt waren. Von dort hatte Corso - zwanzig Minuten vor Abflug der Maschine -Amilcar Pinto angerufen, um ihm vom Ende der bibliographischen Wirrungen Victor Fargas’ zu berichten und das geplante Vorhaben abzublasen. Was das vereinbarte Honorar betraf, so sollte Pinto es trotzdem bekommen, quasi als Schmerzensgeld für die Unannehmlichkeiten. Der Portugiese reagierte trotz der Überraschung - das Telefon hatte ihn aus dem Bett geklingelt -ziemlich gefaßt, mit Wendungen wie: Ich begreife wirklich nicht, worauf du hinauswillst, Corso, aber wir beide haben uns nie in Sintra getroffen, weder gestern noch sonst wann. Auf alle Fälle versprach er, Nachforschungen über den Tod Victor Fargas’ anzustellen, natürlich erst, wenn er offiziell davon erfuhr. Im Moment wolle er tun, als wisse er von nichts. Was ging ihn diese Geschichte auch an? Betreffs der Autopsie des Bibliophilen könne Corso bloß beten, daß die Gerichtsmediziner Selbstmord als Todesursache angeben würden. Von dem Typen mit der Narbe werde er vorsichtshalber eine Personenbeschreibung an die zuständigen Abteilungen weiterleiten. Zum Schluß legte er Corso noch wärmstens ans Herz, sich längere Zeit nicht in Portugal blicken zu lassen und nur telefonisch mit ihm in Verbindung zu bleiben. »Ah, und noch was«, fügte Pinto hinzu, als die Lautsprecher bereits den Flug nach Paris aufriefen. Das nächste Mal solle Corso sich gefälligst an seine Großmutter wenden, bevor er einen Freund in einen Mordfall hineinziehe. Der Telefonapparat schluckte den letzten Escudo, und Corso beeilte sich, unter lebhaftem Protest seine Unschuld zu beteuern. Klar doch, entgegnete der Polizist. Das sagen alle.
Das Mädchen erwartete ihn in der Abflughalle. Zur großen Verwunderung Corsos, dessen graue Gehirnzellen an diesem Morgen einfach nicht auf Trab kommen wollten, hatte sie bereits alles in die Wege geleitet, um sie beide an Bord der Maschine nach Paris unterzubringen, was auch ohne weitere Zwischenfälle gelang. »Ich habe soeben geerbt«, war ihr einziger Kommentar, als Corso ein paar bissige Bemerkungen vom Stapel ließ - von wegen: Tut so arm, und dann ... -, weil sie nicht ein, sondern gleich zwei Tickets am Schalter bezahlt hatte. Später, während des zweistündigen Fluges von Lissabon nach Paris, konnte er dann Fragen stellen, soviel er wollte - sie verweigerte ihm jegliche Antwort. »Alles zu seiner Zeit«, sagte sie nur und warf ihm einen flüchtigen, beinahe verstohlenen Blick von der Seite zu, um sich dann in den Anblick des Wolkenmeeres zu versenken, draußen, vor dem Fenster, weit unterhalb des Kondensstreifens, den die Düsen am Himmel erzeugten. Schließlich war sie, den Kopf an seine Schulter gelehnt, eingeschlafen oder hatte mindestens so getan, denn Corso glaubte, aus dem Rhythmus ihrer Atmung schließen zu können, daß sie in Wahrheit wach war. Sicher stellte sie sich nur schlafend, um seinen Fragen auszuweichen, die sie nicht bereit oder nicht »autorisiert« war, zu beantworten.
An diesem Punkt hätte wohl jeder andere seine Sachen gepackt und die Tür hinter sich zugeknallt. Nicht so Corso. Er war ein geduldiger und kaltblütiger Wolf und besaß die Reflexe und den Instinkt eines Raubtieres. Vergessen wir nicht, daß dieses Mädchen das einzige war, was ihn in der romanhaften, unerklärlichen und irrealen Geschichte, in die er da hineingeraten war, noch mit der Wirklichkeit verband. Und abgesehen davon identifizierte Corso sich längst mit der Rolle des anspruchsvollen Lesers und Protagonisten, den der Verfasser dieses absurden Drehbuchs, der Autor, der hinter den Kulissen die Fäden zog, mit einem Augenzwinkern zu begleiten schien. Ob dieses Augenzwinkern freilich verächtlich oder freundschaftlich gemeint war, das konnte er nicht erraten.
»Ich habe das Gefühl, hier will mich jemand verarschen«, sagte er laut, in neuntausend Meter Höhe über dem Golf von Biskaya. Dann schielte er in Erwartung einer Reaktion oder Antwort zu dem Mädchen hinüber, aber sie rührte sich nicht und atmete ruhig weiter, als schliefe sie tatsächlich oder habe seine Bemerkung überhört. Über ihr Schweigen verärgert, zog er seine Schulter zurück: Ihr Kopf pendelte einen Augenblick im Leeren, dann legte sie ihn mit einem Seufzer ans Fenster.
»Klar will dich jemand verarschen«, sagte sie endlich, schlaftrunken und abfällig, ohne die Augen zu öffnen. »Das merkt ja das dümmste Kind.«
»Was ist mit Fargas passiert?«
Sie antwortete nicht gleich. Corso stellte aus den Augenwinkeln fest, daß sie blinzelte, während ihr Blick an der Rückenlehne des Sitzes vor ihr hing.
»Das hast du doch gesehen«, erwiderte sie nach einer Weile. »Er ist ertrunken.«
»Wer hat da nachgeholfen?«
Sie drehte langsam den Kopf, erst zur einen, dann zur anderen Seite, um schließlich aus dem Fenster zu blinzeln. Ihre zierliche, braune Hand mit den kurzen, unlackierten Nägeln glitt sacht über die linke Armlehne, an deren Ende sie innehielt, als wären ihre Finger gegen einen unsichtbaren Gegenstand gestoßen.
»Das spielt keine Rolle.«
Corso verzog den Mund wie zu einem Lächeln, aber er entblößte nur einen Eckzahn.
»Für mich spielt das schon eine Rolle. Eine sehr große sogar.«
Das Mädchen zuckte mit den Schultern, als wolle sie sagen: Meinetwegen.
Corso ließ nicht locker:
»Welchen Part hast du in dieser Geschichte?«
»Das habe ich dir doch schon gesagt. Ich passe auf dich auf.«
Sie hatte sich umgedreht, und ihre Augen, die noch vor wenigen Sekunden ausgewichen waren, sahen ihn jetzt fest und eindringlich an. Ihre Hand fuhr erneut über die Armlehne, als versuche sie mit dieser Bewegung, das letzte Hindernis zwischen beiden wegzuschieben. Und sie waren sich tatsächlich sehr nahe gekommen, zu nahe, dachte Corso verwirrt und zog sich instinktiv ein wenig zurück. In dem Loch, das Nikon hinterlassen hatte, begann sich etwas zu regen, dunkle Gefühle, die er längst vergessen zu haben glaubte, und aus der Leere stiegen schmerzliche Erinnerungen empor, die sich Gespenstern gleich in den stummen Augen des Mädchens spiegelten.
»Für wen arbeitest du?«
Die Wimpern senkten sich über die schillernde Iris und wischten alles fort. Danach glichen ihre Augen wieder leeren, unbeschriebenen Blättern.
»Du langweilst mich, Corso«, sagte sie und rümpfte mißmutig die Nase.
Er beugte sich zum Flugzeugfenster hinüber und sah hinaus. Die weite, azurblaue Fläche, die hauchdünne weiße Fäden durchzogen, schien in der Ferne von einer braungelben Linie unterbrochen zu werden. Land in Sicht. Frankreich. Nächster Halt: Paris. Oder: Fortsetzung folgt. Dieses Kapitel endete mit einem Geheimnis. Nur die Spannung halten. Er dachte an die Quinta da Soledade: das Wasser, das aus dem Brunnen tröpfelte, den Teich, die Leiche Victor Fargas’ zwischen Seerosen und gefallenem Laub, und dabei wurde ihm so heiß, daß er nervös auf seinem Sitz herumrutschte. Er fühlte sich wie ein Mann auf der Flucht, und das mit Recht . So absurd es auch war, denn er floh nicht aus eigenem Willen, sondern weil er dazu gezwungen wurde.
Corso betrachtete das Mädchen, bevor er versuchte, einen kühlen Blick in sein Inneres zu werfen. Vielleicht floh er ja gar nicht »vor« etwas, sondern »zu« etwas. Oder vor einem Mysterium, das in seinem eigenen Gepäck versteckt war. Le vin d’Anjou? Die Neun Pforten? Irene Adler? In diesem Moment kam die Stewardeß an ihm vorbei. Sie hatte ein stupides, professionelles Lächeln und sagte etwas, aber Corso war so in seine Grübeleien vertieft, daß er sie gar nicht richtig wahrnahm. Er hätte zu gerne gewußt, ob das Ende dieser Geschichte schon irgendwo aufgeschrieben stand oder ob er selbst es war, der nach und nach ein Kapitel zum anderen fügte.
An diesem Tag wechselte er kein einziges Wort mehr mit dem Mädchen. Nach ihrer Ankunft auf dem Flughafen Orly tat er so, als merke er nicht, daß sie in den langen Korridoren hinter ihm herging. Als der Beamte von der Zollkontrolle ihm seinen Personalausweis zurückgab, konnte er allerdings der Versuchung nicht widerstehen, sich halb umzudrehen, um zu sehen, mit welchen Papieren sie reiste, aber er erkannte lediglich ein schwarzes Paßetui ohne Aufdruck. Auf alle Fälle mußte es sich um einen europäischen Paß handeln, denn sie hatte wie er den Checkpoint für EU-Bürger passiert.
Corso verließ das Flughafengebäude und bestieg sofort ein Taxi. Er war gerade dabei, dem Fahrer wie gewohnt die Adresse des Louvre Concorde anzugeben, da schlüpfte das Mädchen zur Tür herein und setzte sich neben ihn. Unterwegs zum Hotel schwiegen sie, und dort angekommen, stieg das Mädchen aus und ließ ihn die Fahrt bezahlen. Der Taxichauffeur hatte kein Wechselgeld, was die Sache ein wenig hinauszögerte. Als Corso endlich die Hotelhalle betrat, hatte sie sich bereits eingetragen und entfernte sich in Begleitung eines Pagen, der ihren Rucksack trug. Bevor sie im Aufzug verschwand, winkte sie ihm einmal kurz zu.
»Ein sehr schöner Laden. >Antiquariat Replinger< nennt er sich. >Originalhandschriften und historische Urkunden<. Er ist übrigens geöffnet.«
Sie hatte dem Kellner abgewinkt und beugte sich in dem Straßencafe in der Rue de Buci über den Tisch zu Corso hinüber. Ihre schillernden Augen reflektierten das Straßenbild, das sich in der breiten Glasfront des Lokals spiegelte.
»Wir können gleich hingehen.«
Sie hatten sich beim Frühstück wiedergetroffen, als Corso an einem der Fenster, die auf die Place du Palais-Royal hinausgingen, die Tageszeitungen durchblätterte. Das Mädchen hatte guten Tag gesagt, sich zu ihm an den Tisch gesetzt und mit großem Appetit ein ganzes Körbchen mit Toasts und Croissants verzehrt. Daraufhatte sie Corso, mit einem schmalen Streifen Milchkaffee auf der Oberlippe und zufrieden wie ein kleines Kind, angesehen:
»Womit fangen wir an?«
Und da saßen sie nun, wenige Straßenecken von Achille Replingers Buchhandlung entfernt, die sie ohne Rückendek-kung ausgekundschaftet hatte, während Corso seinen zweiten Gin des Tages trank und bereits ahnte, daß es nicht der letzte sein würde.
»Wir können gleich hingehen«, wiederholte sie.
Corso zögerte noch einen Augenblick. Er hatte von ihr geträumt, von ihrer braunen Haut, die im Licht eines Sonnenuntergangs schimmerte. Die Nacht streckte schon ihre Schatten voraus, und sie ging an seiner Hand über eine kahle Hochebene, an deren Horizont sich Rauchsäulen erhoben und Vulkane, die kurz vor dem Ausbruch waren. Hin und wieder begegneten sie einem Soldaten mit todernster Miene und staubbedeckter Rüstung, der sie stumm ansah - kalt und abweisend wie die finsteren Trojaner im Hades. Auf einmal verdüsterte sich die Hochebene, die Rauchsäulen am Horizont wurden dichter, und der Ausdruck der starren, gespensterhaften Gesichter der toten Krieger schien fast vor etwas zu warnen. Corso wollte weglaufen und zerrte das Mädchen hinter sich her, aber die Dunkelheit holte sie ein, die Luft wurde immer heißer, stickiger und verschlug ihnen den Atem. Sie rannten und rannten, bis sie erschöpft, aber unendlich langsam zusammenbrachen, wie in einer Zeitlupenaufnahme. Die Finsternis brannte, als sei er plötzlich in einen Hochofen geraten. Seine einzige Verbindung nach draußen war die Hand des Mädchens, die sich an ihm festklammerte. Das letzte, was er spürte, war ihr Händedruck, der plötzlich nachließ, während sich die Hand in Asche verwandelte. Und vor ihm, inmitten der dichten Nebelschwaden, die sich über der brennenden Hochebene und über seinem Bewußtsein ausbreiteten, blitzte gespenstisch ein Totenschädel auf. Wahrhaftig keine sehr angenehme Erinnerung.
Corso leerte sein Ginglas, um die Asche hinunter und die Horrorvision aus seinen Augen zu spülen, und sah das Mädchen an. Sie betrachtete ihn mit der Geduld einer disziplinierten Sekretärin, die auf Anweisungen wartet. Unglaublich, mit welcher Gelassenheit und Selbstverständlichkeit sie die Rolle spielte, die ihr in dieser Geschichte zugefallen war. Ihr Gesichtsausdruck verriet sogar eine gewisse Ergebenheit, die Corso unerklärlich war und ihn verwirrte.
Er stand auf und hängte sich seine Segeltuchtasche über die Schulter. Dann schlenderten sie nebeneinander zur Seine hinunter. Das Mädchen ging auf der Innenseite des Trottoirs und blieb hin und wieder vor einem Schaufenster stehen, wenn ein Gemälde, ein alter Stich oder ein Buch ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie betrachtete alles mit offenen Augen, großer Neugier und einem Anflug von Nostalgie um den Mund. Manchmal lächelte sie nachdenklich. Corso hatte das Gefühl, sie suche in den alten Gegenständen nach sich selbst - als falle irgendwo in ihren Erinnerungen die eigene Vergangenheit mit der jener wenigen Überlebenden zusammen, die das Meer der Geschichte nach jedem Schiffbruch hier angespült hatte.
Es gab zwei Antiquariate, eines rechts und eines links von der Straße, einander genau gegenüber. Das von Achille Replinger war sehr alt. Es war außen mit lackiertem Holz verkleidet und besaß ein elegantes Schaufenster, über dem auf einem Schild geschrieben stand: Livres anciens, autographes et documents historiques. Corso befahl dem Mädchen, draußen zu warten, und sie gehorchte ihm widerspruchslos. Als er auf die Ladentür zuschritt und dabei einen Blick in das Schaufenster warf, konnte er feststellen, daß sie sich oberhalb seiner Schulter darin spiegelte; sie stand auf dem gegenüberliegenden Gehweg und sah ihm nach.
Bei seinem Eintreten ertönte ein Glöckchen. Corso nahm einen schweren Eichentisch wahr, Wandregale voll alter Bücher, Mappen mit Stichen in Plastikhüllen und wohl ein Dutzend altmodischer Holzkartotheken. Eine jede von ihnen war auf schön gestalteten Blechschildchen alphabetisch gekennzeichnet. An der Wand hing eine gerahmte Originalhandschrift mit der Legende: Fragment aus Tartuffe. Molière, und daneben drei wertvolle alte Fotografien: Dumas zwischen Victor Hugo und Flaubert.
Achille Replinger stand hinter dem Tisch. Er war ziemlich korpulent, eine Art Porthos mit dichtem grauem Schnurrbart und rötlichem Gesicht. Aus dem Kragen seines Hemdes, über dem er eine Strickkrawatte trug, quoll ein mächtiges Doppelkinn. Er war teuer, aber sehr nachlässig gekleidet: Um seine füllige Taille schlappte eine englische Jacke, und die Flanellhose war zerknittert und hing ein wenig nach unten.
»Corso ... Lucas Corso.« Er drehte das Begleitkärtchen Boris Balkans zwischen den kräftigen, fettgepolsterten Fingern herum und runzelte die Stirn. »Ja, ich erinnere mich an Ihren Anruf von neulich. Irgendwas mit Dumas.«
Corso legte seine Tasche auf den Tisch und zog den Ordner mit den fünfzehn handgeschriebenen Seiten des Vin d’Anjou heraus. Der Antiquar breitete sie vor sich aus und zog eine Augenbraue hoch.
»Kurios«, murmelte er. »Sehr kurios.«
Er atmete stoßweise und keuchend, als leide er an Asthma. Nach einem kritischen Blick auf seinen Besucher zog er eine Brille mit Bifokalgläsern aus der oberen Jackentasche und setzte sie auf. Dann beugte er sich über die Seiten. Als er den Kopf wieder hob, stand ein entzücktes Lächeln auf seinem Gesicht.
»Phantastisch«, sagte er. »Das kaufe ich Ihnen auf der Stelle ab.«
»Ich möchte nicht verkaufen.«
Der Buchhändler schien überrascht und schürzte schmollend die Lippen.
»Ich dachte ...«
»Mir geht es nur um ein Gutachten. Gegen Bezahlung, versteht sich.«
Achille Replinger wackelte mit dem Kopf - Geld war das wenigste. Er wirkte verblüfft und sah Corso über den Rand seiner Brille hinweg mißtrauisch an. Dann bückte er sich erneut über das Manuskript.
»Schade«, sagte er endlich, und sein fragender Blick verriet, daß er zu gerne gewußt hätte, wie diese Seiten in Corsos Hände gelangt waren. »Wie sind Sie zu diesem Manuskript gekommen?«
»Erbschaft ... Eine verstorbene Tante. Haben Sie es vorher schon einmal zu Gesicht bekommen?«
Der Antiquar sah, immer noch argwöhnisch, durch das Schaufenster hinter Corsos Rücken auf die Straße hinaus. Man hätte meinen können, er erwarte sich von einem der Passanten Aufschluß über den wahren Grund dieses Besuchs. Vielleicht suchte er aber nur nach einer passenden Antwort. Schließlich setzte er ein ausweichendes Lächeln auf und faßte an seinen Schnauzer, als wolle er - wie bei einem falschen Bart - sicher-gehen, daß er nicht verrutscht war.
»Hier im >Quartier< weiß einer nie, ob er etwas schon einmal zu Gesicht bekommen hat oder nicht . In diesem Viertel ist schon immer mit alten Büchern und Stichen gehandelt worden . Die Leute kommen hierher, kaufen und verkaufen, und zum Schluß geht alles mehrmals durch dieselben Hände.« Er machte eine Pause und holte Luft - drei kurze Atemzüge -, bevor er Corso einen beunruhigten Blick zuwarf. »Aber dieses Original ... nein«, sagte er, »ich glaube nicht, daß ich das je gesehen habe.« Er blickte wieder auf die Straße hinaus, während sein Gesicht an Röte zunahm. »Sonst würde ich mich bestimmt daran erinnern.«
»Darf ich daraus schließen, daß es echt ist?« wollte Corso wissen.
»Nun ... eigentlich schon.« Der Buchhändler röchelte, während er mit den Fingerkuppen vorsichtig über die Blätter fuhr, fast schien es, er scheue sich, sie zu berühren. Dann faßte er aber doch eines mit Daumen und Zeigefinger an und hob es hoch: »Halbrunde, enge Schrift, mittelstarker Auftrag der Tinte, keine Durchstreichungen . Sparsamer Umgang mit Satzzeichen, unerwartete Großbuchstaben. Das ist zweifellos der reife Dumas, um die Mitte seines Lebens herum, als er die Musketiere schrieb.« Replinger hatte sich zusehends ereifert. Jetzt hielt er plötzlich mit erhobenem Finger inne, und Corso konnte sehen, wie er unter seinem Schnurrbart lächelte. »Warten Sie mal.«
Er ging zu einem mit »D« gekennzeichneten Archiv und zog ein paar Mappen aus elfenbeinfarbener Pappe heraus.
»Das stammt alles von Alexandre Dumas dem Älteren. Die Schrift ist identisch.«
Er breitete etwa ein Dutzend Dokumente vor Corso aus. Einige waren nicht unterschrieben oder nur mit den Initialen »A. D.« versehen, andere dagegen trugen den vollen Namenszug.
Es handelte sich zum größten Teil um kurze Mitteilungen an Verleger, Briefe an Freunde, Einladungen.
»Hier, das ist eins von seinen nordamerikanischen Autogrammen«, erklärte ihm Achille Replinger. »Lincoln hatte ihn um eines gebeten, und Dumas schickte ihm zehn Dollar und gleich hundert Autogramme, die dann auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Pittsburgh verkauft worden sind . « Er zeigte Corso mit offensichtlichem, wenn auch verhaltenem Stolz die Kärtchen. »Und sehen Sie sich das an: eine Einladung zum Abendessen auf das Schloß von Monte Christo, die Residenz, die er sich in Port-Marly hat bauen lassen. Manchmal hat er nur mit seinen Initialen unterschrieben, andere Male mit Pseudonymen . Obwohl nicht alle Handschriften, die von ihm zirkulieren, authentisch sind. Sie wissen doch, daß er Besitzer der Zeitung Le Mousquetaire war, nicht? Nun, dort arbeitete ein gewisser Viellot, der seine Schrift und sein Namenszeichen nachahmen konnte. Und während der letzten drei Jahre seines Lebens zitterten Dumas’ Hände so stark, daß er seine Texte diktieren mußte.«
»Warum blaues Papier?«
»Das bekam er aus Lilie: Ein Drucker, der auch ein großer Anhänger von ihm war, hat es eigens für ihn hergestellt . Fast immer in dieser Farbe, vor allem für die Romane. Für Artikel hat er manchmal rosa Papier verwendet und für Gedichte gelbes. Zum Schreiben hat er, je nach Gattung, eine andere Feder benutzt. Und er haßte blaue Tinte.«
Corso deutete auf die vier weißen Blätter des Manuskripts, die Durchstreichungen und Anmerkungen aufwiesen.
»Und was ist damit?«
Replinger zog die Augenbrauen zusammen.
»Maquet. Sein Mitarbeiter Auguste Maquet. Das sind Korrekturen, die Dumas in der Urfassung vorgenommen hat.« Er fuhr sich mit dem Finger über den Schnurrbart und beugte sich dann vor, um den Text mit theatralischer Miene zu deklamieren: »Schrecklich! Schrecklich!< murmelte Athos, während Porthos die Flaschen zerschlug und Aramis den etwas verspäteten Befehl gab, einen Beichtvater zu holen.« Der Antiquar beendete den Satz mit einem Seufzer und nickte zufrieden, während er Corso das Blatt hinhielt. »Sehen Sie hier: Maquet hatte lediglich geschrieben: Und hauchte vor den entsetzten Freunden d’Artagnans sein Leben aus. Dumas hat diesen Satz durchgestrichen und die anderen darübergeschrieben, um die Passage mit mehr Dialog zu versehen.«
»Was können Sie mir über Maquet erzählen?«
Der andere zuckte unentschlossen mit den breiten Schultern.
»Nicht sehr viel.« Seine Stimme klang jetzt wieder ausweichend. »Er war zehn Jahre jünger als Dumas und ist ihm von einem gemeinsamen Freund, Gérard de Nerval, vorgestellt worden. Er schrieb ziemlich erfolglos historische Romane, und eines Tages hat er Dumas einen davon gezeigt: Der gute Mann aus Buvat, oder die Verschwörung von Cellamare. Dumas verwandelte das Manuskript in den Chevalier von Harmental und gab es unter seinem Namen in Druck. Maquet bekam dafür 1200 Francs.«
»Können Sie aufgrund der Handschrift und Schreibart bestimmen, wann der Vin d’Anjou abgefaßt worden ist?«
»Klar kann ich das. Es stimmt alles mit Dokumenten aus dem Jahr 1844 überein, dem Entstehungsjahr der Drei Musketiere. Die blauen und weißen Blätter lassen sich mit der Arbeitsweise der beiden erklären: Dumas und sein Partner haben im Akkord geschrieben. Dem d’Artagnan von Courtilz haben sie die Namen ihrer Helden entnommen, die Reise nach Paris, die Intrige mit Milady und die Gestalt der Ehefrau eines Garkochs, der Dumas das Aussehen seiner Geliebten Belle Krebsamer verlieh, um Madame Bonacieux zu verkörpern . Die Entführung Constances ist den Memoiren von La Porte entlehnt, einem Vertrauensmann Anna von Österreichs. Und die berühmte Episode mit den Diamantnadeln haben sie bei La Rochefoucauld und in einem Buch von Roederer gefunden, Politische und galante Intrigen am französischen Hofe. Sie haben zu der Zeit nicht nur an den Drei Musketieren geschrieben, sondern auch an der Königin Margot und am Chevalier von Maison-Rouge. «
Replinger legte eine weitere Verschnaufpause ein. Er steigerte sich mit jedem Wort mehr in die Sache hinein, und sein Gesicht glühte jetzt förmlich. Bei den letzten Buchtiteln hatte er sich vor lauter Eile ein paarmal verhaspelt. Er fürchtete seinen Gesprächspartner zu langweilen, aber andererseits wollte er alle Informationen loswerden, die er besaß.
»Über den Chevalier von Maison-Rouge«, fuhr er fort, als er wieder bei Atem war, »gibt es eine lustige Anekdote. Als der Roman unter seinem Originaltitel angekündigt wurde - Le Chevalier de Rougeville erhielt Dumas ein Protestschreiben, das von einem Marquis mit genau demselben Namen unterzeichnet war. Dumas änderte daraufhin den Titel, aber nach kurzer Zeit erreichte ihn ein zweiter Brief. Sehr geehrter Herr, schrieb der Adlige, geben Sie Ihrem Roman den Titel, der Ihnen beliebt. Ich bin der letzte Abkömmling meines Geschlechts und jage mir in einer Stunde eine Kugel durch den Kopf. Und tatsächlich beging der Marquis von Rougeville wegen einer Weibergeschichte Selbstmord.«
Replinger schnappte erneut nach Luft und lächelte, breit und rotwangig, als wolle er um Nachsicht bitten. Eine seiner kräftigen Pranken lag neben den blauen Blättern auf dem Tisch. >Er sieht aus wie ein erschöpfter Riese<, dachte Corso. Porthos in der Grotte von Locmaria.
»Boris Balkan hat untertrieben: Sie sind ein großer DumasExperte. Kein Wunder, daß Sie beide miteinander befreundet sind.«
»Wir respektieren uns. Aber ich tue nur meine Arbeit.« Replinger senkte verlegen den Kopf. »Als Elsässer bin ich nun einmal gewissenhaft veranlagt. Ich handle mit Dokumenten und Büchern, die handschriftliche Widmungen oder Anmerkungen enthalten. Alle von französischen Autoren aus dem 19. Jahrhundert ... Wie könnte ich beurteilen, was in meine Hände gelangt, wenn ich nicht wüßte, von wem und unter welchen Umständen es geschrieben wurde. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Bestens«, erwiderte Corso. »Genau da liegt der Unterschied zwischen einem Fachmann und einem simplen Trödler.«
Replinger warf ihm einen dankbaren Blick zu.
»Sie sind aus dem Gewerbe. Das merkt man sofort.«
»Ja«, sagte Corso und schnitt eine Grimasse. »Aus dem ältesten Gewerbe der Welt.«
Das Lachen des Antiquars ging in einem asthmatischen Röcheln unter. Corso benützte die Unterbrechung, um ihr Gespräch wieder auf Maquet zu bringen.
»Erzählen Sie mir, wie die beiden gearbeitet haben«, bat er.
»Die Technik war ziemlich kompliziert.« Replingers Hände deuteten auf den Tisch und die Stühle, als hätte die Szene sich dort abgespielt. »Dumas hat zu jeder Geschichte zunächst ein Exposé angefertigt, das er mit seinem Mitarbeiter besprach. Maquet stellte daraufhin Recherchen an und schrieb einen Entwurf oder die erste Fassung: Das sind die weißen Seiten. Später hat Dumas der Geschichte auf den blauen Seiten ihre endgültige Form gegeben. Er arbeitete in Hemdsärmeln, morgens oder nachts, fast nie nachmittags. Dabei hat er weder Kaffee noch Likör getrunken, nur Mineralwasser. Und er rauchte auch kaum. Unter dem Druck der Verleger, die ständig mehr wollten, füllte er Seite um Seite. Maquet hat ihm die Rohfassungen per Post zugeschickt, und wenn Verspätungen auftraten, reagierte Dumas sehr ungeduldig.« Replinger zog aus einer der Mappen einen Zettel heraus und legte ihn vor Corso auf den Tisch.
»Da haben Sie den Beweis: Das ist einer der Briefe, den er Maquet geschrieben hat, während sie an der Königin Margot arbeiteten. Wie Sie sehen, beklagt sich Dumas ein wenig: Es läuft alles wie am Schnürchen, abgesehen von sechs oder sieben Seiten über das politische Zeitgeschehen, mit denen ich mich ein bißchen schwertue ... Und wenn wir nicht schneller vorwärtskommen, Heber Freund, so ist das Ihre Schuld: Seit gestern abend um neun drehe ich Däumchen.«
Er hielt inne, um Atem zu schöpfen, und zeigte auf den Vin d’Anjou.
»Bei den vier weißen Blättern mit der Handschrift Maquets und den Anmerkungen von Dumas handelt es sich bestimmt um eine Lieferung in letzter Minute, kurz vor Redaktionsschluß der Zeitung Le Siècle, und so konnte Dumas nur einige von ihnen ganz neu schreiben, während er sich bei den anderen mit hastigen Korrekturen im Originaltext begnügen mußte.«
Der Antiquar begann die Dokumente in ihre Mappen zurückzustecken, um sie wieder in das Archiv mit dem Buchstaben »D« einzuräumen, und Corso hatte Gelegenheit, einen letzten Blick auf die Notiz zu werfen, in der Dumas von seinem Mitarbeiter Nachschub forderte. Offensichtlich hatte er dafür ein Blatt auseinandergerissen, denn der untere Rand war etwas ausgefranst. Das Papier selbst - blaßblau und fein kariert - und die Handschrift waren völlig identisch mit denen des Manuskripts. Gut möglich, daß alle diese Blätter zu ein und demselben Ries gehörten, das der Romancier auf seinem Schreibtisch hatte.
»Von wem sind die Drei Musketiere denn nun wirklich geschrieben worden?«
Replinger, der damit beschäftigt war, die Kartothek wieder zu schließen, zögerte einen Augenblick.
»So genau kann ich Ihnen das auch nicht sagen. Ihre Frage ist zu kategorisch«, erwiderte er schließlich. »Maquet war ein gebildeter Mann, der sich gut in der Geschichte auskannte und sehr viel las, aber ein Genie wie Dumas war er nicht.«
»Haben sie sich zum Schluß nicht in die Haare gekriegt?«
»Doch. Jammerschade . Wissen Sie, daß die beiden anläßlich der Hochzeit von Elisabeth II. zusammen in Spanien waren? Dumas hat sogar einen Briefroman in Fortsetzungen über diese Reise veröffentlicht: Von Paris nach Cädiz. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Die Beziehung endete, als Maquet vor Gericht ging, weil er als Autor von achtzehn der Romane Dumas’ anerkannt werden wollte. Die Richter waren allerdings der Ansicht, er habe nur vorbereitende Arbeiten geleistet . Heute hält man ihn für einen mittelmäßigen Schriftsteller, der den Ruhm eines anderen benützte, um Geld zu verdienen. Obwohl es natürlich auch Leute gibt, die meinen, er sei von Dumas ausgebeutet worden: der >Neger< des Giganten .«
»Und was meinen Sie?«
Replinger warf einen verstohlenen Blick auf das DumasPorträt über seiner Ladentür.
»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich kein Experte bin, wie etwa mein Freund, Senor Balkan. Ich bin nur ein einfacher Buchhändler, ein Antiquar.« Er machte ein nachdenkliches Gesicht und schien im Geiste abzuwägen, bis zu welchem Grade sein Beruf mit seinen persönlichen Vorlieben zu vereinbaren war. »Aber ich möchte Sie auf etwas hinweisen: zwischen 1870 und 1894 sind in Frankreich drei Millionen Bücher und acht Millionen Fortsetzungsromane erschienen, alle unter dem Namen Alexandre Dumas’. Werke die vor, während und nach Maquet verfaßt worden sind. Wenn das nichts bedeutet!«
»Auf alle Fälle bedeutet es Ruhm zu Lebzeiten«, erwiderte Corso.
»Das steht außer Frage. Ein halbes Jahrhundert lang wurde Dumas in Europa wie ein Gott verehrt. Man las ihn von Kairo bis Moskau, von Istanbul bis Chandigarh. Aus beiden Teilen des amerikanischen Kontinents kamen Dampfer, die vollbeladen mit seinen Büchern zurückkehrten. Dumas hat seine Popularität ausgenützt und das Leben mit allem, was es zu bieten hat, bis zum letzten ausgekostet. Er hat gepraßt und gefeiert, er ist auf die Barrikaden geklettert, er hat sich duelliert und Prozesse geführt, Schiffe befrachtet und aus seiner eigenen Tasche Pensionen verteilt, er hat geliebt, geschlemmt, getanzt, er hat zehn Millionen verdient und zwanzig verschleudert, und zum Schluß ist er sanft wie ein Kind entschlummert ...« Replinger wies mit dem Finger auf die korrigierten weißen Blätter Maquets. »Nennen Sie es, wie Sie wollen: Talent, Genie . Aber was man hier nicht drin hat«, er klopfte sich wie Porthos auf die Brust, »das kann man auch bei anderen nicht abgucken oder improvisieren. Es gibt keinen Schriftsteller, der zu Lebzeiten ruhmreicher war als er. Dumas hat mit nichts angefangen und alles erreicht, was es überhaupt zu erreichen gibt. Als hätte er mit Gott im Bunde gestanden.«
»Ja«, sagte Corso, »oder mit dem Teufel.«
Corso verließ das Geschäft und begab sich zu dem Antiquariat auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Vor der Ladentür waren Holzböcke mit Brettern aufgebaut, auf denen sich im Schutz einer Markise Hunderte von Büchern, alte Drucke und Postkarten stapelten. Das Mädchen kramte darin herum und ließ sich durch seine Ankunft nicht stören. Der feine Flaum in ihrem Nacken und auf den Schläfen flimmerte im Gegenlicht der Sonne.
»Welche würdest du nehmen?« fragte sie ihn und hielt unentschlossen zwei Postkarten vor sich hin. Sie schwankte zwischen einer sepiafarbenen Darstellung von Tristan und Isolde,
die sich umarmten, und Daumiers »Flohmarktbesucher«.
»Kauf doch beide«, schlug Corso vor und beobachtete aus den Augenwinkeln einen Kunden, der an den Tisch herangetreten war und die Hand nach einem Bündel Postkarten ausstreckte. Blitzschnell, wie die Pranke eines Tigers, schoß sein Arm vor und schnappte sich das mit einem Gummi zusammengehaltene Päckchen. Während der Mann schimpfend abzog, machte Corso sich daran, seine Beute zu begutachten, und entdeckte verschiedene interessante Stiche aus dem Umfeld Napoleons: Marie Louise als Kaiserin, die Familie Bonaparte, der Tod des Kaisers und eine Darstellung seines letzten Sieges im Feldzug von 1814: Fin polnischer Lanzenreiter und zwei berittene Husaren schwenkten vor der Kathedrale in Reims Fahnen, die sie dem Feind abgenommen hatten. Nach kurzem Zögern fügte Corso noch Marschall Ney in Galauniform dazu und den betagten Wellington, der für die »Geschichte« posierte. Was für ein Schwein er doch gehabt hatte, der alte Gauner.
Das Mädchen suchte sich auch noch ein paar Postkarten aus. Ihre langen braunen Finger trafen sicher ihre Wahl: zwei Porträts von Robespierre und Saint-Just und ein elegantes Bild von Richelieu im Kardinalsgewand.
»Sehr passend«, bemerkte Corso in ätzendem Ton.
Sie erwiderte nichts und trat statt dessen auf einen Stoß Bücher zu. Die Sonne, die wie ein Goldregen über ihren Rücken floß, blendete Corso so stark, daß er die Augen zusammenkneifen mußte, und als er sie wieder öffnete, hielt das Mädchen ihm einen dicken Wälzer in Quartformat hin, den sie beiseite gelegt hatte.
»Was hältst du davon?«
Er warf einen Blick auf das Buch: Die drei Musketiere mit den Originalillustrationen von Leloir, in Leinen und Leder gebunden, guter Zustand. Als er die Augen wieder hob, stellte er fest, daß das Mädchen lächelte und ihn erwartungsvoll ansah.
»Hübsche Ausgabe«, bemerkte er nur. »Hast du vor, das zu lesen?«
»Klar doch. Verrate mir nicht, wie es ausgeht.«
Corso lachte leise und humorlos vor sich hin.
»Wenn ich das nur könnte«, sagte er, während er das Postkartenbündel an seinen Platz zurücklegte. »Dir verraten, wie es ausgeht.«
»Ich habe ein Geschenk für dich«, verkündete das Mädchen.
Sie spazierten am linken Ufer entlang, dort, wo die Stände der Straßenhändler sind. Auf der Seinebrüstung waren alte Bücher ausgelegt, und an den Buden hingen Plastik- und Cellophanhüllen mit Stichen. Ein Passagierschiff glitt langsam stromaufwärts, nahe daran abzusaufen unter dem Gewicht von etwa fünftausend Japanern, wie Corso schätzte, und ebenso vielen Videokameras. Auf der anderen Straßenseite linsten affektierte Antiquitätenhändler durch die Scheiben ihrer exklusiven Schaufenster mit Visa- und American-Express-Aufklebern und hielten wie beiläufig Ausschau nach einem Kuwaiter, einem russischen Schwarzhändler oder irgendeinem westafrikanischen Regierungsvertreter, dem sie zum Beispiel das Bidet aus handbemaltem Sèvres-Porzellan von Eugénie Grandet andrehen konnten.
»Ich mag Geschenke nicht«, murmelte Corso mit finsterem Gesicht. »Gewisse Leute haben sich da mal ein hölzernes Pferd schenken lassen. Griechisches Kunsthandwerk, stand auf dem Etikett. Schöne Idioten.«
»War denn keiner dagegen?«
»Doch, einer mit seinen Söhnen. Aber dann sind ein paar Viecher aus dem Meer aufgetaucht und haben eine hübsche Marmorgruppe aus ihnen gemacht. Hellenistisch, wenn ich mich recht entsinne. Schule von Rhodos. In der damaligen Zeit
waren die Götter einfach zu parteiisch.«
»Das waren sie immer.« Das Mädchen starrte in den Fluß, als trieben ihre Erinnerungen in dem trüben Wasser. Corso sah, daß sie nachdenklich und gedankenverloren lächelte. »Ich habe noch nie einen unparteiischen Gott erlebt. Und Teufel auch nicht.« Sie wandte sich unversehens nach ihm um, als habe die Seine ihre Gedanken fortgespült. »Glaubst du an den Teufel, Corso?«
Er betrachtete sie aufmerksam, aber die Bilder, die vor wenigen Sekunden noch ihre Augen erfüllt hatten, schienen in der Strömung untergegangen zu sein. Jetzt herrschte dort nur schillerndes Grün und Licht.
»Ich glaube an die Dummheit und an die Ignoranz«, erwiderte er mit einem müden Lächeln. »Und ich glaube, daß der wirksamste Messerstich der ist, den man jemandem hier rein gibt, siehst du?« Er deutete auf seine Hüfte. »In die Leistengegend. Während man ihn umarmt.«
»Wovor hast du Angst, Corso? Daß ich dich umarme? Daß dir der Himmel auf den Kopf fällt?«
»Ich habe Angst vor hölzernen Pferden, billigem Gin und hübschen Mädchen. Vor allem, wenn sie einem Geschenke bringen. Und wenn sie unter dem Namen der Frau auftreten, die Sherlock Holmes in die Knie gezwungen hat.«
Sie waren weitergegangen und befanden sich jetzt auf den Holzdielen der Pont des Arts. Das Mädchen blieb neben einem Straßenkünstler stehen, der Miniaturaquarelle ausstellte, und stützte sich auf das Eisengeländer der Brücke.
»Ich mag diese Brücke«, sagte sie. »Hier dürfen keine Autos rüber. Nur verliebte Paare, alte Frauchen mit Hut und Müßiggänger. Sie erfüllt keinerlei praktischen Zweck.«
Corso antwortete nicht. Er beobachtete die Frachtkähne, die mit umgelegten Masten zwischen den Brückenpfeilern durchführen. Früher war Nikon an seiner Seite über die knarrenden
Planken gegangen. Er erinnerte sich, daß auch sie einmal neben einem Aquarellmaler stehengeblieben war, vielleicht sogar neben demselben, und ärgerlich die Nase gerümpft hatte, weil sich ihr Belichtungsmesser gegen die grelle Sonne sperrte, die schräg auf die Türme von Notre-Dame fiel. Sie hatten Foiegras und eine Flasche Burgunder fürs Abendessen gekauft, das sie später auf dem Bett ihres Hotelzimmers zu sich nahmen, im Schein der Fernsehmattscheibe, auf der sich eine jener wort-und publikumsreichen Debatten abspielte, von denen die Franzosen so begeistert sind. Davor, auf der Brücke, hatte Nikon ein Foto von ihm gemacht, wie sie ihm gestand, während sie an ihrem Foiegras-Brot kaute, die Lippen mit Burgunder befeuchtet, und mit den Zehen zärtlich über seine Rippen fuhr. Ich weiß, daß dir das nicht gefällt, Lucas Corso, aber jetzt mußt du’s schlucken, du im Profil auf der Brücke, wie du auf die Kähne hinuntersiehst, ich glaube, diesmal kommst du beinahe hübsch raus, altes Ekel.
Nikon war eine großäugige Aschkenasim-Jüdin. Ihr Vater hatte in Treblinka die Nummer 77 843 gehabt und war in der letzten Runde durch die Glocke gerettet worden, und wenn im Fernsehen israelische Soldaten auf riesigen Panzern gezeigt wurden, die irgend etwas besetzten, sprang sie nackt vom Bett, um mit feuchten Augen den Bildschirm zu küssen und »Sha-lom, Shalom« zu flüstern, im selben liebkosenden Ton, in dem sie Corsos Taufnamen aussprach, bis sie es eines Tages für immer unterließ. Nikon. Er hatte es nie zu Gesicht bekommen, dieses Foto von sich auf der Pont des Arts, wie er den Schiffen zusah, die unter den Bögen durchglitten, im Profil, beinahe hübsch diesmal, altes Ekel.
Als er den Blick hob, war Nikon gegangen. Jetzt stand ein anderes Mädchen neben ihm. Groß, mit braungebrannter Haut, jungenhaftem Haarschnitt und transparenten Augen, die die Farbe von frisch gewaschenen Trauben hatten. Ein paar Se-kunden lang blinzelte er verwirrt und wartete darauf, daß alles wieder in seine Grenzen zurückkehrte. Die Gegenwart setzte einen Schnitt, scharf wie von einem Skalpell, und der schwarzweiße Corso im Profil - Nikon arbeitete immer in Schwarzweiß - trudelte in den Fluß hinunter und trieb zwischen gefallenen Blättern stromabwärts, in der dreckigen Brühe, die aus den Kähnen und den Abwasserrohren floß. Das Mädchen, das nicht mehr Nikon war, hielt ein kleines, ledergebundenes Buch in den Händen. Und das reichte sie ihm. »Ich hoffe, es gefällt dir.«
Der verliebte Teufel von Jacques Cazotte, gedruckt 1878. Corso öffnete es und entdeckte in einem faksimilierten Anhang die Stiche der Erstausgabe: Alvaro im Bannkreis des Teufels, der fragt Che vuoi?, Biondetta, die ihr Haar mit den Fingern kämmt, der schöne Page an seinem Klavier . Er schlug wahllos eine Seite auf:
Der Mann entstand aus Lehm und Wasser. Warum nicht das
Weib aus Tau, Dünsten, Lichtstrahlen, aus einem verdichteten
Regenbogen? Was ist möglich, und was ist es nicht?
Er schloß das Buch, sah auf und begegnete den lächelnden Augen des Mädchens. Drunten, im Fluß, brach sich die Sonne im Kielwasser eines Schiffs, und die diamantenen Reflexe spielten auf ihrer Haut.
»Ein verdichteter Regenbogen«, wiederholte Corso. »Was weißt du von diesen Dingen?«
Das Mädchen fuhr sich mit der Hand durchs Haar und wandte ihr Gesicht der Sonne zu, die so hell war, daß sie die Augenlider schließen mußte. Alles an ihr strahlte: die Reflexe des glitzernden Wassers und des gleißenden Morgenlichts, die grünen Schlitze zwischen ihren dunklen Wimpern.
»Ich weiß, was sie mir vor langer Zeit erzählt haben. Der Regenbogen ist die Brücke, die von der Erde in den Himmel führt. Am Jüngsten Tag wird sie in tausend Stücke zerspringen, nachdem der Teufel sie auf dem Pferd überquert hat.«
»Nicht schlecht. Hast du das von deiner Großmutter?«
Sie schüttelte den Kopf und sah Corso jetzt wieder ernst und gedankenverloren an.
»Nein, das habe ich von einem Freund - Belial heißt er« -beim Aussprechen des Namens runzelte sie ein wenig die Stirn, wie ein niedliches kleines Mädchen, das einem ein großes Geheimnis anvertraut. »Er mag Pferde und Wein und ist der optimistischste Typ, den ich kenne - so optimistisch, daß er immer noch hofft, eines Tages in den Himmel zurückzukehren.«
Sie setzten sich wieder in Bewegung und überquerten vollends die Brücke. Corso hatte das seltsame Gefühl, als beobachteten sie aus der Ferne die Wasserspeier von Notre-Dame, die natürlich falsch waren, wie so vieles. Ihre diabolischen Fratzen mit den Hörnern und den besonnenen Ziegenbärten hatten nicht von dort oben herabgeblickt, als die ehrbaren Baumeister ein Glas Eau-de-vie tranken und verschwitzt, aber zufrieden ihr Werk betrachteten, noch als Quasimodo seine unglückliche Liebe zu der Zigeunerin Esmeralda stöhnend den Glockentürmen anvertraute. Aber seit man Charles Laughtons Zelluloidhäßlichkeit mit ihnen in Verbindung bringt und Gina Lollobrigida in der zweiten Version - Technicolor, wie Nikon betont hätte - unter ihren Augen hingerichtet wurde, kann man sich die Kathedrale eigentlich gar nicht mehr ohne diese finster dreinschauenden, neumittelalterlichen Wächter denken. Corso versuchte sich die Szene aus der Vogelperspektive vorzustellen: die Pont Neuf und weiter oben die Pont des Arts, die sich an diesem strahlenden Morgen wie ein schmales dunkles Band über den graugrünen Fluß spannte, mit zwei winzigen Figür-chen, die - kaum erkennbar - auf das rechte Ufer zuschritten. Brücken und Regenbögen, zwischen deren gemauerten Pfeilern langsam schwarze Charonskähne durchglitten. Die Welt ist voll von Flüssen und Ufern, von Männern und Frauen, die Brücken und Furten passieren, ohne sich der Folgen bewußt zu sein, die das nach sich ziehen kann, ohne zurück oder nach unten zu sehen, ohne Kleingeld für den Fährmann. Als sie beim Louvre die Straße überqueren wollten, mußten sie wegen einer roten Fußgängerampel stehenbleiben. Corso rückte sich den Riemen seiner Segeltuchtasche auf der Schulter zurecht, während er zerstreut nach rechts und links blickte. Dabei fiel sein Blick zufällig auf einen Wagen, der inmitten des dichten Verkehrs an ihnen vorüberrauschte. Eine Sekunde später machte er ein Gesicht wie einer der Wasserspeier von Notre-Dame.
»Was ist los?« fragte das Mädchen, als die Ampel auf Grün sprang und Corso sich trotzdem nicht vom Fleck rührte. »Hast du einen Geist gesehen?«
Ja, das hatte er. Aber nicht einen, sondern zwei. Sie saßen in einem Taxi, das sich bereits entfernte, und waren in eine angeregte Unterhaltung vertieft, ohne Corso bemerkt zu haben. Die Frau war blond und sehr attraktiv. Corso erkannte sie sofort, obwohl ihre Augen vom Schleier eines Hütchens verdeckt waren: Liana Taillefer. Und neben ihr, den Arm um ihre Schulter gelegt, Flavio La Ponte, der ihr die gute Seite seines Profils zuwandte und sich kokett den lockigen Bart kraulte.